Johann Gerhards Metaphysik-Vorlesung von 1603/4

Gerhard_Metaphysik_Chart-B-00281_277Johann Gerhards eigenhändiges Manuskript zurMetaphysik aus dem Jahre 1603/4, das die Grundlage für seine Vorlesung an der Universität Jena bildete, ist ein frühes Beispiel für die Wiederkehr einer Disziplin, die im Protestantismus umstritten blieb. Keine einhundert Jahre nachdem Martin Luther die Metaphysik als nutzlose Disziplin von den Hochschulen verbannt hatte, wurde sie wieder ein Teil der philosophischen Ausbildung. Zum einen waren dafür die theologischen Debatten mit den konfessionellen Gegnern verantwortlich. Hierbei griff man zur Klärung der dogmatischen Differenzen auf philosophische Begriffe zurück, die in der Metaphysik verhandelt wurden.

Als Beispiele seien hier die Begriffe Substanz, Form, Materie, Prinzip, Eines, Gutes und Wahres genannt. Zum andern erkannte man, dass man für das gesamte Wissenschaftssystem eine Grundlagenwissenschaft benötigt, die jenes befragt, was die übrigen Disziplinen schon immer als gegeben voraussetzen: Das Seiende als Seiendes.

Johann Gerhard (1582-1637) war mit diesen Debatten bestens vertraut. Er studierte seit 1599 Philosophie und Theologie an der Universität in Wittenberg. 1603 wechselte er an die Universität in Jena, wo er noch im selben Jahr die Magisterwürde erwarb. Von den Studenten wurde er gedrängt, eine Vorlesung zur Metaphysik, der ersten ihrer Art in Jena, zu geben. Gerhard war auf diese Aufgabe durch die Lektüre katholischer Autoren – insbesondere von Pedro Fonseca und Francisco Suárez – sowie der wenigen protestantischen Autoren gut vorbereitet. So besaß er eine Abschrift der vermutlich ersten Vorlesung zur Metaphysik auf protestantischem Boden von Cornelius Martini, die dieser 1597 in Helmstedt gehalten hatte. Sie befindet sich noch heute im Gerhard-Nachlass in der Forschungsbibliothek Gotha (FBG, Chart. B 452, Bl. 4r-64v). Gerhard begann seine Einführung in die Metaphysik („Isagoge Metaphysicae“) im November 1603. Sie dauerte fast ein Jahr. Grundlage dieser Vorlesung ist das vorliegende Manuskript aus Gerhards Hand. Der Text ist durch viele Durchstreichungen und Änderungen gekennzeichnet und mitunter in großer Hast niedergeschrieben. Das Manuskript liefert nur einen knappen Einblick in die wesentlichen Inhalte dieser neuen Disziplin. Gerhard unterteilte die Metaphysik in die drei Abschnitte „Über das Seiende im Allgemeinen“, „Über die Intelligentien“ und „Über Gott“. Die beiden letzten Abschnitte bilden eine Art natürliche Theologie, die Gott und die Engel im Rahmen des durch die Vernunft Erkennbaren beschreibt – soweit dies eben ohne Offenbarung möglich ist. Gerhards Metaphysik, die hier digital zur Verfügung gestellt wird, ist von der Forschung bis jetzt noch nicht ausgewertet worden. (Text: Sascha Salatowsky)

Literatur:
Max Wundt: Die deutsche Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts. Tübingen 1939.
Bengt Hägglund: Die Heilige Schrift und ihre Deutung in der Theologie Johann Gerhards. Eine Untersuchung über das altlutherische Schriftverständnis. Lund 1951.
Walter Sparn: Die Wiederkehr der Metaphysik. Die ontologische Frage in der lutherischen Theologie des frühen 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1976.
Richard Schröder: Johann Gerhards lutherische Christologie und die aristotelische Metaphysik. Tübingen 1983.

