West-Berlin

Inside Kreuzberg
Berlin um 1950

Berlin um 1950. Fotografien von Ernst Hahn. Komposition und Text: Hermann Ebling, mit einem Vorwort von Annemarie Jaeggi, edition Friedenauer Brücke, Berlin 2013

Das Heft 2/2014 der „Zeithistorischen Forschungen“ beschäftigt sich mit West-Berlin. In drei Hauptaufsätzen beschreiben Stefanie Eisenhuth und Scott H. Krause, Christiane Reinecke sowie Krijn Thijs Erinnerungen und Veränderungen der Insel in der DDR.

Der erste Beitrag von Stefanie Eisenhuth und Scott H. Krause beleuchtet in „Inventing the ‘Outpost of Freedom’. Transatlantic Narratives and Historical Actors“ die internationale Kampagne und deren Protagonisten, die das Weltbild West-Berlins aufwerten sollten.

Berlin in den 1950er-Jahren

Antonia Meiners, Berlin in den 1950er-Jahren. Eine Chronik in Bildern, nicolai Verlag, Berlin 2013

 

Christiane Reinecke beschäftigt sich in ihrem Artikel „Am Rande der Gesellschaft?“ mit dem Märkischen Viertel in den 1970er-Jahren: einem neu entstandenen Randbezirk, der schnell zu einem sozialen Krisenherd wurde.

In „West-Berliner Visionen für eine neue Mitte (1981-1985)“ beschreibt Krijn Thijs die Problematik, das Gelände zwischen Reichstag, Mauer und Potsdamer Platz für unterschiedlichste Bauvorhaben wieder zu nutzen.

 

Ein weiterer Beitrag von Hanno Hochmuth legt seinen Fokus auf die Vorstellung von neuen Bildbänden über West-Berlin. Es handelt sich sowohl um Werke einzelner Künstler als auch um gesammelte oder private Fotografien. Gab es vor einigen Jahren erst wenige Bände dieser Art, ist mittlerweile eine erwähnenswert hohe Zahl an Bildbänden erschienen, die teilweise jedoch schnell herausgebracht wurden und dem künstlerischen Anspruch nicht immer gerecht werden.

Wirtschaftswunder West-Berlin

„Wirtschaftswunder West Berlin. Fotografien von Herbert Maschke”, nicolai Verlag, Berlin 2013.

 

Die Themen reichen von den 1950er-Jahren über das in bunten Bildern dargestellte „Wirtschaftswunder“, das mit farbigen Reklamen das Stadtbild prägte, bis hin zu Darstellungen des heruntergekommenen Kreuzberg der 1970- und 80er-Jahre, die von Hausbesetzern und ihrem Kampf gegen die Exekutive erzählen. All diese Bilder zeigen in vielerlei Facetten die Entwicklung, die (West-)Berlin seither durchlaufen hat – und regen zu einer Zeitreise an.

Inside Kreuzberg

Michael Hughes, Inside Kreuzberg. Eine Hommage auf Berlin-Kreuzberg in den 80ern, Berlin Story Verlag, Berlin 2013

Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe,  11 (2014), H. 2

Quelle: http://www.visual-history.de/2015/01/05/west-berlin/

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Interview: Giulia Ghionzoli über die Aktualität von Don Juan-Figuren und ihre Arbeit am GRK 1678


dongiovannidramm00moza_page_022 Die Formung eines Körpers ist immer eine Begegnung der konkreten Materie mit immateriellen Ordnungspraktiken wie Moral, Gesundheit oder Vernunft. Von dieser Prämisse geht Giulia Ghionzoli in ihrem Disserationsprojekt "Die Figur des Don Juan als Experiment: Übergänge zwischen Rematerialisierung und 'creatio'/Schöpfung" aus. Ins Blickfeld rückt in ihrer Forschung nicht nur die biopolitische Wende der europäischen Kultur um 1800, sondern auch die Kreativitätsprozesse, denen die fortwährende Auseinandersetzung mit den Verhältnissen von Materie und Norm eingeschrieben sind. Mehr zu historischen und aktuellen Don Juan-Figuren sowie der Arbeit im GRK 1678 erzählt Giulia Ghionzoli im folgenden Interview. 

 

Liebe Giulia, wie entstand Dein Interesse am Zusammenhang von "Materialität“ und "Produktion“?

Das Körperliche zeigte sich am Ende der Recherche für meine Master-Arbeit als grundlegendes Element des Don Juan-Mythos und bildete zugleich den Ausgangpunkt für eine innovative Forschung zu dieser Figur. Die Problematisierung des Körpers, die jeder Lebensform inhärent ist, führt notwendigerweise zur Reflexion der Begriffe "Materialität" und "Produktion" sowie über ihre Relation und Interaktion. Don Juan verkörpert den Kampf, in dem die Kraft des Lebendigen antritt (man denke an die schöpferischen Prozesse sprachlicher und künstlerischer Art) und die Dominanz der Form unterbricht bzw. provoziert. Damit ist auch die Macht über das Leben gemeint, die die Ordnungen des Wissens wie z.B. Religion, Moral, Politik usw. mit ihrem regulierenden Charakter durchsetzen.

In Deinem Forschungsprojekt schreibst Du über den subversiven Charakter von Don Juan-Figuren. Sie widersetzen sich mit ihrer Sinnlichkeit und ihren Exzessen einer aufgedrängten Normierung wie Moral, Sitte, Vernunft oder Recht. Besitzt dieses Konzept auch 2014 noch Wirkungskraft? Peter Handkes Don Juan-Figur von 2004 z.B. war bereits sehr müde und abgekämpft.

Die Artikulation des Kampfes zwischen gesellschaftlichen Regulierungsdynamiken einerseits und von Don Juan erzeugten De-Regulierungsprozessen andererseits nimmt in den verschiedenen historischen Kontexten zwar immer eine neue Form ein, jedoch bleibt der subversive Charakter der Figur des Don Juan bis zum 21. Jh. aktuell.

Am Ende des 18. Jh. setzt Don Juan von da Ponte/Mozart zweifellos eine Zäsur in der Tradition dieses Mythos, die mit Tirso de Molina begann und die später bei Molière eine wichtige Fortsetzung fand. Ab diesem Moment wird eine andere Art Subversion dargestellt, nämlich eine, die auf Prozesse der "Entmaterialisierung des Körperlichen“ basiert, und im Kontext der Romantik Dynamiken transzendentaler Art anstrebt. Man denke z.B. - noch vor Peter Handke - an E.T.A. Hoffmanns Don Juan am Anfang des 19. Jh., in dem Don Juan nach dem Unendlichen und der Idealität (als Fluchtweg aus Nützlichkeitsdenken und Sicherheitsstreben der Bourgeoisie) strebt, die er nun für einen Augenblick durch den Somnambulismus erreichen kann. Diese Art Wahn subversiven Charakters ist als Macht des Lebendigen zu betrachten. Diese lässt sich auch bei Peter Handke aufzeigen, bei dem es zwar nicht um die Potenz verführerischer Künste geht, aber um die Affektkraft. Der Erzähler bei Handke sagt selbst, dass "es jetzt um keine Verführung mehr ging […]. Er [Don Juan]hatte eine Macht. Nur war seine Macht eine andere.“[1] Es handelt sich nun um eine Macht, die von einem Blick erzeugt wird, der die Frauen affektiert, um einen "Blick, der handelte“[2].

Inwiefern profitierst Du als Doktorandin vom GRK 1678?

Aufgrund der Vertiefung theoretischer Diskussionen habe ich die Gelegenheit, neue, bedeutende Impulse zu erhalten und diese furchtbar umzusetzen. Außerdem habe ich die Möglichkeit, meine Kenntnisse in den theoretisch, methodisch und thematisch relevanten Bereichen zu erweitern. Wichtig sind dabei die interdisziplinäre Gruppe und die Konfrontation mit anderen Fragestellungen und Methoden.

[1] Handke, Peter: Don Juan (erzählt von ihm selbst), Frankfurt a.M. 2004, S. 73.

[2] Ebd., S. 75.

Quelle: http://grk1678.hypotheses.org/306

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Eine komponierte Sichtweise

Magdeburg 1998-2000

Passend zum 25. Jubiläum des Mauerfalls präsentiert die LOOCK Galerie vom 18. Oktober bis zum 31. Januar 2015 eine Ausstellung mit Bildern des Fotografen Ulrich Wüst. Die Sammlung mit dem Titel „Übergänge“ beschäftigt sich zwar nicht direkt mit den Ereignissen vom 9. November 1989, aber eben auch mit den Jahren danach.

Berlin 1995-1997

Berlin 1995-1997, Pressefoto zur ausschließlichen Verwendung für die die Besprechung der Ausstellung „Übergänge” in der Loock Galerie (© Ulrich Wüst, veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung)

Es werden drei verschiedene Werkgruppen des Künstlers gezeigt. Eine davon bildet die Veränderungen in Berlin-Mitte (Berlin 1995 – 1997) nach dem Abbau der innerdeutschen Grenze ab. Anhand der zweiten Gruppe Morgenstraße (Magdeburg 1998 – 2000) wird die Geschichte Magdeburgs, Wüsts Geburtsstadt, erzählt. Der Verfall der einstigen Industriestadt steht im Mittelpunkt dieser Arbeiten. Als dritte Sammlung kann man die Bildergruppe Fremdes Pflaster (Köln 2004 – 2005) sehen, welche einerseits das traditionelle Stadtbild zeigt, jedoch auch auf die Entwicklung dieser eingeht.

Die kleine Galerie besteht aus zwei aneinander-grenzenden Räumen, beide sind weiß gestrichen und lassen die Lokalität eher unscheinbar wirken. Wendet man sich jedoch den Bildern zu, bemerkt man, welche starke Aussagekraft diese in Schwarz-Weiß entwickelten Fotografien haben.

Magdeburg 1998-2000

Magdeburg 1998-2000, Pressefoto zur ausschließlichen Verwendung für die die Besprechung der Ausstellung „Übergänge” in der Loock Galerie (© Ulrich Wüst, veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung)

Die erste Wand zeigt Bilder aus Magdeburg. Darunter eine Straße mit einem Haus, welches einen Sexshop mit dazugehörigem Kino beheimatet. Die Fassade des Gebäudes ist aus Beton und bröckelig. Dieser Vordergrund ist durch eine Mauer zum Hintergrund der Fotografie abgegrenzt. Hinter dieser Mauer steht eine Häusergruppe, die aus Neubauten in älterem Stil zu bestehen scheint. Obwohl die Bildkomposition stimmig ist, passen die gezeigten Gebäude nicht zueinander. Es scheint, als sei die Stadt in der Entwicklung zur Moderne hängen geblieben. Die in der Vergangenheit berühmte Industriestadt Magdeburg muss der kommerziellen Dienstleistung in Gestalt der immer beliebter werdenden Pornoindustrie weichen, schafft dabei aber den „Absprung“ zu der modernen Infrastruktur nicht.

Geht man weiter in den nächsten Raum, kann man auf den Fotografien die Straßen von Berlin erkennen. Die Aufnahmen zeigen verfallene Häuser mit eingeschlagenen Fenstern und abgebröckelter Fassade. Oft haben diese Gebäude nur eine Front, oder die Fenster auf der anderen Seite wurden zugemauert. Sie wirken wie Kulissen aus einem Film, als gäbe es keinen Raum hinter den Fenstern. Die Spuren des Postsozialismus oder besser gesagt dessen Reste sind deutlich zu erkennen. Heute erscheint es in Berlin-Mitte kaum noch vorstellbar, dass Straßen oder gar Häuser von der Mauer geteilt wurden, doch damals war das Realität und trennte Familien und Freunde voneinander, die zuvor in demselben Gebäude gewohnt hatten.

