Misères de la condition royale en Occident (XIIIe-XVe siècles) (Gilles Lecuppre)

Die Nöte des königlichen Daseins im spätmittelalterlichen Europa

14. Juni 2010

Deutschsprachige Zusammenfassung

Die mediävistische Forschung hat sich in den letzten Jahrzehnten sehr dem Aufbau der Monarchie zugewandt. Ob eine allmähliche Genese des modernen Staates beschrieben oder die Feinheiten der Propaganda entschlüsselt wurden, den Studien lag dabei stets die Vorstellung eines allgemeinen politischen Konsenses zugrunde. Vielleicht so sehr, dass man vergaß, dass Politik immer auch Konflikt bedeutet, in dessen Zentrum mehr denn je der Titel des Königs stand. Weder der juristische, administrative oder fiskalische Apparat noch die Ausarbeitung klarer Nachfolgeregelungen oder die für die Funktion beanspruchte Sakralität konnten den König vor Staatsstreichen und anderen Bedrohungen bewahren. Die Konzentration immer größerer Gewalt geht stets mit immer höheren Ansprüchen an den Souverän einher: Die Zentralisierung politischer Autorität führt zur Zentralisierung des politischen Konfliktes. Und auch die schwindelerregende Höhe, in welche das ideale Königtum gehoben wurde, verlangt nach einem Monarchen, der diesem heiklen Amt gewachsen war. Beides trägt zu einer neuen Radikalität des Widerstandes bei.

In den Ereignissen selbst wie in der Historiographie ist es das Schicksal des Königs, bedrängt zu werden. Die christliche Moral fordert, dass der Inhaber der obersten Gewalt stetig an Menschlichkeit und Bescheidenheit erinnert werde: Widrigkeiten sollten ihm besonderer Ansporn sein. Die Zeitgenossen werden kaum vergessen: „Des Königs Herz ist in der Hand des HERRN wie Wasserbäche, und er neigt es, wohin er will“ (Spr. 21,1).

Ein Ziel des Beitrages ist es zu zeigen, dass auch die Erfahrungen des Bürgerkrieges – neben dem Hang der politischen Gesellschaft zur Figur des väterlichen Königs – zum Aufstieg der westlichen Monarchien beigetragen haben.

I. Schwächen und Unheil der Könige

1. Gefahren durch Geschlecht und Alter

Zehn Prozent der königlichen Nachfolger in den letzten drei Jahrhunderten des Mittelalters sind Frauen. Doch wird die weibliche Thronfolge zumeist als Krise wahrgenommen, die damit oft zersetzende Kräfte freisetzt. Davon zeugen die Ereignisse um Johanna von Konstantinopel um 1225. Die Erbin der Grafschaften Flandern und Hennegau, die von 1205 bis 1244 regierte, sah sich einem allgemeinen Aufstand ihrer Vasallen und Städte gegenüber. Ausgelöst wurde dieser durch Intrigen im Zusammenhang mit einem Betrüger, der im Land erschien und sich als ihr Vater Kaiser Balduin von Konstantinopel ausgab. Johanna musste sich letztlich an den König von Frankreich als ihren obersten Lehnsherren wenden, um ihre Autorität wieder herzustellen. Noch länger dauerte es, ihren Ruf wiederherzustellen.

Trotz der ständigen Anstrengungen, die Nachfolgeregelungen auf die Primogenitur hin zu verengen, war auch die Regierung eines Kindes bzw. die Regentschaft in dessen Namen häufig Umstürzen jedweder Art ausgesetzt. Meist zugunsten des väterlichen Onkels, der aufgrund seines Alters Sicherheit bot, aber auch, nach unserem Verständnis eher paradox, für die dynastische Kontinuität stand.

2. Unzulänglichkeiten der Existenz und des Körpers des Königs

Der König konnte nicht frei über seinen Körper verfügen und in den Auseinandersetzungen zwischen Parteiungen oder auswärtiger Mächte zum Unterpfand neu gefundener Gleichgewichte werden. Während der Regierung Karls VI. von Frankreich (1380-1422) wurden der Könige und dessen Söhne mehrfach seitens der Partei der Armagnacs entführt. Ein Vorgang, der nicht durch das Verbrechen der Majestätsbeleidung abgedeckt und von seinen Autoren als simple Varianten der Mobilität des Königs dargestellt wurde.

Seit Ende des 13. Jahrhunderts bot sich der englischen Diplomatie der Raub schottischer Prinzen oder der Thronkandidaten als probates Mittel an. Sie konnte damit zugleich an die ständige Bedrohung erinnern, welche die Engländer über das kleine Königreich ausübten und welches sie sich gern zum Untertan gemacht hätten.

Auch über seinen Tod konnte der König nicht frei verfügen. Die Historiographie wie die Feinde der Krone wussten ihn ganz nach ihren eigenen Interessen zu verwerten. Wilhelm, Graf von Holland und römischer König (1247-1256), hätte dem großen Interregnum ein Ende setzen und die Kaiserkrone ergreifen können. Doch fand er im Kampf gegen das unedle Volk der Friesen ein tragisches Ende: Das Eis eines zugefrorenen Sees gab unter dem Gewicht seines Pferdes nach. Die Kirchenmänner bemächtigten sich dieses Ereignisses, um an die Ungewissheit auch des Lebens der Großen zu erinnern.

Trotz der Verschärfung der Rechtsprechung gegen den Verrat war es im 13. Jahrhundert gebräuchlich, die Neuigkeit vom Tod des Königs in Umlauf zu bringen um somit dessen Anhängerschaft aufzulösen – ein weiterer Beleg für die persönliche Natur von Gehorsam und dessen Schwächen.

3. Verzicht und Delegation

Die Ausübung von Macht ist nicht immer erstrebenswert. Einige Potentaten zogen es sogar vor, ihr in Ermangelung der notwendigen Mittel und Sicherheiten den Rücken zu kehren. Die Päpste, die sich im 13. Jahrhundert gern in der Rolle der Hüter der Königtümer sahen, hatten es bisweilen schwer, geeignete Kandidaten zu finden.

Andere versuchten, ihre Macht zu delegieren. Doch selbst das wurde ihnen oft mit dem Verweis auf die Verpflichtungen versagt, die sie während des Eids bei der Salbung eingegangen waren. Vielmehr schuldeten sie einem jeden ihrer Barone die gleiche Zuneigung: So loyal sich ein Günstling auch zeigen mochte, in den Augen des Adels und der Chronisten war er stets des Verrats schuldig.

Trotz der Abscheu, welche die mittelalterlichen Menschen gegenüber Uneinigkeit und Teilung als Zeichen des Bösen hegte – die Gelegenheiten, welche den König sich ein alter ego wählen oder erdulden sahen, waren nicht selten: die Regentschaften einmal ausgenommen, konnte der Monarch zusammen mit seiner Ehefrau, seinem Bruder, seinem Sohn, seinem Günstling, seinem wichtigsten Berater oder seinem Feind als Gespann auftreten, und selbst mit einem Betrüger als Wiedergänger eines früheren Königs. Nicht immer gelang es durch Gewalt und Krieg, alle Gegensätze zu beseitigen. Zog sich der Konflikt in die Länge, mussten neue Formen der Teilung erfunden werden: Aufteilung des Territoriums, internationale Schlichtung, neuartige Formulierungen von Unterwerfung etc.

