Katalogdaten der Veröffentlichungen des DHIP als Open Data CC0 bereit gestellt

Zur diesjährigen Open Access-Woche leistet auch das DHIP einen kleinen Beitrag: Wir haben die Katalogdaten der von uns seit 1958 herausgegebenen Veröffentlichungen als Open Data mit einer CC0-Lizenz (Public Domain) zur Verfügung gestellt. Behilflich war uns dabei der Gemeinsame Bibliotheksverbund GBV, an den unsere Bibliothek seit 2007 angeschlossen ist, und dem an dieser Stelle herzlich gedankt sei.

Es handelt sich um 9.185 Datensätze; der ganz überwiegende Teil sind Katalogdaten von gedruckten Aufsätzen, die in unseren Buchreihen und der Zeitschrift Francia seit 1958 erschienen sind. Diese Datensätze, die von den Mitarbeiter/innen unserer Bibliothek über die Jahre katalogisiert wurden, sind über eine Creative-Commons-Lizenz CC0 als gemeinfrei gekennzeichnet, d.h. es wird auf urheberrechtliche und verwandte Schutzrechte verzichtet. Jeder kann diese Daten nutzen. Das Projekt hat aufgrund der vergleichsweise niedrigen Zahl an Datensätzen sicherlich in erster Linie symbolischen Charakter: Wir wollen damit erneut das Engagement des DHI Paris in Sachen Open Access unterstreichen und andere Spezialbibliotheken zur Nachahmung anregen.

Der Export der Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Paris wird fast täglich aktualisiert unter:

http://uri.gbv.de/downloads/database/proj-dhip/

Neben dem PICA+ Format gibt es eine sehr rudimentäre RDF-Variante. Weitere Formate (MARC) werden im Laufe der nächsten Monate folgen. Angedacht ist ebenso, die Daten zu verlinken (Linked Open Data), etwa mit den Daten aus der Gemeinsamen Normdatei. Neben den bibliographischen Daten gibt es auch eine aktuelle Statistik der Datensatztypen und eine Statistik der Verteilung der Veröffentlichungstypen über die Jahre.

Die Einstiegsseite des GBV zu Open Data-Projekten aus dem Verbund – von denen es in Zukunft hoffentlich mehr geben wird – sowie aus anderen Verbünden findet sich hier: http://uri.gbv.de/downloads/

Großes Vorbild für die offene Bereitstellung von Katalogdaten ist der Open-Data-Katalog der BnF, den wir natürlich weder in Quantität (Anzahl der Datensätze) noch in der Qualität – und hier insbesondere die schöne Umsetzung als Linked Open Data – erreichen können.

Quelle: http://dhdhi.hypotheses.org/1321

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Sprache, Werte oder was? Inhalt und Ziel von Lateinunterricht

Für den Vortrag über Livius, von dem hier kürzlich die Rede war, kam er etwas zu spät: ein Aufsatz in der aktuellen Ausgabe der Pegasus-Onlinezeitschrift, einem Fachblatt für den altsprachlichen Unterricht. Alexander Doms schreibt über „ Titus Livius - Historikerlektüre unter dem Hakenkreuz ". Der Autor führt zwei Entwicklungen zusammen: den Gang der Livius-Philologie und die Etablierung der NS-Herrschaft in Deutschland. In der Livius-Philologie...(read more)

Quelle: http://faz-community.faz.net/blogs/antike/archive/2012/10/24/sprache-werte-oder-was-inhalt-und-ziel-von-lateinunterricht.aspx

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Sprache, Werte oder was? Inhalt und Ziel von Lateinunterricht

Für den Vortrag über Livius, von dem hier kürzlich die Rede war, kam er etwas zu spät: ein Aufsatz in der aktuellen Ausgabe der Pegasus-Onlinezeitschrift, einem Fachblatt für den altsprachlichen Unterricht. Alexander Doms schreibt über „Titus Livius – Historikerlektüre unter dem Hakenkreuz“. Der Autor führt zwei Entwicklungen zusammen: den Gang der Livius-Philologie und die Etablierung der NS-Herrschaft in Deutschland. In der Livius-Philologie erschienen nach dem Ersten Weltkrieg die alten Pfade ausgetreten: Den römischen Geschichtsschreiber als Meister der Sprache und als Rhetoriker zu rühmen oder ihn mit dem Seziermesser der geschichtswissenschaftlichen Quellenkritik als unselbständig und historisch wertlos zu erweisen genügte nicht mehr; auch Philologen verlangten jetzt von sich selbst, Orientierung zu geben, die nicht mehr selbstverständlich war. Eine Antwort gab Erich Burck in seinem 1934 erschienenen Livius-Buch; er verlagerte, so Doms treffend, die Perspektive „auf eine gewisse livianische Botschaft, auf eine Denkart des Autors, die freilich im Zeichen augustei­scher Erneuerung stand. Livius’ letztes Ziel, so Burck, sei es schließlich gewesen, ‘das Denken und Handeln aller in nationalethischem Sinne zu lenken’. Der Autor als Kün­der wahren Römertums wird hier zum Vertreter patriotischer Wertevermittlung im sich formierenden Prinzipat. Burcks interpretativer Neuansatz, nach dem Gehalt im livianischen Werk zu fragen, erleichterte die völkisch-nationale Usurpation des Autors in den kommenden Jahren ungemein, ohne jedoch selbst nazistisch durchdrungen zu sein.”