Köln 2004-2005

Köln 2004-2005, Pressefoto zur ausschließlichen Verwendung für die die Besprechung der Ausstellung „Übergänge” in der Loock Galerie (© Ulrich Wüst, veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung)

Dreht man sich zur Seite, landet man thematisch in der nordrhein-westfälischen Stadt Köln. Die Darstellungen sind von einem Paradoxon geprägt. Auf der einen Seite wird das Stadtbild von traditionellen gotischen und antiken Bauwerken dominiert, auf der anderen Seite geht es um die Entwicklung zur modernen Industriestadt. Dies zeigt sich zum Beispiel an einem Foto, das im Hintergrund den Dom in seiner vollen Pracht der gotischen Bauweise zeigt. Der Betrachter schaut von einer Treppe, die ans Ufer des Rheins führt, auf die Szenerie. Links im Bild auf einer Brücke ist von hinten eine Reiterstatue zu erkennen, die in Richtung Dom „schaut“. Den Gegensatz zu diesem edel anmutenden Ausblick bildet der Vordergrund des Fotos. Der Kölner Hauptbahnhof verdeckt mit seiner großen kuppelförmigen Halle und den vielen Oberleitungen den freien Blick auf das früh-neuzeitliche Bauwerk. Die Brücke, auf dem die Statue steht, scheint durch die Eisenbahnbauten verlängert worden zu sein. Dieser Fakt ist ein aussagekräftiges Sinnbild, wie aus dem Alten das Neue, das Moderne entsteht und im neuen Stadtbild integriert wird.

Ulrich Wüst hat mit seinen Werken eine Zeitspanne dokumentiert, die wichtige Etappen der Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland umrahmt. Dabei hat er sich nicht auf Schnappschüsse verlassen, sondern seine Aufnahmen streng komponiert. Alles passt zusammen und ist so gewollt. Er fotografiert nicht nur die Eindrücke, sondern verfolgt immer einen Zweck, möchte dem Betrachter eine Botschaft hinterlassen. Das ist Wüst in der Ausstellung definitiv gelungen.

Quelle: http://www.visual-history.de/2014/12/15/eine-komponierte-sichtweise/

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Das Innere nach außen gekehrt

Alf Lockhart (Großbritannien, 1918)

Alf Lockhart (Großbritannien, 1918)

Alf Lockhart (Großbritannien, 1918). Press photo for exhibition „The Eyes of War“ in the German Historical Museum in Berlin

Das Deutsche Historische Museum in Berlin zeigt seit dem 1. Oktober 2014 Fotografien des Niederländers Martin Roemers. 2004 traf der Fotograf den britischen Kriegsveteranen Frederick Bentley, der im Jahre 1944 sein Augenlicht verlor, als er von einer Granate getroffen wurde. Berührt von diesem Schicksal, begann der Niederländer nach Personen zu suchen, die ähnliche Erfahrungen wie Bentley gemacht haben. Entstanden ist eine große Sammlung an Geschichten und Bildern aus den verschiedensten Ländern.

Die Ausstellung umfasst 40 Porträts von Menschen aus Deutschland, Belgien, den Niederlanden, Großbritannien, der Ukraine und der ehemaligen Sowjetunion. Die Bilder zeigen Menschen, die während des Zweiten Weltkriegs als Jugendliche, junge Erwachsene und Soldaten ihr Augenlicht zum Teil oder ganz verloren haben. Begleitet werden die ca. ein Meter großen Aufnahmen von Interviews mit den gezeigten Personen, die ihre persönlichen Geschichten erzählen. So berichtet ein Mann aus Großbritannien von einem Freund, mit dem er gemeinsam einen verschütteten Keller nach interessanten Dingen durchsucht hatte. Dabei fanden die beiden eine Handgranate, die sie aber nicht als solche erkannten und damit spielten. Als der Junge wieder erwachte, hatte er zwei Wochen im Koma gelegen und sein Augenlicht verloren.

Jedes tragische Einzelschicksal berührt und hält einem einmal mehr die Sinnlosigkeit von Kriegen vor Augen. Auf der anderen Seite rufen die Darstellungen nicht nur Mitleid hervor, sondern zeugen von einer besonderen Stärke. So beschreiben die Betroffenen nicht nur ihren Leidensweg, sondern vielmehr ihre persönliche Art und Weise, mit einer solchen Behinderung umzugehen.

Sieglinde Bartelsen (Deutschland, 1930

Sieglinde Bartelsen (Deutschland, 1930). Press photo for exhibition „The Eyes of War“ in the German Historical Museum in Berlin

Dies wird auch durch die Präsentation der Sammlung bestärkt. Die Galerie ist mit schwarzen Wänden ausgekleidet, und auch die Aufsteller sind in dunkler Farbe gehalten. Die Porträts wurden in Schwarz-Weiß entwickelt. Jedoch sind sie auf einem weißen Untergrund angebracht, der sich wie ein Rahmen um die Fotografien schmiegt. Diese Darstellung gibt den Konsens der Ausstellung sehr gut wieder. Jedes einzelne Schicksal ist wichtig und erwähnenswert. Letztendlich werden aber all diese individuellen Geschichten zu einem Ganzen, weil sie trotz unterschiedlicher Nationalitäten das gleiche Schicksal eint. Martin Roemers verweist mit seiner Sammlung darauf, dass Bilder von äußerlich verletzten Menschen auch ihre innere Konstitution widerspiegeln können. Dies wird eindrucksvoll bestätigt, wenn man die Interviews neben den Bildern liest, wie Sieglinde Bartelsen, die trotz ihrer Einschränkung Näherin wurde und ihr eigenes Geld verdiente.

Zudem hat das Deutsche Historische Museum erstmals ein Leitsystem für Blinde und Sehbehinderte entwickelt und angelegt. So können die Besucher in Brailleschrift einen Einführungstext und auch die einzelnen Schicksale neben den Bildern lesen. Es gibt außerdem die Möglichkeit für Menschen ohne Augenlicht, an Führungen mit anschließender Diskussion teilzunehmen.

Ergänzend zu der Sammlung brachte der Hatje Cantz Verlag einen begleitenden Fotoband zur Ausstellung heraus, der jedoch nur noch einmal die Interview-Ausschnitte und die dazugehörigen Bilder zeigt, die ohnehin in der Ausstellung betrachtet werden können. So kann man die Bilder und ihre Geschichten nachlesen, erhält jedoch kaum neue Informationen zur Entstehung.

Norman Perry (Großbritannien, 1919).

Norman Perry (Großbritannien, 1919). Press photo for exhibition „The Eyes of War“ in the German Historical Museum in Berlin

Die Ausstellung läuft noch bis zum 4. Januar 2015 und ist besonders für jüngere Menschen einen Besuch wert. Denn sie zeigt am Beispiel tragischer Ereignisse, dass die vom Krieg betroffenen Menschen noch lange nach solchen Erlebnissen mit der Verarbeitung der Folgen beschäftigt sind. Erschreckend ist auch zu sehen, dass die Bilder ein heute sehr aktuelles Thema ansprechen. Man muss nur auf die Krisengebiete der Welt blicken und kann sich vorstellen, dass solche und noch schlimmere Ereignisse tagtäglich geschehen.

The Eyes of War – Fotografien von Martin Roemers
1. Oktober 2014 bis 4. Januar 2015
Deutsches Historisches Museum Berlin

Quelle: http://www.visual-history.de/2014/12/01/das-innere-nach-aussen-gekehrt/

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Sport, Stadion, Stadt

Seit dem Zweitligaaufstieg der Lilien machen sich zweiwöchentlich über zehntausend Menschen auf dem Weg zum Böllenfalltor um zweiundzwanzig Menschen beim Bewegen eines Lederballes mit den Füßen zu beobachten. An solchen Spieltagen wird das Stadion ganz besonders sichtbar. Doch welchen Ort haben Stadien und Sportstätten in Städten in historischer Perspektive?

Dieser Frage ging der viele Jahre am Institut für Geschichte beschäftigte Historiker PD. Dr. Noyan Dinckal aus Paderborn in einem Vortrag im Rahmen des 29. Darmstädter Sport-Forums nach. Er betrachtete dabei die Entwicklung moderner Sportstätten zu Beginn  des 20. Jahrhunderts und konstatierte zum einen, wie diese mit zunehmender Popularisierung zunehmenden Einfluss auf den urbanen Raum nahmen. Straßenbahnanschlüsse, Erdumwälzungen, Parkplätze mussten gebaut oder bewältigt werden und wirkten so in starkem Maße auf die Kommune zurück.  Zum anderen wurden die Stadien durch das zunehmende Interesse der Bevölkerung zu „Orten architektonischer Massenkultur und urbaner Riten“, wie Dinckal betonte.

Die zunehmende Bedeutung des Zuschauersports brachte begleitende Diskussionen hervor, die auch dem heutigen Ohr bekannt vorkommen. Schon damals gab es Debatten über Gewalt auf den Rängen, über die Rolle von Kommerz im Stadion (auch damals gab es Logen), über die durch das Stadion herbeigeführte Trennung von Profi- und Breitensport und über das Stadion als Prestigeobjekt für die Kommunen.

Ein Blick in die Geschichte des Stadionbaus eröffnet so neue Einblicke auch in aktuelle Diskussionen um Stadionneubauten. Manche Argumentationslinien wirken in historischer Dimension anders, andere Argumente können mit historischen Erfahrungen angereichert werden. Dinckals Vortrag regt auf jeden Fall zum Nach-, Mit- und Andenken an –gerade auch wenn man sich am Wochenende mal wieder auf den Weg ins Stadion am Böllenfalltor macht und dessen Zukunft im Halbzeitgespräch thematisiert wird.

Weiterführende Links:

Bericht im Darmstädter Echo

Verlagsinformation zu Dinckals Buch über Sportlandschaften

 

 

Quelle: http://mgtud.hypotheses.org/150

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Einer von 37.000 ist einer von 24 Millionen!

Damit hatte kaum jemand gerechnet, zumindest nicht vor dem ersten Wahlgang vom 2. November 2014: Klaus Johannis wird der neue Präsident von Rumänien. Der Bürgermeister von Hermannstadt und Vorsitzende der Christlich-Liberalen Allianz fuhr bei einer Rekordwahlbeteiligung von 64,1 Prozent mit 54,5 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen1 einen überragenden Sieg im zweiten Wahlgang der rumänischen Präsidentschaftswahlen 2014 ein. Über die Gründe, wie er binnen zweier Wochen einen Rückstand von 10 Prozentpunkten auf den Erstplazierten Victor Ponta nicht nur aufholen,2 sondern seinerseits in einen 10 Prozentpunktevorsprung umwandeln konnte, ist in den letzten Tagen schon viel gemutmaßt worden. Mit Sicherheit hat die deutlich gestiegene Wahlbeteiligung damit zu tun – junge Menschen und ältere Leute vor allem, die im ersten Wahlgang noch zu Hause geblieben waren, machten sich nun auf und gingen in die Wahllokale, um dort ihre Stimme abzugeben. Und diese zusätzlichen Stimmen kamen in erster Linie Klaus Johannis zugute. Was aber führte zu diesem Anschwellen der Wählerströme?