Foto: FBG, Chart. B 281, Bl. 137r-216v, hier: 138r. © Universität Erfurt, Forschungsbibliothek Gotha

Quelle: http://studpro.hypotheses.org/372

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Nach Feierabend…

… ist leider, wie viele all zu häufig erleben, nicht zwingend der Zeitpunkt, zu dem man die Arbeit gedanklich oder geographisch hinter sich lässt, um sich seiner “Life-Work-Balance” zu widmen. Nach Feierabend ist nicht selten auch der Zeitpunkt, zu dem es erst richtig los geht. Begrüßen sollten wir dies im Falle des 9. Bandes des Zürcher Jahrbuchs für Wissensgeschichte, das am Zentrum für Wissensgeschichte der ETH Zürich herausgegeben wird und vor wenigen Tagen im Diaphanes Verlag erschienen ist. Besonders wenn, neben der intellektuellen Anregung, auch ein akademischer Schmunzler gestattet ist, denn “Nach Feierabend” ist der Titel der Zürcher Jahrbücher, der so ihre Tradition zum konstruktivistischen Wissenschaftshistoriker Paul Feyerabend aufrecht erhält. Ob dies nun als Kalauer zu werten ist, sei jedem selbst überlassen.

Unzweifelhaft positiv sollte hingegen gesehen werde, dass dieser Band dem Leitthema “Digital Humanities” gewidmet ist. Nun mag so manch einer, wie nicht selten zu hören ist, anmerken, dass von allen Seiten versucht wird auf einen Zug aufzuspringen, der sich zur Zeit gut verkauft, und dies auch noch ohne wirklich Digital Humanities zu praktizieren (im strengen Sinne einer Code geleiteten Methodik). Ich sehe jedoch in der abgrenzenden Selbstpflege einer exotischen und belächelten, aber avantgardistischen Community als die sich die Digital Humanities lange Zeit gern gesehen und genossen haben keinen Selbstzweck und schon gar kein Mittel zu Stärkung der Digital Humanities. Die Aporie zwischen Code und Text, die nicht selten auf eine Gegenüberstellung von “traditionellen” versus digitalen Geisteswissenschaften übertragen wird und öffentlichkeitswirksam gern auch als “Show don’t Tell” formuliert wird, ist nur eine Aporie weil sie alzu gerne in der Euphorie neuer technologischer Möglichkeiten zu einer solchen gemacht wird.

Code und Text sind weder widersprüchlich noch ineinander überführbar, auch wenn versierte Coder den Text gerne ersetzen wollen und Medienwissenschaftler den Code zu häufig allein im Epistem des Textes wahrnehmen. Text und Code müssen ihre Beziehung zueinander finden und eben dies beginnen nun auch Digital Humanities und “traditionelle” Geisteswissenschaften. Herauskommen werden keine Geisteswissenschaften, die identisch sind mit dem Selbstverständnis der gegenwärtigen Digital Humanities. Vielleicht ist auch deswegen die Ablehnung immer noch recht groß, die den sich häufenden theoretischen Ansätzen aus Kultur- und Medienwissenschaften sowie Philosophie von den Digital Humanities entgegengebracht wird. Auf der anderen Seite werden Konzepte, Methoden und Ansätze der Digital Humanities in weiten Teilen unhintergehbar bleiben und zu einer substanziellen Transformation der Geisteswissenschaften beitragen. Im Sinn einer solchen Transformation “aus beiden Richtungen” steht die oben aufgeführte Publikation, zu der ich – dies möchte ich nicht zum blinden Fleck meines Plädoyers machen – mit dem Titel “Text, Denken und E-Science: eine intermediale Annäherung an eine Konstellation” auch etwas beitragen durfte. Nicht unerwähnt bleiben darf die Publikation eines der letzten, wenn nicht der letzte Artikel des kürzlich verstorbenen Peter Harber. Aus dem Inhalt:

Titel Nach Feierabend 2013: Digital Humanities
Herausgeber David GugerliMichael HagnerCaspar HirschiAndreas B. KilcherPatricia PurtschertPhilipp SarasinJakob Tanner
Verlag Diaphanes Verlag, 2013

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=2396

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Stellenangebot an der Universitätsbibliothek Leipzig

The Leipzig University Library (LUL) in Germany is piloting a project to conceptualize and implement various infrastructure components which will be used to create, organize and provide fulltext-data and meta-data from various sources. Therefore the resulting concepts must be appropriate for digital born content as well as for digitized content and need to be implemented in a decentralized, heterogenous structure. The project focusses on open source solutions and will be conducted with various partners, especially in close partnership with the Workgroup for Automated Language-Processing (ASV) and the Workgroup for Image- and Signal-Processing (BSV) of the Leipzig University Computer Science Department.