Ob die Radikalisierung des Burck’schen Ansatz durch Universitäts- und Schulphilologen nun tatsächlich, wie Doms andeutet, in erster Linie erfolgte, um den Lateinunterricht durch Anpassung gegen die Bedrohung durch den bildungsfeindlichen Nationalsozialismus zu schützen, oder ob nicht auch eine vorgängige ideologische Disposition es vielen Lehrenden erleichterte, in den neuen Zug einzusteigen, muß hier nicht erörtert werden; wahrscheinlich spielten beide Gründe eine Rolle. Tatsache ist hingegen, daß „zahlreiche Vertreter der Klassischen Philologie zur Feder griffen, um dem altsprachlichen Unter­richt ein völkisch-nationales Erziehungsprogramm zu geben”. Jedenfalls mündete „die sich zuweilen anbiedernde Apologetik systemtreuer Philologen” schließlich in das 1938 veröffentlichte neue Curriculum „Erziehung und Unterricht in der Höheren Schule”. Ziel des Lateinunterrichts war nun, wie Doms aus einem zeitgenössischen Text zitiert, „ein Erkennen und Verstehen der Haltung des Römers, durch die dieses nordisch bestimmte Volk in einer bedrohenden Umwelt durch Schaffung seines Staates sich selbst behauptet hat”.

Der Historikerlektüre und der augusteischen Zeit kam in diesem Programm eine Schlüsselstellung zu, und beides wies auf Livius. Doms konstatiert einen „teils moderaten, teils penetrant hergestellten Gegen­wartsbezug. Man glaubte, eine Parallelität in der historischen Situation zu entdecken. War Augustus nicht der Retter vor dem spätrepublikanischen Verfall des römischen Staates gewesen?” Ein Forscher bestimmte 1939 die Aufgabe des livianischen Werkes als einen Versuch, die „völkischen, staatlichen und geistigen Zersetzungsvorgänge … unter denen man den Rassen- und Volkstod, nicht als solchen und nicht in seiner ganzen Bedeutung er­kannt hat”, zu überwinden. Andere trieben es noch weiter. Doms zitiert aus einschlägigen Schriften (hier in ‘’): „Unter der Losung, nicht mehr ‘rasseblind an die Altzeit heranzutreten’, sondern in den augusteischen Schriftstellern vielmehr ‘allnordische Höchstleistung, großarische Klassik zu suchen’, stand die Altertumswissenschaft verstärkt vor der ‘Aufgabe, eine vergleichende Artlehre nordischer Gesittung…, eine vergleichende Ariologie’ zu be­treiben. Da die Schriften des ‘italisch-altarischen Urroms’ mehrheitlich verloren seien, müsse die ‘romantische Rückschau’ der augusteischen Autoren, allen voran Livius, der das ‘Weltrom und Mischrom aller Rassen’ seiner Zeit als Degenerationserschei­nung am deutlichsten erkannt habe, als Aufruf zur Bewahrung der eigenen rassischen Substanz gelesen werden. Aufgrund des gemeinsamen rassischen Ursprungs müsse das von Livius beschriebene italische Römertum der Altzeit als Vorbild dienen, wäh­rend ‘die Überflutung mit fremden Blut nach dem militärischen Ausgreifen nach Sü­den und Osten als mahnendes Beispiel mit Blick auf die gegenwärtige geschichtliche Lage des deutschen Volkes’ dienen müsse.”

Ein Didaktiker jener Zeit brachte den Paradigmenwechsel auf den Punkt; Doms referiert ihn: „‘Der sprachlich-ästhetische Gesichtspunkt interessiert uns nicht wesentlich; schöne Geschichten für unsere heranwachsende Jugend können wir ohne den Umweg der fremden Sprache anderswo finden; geschichtliche Kritik nahezubringen ist Sache der Wissenschaft, aber nicht der Schule; die römische Geschichte hat für uns keinen Selbstzweck mehr’. Um die Lektüre von Ab urbe condita weiterhin rechtfertigen zu können, müsse nachgewiesen werden, dass ‘1. sie Werte enthält, deren Vermittlung Pflicht ist, und 2. dass sie diese Werte … für die Erziehung eines nationalsozialisti­schen Jungen … in besonders hohem Maße enthält’.” Der „Reichssachbearbeiter Alte Sprachen” sekundierte, daß „im Lateinischen gar nicht genug von Livius gelesen werden kann, an dem der Jugend die reinste Ausprägung des Römertums nahegebracht wird”. Schließlich könnten die Schüler hier die „staatenaufbauenden Tugenden der nordi­schen Rasse …, Mannhaftigkeit, Mut, Entschlusskraft, Selbstzucht und Ehrfurcht” erkennen; das erziehe sie dazu, „jederzeit heroisch für die Erhaltung ihres Volks­tums zu kämpfen, und wenn es sein muss, zu sterben”.