Zum einen war es die furchtbar desaströs verlaufene Abstimmung im Ausland, die viele Rumänen im Lande selber dazu brachte, nun ihre Stimme in die Waagschale zu werfen. Dreieinhalb Millionen Rumänen leben im Ausland, und viele von ihnen wollten am 2. November in den eigens eingerichteten Wahllokalen wählen gehen. Durch eine schlampige Organisation und überforderte Mitarbeiter wurden sie aber vielfach daran gehindert. Zwar waren in 95 Staaten insgesamt 294 Wahllokale eingerichtet worden, zumeist in den Botschaften und Konsulaten,3 doch waren diese zumeist sehr dürftig ausgestattet. So standen im Generalkonsulat in München nur fünf Wahlkabinen zur Verfügung,4 während andernorts Stempel fehlten oder die Stimmzettel ausgingen. In London waren die Einlaßkontrollen der Botschaft so strikt, daß über 1000 Wahlberechtigte innerhalb der Öffnungszeiten einfach nicht mehr in das Gebäude kamen.5 Protestierende Rumänen wurden in Paris, London, Wien und Turin von der Polizei vertrieben. Rasch wurden Vorwürfe laut, die Regierung unter Führung von Premierminister Ponta, zugleich Kandidat der Sozialdemokraten für das Präsidentenamt, hätte diese Situation bewußt herbeigeführt oder zumindest billigend in Kauf genommen,6 um zu verhindern, daß die Diaspora allzu viele Stimmen abgeben konnte, denn in der Tendenz wählt diese keinen linken Kandidaten. So bot die Stadt München an, für den 2. Wahlgang unentgeltlich nicht nur Räumlichkeiten, sondern auch Wahlurnen und Sichtblenden zur Verfügung zu stellen – von rumänischer Seite hieß es nur, daß daran kein Interesse bestehe.7 Was die Sozialdemokraten dabei völlig unterschätzen, war die Wut der Rumänen, in der Disapora wie in der Heimat, und die Macht der modernen Kommunikation. Denn die Tausende von Emails, SMS und Kommentaren via Twitter und Facebook, oft versehen mit Bildern von den unhaltbaren Zuständen vor den Wahllokalen, die die Lieben aus der Ferne an die Familie daheim sandten, trugen viel zu der Stimmung bei, die den satten Vorsprung von Victor Ponta binnen zweier Wochen dahinschmelzen ließ. In Rumänien wurde in mehreren Städten für das Wahlrecht der Auslandsrumänen demonstriert,8 und auch Klaus Johannis selbst machte seinem Unmut hierüber Luft. Als Sündenbock wurde der Außenminister ausgetauscht… geholfen hat dieses Manöver indes nicht.

Zum anderen war es der Wahlkampf selber und vor allem dessen ideologische Zuspitzung in den Tagen vor der Stichwahl, der viele Rumänen dazu motivierte, am 16. November zur Stichwahl zu gehen. Präsentierte sich Klaus Johannis als der unbestechliche und fleißige Macher im strahlend weißen Hemd (“Gesetz. Nicht Diebstahl.” oder “Taten. Kein Gerede.”),9 der auch mal mit seinem siebenbürgisch-sächsischen Image kokettierte, setzte Victor Ponta eindeutig auf die rumänisch-nationale Karte. So warb er nicht nur mit dem Slogan “Wir sind stolz, Rumänen zu sein”, den man in Rumänien gerne im Munde führt, sondern griff auch zu kräftigeren Ausdrücken. Johannis sei “kein richtiger Rumäne” und auch “kein orthodoxer Christ”.10 Er, Ponta, lehne “Kerle aus dem Ausland” ab, die “Rumänien mit Füßen getreten” hätten – wen er genau damit meinte, ließ er sich nicht entlocken, aber in Verbund mit einem Sager, wonach er in Johannis einen “Vertreter ausländischer Interessen” sah, der Siebenbürgen sogar von Rumänien abspalten wolle, wird die Stoßrichtung klar.11 Sie Wahlplakate der Sozialdemokraten zeigten einen Victor Ponta, der zwar brav im modischen Anzug herablächelte, aber optisch stets begleitet war von pseudofolkloristischen Stickereien,12 was an die Plakate zur Europawahl erinnerte, die mit ähnlichen Motiven und sogar der “Endlosen Säule” von Constantin Brâncuși geschmückt waren.13 Für Victor Ponta sprach sich auch die orthodoxe Kirche aus, zu der sich fast 90 Prozent der Rumänen bekennen. Unverhohlen ließ sie wissen, daß nur ein Kandidat mit dem richtigen Glauben, eben ein Orthodoxer, als Staatspräsident tragbar wäre14 – und dies sogar noch am Tag der Stichwahl.15 Vizepremier Liviu Dragnea sagte ebenso deutlich wie dämlich, daß Popen, die die Wahl Victor Pontas unterstützen, den orthodoxen Glauben verteidigten.16 Der peinsame wie peinliche Gipfel dieses nationalen wie religiösen Schwachsinns war erreicht, als Victor Ponta behauptete, Klaus Johannis würde die Nationalhymne Rumäniens nicht kennen – in einem Interview darauf angesprochen, schmetterte dieser sofort los17 und bewies dabei sowohl Textsicherheit wie auch Kenntnis der Melodie. Ponta selber scheiterte übrigens live im Fernsehen an dieser Aufgabe…18

Und so sollte die national-religiöse Stoßrichtung Victor Pontas nicht verfangen. Die rumänischen Wähler waren erkennbar wenig daran interessiert, welcher Konfession oder welcher MInderheit der Kandidat der Nationalliberalen angehörte. Nichts dokumentiert dies schöner als jener mit Kugelschreiber geschriebene Text auf einem Stückchen Papier, den ein unbekannter Scherzbold an eines der 10 Dixiklos klebte, die man in München beim Generalkonsulat für die Wartenden aufgestellt hatte – “Stimmen Sie hier für einen christlich-orthodoxen Präsidenten”. Sie interessierten sich vielmehr für einen Mann, der seit gut 14 Jahren in Hermannstadt als Bürgermeister viele Reformen in Gang setzte und mit seiner pragmatischen Wirtschaftspolitik Erfolge feierte. Sie sahen einen Kandidaten, der mit zart siebenbürgisch-sächsischem Akzent in bedächtiger Manier seine Ideen präsentierte und nicht die ewig hohlen Phrasen der etablierten Politikerkaste aus Bukarest ins Volk hineindreschen wollte. Und sie hörten wohl gut zu, als er sich für ganz konkrete Verbesserungen des Wahlsystems wie Briefwahl einsetzte und sich nicht in unrealistischen Versprechungen verlor.

Als Klaus Johannis im Rahmen eines Vortrags, den er bei einem Besuch im damaligen Südost-Institut am 4. Mai 2010 hielt, auf die Fortschritte zu sprechen kam, die in Hermannstadt unter seiner Ägide gemacht wurden, da sprach er recht wenig über sich selber. Rumänien, so sagte er, habe eine fleißige und talentierte Bevölkerung, nur mit der Organisation des Landes hapere es. Seine Aufgabe war es in Hermannstadt eben, Voraussetzungen zu schaffen, Dinge zu entflechten und sinnvoll neu zu organisieren, als Ansprechpartner immer da zu sein und als Vorbild zu dienen. Den wirtschaftlichen Aufschwung, den haben dann die Menschen selber erarbeitet. Mit diesen bescheidenen Worten beschrieb er seine Tätigkeit. Klaus Johannis, der bei seiner ersten Wahl im Jahre 2000 von 69 Prozent der Hermannstädter, die an die Urnen gegangen waren, gewählt worden war, obwohl nicht einmal mehr 2 Prozent der Bevölkerung dort noch Siebenbürger Sachsen sind, war der Bürgermeister aller 148.000 Einwohner. Nun ist er, einer von noch verbliebenen 37.000 Rumäniendeutschen, der Präsident von 24 Millionen rumänischen Staatsbürgern. Ein Bürgerpräsident, das will er sein. Einer von ihnen.

  1. http://ro.wikipedia.org/wiki/Alegeri_preziden%C8%9Biale_%C3%AEn_Rom%C3%A2nia,_2014
  2. Unmittelbar nach dem ersten Wahlgang schrieb Karl-Peter Schwarz, daß Johannis “es schwer haben [wird],  diesen Vorsprung einzuholen”, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 256 vom 4.11.2014, S. 8
  3. http://www.mediafax.ro/politic/alegeri-prezidentiale-2014-in-strainatate-sunt-294-de-sectii-primii-voteaza-cei-din-noua-zeelanda-13482717
  4. Karl-Peter Schwarz, “Verhinderte Wahlbürger”, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 256 vom 4.11.2014, S. 3
  5. http://www.romania-insider.com/chaos-at-romanias-voting-polls-abroad-long-queues-protests/134937/
  6. http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/rumaenien-der-deutschstaemmige-praesidentschaftskandidat-klaus-johannis-im-portrait-13266420.html
  7. http://www.br.de/mediathek/video/sendungen/nachrichten/rumaenien-stichwahl-auslandsrumaenen-muenchen-100.html
  8. http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/chaotische-wahl-in-rumaenien-verhinderte-wahlbuerger-13245411/protest-gegen-13245465.html
  9. http://blog.br.de/studio-wien/files/2014/10/Foto-Johannis-2.jpg
  10. http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/klaus-johannis-gewinnt-praesidentenwahl-2014-in-rumaenien-13270731.html
  11. http://derstandard.at/2000008110216/Stichwahl-in-RumaenienAuslaendische-Kerle-gegen-Korrupte
  12. http://someseanul.ro/wp-content/uploads/2014/10/afis-electoral-ponta-presedinte.jpg
  13. http://www.cotidianul.ro//upload/images/original/ponta-afis-slogan.fjte7chyq4.jpg
  14. http://portalsm.ro/2014/11/biserica-ortodoxa-il-sustine-pe-victor-ponta/ und http://www.hotnews.ro/stiri-politic-18526239-video-predica-biserica-din-moftinu-mic-satu-mare-fim-uniti-votam-presedinte-ortodox-victor-ponta-caci-poate-uneasca-ajute-ducem-viata-noastra-calea-desavarsirii.htm
  15. http://www.digi24.ro/Stiri/Digi24/Actualitate/Social/Biserica+si+politica+Predica+pentru+un+presedinte+ortodox
  16. http://www.b365.ro/alegeri-prezidentiale-2014-dragnea-preotii-care-il-sustin-pe-ponta-apara-credinta-ortodoxa_218937.html
  17. http://www.youtube.com/watch?v=gJ-04WSUG-s
  18. http://www.youtube.com/watch?v=emEfmi6HQfc

Quelle: http://ostblog.hypotheses.org/318

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„Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit“: Die Berichterstattung des Neuburger Anzeigeblattes im Sommer 1914

Wohl kein Datum in der jüngeren Geschichte Europas zeitigte größere und gravierendere Auswirkungen auf die Geschicke des Kontinents als der 28. Juni 1914. Das Attentat von Sarajevo, die Ermordung des österreichischen Thronfolgerpaares durch einen serbischen Nationalisten, sollte die politischen, die militärischen, die sozialen und kulturellen Koordinaten der sogenannten „Alten Welt“ für immer verschieben. Tatsächlich mündete der 28. Juni 1914 in ein „Katastrophenzeitalter“ (Eric Hobsbawm).

Oswaldk          Nur anderthalb Monate nach den Schüssen in der bosnischen Hauptstadt gingen – der britische Außenminister Grey hatte dies mit eben jenen Worten bereits am 3. August 1914 prophezeit – im wahrsten Sinne die Lichter in Europa aus: Ein Kontinent, in dem mit Ausnahme einiger Balkankriege im Gefolge des Niedergangs des Osmanischen Reiches mehr als vierzig Jahre Frieden geherrscht hatte, versank in einem vierjährigen Völkermorden, das sich bis heute ins kollektive Gedächtnis der daran beteiligten Nationen eingebrannt hat: Die grauenhaften Materialschlachten in Flandern; das fast einjährige Blutvergießen bei Verdun; der furchtbare Feldzug der deutschen Armee in Rumänien; die Zustände an der Front in Russland, die zu einem Bürgerkrieg führten, der seinerseits jegliche Vorstellung übersteigen sollte, zu welchen Grausamkeiten Menschen fähig sind; die sinnlosen Waffengänge in den Hochalpen; Gallipoli an den Dardanellen; schließlich die Verbrechen gegen die Menschlichkeit an den Armeniern, als Jungtürken unter Führung des Pascha-Clans einen der schlimmsten Völkermorde des noch jungen 20. Jahrhunderts begingen. Was zwischen dem Sommer 1914 und dem Herbst 1918 geschah, bildet für viele – nicht nur europäische – Völker bis heute einen zentralen Bestandteil ihrer nationalen Narrative.

