aventinus collectanea [31.03.2015]: Andreas C. Hofmann: Studieren und Publizieren. Beiträge aus Theorie und Praxis zu einer modernen Form von Wissenschaftskommunikation

https://www.aventinus-online.de/collectanea Die Schriftensammlung bietet einen Überblick zum Œuvre des Geschäfts­führenden Herausgebers zu Studentischem Publizieren. Die Abschnitte Theorie und Praxis vereinen hierbei seine theoretisch-deskriptiven Erörterungen mit Beiträgen aus der Studienzeit.

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2015/03/5756/

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Wissenschaftsblogs in der Mediävistik: Anerkennungsprobleme? Kaum noch. (Beitrag zu #wbhyp)

"Zurück in die Zukunft". Das Motto der Blogparade zum Wissenschaftsbloggen ist für 2015 trefflich gewählt. Hoverboards wie im gleichnamigen Film (2. Teil) wird es in diesem Jahr wohl nicht geben (die bisher entwickelten Modelle kommen dem "Original" aus dem Film bisher nicht sehr nah), von einem fliegenden DeLorean ganz zu schweigen, aber auch ein geisteswissenschaftliches Blogportal und die Publikation von wissenschaftlichen Artikeln im großen Stil im Internet war 1985, dem Ausgangsjahr der Zeitreisen von Emmett L. Brown und Marty McFly, bzw. 1989, dem Erscheinungsjahr vom 2. Filmteil, Utopie.

Der Start von de.hypotheses vor bald drei Jahren hat irgendwann auch dezidiert mediävistische Wissenschaftsblogs auf den Plan gerufen. Die Umstände waren günstig und wir nutzten im Dezember 2012 schließlich diese Gunst der Stunde und gründeten das Mittelalterblog, das wir von Beginn an mit thematisch wie teilepochal übergreifendem und interdisziplinärem Anspruch betreiben, auch wenn wir besonders letzteren natürlich erst nach und nach einlösen. Und wir sind absolut nicht die Einzigen in der mediävistischen Blogsphäre: Selbst wenn wir den Blick auf den deutschen Sprachraum eingrenzen und erfolgreiche Blogs wie das seit 2008 bestehende kanadisch-britische medievalists.net ausblenden, macht die Vielfalt mediävistischer Unternehmungen in der "Blogosphäre"  Hoffnung: "Heraldica Nova", das Freiburger Blog zum "Mittelalter am Oberrhein" und das Seminarblog "Mediävistik auf dem Ameisenpfad" sind nur drei Beispiele für (vorwiegend) mediävistisch ausgerichtete Blogs, die neben dem Mittelalterblog in den letzten drei Jahren entstanden sind.

Um zwei der vorgeschlagenen Punkte aus dem Aufruf zur Blogparade aufzugreifen: Wie schaut es inzwischen mit der Anerkennung in "unserem" Fach aus, was hat sich getan? Ist Qualitätssicherung der Schlüssel zur Anerkennung und, wenn ja, wie weit sollte sie gehen, wo sollte sie - beim Bloggen und vielleicht auch nicht nur dort - aufhören?