Was sollte das für die Unterrichtspraxis bedeuten? Tatsächlichen Unterricht aus Richtlinientexten und fachdidaktischen Aufsätzen zu extrapolieren ist auch für die damalige Zeit ein riskantes Unterfangen; die Wirklichkeit pflegt bunt und bisweilen widerständig zu sein. Aber die Marschroute war klar: Verabschiedet werden sollte die Lektüre eines ganzen, geschlossenen Liviusbu­ches – eine solche hätte die Aufmerksamkeit auf literarische, ästhetische und rhetorisch-stilistische Fragen gelenkt, unter der Leitfrage: Wie ist der Text gemacht?. Gewinnbringender sei vielmehr „das Lesen nur gekürzter Bücher, … das Lesen eines größeren zusammenhängenden Stoffes, der sich über mehrere Bü­cher verteilt, und endlich der Gebrauch eines Lesebuches, worin das für unsere Zeit Wertvollste … unter richtungsgebenden Gesichtspunkten in kleine Abschnitte zusam­mengefasst wird”. Häppchen- oder Pröbchenlektüre nannte man das in meiner Referendarzeit vor zwanzig Jahren. Auf keinen Fall dürfe die Lektüre durch sprachliche Schwierig­keiten ins Stocken geraten. Daher müsse „die erste Voraussetzung die Weglassung alles nicht unbedingt Notwendigen und die Benutzung jeder denkbaren, vernünftigen Übersetzungshilfe”. Hätte man diese Maßgabe konsequent zuende gedacht, hätte es nur einen Schluß geben können, nämlich auf das lateinische Original ganz oder doch weitgehend zu verzichten.

Entsprechend sahen die nun auf den Markt gebrachten Schulausgaben aus. Eine Auswahl aus der 1. Dekade des Livius, die Doms anführt, zielte darauf, die im Römertum „wirkenden Kräfte … des italischen Zweiges der nordischen Rasse” herauszustreichen. Ausgaben zur 3. Dekade, die den Hannibalkrieg schildert, betonten einen Rassengegensatz zwischen Römern und Puniern. Doms bilanziert: „Im Zeichen der Rassen- und Wehrerziehung dominier­ten zusehends Textbücher, die die ‘geeignetsten’ Passagen aus Ab urbe condita unter thematischen Aspekten zusammentrugen. Die Idealisierung der rassisch ‘reinen’ rö­mischen Frühzeit, der Kampf gegen fremdrassige Völker auf der italischen Halbinsel oder die Bemühungen der Patrizier, ‘Blutvermischung’ mit den Plebejern zu verhindern, bestimmten mehrheitlich die thematische Textauswahl aus der 1. Dekade. Vor allem in den Kriegsjahren erlebte die livianische Darstellung des Zweiten Punischen Krieges unter massivem Gegenwartsbezug einen Aufschwung im altsprachlichen Un­terricht. Scipio Africanus wird zum Helden stilisiert, dessen Tugenden umso deutlicher angesichts der ‘semitischen Gesinnung’ seines Antagonisten Hannibal hervorgeho­ben werden.”

Quid ad nos? Warum diese gruseligen Skelette aus dem Schrank holen? Nun, man kann leicht zeigen, daß der Lateinunterricht in der Lektürephase seitdem von der Zielstellung, Werte und politische Bildung zu vermitteln, nicht mehr weggekommen ist. Selbstverständlich änderten sich die Werte und die politischen Ideale. In der Nachkriegszeit ging es noch um die ‘altrömischen Werte’, nunmehr aber bereinigt um die Radikalisierungen der braunen Jahre (Rassismus, Wehrhaftmachung usw.). In den 1970er-Jahren kamen, angeregt durch die Curriculum- und Lernzieldebatten seit den 1960ern, Lektürehefte heraus in Reihen, die etwa „Modelle für den altsprachlichen Unterricht” hießen. Ich erinnere mich an eines zu Sallust. Zeitgeistgemäß ging es da um soziale Krise und Revolution. Es war ein dickes Heft, doch nur ein kleinerer Teil war mit Sallusttexten gefüllt, den Rest machten eine längere Einleitung zu den Lernzielen und viele Sekundärtexte und -materialien aus, u.a. Auszüge aus Werken westlicher wie sowjetischer Historiker zu den Klassenkämpfen in der späten Republik. Der Sallusttext war auf einige Auszüge beschränkt, großzügig annotiert, um die Lektüre zu beschleunigen und rasch zu den Inhalten vorzudringen. — Das kommt etwas zu polemisch; selbstverständlich gab es auch lange Erläuterungen und Aufgabenkataloge zu sprachlichen Eigenheiten und rhetorischen Mitteln. Und Sallust ist schwer, da muß man viele Hilfen geben. Ist notiert. Und nicht alle Bearbeiter verfuhren so. Im Regal finde ich noch eine recht umfangreiche, längst vergriffene Schulausgabe zur ersten Dekade des Livius, die Meinhard Schulz 1981 in der (damals als methodisch konservativ geltenden) Reihe „Lateinische Klassiker” bei Schöningh herausbrachte (s.u.) und die insgesamt ziemlich viel originalen, vereinzelt auch bearbeiteten Text enthält; daraus hier nur eine Doppelseite:

Bild zu: Sprache, Werte oder was? Inhalt und Ziel von Lateinunterricht

Für 1950, 1980 oder heute eine Kontinuität zu oder gar Identität mit den ns-induzierten Politisierungen – die, wie angedeutet, ihrerseits in Orientierungsbedürfnissen nach dem Ersten Weltkrieg ein starkes Momentum fanden – behaupten zu wollen wäre absurd. Und ganz sicher wäre es arrogant und unseriös, das in der Lateindidaktik ernst und engagiert und seit langem diskutierte Problem mit einem Federstrich lösen zu wollen oder von außen und oben ein Verdikt auszusprechen. Es geht mir um die strukturelle Frage nach grundsätzlichen Optionen (bzw., in der Praxis, ihren Mischungen) und ihren möglichen Folgen. Aktualisierungen, Politisierungen und Ethisierungen von Inhalten sind, das zeigt das skizzierte Beispiel, sozusagen immanent zeitgeistanfällig. Zurückzukehren zu einer bloß sprachlich-formalen oder ästhetischen Ausrichtung ist wohl keine praktikable Alternative (wäre allerdings in der brüsken Verweigerung von Nutz- und Rechenhaftigkeit eine wahrhaft aristokratische!). Aber es wäre schon viel gewonnen, wenn wo immer es geht das ganz und gar Unzeitgemäße und Widerstrebige zum Leuchten gebracht würde, anstatt die Texte durch Auswahl, Arrangement und Arbeitsfragenkataloge passend zu machen für noch so hehre ethische, politische oder erzieherische Ziele ‘unserer’ jeweiligen Zeit.

Bild zu: Sprache, Werte oder was? Inhalt und Ziel von Lateinunterricht

von Uwe Walter erschienen in Antike und Abendland ein Blog von FAZ.NET.

Quelle: http://blogs.faz.net/antike/2012/10/24/sprache-werte-oder-was-inhalt-und-ziel-von-lateinunterricht-397/

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Bayerischer Verfassungsgerichtshof: Volksbegehren zur Abschaffung der Studienbeiträge in Bayern wird zugelassen

http://www.bayern.de/Pressemitteilungen-.1255.10397907/index.htm Gegen die Erwartungen aller anderen Landtagsfraktionen hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof das Volksbegehren der Freien Wähler gegen Studienbeiträge in Bayern zugelassen. Der Argumentation der Bayerischen Staatsregierung, wonach es sich um eine unzulässige Abstimmung über Teile des bayerischen Staatshaushaltes handele, folgten die Richter nicht. Da die Studienbeiträge vielmehr direkt den Universitäten als Körperschaften öffentlichen Rechts wie […]

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2012/10/3456/

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Save the Date: First Swiss Digital Humanities Summer School

The first Digital Humanities Summer School in Switzerland will take place next year in Bern! Hosted by the University of Bern and organized by a network of Swiss university and research institutions, the first Digital Humanities Summer School Switzerland will feature well-known international scholars of Digital Humanities for four days of intensive training. More news [...]

Quelle: http://weblog.hist.net/archives/6482

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Das Ende einer akademischen Wanderschaft. Interview mit Michael Matheus

 


Michael Matheus war von 2002–2012 Direktor des DHI Rom. Er ist Inhaber des Lehrstuhls für Mittlere und Neuere Geschichte und Vergleichende Landesgeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, an den er im Oktober 2012 zurückkehren wird.

Michael Matheus, Sie haben zehn Jahre lang das Deutsche Historische Institut in Rom geleitet. Was verbindet Sie besonders mit dem Institut?

In diesen Jahren habe ich die auch für den Direktor anregende wissenschaftliche Arbeit sowie die gute Atmosphäre am DHI Rom geschätzt, nicht zuletzt den Schwung, den Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler dem Institut vermittelten. Wir haben in Teamarbeit immer wieder versucht, kulturgeschichtliche Fragestellungen und Methoden für unsere eigene Arbeit fruchtbar werden zu lassen. Für jemanden, der einmal Geiger werden wollte, war es zudem ein besonderer Glücksfall, ein Institut mit einer musikgeschichtlichen Abteilung leiten zu dürfen. Viele wissenschaftliche Veranstaltungen konnten wir mit dazu passenden Konzerten verbinden. Eine besonders wichtige Erfahrung war, dass unsere wissenschaftlichen Veranstaltungen und Projekte nicht nur in Rom, sondern in vielen Städten und Regionen Italiens durchgeführt werden konnten, in Genua und Venedig, in der Toskana und den Marken, in Sizilien, Apulien und im südlichen Latium.

Welche Erwartungen hatten Sie bei Ihrem Amtsantritt als Institutsdirektor? Was hat sich seither geändert?