Eingang in das kollektive Erinnern konnten die Schrecken des Ersten Weltkrieges allerdings nur deshalb finden, weil sich seit nunmehr fast einhundert Jahren Wissenschaft und Kunst an der „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts (George F. Kennan) abarbeiten. Zunächst wäre die historische Zunft zu nennen. Die Schüsse von Sarajewo hatten nicht zuletzt eine Blüte der Geschichtswissenschaft zur Folge: Zunächst auf die Frage der Kriegsschuld fokussierend, ging es ab den 1960er Jahren um die strukturellen und sozialgeschichtlichen Voraussetzungen des Krieges und schließlich, bevor die letzten Zeitzeugen starben, um ein authentisches Bild von den Schlächtereien an den Front.

Doch nicht nur Historiker trugen auf ihre Weise zu einem wahrheits- und wirklichkeitsgetreuen Erinnern an die Grauen des großen Krieges bei. Auch die bildenden Künste, die Literatur, der Film müssen genannt werden. Wer kennt nicht die Bilder von Otto Dix, wer nicht Remarques „Im Westen nichts Neues“, wer nicht Papsts „Westfront 1918“ oder Stanley Kubricks „Wege zum Ruhm“? – Meisterwerke, die eine verklärende und ästhetisierende Sicht auf den Ersten Weltkrieg nahezu unmöglich machten.

Entstanden ist das Bild, das unsere Vorstellung vom Weltkrieg prägt, allerdings erst aus der Rückschau. Im Falle der Geschichtswissenschaft, die stets dreißig bis vierzig Jahre benötigt, um zu aussagekräftigen Urteilen zu gelangen, ist dies zu erwähnen, gewiss müßig. Doch auch die großen Kunstwerke, die das Völkermorden thematisierten, sind keineswegs „zeitnah“ entstanden. Remarque brachte jenen Roman, der ihm zu bleibendem Ruhm verhalf, erst Ende der 1920er Jahre auf den Markt, und ebenso benötigten wirklichkeitsgetreue Aufarbeitungen des Krieges durch den Spielfilm mehr als zehn Jahre, um ihren Weg in die Lichtspielhäuser zu finden.

In der Tat, würde man sich zur Rekonstruktion der Ereignisse zwischen 1914 und 1918 lediglich auf öffentlich zugängliches Material aus jenen Jahren stützen – von Langemarck, Verdun, der Somme, Tolmein oder Gallipoli würden wohl gänzlich andere Bilder entstehen. Nichts würde man wissen von Massensterben, nichts von grausamsten Verletzungen. Nichts wäre bekannt von den Niederlagen des eigenen Heeres, nichts von den Zurücknahmen der Front, nichts schließlich von den Übergriffen und Massakern, die an der gegnerischen Zivilbevölkerung begangen wurden. Es war die Art und Weise der Frontberichterstattung, die seit dem Sommer 1914 üblich war, die drei Jahre später den US-amerikanischen Politiker Hiram Johnson zu seinem berühmten Ausspruch veranlasste, dass die „Wahrheit“ immer das „erste Opfer des Krieges sei.

Doch auch wenn die Taktiken der Verschleierung, Beschönigung und Leugnung kennzeichnend für die Presse aller kriegführenden Nationen waren, so hatten darin Tageszeitungen, die innerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches erschienen, eine ganz eigene Meisterschaft entwickelt.

Spätestens mit der Marne-Schlacht im September 1914 mussten Rückschläge an der Front der deutschen Bevölkerung als Siege verkauft werden. Irgendwie musste die „Heimatfront, jetzt, da der Krieg wohl länger dauern würde, bei Laune gehalten werden. So griff man zum Mittel des Beschweigens, auch zum Mittel der gezielten Desinformation.

Die Marne-Schlacht war ein Wendepunkt in der Kriegsberichterstattung. Nimmt man jedoch die Wochen davor etwas genauer in den Blick, so stellt man nur allzu rasch fest, dass auch bereits in jenen Tagen, in der die Siegesmeldungen von den Fronten noch der Wahrheit entsprochen haben dürften, nicht immer die unverblümte Wahrheit geschrieben wurde: Militärische Aktionen der französischen Armee fanden fast ausschließlich als Gräuelpropaganda Eingang in die Schlagzeilen, der Bruch der belgischen Neutralität beim Vormarsch der deutschen Armee nach Nordfrankreich wurde nicht in seiner völkerrechtswidrigen Dimension geschildet.

 Das Neuburger Anzeigeblatt im Sommer 1914

Keineswegs abseits vom journalistischen Mainstream bewegte sich das wichtigste Organ veröffentlichter Meinung in Neuburg. Auch das Anzeigeblatt beteiligte sich nach Kräften an Propaganda, Kriegshetze und Desinformation. Freilich: was hätte man von der wichtigsten Tageszeitung in der Region anderes erwarten sollen? Als Hauspostille Martin Loibls, der beim 15. Königlich-Bayerischen Infanterie-Regiment zum Berufsoffizier ausgebildet worden war und der nie die geringsten Berührungsängste gegenüber dem überbordenden Militarismus der späten Kaiserzeit zeigte, war der Weg des Anzeigeblattes in Richtung Kriegsbegeisterung vorgezeichnet: Die Zeitung stand rechts vom politischen Katholizismus. In diesem Sinne war sie sicherlich prädestiniert für geschönte Berichterstattung, Hurra-Patriotismus und dümmliche Kriegslyrik minderbegabter Dichter.

Daneben gab es im Anzeigeblatt aber auch eine Form der Berichterstattung, die man dort nicht zwangsläufig vermuten würde, eine Berichterstattung, die der zu vermutenden Propaganda geradezu entgegengesetzt war und die sich von der Begeisterung der ersten Kriegswochen zweifellos abgrenzen lässt.

Der Aufmarsch des deutschen Heeres im Westen, der Durchmarsch durch Belgien, schließlich das Scheitern in Nordfrankreich dauerten mehr als einen Monat. Ebenso lange aber nahm auch der Vorlauf des Krieges in Anspruch: Von den tödlichen Schüssen auf das österreichische Thronfolgerpaar, über den berüchtigten „Blankoscheck“ der deutschen Führung und das Ultimatum Österreich-Ungarns an Serbien, bis hin zu den Kriegserklärungen Anfang August, vergingen fast fünf Wochen. In jenem „langen Juli“ waren die Berichte des Anzeigeblattes keineswegs von freudiger Erwartung auf einen in kulturpessimistischer Manier seit Jahren sehnlichst erwarteten Krieg geprägt. Eher war das Gegenteil der Fall: Loibls Zeitung verhielt sich abwartend, Formulierungen wurden abwägend und vorsichtig gewählt. Gegenüber dem deutschen Bündnispartner Österreich schließlich wurde schon fast eine neutrale Position eingenommen. Kriegsbegeisterung jedenfalls findet sich zunächst nicht.

 Sarajewo

Zunächst das Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gattin. Dazu erschien im Anzeigeblatt am Montag, den 29. Juni, also einen Tag nach dem Mord, eine einseitige „Sonderausgabe“. Bei Lektüre der Berichte, die aus Sarajewo, Wien und München eingingen, fällt das Fehlen jeglicher Schuldzuweisungen an mögliche Hintermänner des Anschlags auf. Zwar wird der Attentäter mit Namen genannt, auch dessen Nationalität wird nicht verschwiegen. Daraus jedoch den Schluss zu ziehen, die Mordaktion sei nationalistisch motiviert gewesen, von großserbischen Kreisen ausgegangen, ja vielleicht sogar von Vertretern der Regierung in Serbien gedeckt gewesen, soweit geht das Anzeigeblatt nicht. Vielmehr zeigt man sich erstaunt darüber, dass ausgerechnet in Bosnien ein derartiger Anschlag verübt wurde:

„Der bosnische Boden war seit Langem als politisch besonders unruhiges Gebiet bekannt, auf dem die Verschwörungen in reicher Zahl emporschossen, aber gerade in der letzten Zeit hatte man nichts dergleichen mehr gehört, sodaß das jetzige Attentat umso entsetzlicher wirkt.“

Kein Verweis auf die zahlreichen Warnungen von Seiten der Geheimdienste, die von einer Tour gerade durch den Balkan abrieten, keinerlei Andeutung, auf welch ein Himmelfahrtskommando sich das Thronfolgepaar tatsächlich eingelassen hatte.

Könnte dabei die relativ zurückhaltende Berichterstattung unmittelbar nach dem 28. Juni noch auf einen ersten Schock über die Ermordung eines künftigen Kaisers zurückgeführt werden, so reicht eine derartige Erklärung mit Blick auf die Darstellung der aus dem Attentat folgenden Ereignisse nicht mehr hin. Tatsächlich ist im Anzeigeblatt noch den gesamten Juli hinweg nichts von Kriegsbegeisterung zu vernehmen, auch nichts von jener später so oft beschworenen „Nibelungentreue“ gegenüber dem österreichisch-ungarischen Bündnispartner.

Der „Blankoscheck“

Im Grunde hatte das Attentat von Sarajewo der Habsburger Monarchie eine unerwartete und willkommene Gelegenheit eröffnet, gegen einen aufstrebenden Konkurrenten auf dem Balkan vorzugehen. Es war das kleine Königreich Serbien, seit 1878 unabhängig, das sich anschickte, im geographischen Großraum des späteren Jugoslawien Vormacht aller Südslawen zu werden. In Serbien agierten extrem nationalistische Kräfte, die bestrebt waren, ihren Einfluss zunächst auf Bosnien-Herzegowina ausdehnen, das 1908 von Österreich-Ungarn aus der Konkursmasse des Osmanischen Reiches übernommen worden war. Schon unmittelbar nach den Ereignissen vom 28. Juni deutete nicht wenig darauf hin, dass auch der Mörder der österreichischen Thronfolger jenen großserbischen Kreisen entstammte. Würde folglich der serbische Trumpf ausgespielt, so glaubte man in Wien, so wäre ein probater Vorwand gegeben, um das unruhige Land im Süden militärisch in die Schranken weisen zu können. Das Problem bestand nur darin, dass hinter dem kleinen Serbien das riesige und mächtige Russland stand. Sollte also Österreich und dem Vorwand, Genugtuung für die Ermordung Franz Ferdinands und seiner Gattin zu fordern, nach Serbien einmarschieren, so würde wohl unweigerlich eine russische Kriegserklärung an die Adresse Wiens die Folge sein.

In dieser Situation beging nun die Außenpolitik des Deutschen Reiches ein diplomatisches Missgeschick sondergleichen. Anstatt auf den Bündnispartner mäßigend einzuwirken, sicherte Wilhelm II. die volle Unterstützung Deutschlands zu. Mehr noch: Der Kaiser bestärkte den Botschafter des Nachbarreiches noch darin, vollendete Tatsachen auf dem Balkan zu schaffen, sei Russland doch derzeit nicht hinreichend gerüstet und deshalb militärisch leicht zu besiegen. Aus dem Bericht des österreichischen Botschafters Berchthold an seinen Außenminister:

„(…) wenn wir aber wirklich die Notwendigkeit einer kriegerischen Aktion gegen Serbien erkannt hätten, so würde er [Kaiser Wilhelm] es bedauern, wenn wir den jetzigen für uns so günstigen Moment unbenutzt ließen.“

Wie schlug sich diese als „Blankoscheck“ in die Geschichte eingegangene Zusicherung des deutschen Kaisers in der Berichterstattung des Neuburger Anzeigeblattes nieder? Zunächst gar nicht. Vielmehr dauerte es fast eine Woche, bis zum 11. Juli, bis die Garantie uneingeschränkter Bündnistreue in Loibls Blatt zu finden war. Dann jedoch nicht als Aufmacher, sondern versteckt auf der zweiten Seite. Auf der Titelseite ging es um Zwangsversteigerungen in der Landwirtschaft, um den Spionageprozess gegen einen Kunstmaler und um die Reichsfinanzen. Es folgten die Rubriken „Aus Neuburg und Umgebung“ und „Vermischte Nachrichten“. Schließlich wurde kurz vor dem Ende des eigentlichen Nachrichtenteils auf die neueste Entwicklung im Verhältnis zwischen Deutschland und Österreich Bezug genommen.