II. Rivalität um die Königskrone

Die Zeitgenossen hüteten sich davor, von Zwiespalt zu sprechen, und mehr noch, ihn zu denken – und dennoch ist er in der Monarchie häufig anzutreffen. Allein das 13. Jahrhundert, das gern als klassisch bezeichnet und mit der Perfektion seiner Kathedralen und seiner theologischen Summen gleichgesetzt wird, ist über das ganze Abendland hin von königlichen Schismen durchzogen, die Wahlkönigtümer ebenso trafen wie dynastische Thronfolgen.

Lange Zeit bildete das Königreich Frankreich eine Ausnahme. Die zeitgenössischen Autoren betrachten die mittlerweile chronische Zersplitterung im Reich mit Belustigung, vor allem aber mit viel Stolz, bis zu dem Zeitpunkt, als die Kapetinger in direkter Linie ausstarben und man sich an die Wahl eines Nachfolgers machen musste (1328). Diese Wahl wurde ihrerseits in Frage gestellt, während auch die englischen und navarrischen Verwandten Ansprüche auf den Thron anmeldeten.

III. Zwielichtige Praktiken der Monarchie

Die Fortschritte der königlichen Herrschaft kann man schließlich auch als eine „Domestizierung“ zweifelhafter und unmoralischer Praktiken verstehen, die von den traditionellen Fürstenspiegeln abgelehnt wurden.

In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts von Thomas von Aquin neu definiert, macht der Skandal die Sünde publik. Seine Untersuchung in den königlichen Häusern erlaubt es die Meisterschaft aufzuzeigen, welche die Fürsten gegenüber diesem a priori zerstörerischen Phänomen entwickelten: Auf ihre Initiative wichen die Grenzen des Akzeptierbaren zurück. Die Entscheidung für den Skandal statt für das Schweigen konnte dazu beitragen, eine Politik zu unterstützen (wie beim Skandal um die Tour de Nesle unter Philipp IV. den Schönen, 1314) und seine rituelle Beilegung konnte als Zeichen für die Zuneigung zum Monarchen interpretiert werden (wie nach dem Bal des Ardents am französischen Königshof, 1393).

Das Abgleiten ins Tyrannische, das potentiell jede Monarchie treffen konnte, vor allem aber jene, die aus einem Staatsstreich hervorgegangen waren, zeichnete sich insbesondere durch eine große Zahl von Komplotten aus. Der geschickte Souverän wusste diese aber nicht nur abzuwehren, sondern auch selbst einzufädeln, um auf diese Weise seinen Einflussbereich zu erweitern, vor Opposition zu warnen oder die Zuneigung seiner Untergebenen zu steigern, die bisweilen sogar bereit waren, imaginäre Verschwörungen niederzuwerfen.

Ein weiteres neues Element am Ende des 15. Jahrhunderts ist die Fähigkeit der Regierenden, Gerüchte gezielt zu steuern. Neben den autorisierten Informationskanälen und der Propaganda wurde im Rahmen der politischen Kämpfe gegen Fürsten und Städte dieser Umweg mit zunehmender Fertigkeit gewählt. So betrachtet, hatten die Könige in der Phase der Bürgerkriege Vieles dazugelernt, was ihre Handlungsmöglichkeiten im Falle eines Konfliktes erheblich erweiterte.

Ende des 15. Jahrhunderts stellten sich Humanisten in den Dienst der Monarchen, um mit Hilfe einer neuen und glanzvollen Sprache oder mit dem schmeichelhaften Vergleich mit Gestalten antiker Mythen deren Legitimität Ausdruck zu verleihen. Sicherlich ein geschicktes Ansinnen: Denn wie erst das Monster den Helden zum Helden machte, so machte erst die Prüfung den König zum König.

Informationen zu Gilles Lecuppre: hier
Zum Programm im Sommersemester 2010: hier

Quelle: http://jeunegen.hypotheses.org/256

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Buchbesprechung: Why Nations Fail

Von Stefan Sasse

"Why nations fail" verspricht bereits im Titel eine umfassende Gesamtanalyse. Große Theoriegebäude, die den Anspruch haben Erklärungen für politische Phänomene quer durch die Jahrhunderte und Kontinente zu bieten sind seit Karl Marx etwas aus der Mode gekommen, aber Daron Acemoglu und James A. Robinson unternehmen genau das. Das Ergebnis überzeugt, vor allem deswegen, weil die Theorie, die sie entwerfen, relativ simpel ist und nur ein Fundament für folgende Detailstudien bietet. In ihrer Erklärungskraft aber ist sie beeindruckend und verdient mindestens eine tief gehende Betrachtung. Die Autoren gehen in ihrem Buch dabei so vor, dass sie ihre Theorie kurz skizzieren und dann anhand zahlloser, meist historischer Beispiele empirische Evidenz zu schaffen versuchen. Die Frage, um die sich alles dreht, ist dabei die folgende:
Im 15. Jahrhundert war der Prosperitätsunterschied in allen Regionen der Erde nicht besonders groß - selbst Menschen im Kongo genossen mindestens 25% des Lebensstandards in Europa. Heute liegt diese Schere bei einem Faktor, der etwa bei 30 liegt - also etwa 3% des Lebensstandards. Die Schere entwickelt sich aber Industriellen Revolution auseinander. Warum also beginnt die Industrielle Revolution ausgerechnet in Großbritannien und erfasst dann die gesamte westliche Welt, während der Rest der Welt bis heute kaum in der Lage scheint, diese Entwicklung nachzuvollziehen? Die Beispiele Koreas und Japans zeigen, dass es keine Frage des Technologievorsprungs sein kann, denn den holten sie relativ schnell auf.

Die Antwort der Autoren ist interessant: es steht und fällt mit der Ausgestaltung politischer und ökonomischer Institutionen. Beide charakterisieren sie entweder als inkludierend oder als extraktiv. Eine inkludierende politische Institution erlaubt möglichst vielen Gruppen eine Teilhabe an der Macht - etwa in unseren modernen Demokratien, wo prinzipiell jede Gruppe ihre Anliegen frei vertreten (nicht zwingend durchsetzen) kann. Extraktive politische Systeme beschränken die Macht auf eine kleine Elite und erlauben keine Teilhabe der Mehrheit, etwa in Diktaturen, dem autoritären Russland und China oder den Ländern des ehemaligen Ostblocks. Inkludierende wirtschaftliche Institutionen haben niedrige Einstiegsschwellen, breitere Einkommensstreuung und erlauben kreative Zerstörung; extraktive Systeme haben hohe Eintrittshürden (häufig politische Beziehungen), sichern Besitz nicht und ziehen Reichtum zugunsten einer kleinen Elite ab. Besitzt ein Land extraktive Institutionen, kann es nicht wachsen - es gibt keinerlei Anreize für Innovationen und Investitionen.