Ich hatte gehofft, mehr eigene Forschungen durchführen zu können. Dies war nur begrenzt möglich, auch weil die Sanierung der Institutsgebäude sowie der Bau von Bibliotheksmagazinen und einem Gästehaus viel Zeit und Energie gekostet haben. Aber wir haben dadurch mit der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Italien (ELKI) und dem Melanchthon Zentrum Rom Nachbarn erhalten, von denen auch die wissenschaftliche Arbeit des Instituts profitiert. Im Jahre 2002 wurde die Stiftung DGIA gegründet. In den Aufbau und die Strukturierung der Stiftung habe ich mich gerne eingebracht und dabei auch viel gelernt.

Welche Schwerpunkte haben Sie während Ihrer Amtszeit in Rom gesetzt, um das Profil des DHI Rom zu schärfen?

Das DHI Rom hat seine traditionellen Schwerpunkte in der Grundlagenforschung mit der Entwicklung elektronischer Publikationsformate verknüpft. Zudem wurde das Institutsprofil durch interdisziplinare, international vergleichende und epochenübergreifende Forschungsprojekte geschärft. Ein besonderes Anliegen war ferner die Intensivierung der wissenschaftlichen Nachwuchsförderung.

Kürzlich wurde das Institut im Rahmen der Qualitätssicherung der Max Weber Stiftung – Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland evaluiert. Welche Einsichten haben Sie daraus gewonnen?

Zusammen mit dem Deutschen Institut für Japanstudien Tokyo war das DHI Rom das erste Stiftungsinstitut, das einer externen Evaluierung unterzogen wurde. Der Aufwand war beachtlich, doch bot die Evaluierung eine willkommene Gelegenheit für alle Institutsmitglieder, über Starken und Schwachen der wissenschaftlichen Arbeit und über künftige Schwerpunkte der Institutsarbeit nachzudenken. Die Ergebnisse der Evaluierung sind für die wissenschaftliche Arbeit des Instituts insgesamt sehr erfreulich und ermutigend. Unter anderem freut es mich, dass die Bedeutung der am DHI Rom entwickelten historischen Datenbanken und der hierzu notwendigen Software gewürdigt und als Alleinstellungsmerkmal bezeichnet wird. Damit hat das Institut schon vor Jahren Entwicklungen eingeleitet, die in den Empfehlungen des Wissenschaftsrats aus dem Jahre 2011 zu den Forschungsinfrastrukturen in den Geistes- und Sozialwissenschaften beschrieben werden. Aufgrund ihres prototypischen Charakters wird empfohlen, die am römischen DHI entwickelten Lösungen den Instituten der Stiftung bereitzustellen. Zugleich soll dieser Arbeitsbereich am Institut in Rom weiter gefördert werden.

Max Weber, dessen Namen die Stiftung Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland seit Juli 2012 trägt, hat unter anderem auch in Italien und Rom gewirkt. Was lässt sich zu seinem Verhältnis zum DHI sagen?

In den Jahren 1901 bis 1903, im Vorfeld der Niederschrift der „Protestantischen Ethik“, hielt das Ehepaar Weber sich in Italien bzw. in Rom auf. Max Webers Interesse an Religion und religionssoziologischen Fragen durfte in Rom gewachsen sein. Über die damaligen intellektuellen Prägungen wüsste man gerne mehr, übrigens auch zu der Frage, ob und wie intensiv Weber Mitglieder des Preußischen Historischen Instituts (heute DHI Rom) gekannt und Kontakte gepflegt hat. Zu denken wäre etwa an den Kenner früher kapitalistischer Formen Fuggerscher Prägung, Aloys Schulte, der 1901–1903 kommissarischer Direktor des Instituts war. Oder an den Protestanten Johannes Haller, einer der vielgelesen Historiker seiner Zeit, der 1893–1902 am Institut weilte. Zwar gibt es einige Lesespuren Max Webers im alten Buchbestand des römischen Deutschen Künstlervereins. Im Archiv des DHI allerdings findet sich leider nichts Aufschlussreiches.

 

Luftgestützte Laseraufnahmen in Ninfa

Sie sind der erste bekennende Katholik unter den Direktoren des DHI Rom. Welche Bedeutung messen Sie dieser konfessionellen Bindung bei?

Die Vorgängereinrichtung des DHI Rom wurde 1888 durch Preußen auf dem Kapitol (worauf das Institutslogo anspielt) im Kontext des Kulturkampfes und in Reaktion auf die zuvor erfolgte Öffnung des Archivio Segreto Vaticano gegrundet. Die damit einhergehende Prägung mag dazu beigetragen haben, dass die Direktion des Instituts – von den wenigen Monaten der Amtszeit Aloys Schultes abgesehen – Protestanten vorbehalten blieb. Dass mit mir der erste langer amtierende katholische Direktor gewählt wurde, interpretiere ich als Signal, dass konfessionelle Prägungen in der wissenschaftlichen Arbeit keine Rolle spielen (sollten), auch wenn ich persönlich im katholischen Glauben verankert bin. Zugleich war mir daran gelegen, mit der Wahl der neuen Nachbarn, ELKI und Melanchthon Zentrum, im Zentrum der katholischen Weltkirche ein ökumenisches Signal zu setzen.

