
Como, Via Vittorio Emanuele II 111
Geschichtswissenschaftliche Blogs auf einen Blick
Und gleich noch einmal YoutTube. Eine sehr gut gemachte Dokumentation über das US-Fernsehen: Class Dismissed – How TV Frames the Working Class.
Based on the book by Pepi Leistyna, Class Dismissed navigates the steady stream of narrow working class representations from American television’s beginnings to today’s sitcoms, reality shows, police dramas, and daytime talk shows.
Featuring interviews with media analysts and cultural historians, this documentary examines the patterns inherent in TV’s disturbing depictions of working class people as either clowns or social deviants — stereotypical portrayals that reinforce the myth of meritocracy.
Class Dismissed breaks important new ground in exploring the ways in which race, gender, and sexuality intersect with class, offering a more complex reading of television’s often one-dimensional representations. The video also links television portrayals to negative cultural attitudes and public policies that directly affect the lives of working class people.
Danke an Christiane für den Tipp.
Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2012/10/schlaglichter-auf-die-geschichte-band-2.html
Dem Blogger sei ein wenig Trotz zugestanden. Es stimmt, Geburtstags- und Gedenkartikel zu einzelnen Gelehrten laufen hier eher schlecht; die Klickzahlen liegen am unteren Ende der Schwankungsbreite, es dauert meist mehrere Tage, bis auch nur die Vierstelligkeit erreicht ist. Manche Leser interessieren solche Beiträge ganz offenbar nicht – handelt es sich da um mehr als akademische Routine, im schlimmsten Fall Beweihräucherung, monumentalische Historie oder das Entfachen großer Lichter, damit ein kleiner Teil von deren Schein auf die graue Gegenwart falle? Das kann man so sehen. Andererseits: Gerade eine kritische Selbstreflexion des eigenen Tuns, der eigenen Disziplin bedarf einer steten Vergewisserung der Leistungen und Engführungen, der Voraussetzungen und Kontexte früherer Forschung. Die institutionellen, gesellschaftlichen und ideologischen Bedingungen und Trends sind enorm wichtig, aber der Gang der Wissenschaft – hier: die Erkenntnis der Antike – ergibt sich nicht einfach aus ihnen, sondern er gewinnt Gestalt in einzelnen Gelehrten. Deshalb wird es bis auf weiteres solche Einträge geben. Dieser Blogger hier sieht sich außerdem auch in der Pflicht, einfach Chronist zu sein.
Das gilt zumal dann, wenn die anstehende Person ihm eher ferner steht. Johannes Straub gehört in diese Gruppe. Geboren heute vor einhundert Jahren in Ulm studierte der Sohn eines Postbeamten in Tübingen und Berlin, wo er mit 26 promoviert wurde. Vier Jahre später habilitierte er sich in Berlin mit „Aktuelle Geschichtsbetrachtungen. Untersuchungen über Zeit und Tendenz der Scriptores Historiae Augustae”. Vom Typoskript der Habilitationsschrift wurden, wie damals üblich, nur wenige Exemplare gefertigt; sie gingen wohl im Chaos des Kriegsendes verloren (das kam öfter vor). 1944 wurde Straub außerordentlicher, 1948 dann ordentlicher Professor in Erlangen. Seine größte Wirkung entfaltete er jedoch in Bonn, wo er fast dreißig Jahre lang, von 1953 bis 1982 lehrte, zahlreiche Ehren empfing und Ende Januar 1996 auch starb.