Die Autoren erklären außerdem, dass auf Dauer Verbindungen extraktiver und inkludierender Systeme nicht möglich sind - das heißt, wenn ein Land sein ökonomisches System inkludierend gestaltet, um Wirtschaftswachtum zu erzeugen, werden entweder seine politischen Institutionen ebenfalls inkludierend werden müssen, oder aber das Wirtschaftssystem wieder extraktiv werden. Ein Beispiel hierfür ist England: Die Liberalisierung der Wirtschaft (inkludierendes System) wird von einer stetigen Ausweitung politischer Rechte (ebenfalls inkludierend) gefolgt, weil die Gewinner der wirtschaftlichen Entwicklung (neue Eliten) diesen Erfolg auch politisch sichern wollen, während die Verlierer (alte Eliten) ihren bewahren möchten. Gewinnen die alten Eliten diesen Konflikt, wird die Wirtschaft wieder extraktiv. Am Beispiel Englands: Die frühen Fabrikanten und Großhändler erhalten Mitsprache im Parlament (neue Eliten), der Adel (alte Eliten, wirtschaftlich auf Landwirtschaft fixiert) verliert an Macht. Den neuen Eliten gelingt es aber nicht, ihren eigenen Status zu bewahren, als neue Innovationen aufkommen - stattdessen erhalten neue Gruppen Mitspracherecht, und so weiter und so fort. Die Autoren nennen dies den "tugendhaften Kreislauf"; ein Erfolg gebiert den nächsten. Das Gegenteil des Ganzen ist der "Teufelskreis", in dem extraktive Systeme neue extraktive Systeme gebieren. Beispiele dafür finden sich in der Kolonialgeschichte. Die europäischen Kolonialherren entmachten die regionalen Despoten und führen ein eigenes Ausbeutungssystem ein. Als die Kolonien unabhängig werden, treten neue Ausbeuter auf den Plan. Eine extraktive Institution wird von der nächsten abgelöst. Historisch ist der Teufelskreis wesentlich häufiger, denn der "tugendhafte Kreislauf" kann jederzeit unterbrochen werden: Sobald eine Gruppe ihre eigene Machtstellung absichert, indem sie neue Eliten ausschließt (und damit Kreative Zerstörung verhindert), werden die Systeme extraktiv. Microsoft hätte beispielsweise alle Mitbewerber ausschalten können, wenn das US-Kartellamt das nicht verhindert hätte und diesen Markt extraktiv gestalten können.

Viel Gewicht der Autoren liegt auf dem Prozess der Kreativen Zerstörung. Neue Innovationen zerstören stets alte Strukturen, und die alte Elite hat daran kein Interesse und versucht es zu verhindern. So wurden mechanische Webstühle ähnlich dem Weberschiffchen, die zu den Zündungsfunken der Industriellen Revolution wurden, bereits im Römischen Weltreich und Elisabeth I. erfunden und den jeweiligen Monarchen präsentiert. Sowohl der römische Kaiser als auch die englische Königin reagierten gleich: Sie ließen die Erfindung vernichten und den Erfinder kaltstellen. Sie fürchteten die Kreative Zerstörung, denn die Erfindung würde viele Handwerker arbeitslos machen und ihre politische Machtstellung gefährden (Unruhe gefährdet politische Macht immer, man blicke nur auf den aktuellen Prozess von Internet-Partizipation und dem Aufstieg der Piraten als harmloses Beispiel). Daher auch die lange Phase der Stagnation in Technik im römischen Kaiserreich, dem Mittelalter und durch die Neuzeit hindurch in Europa. Die Eliten bewahren das Bestehende und erlauben keine kreative Zerstörung. Ein besonders krasses Beispiel ist ein Königreich in Afrika im 17. Jahrhundert, in dem die Menschen nicht einmal das Rad und den Pflug einführten. Da die Besitzrechte nicht gesichert waren und der König in extraktiver Tradition allen Besitz auf sich konzentrierte, bestand für Bauern nie ein Anreiz, effizienter zu arbeiten. Weder Rad noch Pflug waren in dem Königreich verbreitet, obwohl sie als Konzept durchaus bekannt waren.

Es ist wichtig, dass die Autoren die Möglichkeit von Wirtschaftswachstum unter extraktiven Systemen in ihre Theorie einbezogen haben. Das beste Beispiel hierfür, über das sie auch lange berichten, ist die Sowjetunion, die zwischen dem Ende der 1920er und dem Ende der 1960er Jahre eine Phase beispiellosen Wirtschaftswachstums erreichte, das bei etwa 5% jährlich lag und viele Ökonomen auch in der westlichen Welt von der Überlegenheit des sowjetischen Modells sprechen ließ. In den 1950er Jahren gingen viele seriöse amerikanische Ökonomen davon aus, dass die Sowjetunion Ende der 1980er Jahre die USA an Wirtschaftsleistung und Lebensstandard überflügeln würde. Stattdessen rutschte die Sowjetunion in den 1960er Jahren in eine Rezession, aus der sie nie wieder herauskam. Der Grund dafür liegt laut den Autoren darin, dass das forcierte Wirtschaftswachstum in einem extraktiven System wie der Sowjetunion (die Gewinne kamen hauptsächlich der Parteielite zugute) quasi aus der Substanz erfolgt. Das russische Zarenreich lag weit unter seinen wirtschaftlichen Möglichkeiten. Die Sowjets konnten also ein Wirtschaftswachstum dadurch forcieren, diese gigantischen Potenziale zu erschließen. Da sie es ohne Rentabilitätsgedanken taten, fraßen sie dabei aber die Substanz auf (man denke nur an die aus dem Boden gestampften, sinnlos riesigen Industriekomplexe mitten im Nirgendwo). Dieses Wachstum kann nicht nachhaltig sein.

Dieses Argument ist für die Autoren zentral in ihrer Bewertung des chinesischen Wirtschaftswachstums. Sie sagen, dass es sich um extraktive Institutionen handelt und das Wachstum daher nicht nachhaltig sein kann. Macht China so weiter wie bisher, wird es ebenfalls irgendwann deutlich stagnieren - und zwar sicher, bevor es den Westen eingeholt hat. Es ist wichtig, dass dies kein Automatismus ist - würden die Chinesen etwa ihr politisches System inkludierender gestalten, so wäre es durchaus möglich, dass das Wachstum nachhaltig wird. Nur, derzeit ist ihr System extraktiv, und unter diesen Bedingungen kann kein nachhaltiges Wachstum entstehen, da die alten Eliten sich der einhergehenden Kreativen Zerstörung versagen werden.

Die Lektüre des Buchs ist mehr als nur gewinnbringend. Selbst wenn man den Thesen nicht zustimmen sollte, bietet das Buch in seinen zahllosen historischen Beispielen hochinteressanten Lesestoff, muss man sich mit dem Gedankengebäude doch auseinandersetzen und es argumentativ durchdringen. Ich kann jedem nur empfehlen, sich den Gedanken der Autoren zu widmen; der Gewinn ist kaum zu messen.

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Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2013/01/buchbesprechung-why-nations-fail.html

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Deutsch-Finnische Historikerseminare – Aktuelles und Historisches

Am 15. Februar, also in fast zwei Wochen ist es soweit: Das Deutsch-Finnische Historikerseminar findet bei uns am Nordeuropa-Institut an der Humboldt-Universität zu Berlin statt. Deutschland und Finnland sind über die Jahrhunderte hinweg durch enge kulturelle, wissenschaftliche, aber natürlich auch wirtschaftliche und politische Kontakte verbunden gewesen. Zugegeben, eine asymmetrische Beziehung, aber immerhin ist es bemerkenswert, dass es seit nunmehr 40 Jahren gemeinsame Tagungen von deutschen und finnischen Kolleginnen und Kollegen gibt.

Angefangen hat alles mit gemeinsamen Tagungen von “Gesellschaftswissenschaftlern” aus Finnland und der DDR, bis 1990 brachte man es bis auf zwölf gemeinsame Seminare, die alternierend in Finnland und Ostdeutschland stattfanden. Im Nachgang haben sich Kritiker zu Wort gemeldet, die sich darüber mokierten, dass Wissenschaftler eines westlichen Landes sich mit Vertretern ‘marxistisch-leninistischer Pseudowissenschaft’ einließen. Seien die gemeinsamen Treffen nicht ohnehin von den Interessen der DDR-Führung geleitet gewesen und hätten sich die finnischen Historiker nicht einer zu großen Nähe zum Sozialismus verdächtig gemacht?