Wie beurteilen Sie das italienische Wissenschaftssystem, vor allem mit Blick auf die Arbeit des Instituts?

Wir arbeiten in zahlreichen Forschungsprojekten mit italienischen Forschungsinstituten und Universitäten zusammen. Allerdings sollte bei der Auswahl wissenschaftlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht die nationale Herkunft, sondern die wissenschaftliche Qualität den Ausschlag geben. In Italien spielen meines Erachtens nicht zuletzt im Bereich der Geisteswissenschaften Klientelstrukturen eine zu große und akademische Leistungen eine zu geringe Rolle. Ich hoffe, dass internationale Kooperationen hier zu Verbesserungen beitragen.

Sie haben sich ja bereits in Mainz intensiv mit italienbezogenen Forschungsthemen befasst. Inwiefern hat der lange Aufenthalt in Italien Ihr wissenschaftliches Profil verändert? Konnten Sie von Standortvorteilen profitieren?

Die Stadt Rom und das Land Italien haben entscheidenden Anteil daran, dass mein wissenschaftlicher Horizont ganz wesentlich erweitert wurde. Zu den Themen der letzten Jahre zahlen: Rom als Studienort in der Renaissance, Germania in Italia, Christen und Muslime in der Capitanata, die Geschichte der mittelalterlichen Ruinenstadt Ninfa und der pontinischen Sumpflandschaft und schließlich – nicht zuletzt dank der Nachbarschaft der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Italien und des Melanchthon Zentrums – ein faszinierendes Themenspektrum von Luthers Romreise bis zum protestantischen Rombild im 20. Jahrhundert.

 

Das Kastell von Lucera

An welchen Quellenfund der letzten Jahre denken Sie besonders gern zurück?

Da kommt mir vieles in den Sinn, aber eine Quellenkonstellation sei besonders erwähnt. Im Jahre 2005 stieß ich auf Schriftdokumente, denen zufolge ein muslimischer Adeliger eine kleine Bischofsstadt im nördlichen Apulien, der so genannten Capitanata, im ausgehenden 13. Jahrhundert als Lehen erhielt. Im Rahmen eines interdisziplinaren Projektes, an dem derzeit Historiker, Archäologen, Bauhistoriker, Kunsthistoriker, Anthropologen und Geophysiker beteiligt sind, verfolgen wir von diesem bemerkenswerten Befund ausgehend die Frage, wie sich Formen der convivenza zwischen Christen und Muslimen in dieser Zeit darstellten. Zugleich erhellen die Forschungsergebnisse ein Kapitel europäischer Geschichte, das von der muslimisch-arabischen Kultur mitgeprägt wurde.

Welche Projekte möchten Sie künftig in Mainz realisieren?

Einigen der genannten Forschungsschwerpunkte werde ich auch in Mainz verbunden bleiben, zum Beispiel der interdisziplinar und epochenübergreifend ausgerichteten Umweltgeschichte der pontinischen Sumpflandschaft. Zudem freue ich mich auf eine ganze Reihe von Kolleginnen und Kollegen an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, die in den verschiedensten Fächern zu italienischen Themen arbeiten.

Zehn Jahre Rom – das ist sicherlich sehr prägend. Was schätzen Sie besonders an Italien? Worauf freuen Sie sich in Deutschland und was werden Sie vermissen?

Darauf kann ich mit wenigen Worten nicht angemessen antworten. Nach diesen Jahren wurde ich mich selbst als „Deutschrömer“ bezeichnen. Darunter verstehe ich jemanden, der als Wanderer zwischen beiden Kulturen von beiden nachhaltig geprägt ist. Dennoch bin ich Deutscher geblieben. Rom und Italien werde ich allerdings auch in meinen kommenden Mainzer Jahren eng verbunden bleiben. Die Mitarbeit in italienischen wissenschaftlichen Gremien wird dies ebenso befördern wie die Tatsache, dass ich seit dem vergangenen Jahr dem Direktorat des Römischen Instituts der Goerres-Gesellschaft angehöre, das wie das DHI Rom 1888 gegründet wurde. Aber in einigen Jahren wird die Entscheidung anstehen, die akademische Wanderschaft aufzugeben und dauerhaft ansässig zu werden. Das bedeutet für meine Frau und mich voraussichtlich die Rückkehr nach Rom, von dem ein Historiker im 19. Jahrhundert sagte, die Stadt erscheine ihm so unerschöpflich „wie die Welt überhaupt.“

Das Gespräch führten Kordula Wolf, Wissenschaftliche Mitarbeiterin des DHI Rom, und Deborah Scheierl, Referentin für Öffentlichkeitsarbeit am Institut.