Überhaupt scheint man sich in der Redaktion des Anzeigeblattes, was die Bündnisverpflichtungen gegenüber Österreich anbelangte, Illusionen hingegeben zu haben. Bis Ende Juli 1914 werden die Aktionen der Habsburger Außenpolitik eher distanziert wahrgenommen, ist Loibls Organ um eine ausgewogene und neutrale Sichtweise auf den sich abzeichnenden österreichisch-serbischen Konflikt bemüht. Zwar werden durchaus die Mordexzesse, die die Geschichte des serbischen Königshauses durchziehen, betont. Gleichwohl aber werden ebenso die Gräueltaten, die an der serbischen Bevölkerung in Bosnien-Herzegowina nach dem 28. Juni begangen wurden, nicht verschwiegen. In der Ausgabe vom 4. Juli 1914 etwa findet sich unter der Überschrift „Die Serbenverfolgung in Österreich“ folgender Bericht:

„Die (…) aus Mostar einlaufenden Nachrichten bekunden, daß beinahe alle Häuser, welche Eigentum von Serben waren, niedergebrannt und daß zahlreiche Serben getötet worden seien. Viele andere Ortschaften der Herzegowina und Bosniens seien heimgesucht worden. Die Lage der serbischen Bevölkerung soll sehr kritisch sein.“

Selbst als der Krieg auf dem Balkan bereits im Gange ist und die Bündnisfälle beginnen einzutreten, wird dies im Anzeigeblatt noch in einer Art und Weise geschildert, als ginge es das Deutsche Reich im Grunde nichts an. So erschien am 1. August 1914 im Anzeigeblatt ein Leitartikel, der den Eindruck erweckte, als handele es sich bei den kriegerischen Verwicklungen auf dem Balkan lediglich um einen kleinen, räumlich begrenzbaren Konflikt zwischen einer im Abstieg befindlichen Groß- und einer aufstrebenden Regionalmacht:

„Noch vor der am Montag nachmittag erfolgten Kriegserklärung hatten an der Donau die Feindseligkeiten begonnen, wenn es sich auch nur um belanglose Plänkeleien gehandelt hat. (…) So ganz einfach wird sich der Krieg für die Oesterreicher kaum gestalten, denn man hat mit mehreren Operationslinien zu rechnen. (…) Die Serben konzentrieren sich allem Anscheine nach bei Kragujewatz, nachdem sie Belgrad geräumt haben. Das geschah deshalb, weil die Festungswerke noch aus der türkischen Zeit stammen und von den modernen Geschützen in wenigen Stunden in Grund und Boden geschossen sind. Die Serben sind zwar bedeutend in der Minderzahl, aber die Beschaffenheit des Geländes kommt ihnen sehr zu statten, und man wird daher vorwiegend mit einem Kleinkrieg rechnen müssen (…).“

 Nationalistische Wende

Eines der wohl besten Beispiele für die Zurückhaltung, die das Anzeigeblatt bei Kriegsbeginn an den Tag legte, findet sich in der Ausgabe vom 4. August 1914, der Tag, an dem die Kriegserklärung Deutschlands an Russland vermeldet wird:

„Die folgenschwere Entscheidung ist nun gefallen; in dem Sinne, wie es nach dem Verlauf der letzten Tage bereits (…) befürchtet werden musste: Deutschland macht mobil.“

Und weiter:

„In München wurde die Kunde von der schicksalsschweren Entscheidung abends 7 Uhr bekannt und von der Bevölkerung in würdiger Haltung aufgenommen. Zahlreiche Soldaten in der feldgrauen Uniform belebten das Straßenbild. Infolge des Eintritts kriegerischer Ereignisse hat der Bayerische Landtag am Sonntag seine Session geschlossen. Die Reichsratskammer hielt um 8 Uhr, die Abgeordnetenkammer um 10 Uhr ihre Schlußsitzung ab. Die Abgeordneten traten sofort die Heimreise an, da von Montag ab auf eine sichere Beförderung wohl nicht gerechnet werden kann.“

„Folgenschwere Entscheidung“, „schicksalsschwere Entscheidung“, „Eintritt kriegerischer Ereignisse“ – Begeisterung liest sich anders. Diese Gefasstheit behält das Anzeigeblatt dann auch noch in den beiden darauffolgenden Tagen bei. Am Mittwoch, dem 5. August, ist die Titelseite überschrieben mit „Der Deutsch-Russische Krieg“ und der Leitartikel mit „Ein ernster Waffengang“, während am Donnerstag, dem 6. August, die entsprechenden Überschriften lauten: „Der bevorstehende Weltkrieg“ sowie „Die Thronrede des Kaisers“.

Ab dem 7. August aber hält in der Neuburger Presse ein anderer Ton Einzug – ein Umstand, der vor dem Hintergrund des damaligen Geschehens wohl auf den Kriegseintritt Großbritanniens zurückzuführen sein dürfte.

Der Plan des deutschen Generalstabes im Falle eines Zwei-Fronten-Krieges gegen Russland und Frankreich, meist als „Schlieffen-Plan“ bezeichnet, basierte auf folgender Überlegung: Zunächst sollte in einem Feldzug von nicht mehr als sechs Wochen Frankreich besiegt werden, worauf das Gros der deutschen Armee in den Osten zu verlagern gewesen wäre, um das russische Heer, von dem angenommen wurde, dass es erst anderthalb Monate nach einer Kriegerklärung einsatzbereit sei, in zwei oder drei großen Schlachten zu vernichten. In der Theorie setzte diese Strategie jedoch ein Vordringen des deutschen Heeres nach Frankreich nicht über Elsaß-Lothringen, sondern über Belgien voraus. In einer riesigen Umfassungsbewegung sollten die Armeen des Reiches das französische Heer zur Kapitulation zwingen.

Der „Schlieffen-Plan“ wies allerdings ein nicht zu unterschätzendes Problem auf: Belgien. Das Land war neutral. Marschierte das deutsche Heer durch Belgien in Richtung französische Hauptstadt, so musste dies als Bruch des Völkerrechts gewertet werden. Zwar mag die deutsche Militärführung darauf spekuliert haben, dass internationales Recht nicht würde eingeklagt werden. Mit einer weiteren Konsequenz jedoch rechnete sie nicht: mit dem Kriegseintritt Großbritanniens auf Seiten Frankreichs, der am 4. August erfolgte und der mit eben jenem Bruch der belgischen Neutralität begründet wurde.

Freilich, dass dies so kommen würde, damit war angesichts der Entwicklung der Bündnisverhältnisse seit Beginn des Jahrhunderts zu rechnen. In Berlin aber wurde dies geflissentlich verdrängt. Folglich kam aus deutscher Perspektive die Rolle des „Schurken“ Großbritannien zu. England, das „perfide Albion“, von dem man erwartete, sich herauszuhalten, wurde zu dem Schuldigen der Katastrophe erklärt.

Im Umkehrschluss bedeutete dies jedoch, dass auch der Grund für den Kriegseintritt des Empires klein geredet werden musste. Mit anderen Worten: das völkerrechtswidrige Vorgehen der deutschen Seite musste entweder ignoriert oder es musste gerechtfertigt werden – und damit beginnt in der Presse, auch im Neuburger Anzeigeblatt die Zeit der Verdrehungen und Unwahrheiten. Es beginnt die Zeit des Verschweigens.

Schon die Schlagzeile der Ausgabe vom 7. August 1914 deutete darauf hin, dass nun ein anderer journalistischer Wind wehen würde. Anstatt „Der große Krieg“ oder ähnliches zu titeln, prangte nun folgender „Aufmacher“ auf Seite eins: „Das Volk steht auf – der Sturm bricht los…“ Wirklich in sich aber hatte es an diesem Tag der Leitartikel. Darin wurde in indirekter Rede eine Ansprache des Reichskanzlers Bethmann-Hollweg wiedergegeben, in dem exakt jene Mischung aus Unwahrheiten, Verdrehungen, Unterstellungen und Rechtfertigungen zu finden ist, wie sie für offizielle Verlautbarungen rasch typisch wurde:

„Dann schildert er [Bethmann-Hollweg] das Vorgehen Frankreichs, das trotz der Zusicherung einer zu respektierenden Zone von 10 Kilometern an der Grenze diese überschritten hat. Die Franzosen brachen einfach in Deutschland ein, ohne Erklärung des Kriegszustandes. (…) Wir sind jetzt in der Notwehr! Not kennt kein Gebot! Unsere Truppen haben Luxemburg besetzt und vielleicht auch schon belgisches Gebiet betreten müssen. Das widerspricht zwar dem Völkerrechte, aber wir wußten, dass die Franzosen trotz entgegenstehender Erklärungen zum Einfall über Belgien bereit sind. Das Unrecht, das wir jetzt machen müssen, werden wir wieder gut machen, sobald unser militärisches Ziel erreicht ist. Wer, wie wir kämpfen muß, darf nur daran denken, wie er sich durchhaut!“

 Kriegsverbrechen

Wer diesen Bericht zu deuten wusste, dem war klar, wohin die lokale Presse steuern würde. Ab jetzt galt als Generallinie: Deutschland wurde in den Krieg gezwungen und müsse nun eben auch Dinge tun, die nicht durch internationales Recht gedeckt seien. Bestes Beispiel für die Schieflage, in die der Journalismus wenige Tage nach Ausbruch des Krieges geriet, ist die Art und Weise, wie über die Zerstörung der belgischen Stadt Löwen berichtet wurde.

Ende August 1914 wurden in Löwen, nachdem unter den deutschen Besatzern Befürchtungen laut geworden waren, in der Stadt befänden belgische Freischärler, knapp 250 Bewohner ermordet, weitere 1500 Bürger interniert und mehr als 1000 Häuser in Brand gesteckt – darunter die Universitätsbibliothek, wobei ein unermesslicher Schatz an mittelalterlichen Büchern und Inkunabeln zerstört wurde. Löwen war eines der ersten Verbrechen, das von deutschen Besatzern im Ersten Weltkrieg begangen wurde. Im Neuburger Anzeigeblatt aber liest sich dies in der Ausgabe vom 30. August 1914 folgendermaßen:

„Bei dem Ausfall der 4 belgischen Divisionen aus Antwerpen überfielen alle Einwohner der Stadt Löwen die deutschen Kolonnen. Diesen organisierten Überfall hat die Stadt mit aller Schwere gebüßt. (…) Da sofort in schärfster Form Strafe erfolgte, so dürfte heute die an großen Schätzen reiche Universitätsstadt nicht mehr existieren.“

Ein gängiges Mittel der Presse, Gräueltaten und Übergriffe auf die Zivilbevölkerung der Nachbarländer zu rechtfertigen, war der Abdruck von Feldpostbriefen. Konnte der Heimatfront dadurch doch auf sehr eindringliche Weise die Notwendigkeit einer rücksichtslosen Kriegsführung nahe gebracht werden. Wenn schon die eigenen Kinder davon berichten, wie hinterhältig der Feind ist, wer möchte dann noch an den Verlautbarungen der militärischen Führung zweifeln. Aus der Vielzahl an Schreiben von der Front, die in der Neuburger Lokalpresse veröffentlicht wurden, sei im Folgenden aus einem Brief zitiert, der dem Anzeigeblatt etwa Mitte August 1914 zuging. Der Brief stellt ein eindringliches Dokument dar, wie brutalisiert, wie verroht der einfache Soldat schon nach wenigen Tagen Fronteinsatz war:

„Lieber Schwager! Teile Euch mit, daß ich noch immer gesund bin. Wir sind einige Tage in Frankreich. Am Sonntag sind wir weiter vormarschiert und es kam zu einem kleinen Gefecht. Doch der Feind zog sich gleich zurück (…) Bei uns gab es nur ein paar Tote und einige Verwundete. Der Krieg hat begonnen und schon überall zeigt sich die Verwüstung. Die Artillerie hat schon einige Ortschaften in Brand geschossen und auch von uns sind einige Häuser angezündet worden, weil von der Zivilbevölkerung auf unsere Truppen geschossen wurde. Wir haben dann Biwak bezogen neben der brennenden Ortschaft. Es ist ganz schaurig, wenn alles brennt ringsum (…). Zu essen gibt es genug. Denn in der Ortschaft wird einfach Vieh geholt und geschlachtet.“

 Die Marneschlacht

Ein großes Problem, das die Presse in Deutschland nach einigen Wochen Krieg zu bewältigen hatte, bestand darin, das Ende des Vormarsches in Frankreich so zu schildern, als ob die Offensive noch in Gang wäre.