In Wilhelm Weber hatte Straub in Berlin einen charismatischen, aber auch von der NS-Ideologie durchdrungenen Lehrer gefunden. Karriere machen konnte in dieser Zeit nur, wer eine gewisse Bereitschaft zur Anpassung erkennen ließ. Dazu gehörte der Eintritt in die Partei. Doch sollte aus zwei Führerzitaten in der Dissertation nicht allzuviel gemacht werden, und im Kommunikationsgewirr zwischen Fakultäten, NS-Dozentenbund, Reichserziehungsministerium und Gutachtern wurden zu einzelnen Nachwuchswissenschaftlern oft Einschätzungen formuliert, die mehr über Gesinnung und Interessen des jeweiligen Verfassers in einer bestimmten Konstellation sagen als über den Eingeschätzten. Gewiß, 1944 wurde in Deutschland niemand zum außerordentlichen Professor berufen, der offen Distanz zum Regime hielt. Vieles war auch ambivalent. So reduzierte der Kriegsdienst die Frequenz der Publikationen, was eine Berufung behindern konnte, während der Dienst an sich selbstverständlich für den ins Auge Gefaßten sprach. In der zweiten Kriegshälfte war es auch zunehmend schwierig, Stellen überhaupt zu besetzen, was denen half, die unter anderen Umständen vielleicht als ‘weltanschaulich noch nicht reif’ ausgesiebt worden wären. Aktenstudium ist hier in jedem einzelnen Fall unentbehrlich, nicht weniger aber eine kritische Selbstprüfung, wieviel Distanz von Zeitgeist in einem totalitären Staat Nachgeborene erwarten sollten, zumal wenn diese selbst, nunmehr in einem freien Land, hochschulpolitisch oder akademisch an Modeerscheinungen mitwirken, die offen als Fehlentwicklungen erkannt sind oder zumindest so diskutiert werden.
Straub jedenfalls hielt an seinem Katholizismus fest. Zu einem 1942 publizierten, repräsentativen Sammelwerk, das ein notorischer NS-Althistoriker herausgab, um die Sinnstiftungsbereitschaft der Altertumswissenschaften auch im Neuen Staat unter Beweis zu stellen, steuerte er einen Beitrag über „Konstantins christliches Sendungsbewußtsein” bei („während meiner Bordfunker-Ausbildung geschrieben”) – das war auch eine klare Ansage, die richtig verstehen konnte, wer das wollte.
Die 1939 publizierte Dissertation „Vom Herrscherideal in der Spätantike” ist jedenfalls immer noch sehr lesenswert. Die Spätantike hatte sich nach dem 1. Weltkrieg zu einem Forschungsfeld entwickelt, das vor allem methodisch ebenso anspruchsvoll wie innovativ war. Gefordert war eine Zusammenführung traditioneller philologischer Textexegese mit ideen-, religions- und begriffsgeschichtlichen Fragestellungen. Materielle Überreste boten reiches Material, zumal die vor Symbolik berstende kaiserliche Selbstdarstellung zu untersuchen, wie sie aktuell in der Magdeburger Ausstellung zu sehen ist. Zusätzliche Interdisziplinarität (die noch nicht so hieß) erwuchs aus der Tatsache, daß das späte Rom ein mehr und mehr christliches Rom war. Und es gab säkulare Konflikte zu studieren, zwischen Heiden und Christen, Rom und Germanen, der zunehmenden Heterogenität des Reiches und dem Anspruch, es unter einem Kaiser und einem Glauben neu zu formieren. Spätantikeforscher konnten beanspruchen, eine weltgeschichtlich ‘dichte’ und bedeutsame Epoche unter den Händen zu haben, die zu sezieren es eines höchst subtilen hermeneutischen Instrumentariums bedurfte – das erleichterte es, fachliche Standards zu wahren und wissenschaftsfremde Zumutungen abzuwehren.
Der Spätantike blieb Straub sein Leben lang treu. Die Habilitationsschrift galt einem Text, der unter postmodernen critics sicher schon längst zum Star avanciert wäre, wenn er nicht so sperrig wäre und man nicht schlicht und altmodisch so viel Kompetenz bräuchte, um mit ihm umzugehen: die Historia Augusta, eine Sammlung von Biographien römischer Kaiser des 2. und 3. Jahrhunderts, die ihr Spiel mit dem Leser treibt. Angeblich von verschiedenen, namentlich genannten Autoren verfaßt, geschrieben in Wirklichkeit von einer einzigen Feder. Gespickt mit Authentizitätsmarkern und Genauigkeitsbehauptungen, die sich als reine Fiktion erweisen lassen. Das „lose Spiel eines literarischen Vagabunden” (so Ernst Hohl, der führende Historia Augusta-Forscher der Generation vor Straub), ein spielerischer Spätling der antiken Historiographie, von dem wir nicht sicher wissen, wann er produziert wurde und welche ‘Tendenzen’ er verfolgte. Straub plädierte für das 5. Jahrhundert, und die ermittelte Ausrichtung bildet den Titel seiner 1963 vorgelegten großen Studie: „Heidnische Geschichtsapologetik in der christlichen Spätantike”.