The following vacancy is available at the Leipzig University Library:

Research associate (50% part-time, fixed-term contract until: 31. December 2014)
Allocated salary: pay grade 13 TV-L
The full job offer (in german) is available at:
http://bit.ly/1ggSkEh

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=2404

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Reformhoffnung oder politischer Büttel? Papst Hadrian VI. (1522-23) aus Pariser Perspektive

Über Papst Hadrian VI. (1459-1523) gehen die nationalen und konfessionellen Meinungen in Europa seit Jahrhundert weit auseinander. Mal galt der gebürtige Niederländer als Vorbote der katholischen Reform, mal als verhasster Austeritätsprediger aus Nordeuropa. Manche sahen in ihm einen ungeeigneten, schwächlichen Staatsmann, andere heben seine ansatzweisen Bemühungen um Ausgleich zwischen den rivalisierenden politischen Blöcken Habsburg und Frankreich hervor. Eine zeitgenössische Pariser Quelle schärft dabei den Blick auf die spezifisch französische Wahrnehmung des letzten nicht-italienischen Papstes vor Johannes Paul II. Meist wurde besonders die unterschiedliche Wahrnehmung im Alten Reich und Rom betont. Während altgläubige deutsche Flugschriftenautoren kurzfristig große Hoffnungen in den neuen Mann auf dem Stuhl Petri setzten, lästerten die Römer bald über den angeblich kunstfeindlichen Biertrinker aus dem Norden. Anfängliche Sympathie schlug in Ablehnung und Feindseligkeit um. Dieser Papst passte nicht in das Mikrosystem des römischen Klientelismus, zumal vor der Konklavereform von 1621/22. Im Reich hingegen beeindruckte Hadrian mit einer auf dem Reichstag von Nürnberg 1523 durch Nuntius Chieregati abgegebenen Erklärung, die Missstände in der Kirchenhierarchie anerkannte und in drastischen Worten Abhilfe versprach. Bei meinen Recherchen habe ich einen zeitgenössischen französischen Blick auf Hadrian VI. gefunden, der insofern überrascht, als dass er die Reformfrage völlig außen vor lässt, auch auf die [...]

Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/1741

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(1) Kriminalität und Strafe: Seismographen des moralischen Wandels – Im Interview Susanne Karstedt

Anknüpfend an das Interview mit den Wissenschaftlern in unserer aktuellen Ausgabe „Kriminalität und soziale Normen” werden in einer Blogreihe in wöchentlichen Abständen weitere Kriminalsoziolog_innen auf gleiche Fragen zum Teil zu ähnlichen, zu einem größeren Teil aber auch zu sehr unterschiedlichen Antworten … Weiterlesen

Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/5522

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Das 20. Jahrhundert und der Erste Weltkrieg

Online Element_Erster WeltkriegZusammenbruch, Neukonstitution und Kontinuität von Ordnungen in globaler Perspektive

2014 jährt sich der Beginn des Ersten Weltkriegs zum 100. Mal. Er gilt als große historische Wendemarke. War er das wirklich, und wenn ja: weltweit? Wie sind dieses Ereignis und vor allem seine Wirkungen in der globalen Geschichte des 20. Jahrhunderts zu verorten?

Die internationale Konferenz, die gemeinsam vom Institut für Zeitgeschichte und der Max Weber Stiftung vom 14. bis zum 16. November 2013 in München veranstaltet wird, beschränkt sich nicht auf gewohnte eurozentrische Perspektiven und traditionelle Narrative, etwa vom Zäsurcharakter des Krieges, sondern diskutiert die Auflösung, Neuformierung und Kontinuität von Ordnungen innerhalb und besonders auch außerhalb Europas. Politische, soziokulturelle, ökonomische und rechtliche Ordnungen auf internationaler und nationaler Ebene werden dabei ebenso thematisiert wie ideologische Ordnungssysteme und neue Wissensordnungen.

Die Analyse von vorgestellten und praktizierten Ordnungen soll es ermöglichen, langfristige und globale Entwicklungen zu erfassen, ohne vorgegebenen Deutungsmodellen und empirischen Engführungen zu erliegen.