Gut einen Monat lang war in den Zeitungen Siegeszuversicht verbreitet worden. Von welch einem Triumph war die Rede! Alles schien noch schneller als 1870/71 zu gehen. Offenkundig vollzog sich der Vormarsch der Deutschen in Windeseile, eine vernichtende Niederlage der französischen Armee schien sich abzuzeichnen. Plötzlich aber, nach dem 5. September titelte das Anzeigeblatt nüchterner, fiel der Begriff „Sieg“ seltener. Stattdessen lauteten die Schlagzeilen in neun aufeinanderfolgenden Ausgaben: „Vom Kriegsschauplatz“. Ab dem 18. September schließlich wurde dann ganz lapidar getitelt: „Der Krieg“. Zwar verströmten die Berichte nach wie vor Siegeszuversicht, im Gegensatz aber zu dem, was bis in die ersten Septembertage zu lesen war, nahm sich das konservative Organ jetzt merklich zurück.

Was war geschehen? Vom 5. bis 12. September war die Marne-Schlacht in Gang: Das deutsche Heer hatte mit seiner ausgreifenden Zangenbewegung die Front erheblich überdehnt und war in den Flanken angreifbar geworden. Dies wiederum nutzte die französisch-englische Seite für wirkungsvolle Gegenstöße, bis sich schließlich am 9. September die deutsche Militärführung für eine Zurücknahme der Front entschied. Die Front im Westen kam zum Stehen, die Soldaten beider Seiten gruben sich ein und gingen in jenen Stellungskrieg über, der das kollektive Erinnern an den Ersten Weltkrieg in Großbritannien, Frankreich und Deutschland bis heute prägt.

Wie aber wurde die herbe Niederlage dem einfachen Volk beigebracht? Der deutsche Generalstab griff zu jener Methode, die er bis zum Ende des Krieges beibehalten sollte – er verschwieg die Wahrheit. Am 13. September gab die Oberste Heeresleitung lediglich Folgendes zur Lage in Frankreich bekannt:

„Auf dem westlichen Kriegsschauplatz haben die Operationen (…) zu einer neuen Schlacht geführt, die günstig steht. Die vom Feinde mit allen Mitteln verbreiteten für uns ungünstigen Nachrichten sind falsch.“

Damit war auch die Linie für die Presse vorgegeben, wie sie sich angesichts des Desasters an der Marne verhalten sollte. Sie hatte zu leugnen, zu beschwichtigen, schönzureden – auch in der Provinz, in Neuburg. Am 17. September 1914, fünf Tage, nachdem die Niederlage des deutschen Heeres offensichtlich war, schrieb das Anzeigeblatt:

„Siegesnachrichten wurden in Paris und Bordeaux verbreitet, weil der rechte Flügel der Deutschen nach einem blutigen Erfolge über die Franzosen aus strategischen Gründen sich zurückzog (…) Im Maulheldentum haben sich die Engländer und Franzosen bisher immer ausgezeichnet. Nach den neuesten Depeschen ist ein allgemeiner Kampf von Paris bis Verdun entbrannt (…). Die letzte amtliche Mitteilung meldet von Teilerfolgen, wollen wir hoffen, daß diesen der vernichtende Schlag folgt und die letzte französische Hauptarmee unter der Wucht des deutschen Anpralles zusammenbricht.“

 Wahrheiten

Dass es nichts mit einem schnellen Sieg werden würde, somit auch das zwangsläufige Grauen eines modern geführten Krieges keine kurze Episode darstellen würde – dies war bei aller Verschleierungstaktik mit den Händen zu greifen. Nachrichten, die auf die besagten militärischen Probleme im Westen hindeuteten, drangen auch nach Neuburg durch – in Form sogenannter „Verlustlisten“. Listen, die etwa das in Neuburg stationierte 15. Königlich-Bayerische Infanterie-Regiment betrafen.

Allein eine dieser Listen, für nur eine Kompanie der „Fünfzehner“, veröffentlicht am 22. September 1914, wies zehn Tote, zwölf Vermisste und knapp dreißig Schwerverwundete auf, wobei die Vermissten den Toten zuzuschlagen waren. Freilich scheinen mitunter auch diese Verlustlisten geschönt worden zu sein, beispielsweise wenn ein Kopfschuss als leichte Verletzung deklariert wurde. Die Zahl an Toten und Verwundeten aber, die in die Heimat gemeldet wurden, dürfte durchaus geeignet gewesen sein, den Zurückgebliebenen in Unruhe zu versetzen.

 Kriegslyrik

Massensterben, grauenhafte Verletzungen und Verstümmelungen würden zum Alltag werden – so viel stand fest. Dies aber vor der Heimatfront zu rechtfertigen, dafür bedurfte es diverser Strategien. Wie sahen diese aus?

Neben der Beschwörung des Opfers für das Vaterland, dürfte das gängigste Mittel, die Grauen des Krieges zu verschleiern, die Beschönigung, die Verklärung, die Ästhetisierung des Todes gewesen sein. Bekannt sind Ansichtskarten, auf welchen gefallene Soldaten von Engeln ins Jenseits geleitet werden. Die Körper der Toten sind unversehrt, sind rein. Nicht der geringste Hinweis auf die Realität an der Front.

Eine zweite künstlerische Möglichkeit, die Schrecken an der Front ästhetisch zu überhöhen, bot das Gedicht – ein Angebot, auf das nicht zuletzt das Neuburger Anzeigeblatt gerne zurückgriff. Zwei Beispiele seien zitiert. Das erste Gedicht erschien im am 10. September 1914, auf den Höhepunkt der Marne-Schlacht. Es trägt den Titel:

 „Auf ferner Wacht“:

„Sanft sinkt die Nacht mit Dämmergruß,

Still wandeln ihre Schatten.

Die Sonne drückt mit letztem Kuß

Die weiten grünen Matten.

            Ein Bächlein nur

In weiter Flur

Fließt ruhig in die Ferne.

Und von dem hohen Himmelszelt

Grüßt still das Gold der Sterne.

Ich stehe fern auf treuer Wacht

Von Kummer frei, von Sorgen;

Und doch, im Schirm der dunklen Nacht

Liegt Mord und Tod verborgen.

            Die feste Hand

            Dem Vaterland,

Dem deutschen Land ich weihe.

Für König, Recht und deutsches Gut

Schwör‘ ich die höchste Treue.

Und sucht der Tod sich meine Brust,

Wohlan, ich folg‘ mit Freuden.

Nur Treue bin ich mir bewußt

Den Heldentod zu leiden.

            Nur eine Blum

            Ziert meinen Ruhm

Im kühlen Gras am Boden.

Die Weide hängt den langen Zweig

Herab zu stillen Toten.“

Das zweite Beispiel, veröffentlicht am 22. September 1914 – Titel: „Des Freundes Tod“:

„Heiß brannte der Kampf und der Sieg war schwer;

Wild tobten die Kugeln vom feindlichen Heer;

Sie weckten in uns heiße Schlachtenlust;

Da traf das Blei den Freund in die Brust

Und dieser fiel nieder in den blutigen Sand.

Ich gab ihm zum letzten Male die Hand.

Er sprach: ‚Wenn du kehrst zur Geliebten heim,

So sage, sie möge nicht traurig sein.‘

Ich bin ja gestorben für Deutschlands Ehr‘.

Ich habe gekämpft zu seiner Wehr‘.

Leb wohl Kamerad du teurer du!‘

Dann schloß der Krieger die Augen zu.

Und der Tod zerschnitt das Lebensband;

Des Freundes Stimme ward leiser.

Er sprach noch: ‚ Hoch lebe das Vaterland!‘

Er stöhnte: ‚Es lebe der Kaiser.‘

Der Horizont färbte sich blutigrot.

Der treue Freund war tot.“

 

Resümee

„Das erste Opfer des Krieges ist immer die Wahrheit“ – womöglich ist der berühmte Ausspruch Hiram Johnsons nichts anderes als eine Binsenweisheit. In diesem Sinne war es nicht die Absicht des Beitrages, das Neuburger Anzeigeblatt in besonderer Weise an den Pranger zu stellen. Verdrehungen, Lügen sowie Blut-und-Boden-Patriotismus waren kennzeichnend für die gesamte Presse in Deutschland während des Ersten Weltkrieges – und nicht nur in Deutschland. Es sollte lediglich illustriert werden, dass selbst ein Organ, dessen eigentliches Metier die Lokalberichterstattung war, sich nach Kräften an der Heranbildung eines völkisch ausgerichteten Deutschland beteiligte. Gleichwohl bleibt es beschämend, auf welchen Weg sich die Presse im Sommer 1914 begab – vor allem vor dem Hintergrund, dass dieser Weg keineswegs unausweichlich war, auch nicht für eine konservative Tageszeitung vom Schlage des Neuburger Anzeigeblattes.

Quelle: http://neuburg.hypotheses.org/105

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Die Welt um 1914. Farbfotografien vor dem Großen Krieg

Albert Kahn, Les Archives de la planète, Stéphane Passet: Mongolei, nahe Ulaanbaatar, wahrscheinlich Damdinbazar, die achte Inkarnation des mongolischen Jalkhanz Kuthugtu, 17. Juli 1913.

Martin-Gropius-Bau, 1. August – 2. November 2014

 

Ausstellung „Die Welt um 1914. Farbfotografien vor dem Großen Krieg“ im Martin-Gropius-Bau.

Ausstellung „Die Welt um 1914. Farbfotografien vor dem Großen Krieg“ im Martin-Gropius-Bau.

Ausstellung: Filmaufnahmen aus Albert Kahns Sammlung „Archives de la planète“.

Ausstellung: Filmaufnahmen aus Albert Kahns Sammlung „Archives de la planète“.

Die kultur-, technik- und fotogeschichtliche Ausstellung Die Welt um 1914. Farbfotografien vor dem Großen Krieg präsentiert drei Fotokampagnen, die die Schönheit und Vielfalt der Welt vor dem Ersten Weltkrieg dokumentieren sollen. Gezeigt werden 200 Farbfotos des Fotochemikers Adolf Miethe, seines Assistenten und Fotodokumentars des Russischen Reiches Sergei M. Prokudin-Gorskii und Fotos aus der Sammlung „Archives de la planète“ des französischen Bankiers Albert Kahn. Neben Bildkarten, Feldpostkarten, den ersten Fotobüchern und den „Kaiserpanoramen“ des Berliner Unternehmers August Fuhrmann wird auch die Entwicklung der Farbfotografie allgemein vorgestellt. In den letzten beiden Räumen sind Farbfotos aus der Zeit des Ersten Weltkriegs zu sehen, die aus dem Bereich der Kriegspropaganda stammen.

 

Ausstellungsplakat: Albert Kahn, Les archives de la planète, Stéphane Passet: China, Peking, Palast des Himmlischen Friedens, vierter Hof, östlicher Anbau, ein buddhistischer Lama in zeremoniellem Gewand, 26. Mai 1913.

Ausstellungsplakat: Albert Kahn, Les archives de la planète, Stéphane Passet: China, Peking, Palast des Himmlischen Friedens, vierter Hof, östlicher Anbau, ein buddhistischer Lama in zeremoniellem Gewand, 26. Mai 1913.