Sicherlich halfen das auch im Finnland der 1970er Jahre anzutreffende Interesse am Marxismus als wissenschaftlicher Methode und die insgesamt geringere Unvoreingenommenheit der DDR gegenüber dem Projekt auf die Sprünge. Finnlands Politik der ‘Äquidistanz’ gegenüber beiden deutschen Staaten hatte im Westen zwar zum unsäglichen und vielfach kritisierten Unwort von der “Finnlandisierung” geführt. Die (nicht ganz freiwillige) Nähe zum großen Nachbarn Sowjetunion und deren zeitweilig starker Einfluss auf die finnische Politik hatten allerdings nicht eine frühere einseitige Anerkennung der DDR durch die Finnen bedeutet. Anders als in anderen nordeuropäischen Ländern waren es in Finnland aber nicht nur Vertreter linker Parteien, die diplomatische Beziehungen mit Ostdeutschland forderten, sondern das gesamte Parteienspektrum. Ende der 1960er Jahre war es zudem bereits zu einem bilateralen Kulturprotokoll gekommen. Im Umfeld der Anerkennung beider deutscher Staaten (nicht nur) durch Finnland 1972/73 kam es dann zu einer Kontaktaufnahme von Greifswalder Nordeuropawissenschaftlern und Historikern mit Helsinkier Kollegen. Die DDR-Nordeuropaforschung war nahezu vollständig auf die Universität Greifswald konzentriert worden, wo man bereits in der Weimarer Republik eine interdisziplinäre Nordeuropawissenschaft und ein eigenes Institut für Finnlandkunde eingerichtet hatte.


Meine Ausleihquittung aus der Institutsbibliothek von vor ein paar Tagen zeigt deutlich, dass ich mich intensiv auf das Seminar vorbereite. Ein Kollege kommentierte zudem die große Bandbreite der Themen, die der Leihzettel aufweise…
CC-BY JHS 

Tatsächlich handelte es sich bei diesen gemeinsamen Treffen um ein für DDR-Verhältnisse eher untypisches bottom-up-Projekt, das zwar gerne von der Partei- und Staatsführung gesehen wurde, aber nicht von ihr initiiert worden war. Auf finnischer Seite half das Bildungsministerium durch Gelder und politische Unterstützung. Für die ostdeutschen Finnlandforscher waren die gemeinsamen Tagungen wertvolle Möglichkeiten, um mit Experten auf ihrem Gebiet in Austausch zu treten, westliche Forschungstrends zu verfolgen und bei den Reisen zu den finnischen Tagungsorten auch Archivarbeiten durchzuführen oder westliche Forschungsliteratur zu beschaffen. Für die finnischen Vertreter bedeuteten die Seminare Begegnung mit dem lange bewunderten wissenschaftlichen Vorbildland Deutschland – in diesem Fall in seiner ostdeutschen sozialistischen Ausführung. In den 1970er Jahren war der Abschied vom Deutschen als Wissenschaftssprache in Nordeuropa noch nicht vollständig vollzogen, gerade in Finnland war es nach wie  vor Arbeitssprache für viele Akademiker. Die von finnischer Seite beteiligten Historiker haben sich – was natürlich nicht ganz unproblematisch ist – selbst an die Aufarbeitung dieser ostdeutsch-finnischen Tagungen begeben, teils eher apologetisch, teils in deutlich selbstkritischerer Tendenz So hat Seppo Hentilä, langjähriges Mitglied der ‘Kerntruppe’, eingeräumt, dass man die Haltung der finnischen Teilnehmer als eine Art ‘Finnlandisierung’ sehen könnte. Während die DDR-Wissenschaftler des Öfteren sehr kritische Vorträge über Finnland und Nordeuropa hielten. , waren umgekehrt die Mauertoten oder die Unterdrückung der politischen Opposition in der DDR kein Thema. Wie Hentilä meint, war dies eine von beiden Seiten gewahrte Vorsicht, da die Kooperation ansonsten unmittelbar beendet gewesen sei.

Ende der 1980er Jahre begannen Münchner Osteuropahistoriker um den seinerzeitigen Lehrstuhlinhaber Edgar Hösch ebenfalls mit gemeinsamen Tagungen mit finnischen Kollegen. In der Bundesrepublik hatte die Osteuropäische Geschichte mit die bedeutendsten (west-)deutschen Beiträge zur Erforschung der finnischen Geschichte geleistet, die Jahrbücher für Geschichte Osteuropas hatten langjährige finnische Mitherausgeber. Ehe man sich versah, hatte man gerade mal zwei westdeutsch-finnische Treffen geschafft und schon war die Berliner Mauer gefallen. Seit 1990 sind die beiden Tagungstraditionen dann “friedlich vereinigt” weitergegangen und i.d.R. alle drei Jahre trifft man sich mal in Finnland, mal in Deutschland. Berlin ist dieses Jahr überhaupt zum ersten Mal Veranstaltungsort und das Nordeuropa-Institut erstmals Gastgeber.

Es bleibt, das sei durchaus eingeräumt, ein wenig erstaunlich, dass es nun schon seit vier Jahrzehnten gemeinsame Tagungen gerade mit Finnland gibt. Man kann die üblichen Floskeln von den langjährigen Beziehungen, die eingangs hier erwähnt wurden, zitieren, doch verweist dies ja auf eine vergangene Zeit. Wenn die gemeinsamen Tagungen – zudem noch mit immer wieder neuen Gesichtern und neuen Themen – dann doch weitergehen, zeigt das wohl, dass das gegenseitige Interesse nach wie vor vorhanden ist und die Tagungstradition eine Zukunft vor sich hat…

Quelle: http://nordichistoryblog.hypotheses.org/1328

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Wie kann ich mitmachen?

Ein Gemeinschaftsblog wie die Ordensgeschichte lebt von der Zusammenarbeit. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich hier zu beteiligen. Dazu möchte ich herzlich einladen: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen, die sich mit der Geschichte von Klöstern und Orden beschäftigen, sind herzlich dazu eingeladen, sich den 65 bisher bereits registrieren Autorinnen und Autoren anzuschließen. Wenn Sie einen eigenen Account haben möchten, reicht dazu eine kurze Mail an maria.rottler@gmail.com: Sie müssten dazu nur Ihre E-Mail-Adresse angeben, mit der Sie sich registrieren möchten; dann wird Ihr Account eingerichtet. Die [...]

Quelle: http://ordensgeschichte.hypotheses.org/2141

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Community Management/Redaktion Wissenschaftliche Blogs/Soziale Medien

Die Max Weber Stiftung baut seit 2012 ein Internet-Portal zur Förderung der wissenschaftlichen Kommunikation auf. Für dessen Betreuung und Weiterentwicklung sucht sie zum nächstmöglichen Zeitpunkt einen Kollegen/eine Kollegin. Arbeitsort ist Bonn.