Das Ziel der Konferenz ist ein neuer Blick auf die Wirkungsgeschichte des Ersten Weltkriegs im 20. Jahrhundert.

 

2014 witnesses the 100th anniversary of the start of the First World War. The war is regarded as a major historical turning-point. But was it really and, if so, also on a global level? How can one situate this event and, above all, its impact in the global history of the 20th century?

This international conference, that is hosted by the Institut für Zeitgeschichte and the Max Weber Stiftung from the 14th until the 16th of November 2013 in Munich, does not limit itself to the typical Eurocentric perspectives and traditional narratives but rather discusses the disbandment, reformation and continuity of systems within and outside of Europe. Political, socio-cultural, economic and legal systems on an international and national level will also be addressed, as well as ideological systems of order and new knowledge systems.

The analysis of envisaged and practised systems will allow for a better understanding of long-term and global developments.

The aim of the conference is to cast new light on the historical impact of the First World War in the 20th century.

Quelle: http://grandeguerre.hypotheses.org/1179

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Olympe de Gouges: Molière bei Ninon

MolierebeiNinon-Cover1Grandiose Präsentation gestern im Wiener Theater Drachengasse: Olympe de Gouges' Theaterstück Molière bei Ninon oder Das Jahrhundert der großen Männer ist nun in einer deutschen Übersetzung erhältlich, sowohl auf Papier als auch elektronisch.

Gouges, Olympe de: Molière bei Ninon oder Das Jahrhundert der großen Männer. Hg. von Viktoria Frysak. Wien: Edition Viktoria, 2013. [Verlags-Info; Bestellung des EPUB/PDF]

Dieses Theaterstück aus dem Jahr 1788 ist der umfangreichste Theatertext der Hinterlassenschaft von Olympe de Gouges. Sie lässt darin die großen Männer des 17. Jahrhunderts in Frankreich auferstehen. Die Formulierung des Untertitels wird im Titel durch eine und in der Handlung durch zwei große Frauen des Jahrhunderts konterkariert: Ninon de Lenclos und Kristina von Schweden. Während die eine sagt: "Ich sehe, dass man uns mit dem betraut hat, was es an Oberflächlichstem gibt, und dass die Männer sich das Recht auf die wesentlichen Qualitäten vorbehalten haben. In diesem Moment mache ich mich zum Mann", lautet ein überlieferter Kommentar der anderen: „Es ist schwieriger sein Geschlecht zurückzuweisen als seine Krone.“

Ebenfalls von Olympe de Gouges in der Edition Viktoria erschienen: Der philosophische Prinz. Erzählung aus dem Osten.

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/516216331/

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Sound des Mainstreams. Geschichtsdidaktik am Scheideweg

 

Die Reflexionen über die Zukunft der Geschichtsdidaktik haben bereits Geschichte, vor allem innerhalb dieser vergleichsweise jungen Disziplin. Der hier vorliegende Diskussionsvorschlag sieht sich als Teil dieser Geschichte und soll als ein Plädoyer für eine zeitgemäße Geschichtsdidaktik als Reflexionswissenschaft gelesen werden. Es geht darum, die tradierten Begriffe und Konzepte und den „Sound“ des geschichtsdidaktischen Mainstreams in Frage zu stellen.

 

„10 Euro in die Institutskasse“

Es scheint um das Ganze zu gehen: „Die Aufgabe der Geschichtsdidaktik“ wird von Monika Fenn beschworen. Und diese sieht sie ganz selbstverständlich – „die geschichtsdidaktische Zunft […] ist sich […] einig darüber“ – im reflektierten Umgang mit Geschichte. Wessen es dazu bedarf, wird von der Autorin gleich mitgeliefert: Man muss narrative Muster „aufdecken“ und sich ein eigenes Urteil bilden. Dies ist aber beides nur möglich, wenn man das „Richtige“ weiß. Überhaupt scheint das „Richtige“ für die Autorin eine große Rolle zu spielen. Ebenso wie die Angst, sich aus dem Elfenbeinturm ihrer Geschichtsdidaktik in die Welt des 21. Jahrhunderts zu begeben. Dieser Duktus, dieser Sound. Pars pro toto? „Wer das Wort ‘Erinnerungskultur’ benutzt“, lese ich den datierten Notizen Peter Sloterdijks, „zahlt ab sofort 10 Euro in die Institutskasse und wird für den Rest der Woche von den Diskussionen ausgeschlossen.“1 Wie ich finde: eine schöne Idee. Auch in der Geschichtsdidaktik sollten wir beginnen, die Begründungsmuster, Denkfiguren, Begriffe und dahinter stehenden Konzepte in Frage zu stellen. Schnell ist doch überall die Rede vom „reflektierten Geschichtsbewusstsein“, von „der“ Geschichtskultur, von „historischer Bildung“, ja sogar manchenorts immer noch von „Ideologiekritik“.