Eröffnet wurde die Ausstellung im Martin-Gropius-Bau am 1. August 1914 – 100 Jahre nach Beginn des Kriegs, veranstaltet von den Berliner Festspielen im Zusammenhang mit dem „Europäischen Monat der Fotografie“. Der Landschaftsverband Rheinland-LVR gedenkt dem Ersten Weltkrieg in Form des Verbundprojekts „1914 – Mitten in Europa. Das Rheinland und der Erste Weltkrieg“, zu dem auch dieses Ausstellungskonzept gehört, welches bereits 2013 in Paris und Bonn zu sehen war. Das Kuratorenteam besteht aus dem Medienhistoriker Rolf Sachsse, dem stellvertretenden Direktor des LVR-LandesMuseums Bonn Lothar Altringer und dem Leiter des Verbundprojekts Thomas Schleper. Die Ausstellung konnte in Kooperation mit dem Musée Albert-Kahn in Boulogne-Billancourt realisiert werden.

Die Farbfotografie gilt als medialer Umbruch, die neben den neuen Möglichkeiten, die Welt möglichst naturgetreu abzubilden, auch Gefahren der Manipulation mitführte, wenn der scheinbare Beweischarakter nicht hinterfragt wurde. Die Brüder Auguste Marie und Louis Jean Lumière entwickelten 1905 ein eigene Farbfototechnik: das Autochromverfahren, deren Diapositive auf Glasplatten für den Drei- und Vierfarbdruck verwendet werden konnten und bis Mitte der 1930er-Jahre den Markt dominierten. Die Herausforderung des Autochromverfahrens lag in der langen Belichtungszeit von 2 bis 15 Sekunden, weshalb die Abbildung von Menschen und bewegten Objekten Ungenauigkeiten hervorrief und eine standbildartige Haltung benötigte.

Der Chemiker Adolf Miethe (1862 bis 1927) von der Technischen Universität Berlin erfand 1902 eine panchromatische Filmbeschichtung zur Fotoeinfärbung, die an das Dreifarb-Druckverfahren anschloss und besonders gut für Verlagswerke und Bildpostkarten geeignet war. Er ließ einen Projektor bauen und führte seine Fotodokumentation der deutschen Landschaften Kaiser Wilhelm II. und auch auf der Weltausstellung 1903 in St. Louis vor.

 

Ausstellung: Stollwerk Sammelalbum No. 7. Aus Deutschlands Gauen.

Ausstellung: Stollwerk Sammelalbum No. 7. Aus Deutschlands Gauen.

Danach erschienen die Fotos als Sammelbilder in Schokoladentafeln und wurden mit dem ersten Farbbildband Deutschlands dem „Stollwerck-Album“ verbreitet, das auch neben anderen Fotobüchern in der Ausstellung durchgeblättert werden kann. Das xm:lab der Hochschule der Bildenden Künste im Saarland stellte für die Besucher der Ausstellung das Drei-Farb-Verfahren zum selbst Ausprobieren und Fotografieren bereit.

Mit dem in der Ausstellung zu sehenden Original-Projektor von Miethes Assistent Sergei Mikhailovich Prokudin-Gorskii (1863 bis 1944), eine Leihgabe aus dem Deutschen Museum in München, soll dieser Zar Nikolaus II. von der Farbfotografie überzeugt haben:

 

Ausstellung: Projektor von Sergei Mikhailovich Prokudin-Gorskii, Leihgabe aus dem Deutschen Museum München.

Ausstellung: Projektor von Sergei Mikhailovich Prokudin-Gorskii, Leihgabe aus dem Deutschen Museum München.

Der Zar beauftragte ihn von 1909 bis 1916 mit einer Fotodokumentation des Russischen Reichs. Von den ca. 4500 Farbfotografien sind über 2000 erhalten geblieben, die sich als Digitalisate in der Library of Congress befinden. Die intendierte Verbreitung der Fotos scheiterte am teuren Reproduktionsverfahren.

Prokudin-Gorskiis Bilder verheimlichen die wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes und zeigen vorwiegend Landschaften, Dorfansichten, Kirchen, die Entwicklung der Industrie und spiegeln die ethnische Vielfalt wider. Aufgrund der Aufnahmetechnik mussten Bilder von spontanen menschlichen Handlungen inszeniert werden.

Sergeĭ Mikhaĭlovich Prokudin-Gorskiĭ, 1909, Russisches Reich: Dinner during haying.

Sergeĭ Mikhaĭlovich Prokudin-Gorskiĭ, 1909, Russisches Reich: Dinner during haying.

Der Großteil der Ausstellung zeigt Farbfotos aus der fotografisch-filmischen Sammlungstätigkeit des reichen Bankiers Albert Kahn (1860 bis 1940) aus Boulogne bei Paris, der seit 1906/09 Stipendien und Aufträge für Fotodokumentationen in Europa, Asien und Afrika vergab. Er präsentierte die Arbeiten mithilfe eines Projektors in seinem Anwesen vor einem elitären Kreis, u.a. auch dem Kaiser. Bis auf wenige zeitgenössische Veröffentlichungen blieben die Bilder aber weitestgehend unbekannt, sodass manche von ihnen zum ersten Mal im Rahmen der Ausstellung publiziert worden sind.

Das 1908 von Kahn gegründete „Les Archives de la planète“ konnte von ihm bis 1931 finanziert werden und enthält neben Schwarz-Weiß-Bildern über 100 Stunden Filmaufnahmen, auch 72.000 farbige Diapositive/Autochromplatten. Kahns Archivleiter Jean Brunhes (1869 bis 1930) gilt als „Humangeograf“, der das Bildprogramm maßgeblich mitbestimmt haben soll. Die Bildmotive wurden in Bezug auf die Wechselbeziehungen zwischen den Menschen und ihrer natürlichen Umgebung ausgewählt. Dazu zählen lokale Landschaften, Menschen in traditioneller Kleidung und die Architektur.

 

Albert Kahn, Les Archives de la planète, Stéphane Passet: Mongolei, nahe Ulaanbaatar, wahrscheinlich Damdinbazar, die achte Inkarnation des mongolischen Jalkhanz Kuthugtu, 17. Juli 1913.

Albert Kahn, Les Archives de la planète, Stéphane Passet: Mongolei, nahe Ulaanbaatar, wahrscheinlich Damdinbazar, die achte Inkarnation des mongolischen Jalkhanz Kuthugtu, 17. Juli 1913.

Albert Kahn, Les Archives de la planète, Auguste Léon: Bosnien-Herzegowina, Sarajevo, Brothändler auf dem Markt, 15. Oktober 1912.

Albert Kahn, Les Archives de la planète, Auguste Léon: Bosnien-Herzegowina, Sarajevo, Brothändler auf dem Markt, 15. Oktober 1912.

 

Menschen sollten in ihrer Umgebung bei alltäglichen, beruflichen, aber auch kulturellen und religiösen Handlungen festgehalten werden. Ziel war es, die kulturelle Vielfalt zu dokumentieren, um durch sie eine Völkerverständigung zu fördern. Kahns Fotosammlung versteht sich somit als Friedensmission und Bewahrung einer verschwindenden Welt vor 1914. Trotz seiner philanthropischen Intention transportierten auch Kahns Bilder weiterhin Vorurteile gegenüber Bevölkerungsgruppen und ihren Sitten.

 

Albert Kahn, Les Archives de la planète, Stéphane Passer: Mongolei, Ulaanbaatar, Verurteilter und Wärter im Gefängnis, 25. Juli 1913.

Albert Kahn, Les Archives de la planète, Stéphane Passer: Mongolei, Ulaanbaatar, Verurteilter und Wärter im Gefängnis, 25. Juli 1913.

Die Ausstellung „Die Welt um 1914“ präsentiert vor allem Auftragsarbeiten der Fotografen Auguste Léon (1857 bis 1942) und Stéphane Passet (1875-unbekannt). Auguste Léon startete 1909 die erste Fotokampagne für Albert Kahn und reiste über Wien in den Balkan und die Türkei. Seine Fotos zeigen Spuren der Balkankriege, wie den zerstörten mittelalterlichen Markt in Shkodra im Oktober 1913. Der ehemalige französische Kolonialoffizier Stéphane Passet unternahm eine Reise von 1913 bis 1914 über China, die Mongolei, Indien und die Türkei. Das Musée Albert Kahn bewahrt 350 seiner Bilder, die neben der Architektur auch wenige Menschen zeigen, darunter vorwiegend bekannte Bevölkerungsgruppen und ihre alltäglichen Handlungsabläufe. Nach Passets Meinung fotografierte er auch bisher nie festgehaltene Szenen wie ein muslimisches Gebet in Delhi.

 

Albert Kahn, Les Archives de la planète, Stéphane Passet: Frankreich, Paris, Eine Familie in der Rue du Pot de fer, 24. Juni 1914.

Albert Kahn, Les Archives de la planète, Stéphane Passet: Frankreich, Paris, Eine Familie in der Rue du Pot de fer, 24. Juni 1914.

Anlässlich des 100. Jahrestags des Kriegsausbruchs zeigt die Ausstellung im Martin-Gropius-Bau auch vermehrt Farbfotos aus der Anfangsphase des Ersten Weltkriegs. Die Welt vor 1914 wird dabei als eine Welt im Verschwinden begriffen, die durch die Farbfotos positiv erinnert werden sollte. Zudem wird die Entwicklung der Bildpostkarten angesprochen, die sich seit dem deutsch-französischen Krieg als Feldpostkarten zum Massenmedium entwickelten. Vom Ersten Weltkrieg werden dem Besucher hauptsächlich Propagandabilder gezeigt, die das Leben hinter der Front, Landschaften und freundliches Miteinander unter den Soldaten abbilden sollen und die Zerstörungen, das Kriegstreiben oder das persönliche Leid verschweigen.

 

Ausstellung: Hans Hildenbrand: Bildpostkarten mit verschiedenen Motiven vor und um 1914, LVR-LandesMuseum Bonn.

Ausstellung: Hans Hildenbrand: Bildpostkarten mit verschiedenen Motiven vor und um 1914, LVR-LandesMuseum Bonn.

Zu sehen sind Arbeiten des Stuttgarter Fotografen Hans Hildebrand (1870 bis 1957), der als offizieller Fotojournalist des deutschen Propaganda-Hauptamts für das Elsass, die Vogesen und die Champagne zuständig war. Auch Kahns Auftragsfotografen wie Jules Gervais-Courtellemont (1863 bis 1931) arbeiteten als Kriegsfotografen für das französische Informations- und Kunst-Ministerium.

Die Ausstellung „Die Welt um 1914. Farbfotografien vor dem Großen Krieg“ spiegelt eine philanthropische Sichtweise und die Begeisterung für die neue Technik der Farbfotografie wider. Durch die naturgetreuere Darstellung der Menschen, Landschaften und Gebäude scheint uns die Welt zu Anfang des 20. Jahrhunderts näher als auf den bekannteren Schwarz-Weiß-Bildern, die unsere Erinnerungen dominieren. Die Ausstellung und der dazugehörige Katalog zeigen eine fast touristische Perspektive auf faszinierende Sehenswürdigkeiten und Momentaufnahmen von posierenden Menschen verschiedener Bevölkerungsgruppen. Auch wenn ihr zeitgenössicher Beitrag zur Völkerverständigung und Friedenssicherung gering blieb, bleibt bis heute die generationsübergreifende Wirkmächtigkeit von Bildern aktuell.

 

 

Die Welt um 1914. Farbfotografien vor dem Großen Krieg

Albert Kahn, Sergei M. Prokudin-Gorskii, Adolf Miethe

Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstraße 7, 10963 Berlin

1. August – 2. November 2014

 

Katalog: 1914 – Welt in Farbe. Farbfotografie vor dem Krieg

Hatje Cantz Verlag, 144 Seiten, 101 Abbildungen

Maße: 24,3 x 28,2 cm, ISBN: 978-3-7757-3644-2

Quelle: http://www.visual-history.de/2014/11/10/die-welt-um-1914-farbfotografien-vor-dem-grossen-krieg/

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“Proust und die Farben in der Materialität der Literatur” – Prof. Dr. Hendrik Birus zu Gast beim GRK1678

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“Stack of book bottoms” by Kristy / CC BY-NC-SA 2.0

Die Materialität der Literatur wird vielfach gerade dort sichtbar, wo im eigentlichen Sinn nicht von ihr die Rede ist. Diese Eigenheit der Literatur zeigte eindrücklich der Vortrag “Proust und die Farben in der Materialität der Schrift“den Prof. Dr. Hendrik Birus am 21. Oktober 2014 im Rahmen eines von Prof. Dr. Vittoria Borsò organisierten Workshops gehalten hat. Die Veranstaltung war aber nicht nur in thematischer Hinsicht ein Gewinn. Vielmehr profitierten wir auch in einem offenen Gespräch mit Hendrik Birus über das akademische Leben von seiner langjährigen Erfahrung.