Die drittmittelfinanzierte Stelle ist bis zum 30. April 2015 befristet. Sie umfasst das Community Management (Vernetzung des Portals mit den wissenschaftlichen Fachgemeinden in Deutschland und in den Gastländern der Institute, innerhalb der Digital Humanities sowie der Netzöffentlichkeit), die Weiterentwicklung von Konzeption und Struktur des Portals, das Anwerben und die redaktionelle Betreuung von wissenschaftlichen Weblogs, die Initiierung und Koordination von institutsübergreifenden Schwerpunktthemen, die Abstimmung mit dem französischen Schwesterprojekt hypotheses.org, die Repräsentation des Projekts durch Vorträge etc. und die Organisation von Workshops zur Implementierung des Angebots in der Stiftung.

Sie haben ein geistes- oder sozialwissenschaftliches Studium abgeschlossen und verfügen über eine hohe einschlägige IT-Kompetenz. Dazu zählen der Umgang mit WordPress, die Pflege von Blogs und Facebookseiten und die visuelle/grafische Gestaltung von Online-Präsenzen. Eine ausgeprägte Kommunikationsfähigkeit wird vorausgesetzt. Eigene Social Media-Auftritte und Erfahrung in der Betreuung virtueller Communities sind ebenso von Vorteil wie Routine im Umgang mit und in der Redaktion von wissenschaftlichen Texten, berufliche Erfahrung im wissenschaftlichen/akademischen Bereich sowie Französischkenntnisse.

Wir bieten eine Bezahlung nach TVöD E 13 sowie die Arbeit in einem sympathischen Team und einem ebenso spannenden wie abwechslungsreichen und anspruchsvollen Umfeld. Die Stelle ist teilzeitgeeignet.

Schwerbehinderte werden bei gleicher Eignung bevorzugt berücksichtigt.
Die Max Weber Stiftung strebt die Erhöhung des Anteils von Frauen an und fordert deshalb qualifizierte Frauen nachdrücklich auf, sich zu bewerben. Frauen werden nach Maßgabe des Bundesgleichstellungsgesetzes bei gleicher Qualifikation vorrangig berücksichtigt.

Für weitere Auskünfte stehen Ihnen Herr Dr. Tobias Wulf (wulf [at] maxweberstiftung.de, Tel.: 0228-3778627) zum Projekt und Frau Sandra Heisel (heisel [at] maxweberstiftung.de, Tel.: 0228-3778615) zu administrativen Fragen zur Verfügung.

Ihre elektronische Bewerbung richten Sie bitte im pdf-Format mit den üblichen Unterlagen bis zum 25. Februar 2013 an:
Geschäftsführer der Max Weber Stiftung
Kennwort: Bewerbung Soziale Medien
E-Mail: bewerbung [at] maxweberstiftung.de

Quelle: http://gab.hypotheses.org/579

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Adressbüros in Wien, 1760-1850

Heute halte ich an der Uni Wien meinen Vortrag Adressbüros in Wien 1760-1850 oder: Das Comptoir des Barometermachers, der zu einem guten Teil den Projekte- und Barometermacher Jacob Bianchi behandeln wird. Als Vorbereitung poste ich hier eine Übersicht über jene Wiener Adressbüros oder ähnliche Einrichtungen, von deren Projektierung oder Existenz im Zeitraum 1760 bis 1850 ich bislang etwas in Erfahrung bringen konnte; ab 1. Februar werde ich mich mit diesen im Rahmen eines zweijährigen, vom Jubiläumsfonds der Oesterreichischen Nationalbank finanzierten Projekt beschäftigen.
  • Frag- und Kundschaftsamt (Ghelen, 1707 – ca.1810)
  • Intelligenz-Amt (Johann Thomas Trattner, 1762, Projekt)
  • Bureau d’Adresse (Johann Theodor Gontier, 1763, Projekt)
  • Comptoir der Künste, Wissenschaften und Commerzien (Jacob Bianchi, 1770–1774)
  • Schreib- und Kopeystube/Dienstanzeigungskomtor (Wenzel Augustin Wersak, 1783)
  • Vermittlungsbüro der Handlungskorrespondenz (Samuel Jacob Schröckh, 1783–1786)
  • theoretisch praktisches Handlungs-Kenntniß Mittheilungs Institut (Joseph Bleich, 1786, Projekt)
  • Geschäftsschreibstube (Karl Fritz von Rustenfeld, 1799)
  • Kunst- und Industrie-Comptoir (Holer/Kapeller/Schreyvogel, 1801–1836)
  • Amt allgemeiner Vermittlung (Konstantin Kirides/Cyrides, 1802/3, Projekt)
  • Quartier-Auskunftamt (Franz Carl Großhaupt, 1803, Projekt)
  • Auskunftsdienste für Fremde in einem Verkaufsgewölbe (Johann Hieronymus Löschenkohl, 1804)
  • Allgemeines Anfrage- und Auskunfts-Comptoir (Joseph Jüttner und Karl Freiherr von Steinau, 1819ff.)
  • Auskunfts-Protokoll für dienstlose Amtsindividuen (Jos. Frank, 1841)
  • Auskunfts-Bureau für musikalische Angelegenheiten jeder Art (Franz Glöggl, 1841)

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/235547076/

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Ausstellung zu 20 Jahre Monochrom im MUSA, Wien 29.1.-27.4.2013

Das geschätzte Kunst-, Theorie- und Bastelkollektiv monochrom wird 20 und schenkt sich sowie uns allen die Ausstellung Die waren früher auch mal besser. monochrom (1993-2013). Gezeigt wird diese bis zum 27.4.2013 im MUSA, dem Museum auf Abruf, Felderstraße 6-8, 1010 Wien und nur gut, dass die mediale Resonanz (ORF ON, FM4, Standard, ...) so erfreulich ist.

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/235546735/

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Arabische Revolution 2011: Wie viel Veränderung ist möglich?