Bescheidwisserei von gestern

Sehe ich diese beiden Aspekte zusammen, dann frage ich mich doch, ob das die Geschichtsdidaktik ist, die historisches Denken in unseren „gebrochenen Zeiten“2 des 21. Jahrhunderts reflexiv begleiten kann (und soll)? Im Gestus des etablierten Bescheidwissers, der auf dem „Richtigen“ beharrt, mit dem zur Schau gestellten kulturpessimistischen Zeigefinger angesichts „missbrauchter“ Quellen und mit Verweis auf Texte, die in einer Zeit geschrieben wurden, in der lediglich von „Geschichte in der Öffentlichkeit“ die Rede war, die Menschen noch mit Wählscheibenapparaten telefonierten und es lediglich drei Fernsehprogramme gab? Denn seien wir ehrlich: Diese Texte waren auf ein Zeitalter zugeschnitten, in dem die Welt das war, was sie heute längst nicht mehr ist: „Ohne dass wir dessen gewahr wurden, ist in einer kurzen Zeitspanne, in jener, die uns von den siebziger Jahren trennt, ein neuer Mensch geboren worden.“3

“… interrupt the following”

„Es geht mir um einen Blick für Blicke.“4 Mit diesem Satz begründet Armin Nassehi seine soziologischen Storys aus der postmodernen Welt des 21. Jahrhunderts. Dies könnte auch zugleich die Intention des vorliegenden Beitrages sein. Es geht mir in diesem Sinne darum, dass die Geschichtsdidaktik Leerstellen skizzieren und Utopien entwerfen sollte, die den eigenen Mainstream geschichtsdidaktischer Argumentation in Frage stellen könnten. Denn die Thematisierung dieser Blicke als mögliche Perspektive für eine zeitgemäße Geschichtsdidaktik könnte dann im besten Fall einen reflexiven Lernprozess in Gang setzen, der das etablierte Konzept des „reflective practitioner“ von Donald Schön auch auf die ExpertInnen der Geschichtsdidaktik übertragen könnte: Perspektivendifferenz als Lernanlass. Denn die Differenz ist die Stärke einer Disziplin, nicht deren Schwäche. Dann sollte es aber nicht darum gehen, den geschichtsdidaktischen Bestand zu wahren, sondern vielmehr darum, Traditionen zu überdenken und Ansätze zu entwickeln, ja etablierte Theorien und Methoden des Faches weiter- und neuzudenken. Nicht ohne Grund zitieren die AutorInnen des Sammelbandes „Manifestos for History”, der sich mit der Vielfalt der Geschichte im 21. Jahrhundert beschäftigt, ein Paradoxon von Jacques Derrida: „To be true to what you follow you have to interrupt the following.“5

Schrägheit und Entdeckung

Um dies aber zu realisieren, muss man manchmal quer denken, neugierig und offen sein, Bestehendes in Frage stellen und Neues ausprobieren. Was die Geschichtsdidaktik m.E. braucht, ist eine kultivierte Form der Schrägheit im Denken, gleichzeitig aber auch einen seriösen und entdeckenden „Blick zurück“ auf die verschüttgegangenen Traditionen des Faches als Reflexionswissenschaft. All dies könnte man als Außenstehender in den Texten der Geschichtsdidaktik vermissen, als Beteiligter auch schmerzlich beim eigenen Schreiben. Aber nur diese Schrägheit, nur dieser Einschnitt, eröffnet uns die Chancen zur Entbürokratisierung des Denkens angesichts der Fragmentarisierung von Weltbezügen und der damit einhergehenden Angst vor dem Verlust des Ganzen. Denn nur dieser Einschnitt, die Derrida’sche Unterbrechung, bietet den notwendigen Raum für die Reflexion des eigenen Tuns. Eine zeitgemäße Geschichtsdidaktik wäre dann eine Geschichtsdidaktik, die sich in diesem Raum bewegt, ohne den Ausgang zu kennen, wäre eine Wissenschaft in Bewegung, von einem Zustand zu einem anderen. Geschichtsdidaktik böte dann die Möglichkeit zur Erkundung fremder Welten, der vorurteilsfreien Begegnung mit anderen Erzählungen, die weder richtig noch falsch, sondern lediglich anders wären: Geschichtsdidaktik als Reflexionsraum historischen Denkens.