Nach dem Krieg gehörte Straub zu dem Kreis von Althistorikern, die eine frühe und auch schon internationale Verbundforschung (wie man heute sagt) in Gang brachten, eben zur Historia Augusta, mit Kolloquien in Bonn, Dissertationen und Kommentaren zu einzelnen Viten der Sammlung. Daneben edierte er den letzten Band der Dokumente der großen ökumenischen Konzilien. Doch auch die Tradition in eine außeruniversitäre Öffentlichkeit weiterzugeben zählte er zu seinen Aufgaben. Dem Verein von Altertumsfreunden im Rheinland saß er zwanzig Jahre lang vor, und eine Reihe von Aufsätzen erschien im Gymnasium, einer damals überwiegend von Altphilologen im Schuldienst gelesenen Zeitschrift.
Für den persönlichen Eindruck müssen Menschen gehört werden, die ihn kannten. Im Nachruf der FAZ heißt es: Er lebte „das Ideal des Hochschullehrers, dem so wenige entsprechen; er zeigte gleichen Spaß an Forschung wie Lehre. Sträub hatte und liebte prononcierte Meinungen. Daß sie den seinen entsprachen, das zu fordern oder auch nur zu wünschen lag ihm fern. Er war eine gesprächsfreudige Natur und genoß die Auseinandersetzung; vielleicht war das der fruchtbare hermeneutische Moment, der ihn zum Beobachter des Gegenspiels christlicher und heidnischer Geschichtsphilosophie prädestinierte. Geistiger Zwang war ihm fremd; wer bei ihm studiert hat, weiß von der Falle der ‘falschen Alternative’. Bis zum letzten Tag ging Johannes Straub regelmäßig in sein Seminar für Alte Geschichte, in Wissenschaftlichkeit und Humanität das Bild eines deutschen Gelehrten.”
Abb. aus: Bonner Festgabe Johannes Straub, zum 65. Geburtstag am 18. Oktober 1977, hgg. von A. Lippold und N. Himmelmann
Nachruf von Adolf Lippold in: Gnomon 70, 1998, 174-176.
von Uwe Walter erschienen in Antike und Abendland ein Blog von FAZ.NET.
Quelle: http://blogs.faz.net/antike/2012/10/18/nestor-der-spaetantike-johannes-straub-zum-hundertsten-395/
Die hervorragende Dokumentation von Bernhard Pfletschinger und Catrin Dingler (2010) gehört unbedingt hierher, weil die historische und gesellschaftliche Rolle der süditalienischen Mafia herausgearbeitet wird. So zeigt zum Beispiel Teil Zwei, wie und warum die Mafia nach dem Zweiten Weltkrieg von den US-amerikanischen Besatzern reinstalliert wurde.
Quelle: https://kritischegeschichte.wordpress.com/2012/10/18/geschichte-der-mafia-auf-youtube/
Wie im Juni angekündigt, beginnt nun die Online-Stellung der seit 1962 im DHIP erscheinende Reihe »Pariser Historischen Studien« (PHS). Die digitalen Ausgaben der PSH erscheinen als pdf auf der Publikationsplattform der Max Weber Stiftung perspectivia.net im Open Access. Alle bisher erschienen Bände werden nach und nach in einem Rhythmus von circa 10 Bänden pro Monat retrodigitalisiert. Neuerscheinungen werden mit einer moving wall von 36 Monaten eingestellt. Bereits verfügbar sind die Bände 90, 93, 89, 86–87 sowie 81–83 (siehe unten). Im Katalog der Bibliothek des DHIP werden die Links in den einzelnen Titelaufnahmen der Bücher und Aufsätze angegeben:
Quelle: http://dhdhi.hypotheses.org/1290
Noch sind sie keine ‘digital natives’, die Befragten der umfassenden Studie “Researchers of Tomorrow“. 2009 von der British Library und JISC, dem Joint Information Systems Committee in Auftrag gegeben, zeigt der 88-seitige Report die aktuelle Lage von Doktoranden im Vereinigten Königreich auf. Auch wenn manche Erkenntnis nicht einfach auf das deutsche Wissenschaftssystem übertragbar sein dürfte, gibt die Studie – an der über 17.000 Promovierende teilnahmen – doch in vielerlei Hinsicht zu denken.