Quelle: http://mws.hypotheses.org/1149

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Über das Kommentieren in Wissenschaftsblogs

  Gastbeitrag von Mareike König Es wird viel lamentiert, wenn es um Kommentare bei geisteswissenschaftlichen Blogs geht: Meistens bleiben sie aus, so heißt es, und wenn doch mal jemand kommentiert, dann ist der Inhalt oder der Ton oder beides nicht recht. Entweder Regen oder Traufe, Schweigen im Walde oder umzingelt von Trollen, so scheinen sich die Alternativen gegenwärtig resümieren zu lassen. Das wird deswegen tragisch genommen, weil die Interaktion auf dem Blog mit der Leserschaft in Form von Kommentaren einen neuralgischen Punkt betreffen: Denn Bloggen ist nicht nur Publikation, Bloggen ist auch Kommunikation, genau wie Wissenschaft Publikation und Kommunikation ist. Daher, so eine These, die ich selbst teile, passen Blogs und Wissenschaft eigentlich so gut zueinander. Bleiben dann allerdings Kommentare aus, scheint den Wissenschaftsblogs eine ihrer Grundlegitimationen entzogen. Grund genug, sich dem Thema „Kommentare“ anzunehmen, auch wenn es derzeit mehr Fragen als Antworten gibt: Warum wird so wenig kommentiert? Liegt es an unserer deutschen Forschungskultur? Ist es in anderen Ländern anders? Liegt es an der Zurückhaltung, ja am Misstrauen der Geisteswissenschaftler gegenüber den neuen Medien während in anderen Disziplinen munter diskutiert wird? Wie kann man mehr Interaktivität auf den Blogs generieren? Können provokante Thesen zu Kommentaren anregen, so wie es hier vor kurzem durch den Beitrag von Lilian Landes „Versuchen Sie es doch erstmal mit einem Blog…“ der Fall war? Diese und weitere Fragen werden auf Tagungen und in Blogs gestellt und diskutiert, und auch im Januar 2013 auf der Tagung „Rezensieren – Kommentieren – Bloggen“ wird man sicherlich darüber sprechen. Man könnte aber auch zunächst fragen: Werden Kommentare nicht generell überschätzt? Und: Wird überhaupt so wenig kommentiert? In meinem Beitrag zum Open Peer Review-Buch „historyblogosphere“ von Eva Pfanzelter und Peter Haber habe ich die Anzahl der Blogpostings und die der Kommentare auf der französischen Blogplattform hypotheses.org gegenübergestellt: Das Ergebnis ist gar nicht so niederschmetternd: „Im Jahr 2008 erhielt jeder vierte Beitrag durchschnittlich einen Kommentar, im Jahr 2009 wurde jeder dritte Beitrag kommentiert, 2010 dann jeder zweite Beitrag.“ (Quelle) 2011 gibt es einen “Einbruch”, und nur noch jeder vierte Beitrag erhält statistisch gesehen einen Kommentar. Woran liegt das? Die Diskussion könnte sich in die sozialen Netze verlagert haben (Kommentar von Sebastian Gießmann bei historyblogosphere); das wäre dann ein Teil der „stillen Konversation“, über die ich im Beitrag ebenfalls schreibe: Denn nicht jede Kommunikation über einen Blog oder ein Blogposting findet auf dem Blog selbst statt. Oftmals wird auf Tagungen, in Mails, am Telefon oder in der realen Kaffeeküche über Blogbeiträge gesprochen. Manchmal sogar, selten, in Tageszeitungen [1]. Ein weiterer Grund für die Halbierung der Kommentarzahlen bei hypotheses.org im Jahr 2011 könnte sein, dass die Zahl der Postings zugenommen hat, die nur einen Veranstaltungskalender enthalten, womit Kommentare nicht herausgefordert werden (Vorschlag von Benoît Majerus bei historyblogosphere). Vielleicht wurden aber auch viele ältere Blogbeiträge ohne Kommentare von bereits bestehenden Blogs auf die Plattform migriert. Über die vier Jahre gerechnet ist jedenfalls der Schnitt mit einem Kommentar für ca. jedes dritte Posting gar nicht so schlecht. Interessant wären vergleichbare Zahlen aus anderen Ländern und Disziplinen. Wie dem auch sei: Dies sind Zahlen, die nichts über die Qualität der Kommentare aussagen. Dazu hat vor kurzem John Scalzi ein Blogpost veröffentlicht mit dem Titel: „How to be a good commenter“. Sein Beitrag hat bisher 176 Kommentare provoziert, was am Thema, am ohnehin gut eingeführten Blog (seit 1998!), wie auch an der Formulierung der Thesen liegen kann. Ein Luxusproblem, mag man denken, wenn sich jemand nicht mehr um die Anzahl, sondern um die Qualität der Kommentare auf seinem Blog sorgt. Vermutlich ist man da in den USA einfach weiter. Zehn Fragen soll man sich stellen, so Scalzi, bevor man ein Blogpost kommentiert. Tatsächlich sind es nicht zehn Fragen, sondern allenfalls sieben, einige Gedanken wiederholen sich. Regel Nummer 1 besagt, dass man nur kommentieren soll, wenn man auch etwas zu sagen hat. Schon da bin ich anderer Meinung und würde differenzieren. Ein schlichtes: “Danke für den Beitrag, den ich sehr gern gelesen habe”, ist aus meiner Sicht als Kommentar absolut gerechtfertigt. Daraus entspannt sich dann zwar keine inhaltliche Diskussion, aber ein Feedback ist es allemal, zumal eines, das erfreut. Die weiteren Fragen, die man sich vor dem Posten eines Kommentars stellen soll, lauten: Ist mein Kommentar zum Thema? Kann ich richtig argumentieren? Kann ich meine Meinung belegen? Schreibe ich in anständigem Ton? Will ich wirklich in eine Diskussion eintreten oder will ich diese nur gewinnen? Weiß ich, wann ich aufhören muss? Das ist sicherlich alles wünschenswert und in großen Teilen auch richtig, aber eben unrealistisch. Die Leser/innen von Scalzis Blog haben seine Vorschläge dann auch nicht berücksichtigt: „I have nothing to say and will defend to the death my right not to say it!”, lautet der dritte Kommentar, der zu einem Beitrag über (fehlenden) Humor in deutschen Wissenschaftsblogs überleiten könnte. Letztlich ist es mit den schriftlichen Kommentaren bei Blogbeiträgen nicht anders als mit mündlichen Diskussionsbeiträgen auf Tagungen: Einige sind sehr gut, andere off-topic; einige Diskutanten hören sich gerne selbst reden und wieder andere behaupten einfach irgendwas. Und manchmal herrscht einfach nur Schweigen. Das ist dann nicht das Schlechteste. [1] Twitter für Historiker, in: FAZ, 17.10.2012, S. N4.    