 

Literatur

  • Jenkins, Keith: At the Limits of History. Essays on Theory and Practice, London/New York 2009.
  • Munslow, Alun: The Future of History, London 2010.

Externe Links 

 

Abbildungsnachweis
© Jakob Ehrhardt / PIXELIO

Empfohlene Zitierweise
Heuer, Christian: Sound des Mainstreams. Geschichtsdidaktik am Scheideweg. In: Public History Weekly 1 (2013) 7, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-466.

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Römische Wölfin, postmoderne Werbung

 

In der Sprache von MarketingstrategInnen und Medienprofis ist immer die Rede von Kommunikation zwischen Konsument und Produkt, das dazwischenliegende Medium Werbung stellt die Kanäle für diesen Prozess. Dabei bedienen sich die Werbeagenturen im Zuge der immer breiteren geschichtskulturellen Bewegung auch gelegentlich historischer Stoffe. Sie setzen die Inhalte als bekannt voraus und bauen darauf, dass Altbewährtes schon immer gut ankam, sich also auch dieses mal im Warenkorb des Konsumenten einfinden wird. Was bedeutet dies für unser Alltagsleben, für unser Konsumverhalten und nicht zuletzt: für unseren Umgang mit Geschichtskultur?

 

Un espresso per favore…

Ein lasziver Blick aus schwarzgeränderten Augen, rote, volle Lippen – so blickte uns vor etwa vier Jahren verführerisch eine Wölfin an. Auf Plakaten und Zeitungsanzeigen war sie allerorts präsent, die Lavazza-Wölfin. Eine schöne junge Frau steht auf Händen und Knien, nur spärlich bekleidet mit einem Fell auf dem Rücken, das mehr freigibt als verhüllt. Ihr Haar liegt wild und strähnig nach hinten. In der rechten Hand hält sie eine Espressotasse mit dem Lavazza-Schriftzug und -Symbol. Unter ihr zwei Kinder: Das eine blickt nach oben zu ihren – freilich sittsam durch einen körperfarbenen BH verhüllten – Brüsten, das andere richtet seine Aufmerksamkeit auf die Tasse. Die drei scheinen sich auf einer Mauer im Inneren des Kolosseums aufzuhalten, das den Rahmen für das Szenario bildet. Hinter den aufragenden Rängen des Kolosseums fällt der Blick auf dramatische Wolken. Beworben wird, das verrät uns der Schriftzug unter dem Bild, „The Italian Espresso Experience“ von Lavazza, dem original italienischen Espresso.1

Trank die Wölfin wirklich Kaffee im Kolosseum?

Ein faszinierendes, aber auch irritierendes Bild. Unverkennbar ist die Anspielung auf die römische Wölfin, deren berühmtes Standbild in den kapitolinischen Museen in Rom zu sehen ist. Die Sache hat also irgendetwas zu tun mit Geschichte, Tradition, Kultur. Dafür steht natürlich auch das Kolosseum, obwohl nicht so recht klar ist, was die Wölfin dort hingeführt haben mag. Allerdings ist es mit der Espresso-Tradition der Römer ja nicht so weit her – schließlich musste der Kaffee erst aus Südamerika importiert werden, und die Espresso-Technik gibt es erst seit gut hundert Jahren. Wie hängt denn nun die italienische Lebensart, für die der Espresso steht, mit römischer Geschichte und Tradition zusammen? Und warum ist eigentlich der Himmel nicht blau? Was auf den ersten Blick irgendwie zu passen scheint, erweist sich bei genauerem Hinsehen als einigermaßen disparat.