Zunächst sind die jungen Forscherinnen und Forscher der “Generation Y” offenbar ausgefuchste Informationssucher. Auch bei der Nutzung neuester Medien sind die zwischen 1982 und 1994 Geborenen zur kritischen Einschätzung hinsichtlich des gefundenen Materials allemal in der Lage. Nahezu alle suchen dabei aber wohl weniger Primärquellen, als Sekundärmaterial wie wissenschaftliche Artikel, Bücher usw. Demgegenüber sind junge Sozial- und Kulturwissenschaftler offenbar extrem zurückhaltend in der Nutzung von Zeitungen, Archivmaterial und Statistiken. Der Report befürchtet, dass hier bereits eine Verschiebung gegenüber den vor zehn Jahren üblichen allgemeinen Standards eingesetzt hat und fordert hierzu mehr Untersuchungen.
Ungeduld kennzeichnet den Umgang mit dem Sekundärmaterial: Wenn ein Artikel aus einem E-Journal nicht verfügbar ist, arbeitet mehr als die Hälfte der Befragten notfalls mit dem Abstract oder dem, was Google leicht zugänglich macht. Alte Ordnungsorientierungen wie Verlage, Reihen etc. haben gegenüber den Suchmasken von Bibliothek und Suchmaschinen massiv an Bedeutung verloren. Die Mobilität zwischen verschiedenen physischen Bibliotheken hat abgenommen. Trotz aller Medienkompetenz sind für die Doktoranden die oftmals komplexen Abläufe, die zur Bereitstellung von Onlineressourcen durch Universitäten führen, nicht verständlich. Wenn das mal nicht für mehr Open Access spricht, und zwar in möglichst radikal einfacher Form… Offenbar führt auch der Wiedererkennungs- und Authentizitätseffekt von bereits publizierten Material dazu, dass man sich wenig auf “graues” Material stützt. Die Systemgrenzen wirken als Schere im Kopf, auch und gerade gegenüber netzbasierten Daten.
Überraschend ist auch ein weiteren Befund der Studie: Für die Arbeit an der Arbeit nutzen junge Forscher offenbar nicht “latest and greatest”-Technologie. Nur wenn neue Anwendungen leicht in die Forschungspraxis integriert werden können, werden sie auch benutzt. Das betrifft auch die Angebote in Sachen Web 2.0, die von Institutionen selber bereitgestellt und entwickelt werden. (Ich versuche mir, das in Deutschland vorzustellen: Stell’ Dir vor, es gibt Moodle oder spezielle Retrodigitalisierungen, aber kein Dissertierender nutzt sie.) Es gibt also in Großbritannien offenbar so etwas wie einen gravierenden Konservatismus.
Nutzung von Sozialen Medien zur Forschung in Großbritannien, 2009-2011
Kann es daran liegen, dass das Einzelkämpfertum zu verbreitet ist? So teilt man die eigenen Ergebnisse nur im engsten Kreis und verzichtet auf breite Anschlusskommunikation, die ja z.B. mit einem eigenen Blog sehr leicht wäre. Zwar wollen immer mehr Forschende im Open Access publizieren, aber Renommier- und Glaubwürdigkeitsfragen hinsichtlich der entsprechenden Journale bremsen den Enthusiasmus stark. “Researchers of Tomorrow” ermutigt deshalb die Betreuerinnen und Betreuer dazu, wiederum die Doktorierenden zu ermutigen: Größere Offenheit und mehr Teilen sind die Devise. Was junge Forscherinnen und Forscher aber wirklich brauchen, ist der informelle direkte Austausch: nicht nur als Notlösung untereinander, sondern vor allem im Gespräch mit Professoren.
Die Entzauberung der vermeintlich schon “digital geborenen” Generation hat auch in Deutschland längst eingesetzt. Entscheidend ist für die Wissenschaft nicht ein naiver, journalistisch befeuerter Diskurshype um “digital natives” und “immigrants”. Dagegen lese man noch einmal als Antidot die ebenfalls im Bildungskontext entstandenen Artikel von Marc Prensky (2001: Teil 1/Teil 2). Viel eher scheinen die mittelfristigen Folgen des medienkulturellen Wandels strukturelle Änderungen in der Wissensproduktion mit sich zu bringen, die ohne Gegensteuern zum Problem werden können.
Nutzung von offenen Web-Technologien zur Forschung in Großbritannien, 2009-20111
Warum sollte in der digitalen Welt die Forschung nicht vielfältiger werden können? Das Sprachproblem zwischen verschiedenen Generationen, das Prensky befürchtete, kann doch nicht ernsthaft die Ursache sein. Offenbar fehlt in Großbritannien allen Seiten Mut und Orientierung, um die vernetzte Welt richtig für sich zu nutzen.