 

Prousts sparsamer Farbgebrauch

Anders als die Literatur der décadence, für die eine detailreiche und materialverliebte Farbgebung geradezu charakteristisch ist, koloriert Proust seine Texte – trotz zeitlicher wie ästhetischer Nähe zum Fin de siècle – mit Zurückhaltung. In der Recherche hält sich Proust mehrheitlich an die Farben blau, grün, gelb, orange, rot, rosa und violett. Zuweilen benutzt er spezifische Farbtöne wie golden, silbern oder mauve. Auch die Malerei erhält eine andere Funktion in Prousts Prosa, als sie in Werken von Joris-Karl Huysmans und Oscar Wilde besaß. An der Malerei, der Farbkunst schlechthin, interessieren z.B. den Erzähler der Recherche mehr als die Farb- und Lichtästhetik die physiognomischen und gestischen Analogien zwischen den Romanfiguren und den Porträts. So weit die erste Bestandsaufnahme, die Birus mit stupender Werkkenntnis machte.

Proust verwahrt sich, so Birus weiter, sehr bewusst gegenüber der realistischen, ja materialistischen Ekphrasis der décadence. Der Grund für seine ablehnende Haltung gegenüber einer ›malerischen‹ Prosa sind die Materialien der Künste und ihre Wahrnehmung durch den Rezipienten, die Proust für grundverschieden hält: Es sei irrig zu glauben, “que l’homme serait plus heureux, capable d’une poésie plus haute, si ses yeux étaient susceptibles de voir plus de couleurs […].”[1] Trotz Prousts kritischer Haltung wäre es falsch anzunehmen, dass seine Texte ‘farblos’ seien. Im Gegenteil, die Farben besitzen bei Proust narrativen und dichtungstheoretischen Bedeutung.

Die Differenz der Wiederholung

Ein Bereich, in Proust Farben einsetzt, ist die Personen- und Milieucharakterisierung. So sind Odette und Albertine zwei ‘rosa Damen’, deren Körper, Kleider oder Dekorationen immerzu diese Farbe besitzen. Größere Gesellschaften sind dagegen von einem indifferenten Grau, lediglich kontrastiert durch einige Farbtupfer weiblicher Figuren. Birus verglich diese Technik mit Wagners Leitmotiv und betonte im gleichen Atemzug, dass es sich hier nicht um simple Wiederholungen von attributiven Zuschreibungen handelt. Mit Blick auf die Wahrnehmung des Lesers müssen die Wiederholungen im Sinne von Déleuze als ständige Ausdifferenzierungen gelesen werden. Zu den differenzierenden Eigenschaften der Wiederholung in der literarischen Zeitstruktur hätte ich gerne mehr erfahren, doch dazu zum Ende dieses Berichts mehr.

Poetik der Namen

Birus schlug zunächst eine andere Richtung ein und wandte sich einem seiner Spezialgebiete zu: die Poetik der Namen. Eigennamen besitzen in Prousts Werk eine doppelte Funktion. Sie bezeichnen zum einen ein tatsächlich Existierendes und eröffnen zum anderen einen imaginären Raum, in dem sich die Triebhaftigkeit der Einbildungskraft mit den Mitteln des Traums verwirklichen kann. Dazu ist es unabdingbar, dass zwischen dem Wahrnehmenden und dem Objekt eine räumliche oder zeitliche Entfernung existiert, weil die Einbildungskraft – und somit die Kunst – nur in der Distanz ihre Wirkung entfalten kann. Eine weitere Voraussetzung für die Poetik der Namen ist, wie Birus allerdings erst später im Zusammenhang mit Prousts Stil ausführte, das berühmte mémoire involontaire. Zugespitzter, als Birus es selber formulierte, ließe sich sagen, dass die Einbildungskraft nach Proust durch das regulierende Bewusstsein gehemmt wird und daher nur die plötzliche und nicht willentlich gesuchte Erinnerung ihre Macht entfesselt.

Farbige Namen im Resonanzraum der Literatur

Was haben aber Namen und Farben miteinander zu tun? Nun, erstens gebraucht Proust anlässlich erinnerter Stadtnamen ein Spektrum an Farben, die in seinem Werk ihresgleichen suchen[2], zweitens formuliert er in einem Brief an Prinz Antoine Bibesco im November 1912 den Zusammenhang zwischen Erinnerung und Bewusstsein mit einem Maler-Gleichnis. Proust stellt fest, dass ‘unser bewußtes Gedächtnis so malt wie die schlechten Maler ihre Bilder: mit unechten Farben’.[3] Das Wirkliche und damit auch die Farben, die Proust sucht, liegen außerhalb der Zeit und entsprechen einer verborgenen ‘essence des choses’[4], die nicht einfach durch bewusstes Sehen erscheint. Diese Essenz der Dinge, die zugleich wirklich wie augenblickslos, ideell wie konkret ist, materialisiert sich – oder genauer : wird erfahrbar – im Kunstwerk, in dem die sinnliche Wirklichkeit und die Einbildungskraft frei nach Schiller ein Spiel miteinander eingehen.

Aber damit diese Essenz der Dinge in der Literatur aufscheinen kann, muss der Schriftsteller nach Proust auch den richtigen Stil besitzen. Die positivistische Detailtreue entspricht diesem Stil nicht, wie Proust wiederum im Vergleich mit dem Malen ausführt: ‘[…] le style pour l’écrivain aussi bien que la couleur pour le peintre est une question non de technique mais de vision. Il est la révélation, qui serait impossible par des moyens directs et conscients, de la différence qualitative qu’il y a dans la façon dont nous apparaît le monde, différence qui, s’il n’y avait pas l’art, resterait le secret éternel de chacun.’[5] Die Wirklichkeit muss also, so könnte man schließen, im individuellen Sehen des Schriftstellers, das sich maßgeblich in und durch die Materialität der Sprache bildet, umgewandelt werden. Erst dann scheint das Wahrnehmen – und nicht die Wahrnehmung, wie Vittoria Borsò in der folgenden Diskussion zu Recht betonte – auf.

Nur die Materialität der Literatur ermöglicht bei Proust diese genuin ästhetische Vermittlung des Wahrnehmens, wofür Birus auch ein schönes Beispiel zitierte. Proust notiert sich zu Gérard de Nervals Silvie folgende Worte: “La couleur de Sylvie, c’est une couleur pourpre, d’une rose pourpre en velours pourpre ou violacée […]. À tout moment ce rappel de rouge revient, tirs, foulards rouges, etc. Et ce nom lui-même pourpré de ses deux i : Sylvie, la vraie Fille du Feu.”[6] Erst im Resonanzraum der Literatur können die i’s von ›Sylvie‹ purpurn werden, lautete das einleuchtende Fazit von Birus.

Weitere Perspektiven

Der material- und kenntnisreiche Vortrag des leidenschaftlichen Lesers Hendrik Birus beleuchtete Prousts Verhältnis zu den Farben, ein Thema, das bisher in der Forschung eher wenig beachtet wurde. Dennoch zeigte die Diskussion, dass Prousts Farben noch nicht erschöpfend behandelnd wurden. Vielmehr kann Birus’ Proust-Lektüre zum Ausgangspunkt weiterer Überlegungen genommen werden. Zu kurz gerieten nach meinem Geschmack die Ausführungen zur Materialität der Literatur. Prousts Umgang mit Farben weist auf eine Souveränität der Schrift gegenüber anderen Künsten wie der Malerei oder der Musik, wie Prof. Dr. Roger Lüdeke u.a. bemerkte. Ergänzend könnte hier noch hinzugefügt werden, dass die Souveränität und die Materialität der Schrift nach Birus’ Darstellung in Prousts Werk nur negativ ausformuliert werden. Die genuine Materialität der Schrift scheint bei Proust durch ihre Differenzierungsfunktion bestimmt zu sein – z.B. als Differenz zur Malerei, als Differenz in der Zeit oder als Differenz im Material. Die Differenz im Material lässt sich besonders gut an Birus’ letztem Beispiel ausführen. Das Medium der Literatur, die Schrift, ist nämlich in seiner materiellen Eigenschaft selber hybrid: Die Schrift ist zugleich visuell und akustisch, weswegen Proust bei ‘Sylvie’ erstens zwei ‘i’ lesen kann, die er zweitens auch noch in purpurner Farbe ‘sieht’.

Weitere Anschlussmöglichkeiten bieten der zeitliche Kontext sowie andere methodische Zugänge zum Werk. An einem sehr schönen Textbeispiel aus der Recherche, das die wechselnden Ansichten eines Sonnenaufgang während eine kurvigen Zugfahrt erzählt[7], führte Birus Prousts Polyperspektivismus vor, der an den Kubismus in den 1910er Jahre erinnert. Da die Zugfahrt um 1900 auch ein erkenntnistheoretisches Dispositiv darstellte, das zudem durch den medialen Umbruch zum bewegten Kinobild geprägt war, könnte hier weiter gehend gefragt werden, ob die Sprache nicht ‘technisch’ wird bzw. die Technik der literarischen Sprache eingeschrieben ist. Martin Bartelmus schlug des Weiteren vor, Prousts Farben in Anlehnung an Latour nicht als Zwischenglieder zu lesen, die schlicht eine kausale oder referenzielle Funktion haben, sondern als Mittler, die im Text zum agens werden und ganz bestimmten Handlungsformationen generiert. Thomas Krämer dagegen verband Prousts Poetik mit Derridas supplément. Der konstitutive Bedeutungsüberschuss des Zeichens würde in dieser Lesart die verlorene Zeit einholen können.

 

Promotion als Hürdenlauf

Trotz dieser Ergänzungen und Anschlussmöglichkeiten führte die Diskussion des Vortrags nochmals vor Augen, wie gehaltvoll und inspirierend die Ausführungen von Hendrik Birus waren. Die Diskussion war auch ein gutes Beispiel für seine Offenheit, die eigenen Thesen unvoreingenommen zu diskutieren. Zuletzt entwickelte sich ein Gespräch über die nicht immer einfache Promotionszeit. Es tat sicherlich einigen TeilnehmerInnen gut, von einer solch verdienten akademischen Persönlichkeit zu hören, dass die Widerstände und Krisen einfach dazugehören, ja sogar die Voraussetzung für eine gute Arbeit sind. In seinen Worten entspricht die Promotion in einem Graduiertenkolleg einem “Hürdenlauf” – aber wohl eher einer über 400 als über 110 Meter, möchte man anfügen.

 

 

[1] Marcel Proust, À la recherche du temps perdu III, Paris 1988, S. 912.

[2] Gemeint ist hier die erinnerte Kindheitssehnsucht der Fahrt mit dem ›Einuhrzweiundzwanzig-Zug‹ nach Balbec. Vgl. Marcel Proust, À la recherche du temps perdu I, Paris 1987, S. 381f.

[3] Proust an Prinz Antoine Bibesco, [November 1912], in: Marcel Proust, Briefe zum Werk, Frankfurt a.M. 1964, S. 210.

[4] Marcel Proust, À la recherche du temps perdu IV, Paris 1989, S. 450

[5] Marcel Proust, À la recherche du temps perdu IV, Paris 1989, S. 474.

[6] [Gérard de Nerval], in: Marcel Proust, Contre Sainte-Beuve, Paris 1971, S. 232-242.

[7] Marcel Proust, À la recherche du temps perdu II, Paris 1988, S. 15f.

Quelle: http://grk1678.hypotheses.org/155

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