Mareike König machte den Anfang bei der Blogparade #wbhyp: "Wissenschaftsbloggen - quo vadis? Vier Aufrufe und zwei Lösungen". Ihr Aufruf Nummer 2 lautet: "Vergesst die wissenschaftliche Anerkennung von Blogs!" Gemeint sind an dieser Stelle vor allem Blogs, auf denen einzelne Wissenschaftler, zumeist aus dem akademischen Nachwuchs, selbst publizieren, denn das dürfte die Mehrzahl der Blogs auf de.hypotheses betreffen. Dies hat Christoph Schöch zu einem überaus positiven Erfahrungsbericht über die "Anerkennung fürs Bloggen? Eine Geschichte über die Eigendynamik des Digitalen" bewegt, der Anne Baillots beinahe resignierenden Beitrag "Auf einer Skala von 1 bis 10, so naja" schön kontrastiert. Anerkennung von Selbstpublikationen kann also durchaus erfolgen. Und ist es wirklich etwas völlig Anderes, wenn ein etablierter Wissenschaftler nur mit  akademisch kreditwürdigem Namen und guten Kontakten bewaffnet beschließt, ein Buch zu schreiben, das dann von einem Verlag bei entsprechendem Druckkostenzuschuss auch ohne peer review veröffentlicht wird? Warum sollte die Anerkennung gefährdet sein, wenn nicht bei einem Verlag, sondern in einem eigenen Blog publiziert wird – bei fachwissenschaftlicher Expertise? Per se erfolgt Anerkennung doch erst nach erbrachter Leistung, also in der Rezension der schon gedruckten oder im Peer Review der zur Veröffentlichung eingereichten wissenschaftlichen Arbeit. Das Problem scheint eher zu sein, dass i.d.R. nur auf monographischer Ebene rezensiert wird, einzelnen Aufsätzen widmen sich Rezensenten üblicherweise nur in Sammelbänden, aber auch dort nur kurz und die Besprechung eines Blogartikels ist bisher für viele herkömmliche Rezensionsorgane, gedruckt wie online, undenkbar (es gibt mindestens eine Ausnahme, s.u.). Die Alternative zur klassischen Rezension bieten übrigens die Blogs selbst: mit der Kommentarfunktion!

Doch dies nur am Rande. Wie steht es um die Anerkennung von Wissenschaftsblogs in der Mediävistik jenseits der besprochenen Selbstpublikationen? Nicht schlecht, wahrlich nicht schlecht! Die eingangs genannte Vielfalt ist symptomatisch: es gibt inzwischen eine ganze Reihe Blogs und auf diesen naturgemäß noch viel mehr Wissenschaftler/innen, die sich dort online mit dem Mittelalter und seiner Rezeptionsgeschichte befassen. Und hinter nicht wenigen Blogs steckt eine einschlägige Institution, nicht wenige der Blogger/innen – denn genau das sind die Fachleute dann nämlich auch –, sind bei einer anerkannten Institution (MGH, RI, DIO) angestellt oder im Fach fraglos etabliert (z. B. Werner Paravicini, Martin Bertram, Anette Löffler). Man verstehe das bitte nicht falsch: wir halten solch einen Background keineswegs für notwendig. Aber das Phänomen zeigt, dass Fachvertreter mit verschiedenstem akademischen Hintergrund und unterschiedlichster Position sich vor dem Wissenschaftsbloggen nicht scheuen. Sei es zur Kommunikation, sei es zur Publikation. Das ist de facto eine Form von Anerkennung im Fach, meinen wir.

Doch da ist mehr. So konnte etwa Evina Steinova, die sich auf dem Mittelalterblog schon mehrfach karolingerzeitlichen Handschriften im Detail widmete, den ersten ihrer "Carolingian Critters" in der Zeitschrift Anglo-Saxon England in erweiterter Form veröffentlichen und ihr früherer Blogpost wird demnächst im „Deutschen Archiv“ angezeigt. Ferner bekundete eine bekannte Reihe bei unserer Übersetzerin Christina Franke Interesse an der Publikation ihrer Übertragung der Historia Occidentalis Jakobs von Vitry, die wir seit November 2013 kapitelweise auf dem Blog veröffentlichen.

Vergessen sollte man hier auch nicht, dass sich die Betreiber des RI-Opac entschlossen haben, auch wissenschaftliche Blogartikel für DIE mediävistische Online-Bibliographie zu katalogisieren; dass sich ein Deutsches Historisches Institut in Rom dazu bewegen ließ, einen Workshop zu "Blogs und Social Media für Mediävisten" auch noch unter dem provokativen Titel "Neues Werkzeug des Historikers" (Eine ernste Frage: Was hätte Ahasver von Brandt wohl von Wissenschaftsblogs gehalten?) zu finanzieren; und dass schließlich hinter dem Portal de.hypotheses, auf dem die Mehrzahl der mediävistischen Blogs im deutschen Sprachraum zu Hause ist, eine staatliche Wissenschaftsstiftung steckt, die "das ganze Elend" überhaupt erst ermöglicht hat!