  Vor fast genau zwei Jahren begannen die Ägypter mit ihrer Protestbewegung, die schließlich in der Revolution und im Sturz ihres ehemaligen Präsidenten Mubarak münden sollte. Auch mich haben die Bilder der standhaften Demonstranten auf dem Kairoer Tahrir-Platz beeindruckt. Sie waren so entschlossen, wirklich etwas zu verändern. Und ich habe dabei auch oftmals an die erfolgreiche Friedliche Revolution 1989 in der DDR gedacht, die vorher auch kaum jemand für möglich gehalten hätte. War der so genannte „arabische Frühling“ für die Menschen dort wirklich so eine Befreiung wie der 1989 durch die Revolution ermöglichte Mauerfall für die Menschen in der DDR? Um diese Fragen beantworten zu können, ist eine differenzierte Betrachtung notwendig, die die kulturellen Hintergründe dieser Region einbezieht. Historische Hintergründe In den Tagen der arabischen Revolution 2011 war viel davon die Rede, dass die Araber erst die Aufklärung nachholen müssen, bevor eine Demokratisierung stattfinden kann. Doch der tunesische Literaturwissenschaftler Sarhan Dhouib betonte bei seiner Ringvorlesung an der Leuphana Universität Lüneburg am 18. Januar 2013 mit dem Titel „Europa von außen gesehen: Eine arabisch-islamische Perspektive“, dass es seit dem 19. Jh. aufklärerische und säkulare Tendenzen in der arabischen Welt gegeben habe. Bereits in dieser Zeit, so Dhouib, hätten arabische Intellektuelle nach europäischem Vorbild Ideen für säkulare, auf rechtsstaatlichen Prinzipien aufbauende Verfassungen entwickelt. Es hat also Ansätze der Aufklärung gegeben, sie konnten sich nur nicht durchsetzen. Der heute für so viel Konfliktstoff sorgende Islamismus entstand erst in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts. Dabei handelt es sich um eine politische Bewegung, die die religiösen Gefühle der Menschen gezielt instrumentalisiert. Von Anfang an verstand sich der Islamismus als Gegenbewegung zu diversen Reformen Anfang des 20. Jahrhunderts – er wandte sich insbesondere gegen die umfassende politische Neuordnung nach der Säkularisierung und der Abschaffung des Sultanats in der Türkei. Abgesehen von den technischen Errungenschaften lehnten die Islamisten alle modernen Werte und die daraus resultierenden politischen Perspektiven ab. Einen Aufschwung erlebt der Islamismus vor allem am Ende des 20. Jahrhunderts infolge der fortschreitenden Unzufriedenheit und Desorientierung vieler Menschen in den arabischen Ländern: Migration und Digitalisierung bieten zudem noch nie da gewesene Kommunikationsmöglichkeiten an. Mit der Islamischen Revolution im Iran von 1979 gelang es den Islamisten erstmals, in Regierungsverantwortung zu gelangen. Spätestens seit den verheerenden Anschlägen vom 11. September 2001 dominierten diese Eindrücke das Bild von den Arabern und vom Islam in der westlichen Welt. Die säkulare Gegenbewegung entwickelte sich allerdings ebenfalls in eine totalitäre, die Menschen unterdrückende Richtung. Ebenfalls in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte sich der so genannte Panarabismus. Diese Ideologie strebte nach der Vereinigung aller arabischen Länder. Wichtig war hier nicht die Religion, sondern der Nationalismus. Infolge des Panarabismus entstanden in vielen Ländern – unter anderem in Tunesien, in Ägypten, in Libyen, in Syrien oder im Jemen – totalitäre Regime, die jahrzehntelang das eigene Volk terrorisierten. Viele von ihnen wurden durch die Revolutionen von 2011 zu Fall gebracht. Die Welle der Revolution schwappt über die arabischen Länder Was das Fass schließlich zum Überlaufen brachte Jahrzehntelang hatten sich die Menschen in Ägypten, Tunesien, Libyen und Syrien eher aus Pragmatismus, denn aus Begeisterung den Verhältnissen in ihren Ländern angepasst. Von den einst vollmundig propagierten Visionen des Sozialismus und der arabischen Einheit war schon längst nichts mehr übrig geblieben. Stattdessen herrschten Korruption und wirtschaftliche Perspektivlosigkeit. Mächtige Geheimdienst-Apparate schüchterten die Menschen ein und versuchten, jede Kritik im Keim zu ersticken. Doch auf einmal spielten die Menschen dieses ganze Spiel nicht mehr mit. Anzeichen dafür, dass etwas ins Rollen kam, hatte es bereits im Sommer 2010 gegeben, als die Ägypter die in ihrem Land herrschende Polizei-Willkür nicht mehr hinnehmen wollten. Es kam verstärkt zu Solidaritätsbekundungen für deren Opfer. Als der 28-jährige Khaled Said auf offener Straße zu Tode geprügelt wurde, bekundeten zahlreiche Menschen via Internet ihre Anteilnahme. Der offene Protest nahm im Dezember 2010 in Tunesien seinen Anfang. Ein junger Gemüsehändler, der die andauernden staatlichen Schikanen in seinem Berufsalltag nicht mehr ertrug, verbrannte sich am 26. Dezember 2010 selbst. Dieser öffentliche Selbstmord war die Initialzündung für landesweite Demonstrationen gegen die schlechten Zukunftsperspektiven. Offen entlud sich der Unmut über die Korruption und die desolate Wirtschaftslage. Protest-Aufrufe verbreiteten sich in Windeseile auf Web 2.0-Plattformen wie Facebook und Twitter. Die Protest-Lawine war ins Rollen gekommen und sie war kaum noch aufzuhalten. Initialzündung aus Tunesien Die Umwälzung der politischen Verhältnisse vollzog sich in den Tagen um den Jahreswechsel 2010/2011 herum praktisch unbemerkt von der internationalen Gemeinschaft. Demonstrationen weiteten sich zu Volksaufstand aus und erfassten schließlich das ganze Land. Am 14. Januar 2011 überschlugen sich die Ereignisse. In einer eigens anberaumten Rede kündigte Ben Ali seinen Rücktritt bis 2014 an. Doch damit wollten sich die Demonstranten nicht mehr abfinden. Noch am selben Tag reist Präsident Ben Ali unter dem Druck der Straße in sein ausländisches Exil ab. Am 17. Januar wird eine Übergangsregierung gebildet. Damit war die Ära Ben Ali nach mehr als 30 Jahren zu Ende. Alles in allem lässt sich sagen, dass sowohl die Regierung als auch die ihr unterstellten Sicherheitsorgane von den Vorgängen vollkommen überrumpelt wurden. Darauf, dass alles so schnell ging, war es wohl auch zurückzuführen, dass Tunesien das einzige Beispiel einer wirklich friedlichen Revolution in der arabischen Welt darstellte. Mit den neuen, im Internet organisierten Protestformen war das Regime offensichtlich überfordert. Die Revolution in Tunesien zeigte auf, wie schnell es möglich war, die politischen Verhältnisse für immer zu verändern. Ägypten setzt ein Ausrufezeichen Der Funke, der aus Tunesien nach Ägypten übersprang, entflammte auch dort die revolutionäre Bewegung. Am 25. Januar 2011 entlud sich bei einem so genannten „Tag des Zorns“ der ganze, über Jahre angestaute Unmut über das seit 30 Jahren festgefahrene autokratische System in offenem Protest. Gleichzeitig fanden in verschiedenen Städten des Landes Massendemonstrationen mit Tausenden von Teilnehmern statt. Bereits am folgenden Tag schlug das Mubarak-Regime zurück. Der Tahrir-Platz wurde unter Einsatz von Wasserwerfern geräumt. Es folgte die erste Verhaftungswelle. Darüber hinaus blockierte das Regime wichtige Social Media-Plattformen, um der Protestbewegung ihre Kommunikationsbasis zu entziehen. Doch davon ließen sich die Demonstranten nicht mehr abhalten, als der Protest bereits ins Rollen gekommen