Die gute, alte Zeit

Mike Seidensticker hat vor nahezu 20 Jahren auf einer breiten Materialbasis Geschichte in der Werbung – oder Werbung mit Geschichte – analysiert. Sein Befund damals: Bestimmte Sinnbildungsmuster im Umgang mit Geschichte, wie sie Jörn Rüsen und Hayden White beschrieben haben, kommen auch in dieser Werbung zum Tragen. Unsere Produkte sind seit jeher bewährt, waren schon immer wertvoll, erinnern an gute alte Zeiten – mit solcher Werbung wird eine traditionale oder exemplarische Sinnbildung betrieben. Wird das ganz Neue, das Alte Überbietende, noch nie Dagewesene beworben, haben wir es mit einer genetischen Sinnbildung zu tun.

Sex sells!

Welche Art von Sinnbildung betreibt die Lavazza-Werbung? Es geht um Versatzstücke aus der Geschichte, die irgendwie positiv besetzt sind, weil sie für historische und kulturelle Bedeutsamkeit stehen. Eine direkte Verbindung zum Produkt gibt es nicht. „Sex sells“ alleine wäre dann aber doch zu einfach. Soll vielleicht suggeriert werden, mit einem Espresso lasse sich diese ganze Kultur und Tradition irgendwie aufmischen? Witzig ist jedenfalls, dass einen der beiden Knaben der Kaffee mehr lockt als die Mutter- respektive Wolfsmilch. Was der Bezug auf die Vergangenheit genau besagen soll, bleibt letztlich unklar. Er ist nicht argumentativ, sondern eher spielerisch, anspielend, verfremdet, ironisch gebrochen – mit einem Wort: postmodern. Auch wenn man das Werbekonzept im Detail nicht kennt: Offensichtlich ging die Agentur Armando Testa, die die Kampagne entworfen hat, davon aus, eine solche Art von Werbung würde bei den Adressaten ankommen. Postmodern scheint heutige Espressotrinker – und wohl auch andere Werbekunden – nicht zu überfordern; postmodern lässt sich goutieren. Ob dieses historische Sinnbildungsmuster verstärkt für unsere Gegenwart steht, im Konsumalltag wie auch sonst?

Eine Renaissance-Dame

Dazu passt eigentlich die Geschichte der Lupa-Skulptur. Dass die die beiden Knaben, also Romulus und Remus, der Wölfin erst in der Renaissance hinzugefügt worden sind, wissen wir schon seit Langem. Aber seit einigen Jahren ist auch das Entstehungsdatum der Wölfin selbst in der Diskussion. Befunde zur Gusstechnik und zum Material sprechen dafür, dass man sie eventuell nicht ins 6. Jahrhundert v. Chr., sondern ins 11. oder 12. Jahrhundert n. Chr. zu datieren hat – keine antike, sondern eine mittelalterliche Skulptur mithin. Irgendwie also auch schon post, die alte Wölfin.

 

Literatur

  • Seidensticker, Mike: Werbung mit Geschichte. Ästhetik und Rhetorik des Historischen, Köln u.a. 1995.

Externe Links

 

Abbildungsnachweis
(c) Marie-Lan Nguyen. Die Kapitolinische Wölfin (Rom), Abbildung gemeinfrei.

Empfohlene Zitierweise
Sauer, Michael: Römische Wölfin, postmoderne Werbung. In: Public History Weekly 1 (2013) 7, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-405.

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LPR Hessen schreibt MediaSurfer – MedienKompetenzPreis Hessen – aus

Auch in diesem Jahr schreibt die LPR Hessen wieder den MediaSurfer – den MedienKompetenzPreis Hessen – aus. Ziel dieser Ausschreibung ist es, den bewussten Umgang von Kindern und Jugendlichen mit den neuen Medien weiter zu fördern. Die Bewerbung ist ab sofort für Schulklassen, Vereine, Jugendclubs, Jugendinitiativen oder andere Gruppen aus Jugend- und Freizeiteinrichtungen möglich. Gesucht werden hessische medienpädagogische Projekte, die im Jahr 2013 von Kindern und Jugendlichen zwischen 3 und 18 Jahren durchgeführt wurden. Die möglichen Beitragskategorien umfassen Film/Video, Radio/Audio, Computer/Internet oder Handy. Bewerbungsschluss [...]

Quelle: http://medienbildung.hypotheses.org/2940

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