Your media mix may vary, auch das gedruckte Buch spielt für die Humanities immer noch die Hauptrolle (hier eine aktuelle Einschätzung aus Österreich). Dass das Surfen im Netz für viele schnell mal zu einem Driften werden kann – geschenkt. Alarmierend sind hingegen die niedrigen Nutzungs- und Zufriedenheitsraten für die diversen Netztechnologien, mitsamt einer Tendenz zur Passivität. Die Wikipedia kommt noch am besten weg. So ist das halt mit dem Internet: Man bekommt nur das Netz, das man sich selber macht. Es wird offenbar an der Zeit, dass ein Blogportal wie hypotheses eine englische Dependance eröffnet. Oder kennt Ihr positive britische Beispiele, die einen nicht so verzweifeln lassen wie “Researchers of Tomorrow“? Dann aber fix her damit!
Alle Abbildungen stehen wie der gesamte Studientext (PDF) unter CC-BY-NC-ND (The British Library and HEFCE 2012).
Quelle: http://gab.hypotheses.org/332
Reliquien spalten die Gesellschaft: die einen wissen nicht was Reliquien überhaupt sind, die anderen halten ihre Verehrung für einen morbiden Auswuchs katholischer Frömmigkeit und wieder andere reisen kilometerweit, um einmal den Arm, Kopf oder auch vertrocknete Innereien sehen zu können. Sie beten zu dem Heiligen und erhoffen sich Hilfe oder sehen sie/ihn als spirituelles Vorbild an. Das Herz der Elisabeth liegt angeblich in Cambrai, Nordfrankreich. Im Rahmen einer Frankreichreise besuchte ich die Stadt, um das zu überprüfen.
Auch der Leichnam der heiligen Elisabeth ist nach ihrem Tode zerteilt worden, ihr Körper ist nun auf der ganzen Welt verstreut und wird in vergoldeten Schreinen aufbewahrt. Die verwitwete Landgräfin starb im Alter von 25 Jahren 1231 in dem von ihr gegründeten Hospital in Marburg an der Lahn. Sie wurde bereits zu Lebzeiten als Heilige verehrt, was zu unglaublichen Szenen während ihrer Aufbahrung geführt haben soll. Die Menschen sollen sich regelrecht auf den Leichnam gestürzt haben. Sie rissen Stücke aus ihrem Leichentuch, schnitten Nägel, Haare und sogar die Ohren ab.[1] Bereits kurz nach ihrem Tod muss den Hinterbliebenen klar gewesen sein, hier lag eine Heilige und nun müssen die Maßnahmen für ihre offizielle Heiligsprechung eingeleitet werden.
Ich bin von dem Marburger Historiker Angus Fowler darauf hingewiesen worden, dass es in einer handschriftlichen Notiz heißt, dass das Herz der Elisabeth bereits 1232 nach Cambrai gekommen sei. Das wäre ein Jahr nach ihrem Tode und vier Jahre vor ihrer offiziellen Heiligsprechung durch den Papst.[2] Bereits 1235 soll in der Kathedrale von Cambrai ein Altar der Heiligen Elisabeth worden sein, was die Existenz einer Reliquie voraussetzt. In Cambrai sind mehrere Reliquien der Heiligen Elisabeth in mindestens acht Schatzverzeichnissen aus den Jahren 1359, 1401, 1461, 1519, 1541, 1571, 1623 und 1670 aufgelistet. Darunter könnte auch das Herz gelistet sein, dass sich unter dem Begriff „Apfel“ verbergen könnte.[3]
Weiterhin ist zu bemerken, dass die Beziehungen zwischen den Landgrafen von Thüringen und den Herzögen von Brabant eng waren, so wurde Elisabeths älteste Tochter in dieses Haus eingeheiratet.