war. Schon am 28. Januar 2011 begann die entscheidende Phase der ägyptischen Revolution. Erstmals schaltete sich die Armee ein, um einen Ausgleich zustande zu bringen. Gleichzeitig distanzierten sich die Streitkräfte vom Mubarak-Regime. Ende Januar setzten sich die Demonstranten dauerhaft auf dem Tahrir-Platz – dem Zentrum ihres Protests – fest. Dort herrschte Augenzeugenberichten zufolge eine nie gekannte euphorische und gelassene Stimmung, die erstmals einen freien und offenen Dialog der verschiedenen politischen Lager ermöglichte. Konsequent und entschlossen forderten die Demonstranten den Rücktritt Mubaraks als Staatschef. Dieser verlor unterdessen auch im Ausland an Rückhalt, als US-Präsident Barack Obama erstmals die Notwendigkeit eines Regierungswechsels in Ägypten andeutete. Gewalt war das letzte Mittel, das dem um seine Macht kämpfenden Autokraten noch blieb, als der Kampf schon längst verloren war. Anfang Februar 2011 schickte Mubarak seine aus den Armenvierteln Kairos rekrutierten Schlägertrupps gegen die Demonstranten los. Die folgenden Gewaltexzesse forderten einem Untersuchungsbericht vom 19. April 2011 zufolge 846 Menschenleben. Darüber hinaus waren 6.467 Verletzte zu beklagen. Doch von all dem Terror ließen sich die Demonstranten nun nicht mehr einschüchtern und blieben standhaft. Gewaltfrei harrten sie auf dem Tahrir-Platz aus. Unterdessen schwand Mubaraks Rückhalt bei der Armee und bei den Verbündeten im Ausland weiter dahin. Die Rede des Präsidenten vom 10. Februar 2011 entpuppte sich nicht als der von ihm erhoffte Befreiungsschlag. Mit vagen Reformversprechen sowie mit der Ankündigung seines Rücktritts nach den Wahlen im September konnte er sein Volk nicht mehr erreichen. Im Gegenteil: Der Unmut über diese Rede schürte den Protest weiter. Am folgenden Tag, dem 11. Februar 2011 konnte die Opposition mehr Menschen als jemals zuvor für ihre Protestkundgebungen im ganzen Land mobilisieren. Am späten Nachmittag gab Mubarak dem Druck der Straße nach und kündigte seinen Rücktritt an. Damit war die Ära Mubarak nach 30 Jahren zu Ende gegangen. Mit ihrem gewaltfreien Massenprotest hatten die Demonstranten das Regime schließlich in die Knie gezwungen. Die erfolgreiche Revolution in Ägypten setzte ein deutliches Zeichen für Veränderung, zumal das Land am Nil als kulturelles und gesellschaftliches Zentrum der arabischen Welt gilt. Die Schattenseite der arabischen Revolution: Bürgerkriege in Libyen und Syrien Schließlich erreichte der Funke der Revolution auch die als besonders brutal geltenden Diktaturen in Libyen und Syrien. Doch diese Regime verstanden es, die Revolutionäre in blutige Bürgerkriege mit unabsehbaren Folgen zu verwickeln. Was auch in diesen Ländern als friedliche Revolution geplant war, versank in brutalster Gewalt. Relativ schnell nach dem Sturz Mubaraks in Ägypten erreichte die Revolution auch das benachbarte Libyen. Bereits am 17. Februar 2011 kam es auch dort zu einem „Tag des Zorns“. Doch das Gaddafi-Regime reagierte sofort mit brutalster Gewalt. Es folgten gezielte Bombenangriffe gegen wehrlose Demonstranten. Angesichts dieser Gewaltexzesse entschloss sich die libysche Opposition dazu, den Weg des friedlichen Protests zu verlassen und ihre Anhänger gewaltsam gegen derartige Übergriffe zu verteidigen. Bereits bis zum 23. Februar 2011 war es den Rebellen gelungen, die Kontrolle über den Ostteil Libyens zu erlangen. Doch was nun folgte war ein von immer brutalerer Gewalt gekennzeichneter Bürgerkrieg. Nach erneuten schweren Bombenangriffen erließ der UN-Sicherheitsrat am 18. März eine Resolution zur Einrichtung einer Flugverbotszone, die die Zivilbevölkerung vor weiteren Bombardements schützen sollte. Zu deren Durchsetzung griff die Nato militärisch in den Konflikt ein. Mit Hilfe dieser Unterstützung aus dem Ausland gelang es den Rebellen schließlich im Sommer 2011, den Bürgerkrieg nach erbitterten Kämpfen für sich zu entscheiden. Ende August war auch das Gaddafi-Regime nach mehr als 40 Jahren entmachtet. Doch der Preis, der hier zu bezahlen war, war mit Zehntausenden von Kriegsopfern außerordentlich schmerzlich. In den Monaten erbitterter Kämpfe hatten die Rebellen sich ihrerseits Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen schuldig gemacht. Gaddafi wurde schließlich im Oktober 2011 von Rebellen hingerichtet. Nur einen Tag später als in Libyen begannen am 18. Februar 2011 auch in Syrien Proteste gegen die Regierung, die sich im März spürbar ausweiteten. Auch hier reagierte das Assad-Regime mit brutalster Gewalt gegen die eigene Zivilbevölkerung. Es kam ebenfalls zu einem Bürgerkrieg, der den in Libyen in seiner Grausamkeit noch übertreffen dürfte. Hier kam es aufgrund der geostrategischen Lage im Spannungsfeld des Nahostkonflikts nicht zu einer Intervention aus dem Ausland. Das Assad-Regime ist entschlossen, seine Macht bis zum Letzten zu verteidigen. Kreativität und Selbstwirksamkeit in den arabischen Protestbewegungen Schon in der Phase ihrer Entstehung setzten die neuen arabischen Protestbewegungen auf die Breitenwirkung der aufkommenden Social Media-Plattformen. So konnten sie ihre Kritik an den Regimen und ihre politischen Botschaften an der Zensur vorbei einer breiten Masse zugänglich machen. Darüber hinaus ermöglichten die Plattformen des Web 2.0 den Aktivisten die Mobilisierung ihrer Anhänger für Demonstrationen. Außerdem versetzten diese neuen Kommunikationsformen die Protestbewegung schnell in die Lage, sich zu vernetzen, um auf Maßnahmen von Seiten der Regime, die sie bekämpften, reagieren zu können. Angesichts der Brutalität der Unterdrückungsapparate von Seiten der Regierungen entwickelten die Demonstranten kreative und höchst wirkungsvolle Formen des Protests, die nicht so schnell auszuschalten waren. So vereinbarten sie durch Vernetzung im Internet und durch Handys Spontan-Kundgebungen, die sich ebenso schnell wieder auflösten, wie sie sich formiert hatten. Charakteristisch für die Protestbewegung in den arabischen Ländern war auch die gezielte Besetzung wichtiger Plätze, auf denen die Demonstranten dann tagelang gewaltfrei ausharren konnten. In der Übergangsphase, in der das alte Regime schon im Untergang begriffen war, ein neues politisches System sich aber noch nicht gefestigt hatte, war es für die Menschen wichtig, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Dazu entwickelten sie neue zivilgesellschaftliche Organisationsformen, die frei von allem ideologischen Ballast das Nötige für das Überleben der Menschen taten. In der chaotischen Phase des Übergangs bewachten Nachbarschaftskomitees Häuser und Wohnungen, um sie vor Plünderern zu schützen. Darüber hinaus kümmerten sich Nachbarn auch darum, die Menschen, die auf dem Tahrir-Platz und auf anderen öffentlichen Plätzen ausharrten, mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen. Innerhalb der revolutionären Bewegungen waren erhebliche politische und religiöse Differenzen zu überwinden. Das gemeinsame Ziel aller Gruppen ermöglichte in den Revolutionstagen einen Zusammenhalt. Dass sich dieser für die folgende Zeit als wenig tragbar erwies, stellte sich  bereits in den Monaten nach dem Umsturz heraus. Herausforderungen des Neubeginns Derzeit