Quelle: http://rkb.hypotheses.org/290

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Religiöse Zeitlichkeiten im 16. Jahrhundert

Selten wird in der westeuropäischen Religionsgeschichte die Frage nach der Zeitlichkeit so brisant wie in der Reformationszeit. Es ist eine eschatologische, ja apokalyptische Zeit. Für die einen ist der Antichrist schon auf Erden, nämlich als römischer Papst. Für die Anderen bringen die lutherischen “Vorläufer des Antichristen” den Zorn Gottes und das Ende der Welt näher. So oder so, die Welt dreht sich schneller.


Drachen und Tiere aus der “Cloister Apokalypse” (1405-08). Metropolitan Museum of Art, New York. 

Und überhaupt: die Veränderungsfrage. Selten zuvor und danach war sie so stark zeitlich aufgeladen. Veränderungen finden in der Religion des 16. Jahrhunderts statt, das ist allen Beteiligten klar. Nur der Ort und die Bewegungen der Zeitlichkeiten sind umstritten. Die Altgläubigen sehen sich als die, die beim alten Glauben – das heißt dessen Praktiken und materiellen Artefakten – bleiben. Sie bleiben in dieser Sicht in einer linearen und weder veränder- noch entwickelbaren zeitlichen Kontinuität der Religionskultur. Die halten sie für legitimiert durch die Praktik seit “uralten” Zeiten. Dabei ist ihnen nicht klar, wie sehr sich die Sinnzuschreibungen, (nun zusätzlich z.B. Konfessionen distinguierende) Bedeutungen und sicher auch Inszenierungen der tatsächlichen Praktiken verändern und nuancieren. So wird selbst-wahrgenommene Konservierung beim Blick auf das gesamte soziale Feld ebenso zur Aktualisierung.

Und natürlich kollidiert diese Zeitkultur der Altgläubigen mit jener der evangelischen “Neuerer”. Doch die verwehren sich gegen den Vorwurf der Neuheit. Im Gegenteil, sie sehen die Papisten als die wahren Neuerer, denn die hätten die urchristliche Religion mit neuen “Aufsetzungen” und “Zusetzungen” immer mehr auf die schiefe Bahn gebracht. Die Reformatoren wollen durch Veränderung bzw. “Reform” zurück zum reinen, alten, wahren Christentum, basierend auf dem “puren, lauteren Wort Gottes”. Sie sehen in den Praktiken der Christen um 1500 keine zeitliche statische Kontinuität des wahren Christentums, sondern gehen von einer stattgefundenen, qualitativen “Verschlechterung” der Religion im Fortschreiten der Zeit aus. Das macht die zeitliche Rückkehr zur wahren, alten Religion nötig. Oder vielmehr: das Wahre, Alte soll in das Jetzt geholt werden.

Nicht nur aus historischer Sicht, sondern auch in der Selbstsicht der Akteure finden im 16. Jahrhundert also “Gleichzeitigkeiten” (Achim Landwehr) bei den Zeitauffassungen statt. Altgläubige und Protestanten, ganz zu schweigen von den “radikalen” evangelischen Gruppen, leben gleichzeitig in verschiedenen, sich mitunter auch gezielt wiedersprechenden religiösen Zeiten. Und da sich Zeitlichkeiten als kulturelle Konstrukte immer dann besonders schnell wandeln, wenn sich die Kulturen, die sie hervorbringen, schnell wandeln, sind auch die Aktualisierungen der religiösen Zeitlichkeiten im 16. Jahrhundert besonders schnell – und unterschiedlich, ja gezielt antagonistisch.

Es findet eine beschleunigte Aktualisierung und Diversifizierung der Zeitkulturen statt. Diese sind dabei so plural und wiedersprüchlich wie auch der Ort von Zeit und Kultur: der Mensch.

Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/229

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