Während der Französischen Revolution wurde die Stadt schwer in Mitleidenschaft gezogen. Die Kathedrale von Cambrai wurde gebrandschatzt und abgerissen. Die meisten Reliquien wurden eingeschmolzen. Die Kathedralfunktion wurde auf die Klosterkirche Saint-Sepulchre übertragen. An der Stelle der Kathedrale steht heute ein Parkplatz. Laut örtlicher Überlieferung entging das Herz der Elisabeth der Zerstörung und wurde in einem Kupfergefäß in Form eines Herzes gebettet und in eine Nische auf der Rückseite des Hauptaltares eingelassen. Dieses Gefäß wurde 1990 aufgebrochen und gestohlen, die Reste des Elisabethherzes las man vom Boden auf und verbrachte es in ein neues kleines Herzreliquiar, das ich mir anschauen durfte.[4] Foto unten.
Die Geschichte der Herz-Reliquie hat zuletzt Frau Suzanne Frontier de la Messelière in ihrer Doktorarbeit zum Thema „Elisabeth de Hongrie. Biographie et Hagiographie“ an der Universität Freiburg/ Schweiz bearbeitet. Eine kurze Zusammenfassung findet sich auf dieser Internetseite.
Die Abschlussarbeit liegt meines Wissens noch nicht gedruckt vor.
Der Großteil des verstorben Körpers der heiligen Elisabeth dürfte bis zu ihrer Heiligsprechung 1235 in Marburg verblieben sein. Der Leichnam wurde präpariert, in dem man Fleisch und Knochen voneinander trennte und auch getrennt voneinander aufbewahrte. Der Kopf wurde als die wertvollste Reliquie wiederum gesondert aufbewahrt. Bei der feierlichen Erhebung war der Kaiser Friedrich II persönlich anwesend. Er nahm das Haupt und setzte ihm eine kostbare Krone auf, was damals als Zeichen der Demut begriffen wurde.[5]
Der Verbleib des verwesenden Fleisches in den nächsten Jahrhunderten ist unbekannt. Der Theologe Dickmann mutmaßt, dass es sich in dem bleiernen Kästchen, dass zwischen 1854 und 1861 aus einem Schacht unter dem heutigen Elisabethmausoleum heraufgehoben wurde, befinden könnte. Friedrich Lange, der zur damaligen Zeit die Restaurationsarbeiten leitete, beschrieb den Inhalt als „zu Klumpen verbackene Hostien“.[6] Die These ist als hypothetisch zu werten.
Das Skelett dürfte nach ihrer Erhebung erst einmal in ihrem Hospital aufbewahrt worden sein. 1249 wurde sie schließlich in die neu errichtete Elisabethkirche überführt und kam in den 1270er Jahren in den goldenen Schrein in der Sakristei.
Bis zum Ende des Mittelalters sind immer wieder Teile des Skelettes entnommen worden. Überliefert ist zum Beispiel, dass Sophie eine Rippe ihrer verstorbenen Mutter bei sich gehabt haben soll, um darauf Schwüre abzunehmen. Ein Arm soll bereits kurz nach ihrem Tod ins Prämonstratenserinnenkloster Altenberg bei Wetzlar verbracht worden sein, wo ihre jüngste Tochter Gertrud dann Äbtissin war.[7] Über Umwege gelangte das Reliquiar in den Besitz der Fürsten zu Sayn-Wittgenstein. Er wird heute in der Schlosskapelle von Schloss Sayn bei Koblenz aufbewahrt.[8]
1539 entnahm der zum Protestantismus übergelaufene Landgraf Philipp von Hessen, genannt der Großmütige, die Gebeine seiner Ahnmutter aus dem Schrein. Die sterblichen Überreste wurden in einen Sack verpackt und ins Marburger Schloß gebracht.[9] Der großmütige Urenkel ließ verkünden er hätte der Knochen auf dem Friedhof beim Michelchen in Marburg verstreuen lassen, was ihm freilich niemand glaubte. Der Deutsche Orden forderte ihn immer wieder auf, die Reliquien zurückzugeben, aber auch das Eingreifen des Kaisers sollte nicht fruchten.[10] Während des Schmalkaldischen Krieges wurde Philipp 1547 in der Schlacht bei Mühlberg gefangengenommen. Der Deutsche Orden forderte die Herausgabe erneut, nur diesmal mit dem Zusatz des Kaisers, dass sich eine Rückgabe positiv auf die Dauer der Gefangenschaft auswirke.