ist die Situation in der arabischen Welt von großen Unsicherheiten geprägt. Die Orientierungslosigkeit entsteht dadurch, dass das Alte zwar definitiv vorbei ist, aber noch nicht klar zu erkennen ist, wie sich die weitere Entwicklung gestalten wird. Die derzeitige verworrene Lage erinnert an die Lage in Europa 1918. Demokratische Reformen werden nur von einer kleinen, meist aus dem gehobenen Bildungsbürgertum stammenden Minderheit befürwortet. Diese Bevölkerungsschicht hatte einen maßgeblichen Anteil an der Revolution. Doch es ist ihr auch zwei Jahre nach dem Ende der Diktaturen nicht gelungen, eigene Organisationsstrukturen sowie ein tragfähiges politisches Programm zu entwickeln. Für die breite, politisch weitgehend orientierungslose Masse der Bevölkerung sind die einfachen Lösungen und Patentrezepte von Islamisten, die vermeintlich Sicherheit versprechen, oftmals attraktiver als mühsame demokratische Prozesse. Wie das Beispiel Ägypten zeigt, werden in einem solchen System die Freiheitsrechte des Einzelnen – vor allem der Christen und der Frauen – massiv eingeschränkt. Inwieweit die davon in ihren Freiheiten beeinträchtigten Teile der Bevölkerung diese Mehrheitsentscheidung hinnehmen müssen, darüber ist in Ägypten ein heftiger, von Gewaltexzessen begleiteter Konflikt entbrannt, dessen Ausgang offen ist. Das Gewaltpotential, das diese Auseinandersetzungen beinhalten, ist möglicherweise sogar dazu angetan, die Errungenschaften der Revolution zumindest teilweise rückgängig zu machen. Das zeigt sich beispielsweise an der Wiedereinführung des Ausnahmezustandes in drei ägyptischen Städten fast auf den Tag genau zwei Jahre nach dem Beginn der Revolution. Wenngleich die Konflikte in Tunesien auf kein derart breites Echo in der Medien-Öffentlichkeit stoßen wie diejenigen in Ägypten, so sind sie doch ebenfalls brisant. Auch dort werden liberale Kultureinrichtungen zum Ziel von Übergriffen extremistischer Salafisten, ohne dass die vermeintlich „moderat“ islamistische Regierungspartei „Ennahda“ dem etwas entgegensetzt. In Libyen ist man zusätzlich zu diesen Herausforderungen auch noch mit der Bewältigung der Kriegsfolgen – vor allem dem Wiederaufbau der Infrastruktur und dem Einsammeln aller illegalen Waffen aus den Arsenalen von Gaddafi beschäftigt. Weite Teile des Wüstenstaates drohen zu einem Rückzugsraum mir islamistische Terroristen zu verkommen. Syrien befindet sich immer noch in einem brutalen Bürgerkrieg, der von täglich neuen Gräueltaten aller Seiten geprägt ist. Doch auch diejenigen Länder, die nicht wie Libyen oder Syrien unter Kriegsfolgen zu leiden haben, kämpfen mit einer schwierigen wirtschaftlichen Lage. Technologisch haben die arabischen Staaten in vielen Bereichen den Anschluss an den Westen, aber auch an Indien, China und die südostasiatischen Länder verloren. Auch der Tourismus, von dem gerade Tunesien und Ägypten abhängig sind, ist infolge der von Unruhen und Gewaltausbrüchen geprägten instabilen Lage eingebrochen. Darüber hinaus wird die Wirtschaftskraft dadurch beeinträchtigt, dass viel Geld in den dunklen Kanälen der Korruption versickert. Diese korrupten Strukturen, die infolge der Revolution nur zu einem kleinen Teil beseitigt werden konnten, führen zu einer sehr ungerechten Verteilung der ohnehin knappen wirtschaftlichen Ressourcen. Die Sicherung der Lebensgrundlagen für alle gesellschaftlichen Schichten ist eine Grundvoraussetzung für dauerhaften sozialen Frieden und politische Stabilität. Doch um Unterdrückung, Konflikte und Gewalt wirklich hinter sich zu lassen, sind noch weitaus tiefer greifende Veränderungen in der Einstellung der Menschen notwendig. Die Zensur im Denken zu überwinden ist seit 2011 eine der größten Herausforderungen. Oftmals tritt heute der in seinem Wesenskern totalitäre Islamismus an die Stelle der ideologischen Vorgaben der gestürzten autokratischen Regime. Die einfachen Antworten im Schwarz-Weiß-Denken sorgen für vermeintliche Sicherheit in einer Zeit der Orientierungslosigkeit. Erst wenn die arabischen Gesellschaften den Mut entwickeln, die Freiheit und die Würde eines jeden einzelnen Menschen unabhängig von seiner Religion, seiner Herkunft oder seines Geschlechts zu respektieren, wird es einen Ausweg aus der Unterdrückung geben. Der „arabische Frühling“ wird erst dann zur Realität, wenn die Menschen die Verantwortung für ihr Schicksal selbst übernehmen, anstatt fatalistisch auf die Segnungen einer vermeintlich gottgewollten Ordnung zu hoffen. Was unterscheidet die Revolutionen in der arabischen Welt 2011 von der Friedlichen Revolution 1989 in der DDR? Noch heute stehen die Friedliche Revolution 1989 in der DDR und der durch sie ermöglichte Mauerfall für einen sehr ermutigenden Wendepunkt in der deutschen und europäischen Geschichte. 2011 war viel vom so genannten „arabischen Frühling“ die Rede, von dem man sich eine ähnlich positive Wende der Entwicklungen in den arabischen Ländern erwartete. Doch nicht nur in Hinblick auf das Bürgerkriegsland Syrien, sondern auch hinsichtlich der von Gewalt begleiteten politischen Spannungen in Ägypten heißt es heute oft, der „arabische Frühling“ habe sich zum „arabischen Winter“ entwickelt. Heute, da die erste Euphorie verflogen ist, werden die Unterschiede zur Friedlichen Revolution 1989 in der DDR immer deutlicher:
  • Auch wenn es in der ehemaligen DDR in der Umbruchsphase ebenfalls zu erheblichen Enttäuschungen und Frustrationen kam, entluden sich diese nicht in Gewalt. Dagegen wird die Neuordnung in den arabischen Ländern seit der Revolution 2011 – aktuell besonders massiv in Ägypten – wiederholt von gewaltsamen Unruhen begleitet. Selbst wenn es 2011 noch zu gewaltfreien Protesten kam, kann diese Entwicklung heute im Ganzen betrachtet nicht mehr als friedliche Revolution bezeichnet werden.
  • Die neuen politischen Strukturen mussten in der DDR nicht neu erfunden werden. Durch den Zusammenschluss mit der BRD konnte man deren seit Jahrzehnten bewährtes politisches System übernehmen und somit schnell rechtsstaatliche Grundlagen schaffen. Für die arabischen Staaten mit ihrer kolonialen Vergangenheit ist Europa dagegen kein Vorbild. Sie stehen somit vor der Herausforderung, ihr eigenes System zu entwickeln.
  • Im Gegensatz zur ehemaligen DDR in der Umbruchsphase nach 1989 spielt die Religion in den arabischen Ländern als politischer Faktor eine zentrale Rolle. Vermeintlich gottgewollte Regeln und Vorschriften verschärfen die Gegensätze zu Minderheiten und fördern deren Ausgrenzung. Anders als in der DDR, wo die christlichen Kirchen den gewaltfreien Protest unterstützten, tritt der politische Islamismus in der arabischen Welt als gewaltfördernder Faktor in Erscheinung.
  • Zwar waren die wirtschaftlichen Verhältnisse in der ehemaligen DDR in der Wendezeit schwierig. Doch fehlte es der dortigen Bevölkerung im Gegensatz zu derjenigen in den arabischen Ländern niemals am Lebensnotwendigen. In vielen arabischen Staaten hat sich die Armut durch die Revolution noch weiter verschärft, so dass viele Menschen den Verlust ihrer existentiellen Lebensgrundlagen fürchten müssen.
   

Quelle: http://revolution1989.hypotheses.org/68

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