Am 12.7.1548 wurden die Gebeine dem Deutschen Orden in Marburg ausgehändigt. Von dem Skelett waren noch der Kopf mit Kinn, 5 kleinere und größere Röhrenknochen, eine Rippe, zwei Schulterbeine und ein Breitknochen vorhanden.[11]
1588 bat der Deutschmeister Erzherzog Maximilian von Österreich den Marburger Landkomtur um die Herausgabe der Reliquien. Noch im selben Jahr wurden sie in das Wiener Klarissenenkloster verbracht. Als dieses 1782 aufgelöst wurde, kamen die verblieben Knochen ins Elisabetherinnenkloster in der Nähe von Wien, wo sie sich heute noch befinden.[12] Der Verbleib ist in Forschung umstritten.[13]
In der Elisabethkirche selbst befinden sich keine Reliquien der heiligen Elisabeth mehr. Die Körperteile Elisabeths von Thüringen sind auf der ganzen Welt verstreut, wobei nicht jede der verehrten Reliquien als echt einzustufen ist.
Das Herz der Elisabeth hat in der deutschsprachigen Forschung noch nicht die Beachtung gefunden, die es möglicherweise verdient hätte. Wenn die urkundliche Rückverfolgung eine Echtheit der Hinterlassenschaft wahrscheinlich macht, sollte das Herz der Elisabeth seinen Platz unter den wichtigsten Reliquien der Heiligen eingeräumt werden. Doch vorher müssen die Urkunden geprüft und alle Indizien abgewägt werden, um zu einem Ergebnis zu kommen.
Foto der Herzreliquie in Cambrai (Foto: Kai Thomas Platz)
[1] E. Könsgen (Hrsg.), Caesarius von Heisterbach. Das Leben der heiligen Elisabeth und andere Zeugnisse, Veröff. Hist. Kommission Hessen 67,2 = Kleine Texte mit Übersetzungen 2 (Marburg 2007) 190-191
[2] Mit freundlichen Hinweis von Angus Fowler M.A. / A. Huyskens, Quellstudien zur Geschichte der Hl Elisabeth. Landgräfin von Thüringen (Marburg 1908) 33/ A. Fowler, Das Herz der Heiligen Elisabeth in Cambrai/Nord-Frankreich (Masch. Schriftl. Manuskript Marburg 2011)
[3] B. Delmaire, Nennung von Reliquien der hl. Elisabeth im Reliquien-Verzeichnis der Kathedrale von Cambrai, in: D. Blume- M. Werner, Elisabeth von Thüringen. Eine europäische Heilige Katalog (Petersberg 2007) 197-199
[4] B. Delmaire, Nennung von Reliquien der hl. Elisabeth im Reliquien-Verzeichnis der Kathedrale von Cambrai, in: D. Blume- M. Werner, Elisabeth von Thüringen. Eine europäische Heilige Katalog (Petersberg 2007) 197-199
[5] T. Franke, Zur Geschichte der Elisabethreliquien im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Philipps-Universität Marburg (Hrsg.), Sankt Elisabeth. Fürstin Dienerin Heilige. (Sigmaringen 1982) 167
[6] F. Dickmann, Das Schicksal der Reliquien Elisabeths, in: Journal of Religious Culture 141, 2010, 4
[7] T. Franke, Zur Geschichte der Elisabethreliquien im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Philipps-Universität Marburg (Hrsg.), Sankt Elisabeth. Fürstin Dienerin Heilige. (Sigmaringen 1982) 168
[8] F. Dickmann, Das Schicksal der Reliquien Elisabeths, in: Journal of Religious Culture 141, 2010, 5
[9] Th. Fuchs, Bericht über den Verbleib der Reliquien der hl. Elisabeth, in: D. Blume-M. Werner (Hrsg.), Elisabeth von Thüringen. Eine europäische Heilige. Katalog (Petersberg 2007) 462-463
[10] F. Dickmann, Das Schicksal der Reliquien Elisabeths, in: Journal of Religious Culture 141, 2010, 2
[11] Th.Fuchs, Der Landkomtur des Deutschen Ordens bestätigt die Rückgabe der Reliquien der heiligen Elisabeth, in: D. Blume-M. Werner (Hrsg.), Elisabeth von Thüringen. Eine europäische Heilige. Katalog (Petersberg 2007) 462-463
[12] F. Dickmann, Das Schicksal der Reliquien Elisabeths, in: Journal of Religious Culture 141, 2010, 7
[13] U. Hussong, Im Namen der Elisabeth Nachleben und Jubiläumsfeiern in Marburg (Marburg 2007) 25