Zu solchen, messbaren Fakten kommt die eigene Einschätzung. Wir haben den ganz persönlichen Eindruck, dass die Akzeptanz von Wissenschaftsblogs im Fach stark zugenommen hat, seit wir uns damit beschäftigen. Man liest uns und man liest die anderen, weit mehr, als wir das noch vor zwei Jahren behaupten konnten. Die kontinuierlich gestiegenen Zugriffszahlen dürften diesen Befund stützen.

Noch ein paar Worte zur Qualitätskontrolle wissenschaftlicher Artikel: Wie von Christoph Schöch in seinem Beitrag zur Blogparade, sei auch hier das von Clay Shirky stammende und u.a. von Hubertus Kohle mehrfach aufgenommene Motto "Publish first - filter later" stark gemacht, ebenso wie Klaus Grafs "Qualität wird überschätzt". Wir denken ebenfalls, dass am Ende der Rezipient, zumal der wissenschaftlich ausgebildete, selbst in der Lage ist, das Filtern zu übernehmen und dass er sowohl den Mut als auch das Recht haben sollte, dies zu tun. Mit der entsprechenden Ausbildung oder Erfahrung lässt sich auch aus "schlechten" Arbeiten Gewinn ziehen. Deshalb braucht es unserer Meinung nach keinen strengen (= blind, double blind) Peer Review. Und wir denken, dass der Anteil wirklich freier Publikationen, die nicht nur im #OpenAccess (dass wir den Gedanken des freien Zugangs zu wissenschaftlichen Publikationen nachdrücklich befürworten, müssen wir hoffentlich nicht eigens betonen), sondern auch möglichst ohne Schranken für die wissenschaftlichen Autor/innen erscheinen können, zunehmen wird, auch wenn es vielleicht noch längere Zeit dauern wird, ehe sich dieses Modell am Ende durchsetzt.

Das Gros aller Publikationen wird ohnehin korrekturgelesen, bevor es zur Veröffentlichung kommt. Von Freunden, von Kollegen, von Redakteuren. In der Rolle der zuletzt genannten, konkret der wissenschaftlichen Redakteure, sehen wir auch die Betreiber von Wissenschaftsblogs und es ist genau diese Funktion, die wir auf dem Mittelalterblog wahrnehmen.

Wenn uns ein neuer Beitrag erreicht – ob nun von uns angefragt oder uns eigenständig angeboten –, liest ihn mindestens eine/r von uns Korrektur, entfernt dabei 1. offensichtliche Tippfehler stillschweigend, verbessert 2. bei aktivierter Änderungsnachverfolgung grammatikalische, orthographische und Interpunktionsfehler, schlägt 3. bei inhaltlichen, d.h. von uns als solchen wahrgenommenen Ungereimtheiten Änderungen, Ergänzungen oder Kürzungen vor. Sollten wir uns in der einen oder anderen Sache selbst völlig unsicher sein, kann notfalls ein/e fachlich entsprechend versierte/r Kollegin/Kollege hinzugezogen werden.

Bisher ist nur einmal der Fall eingetreten, dass wir einen Artikel komplett ablehnen mussten – allerdings nicht auf Grund wissenschaftlicher Bedenken – und wir hatten sonst bisher niemals das Gefühl, gravierend eingreifen und massive Änderungswünsche äußern zu müssen: wir hatten keinen Grund zur Sorge um ein Mindestmaß an wissenschaftlicher Qualität. Wir sind weit entfernt vom klassischen peer review und finden die intensive Arbeit MIT den Autorinnen und Autoren an ihrem Text ohnehin spannender und fruchtbarer.

Fassen wir zusammen und nehmen wir den Aufruf "Vergesst die wissenschaftliche Anerkennung von Blogs!" noch einmal auf: Wir vergessen sie nicht! Denn sie ist längst da und sie wächst. Und das alles ohne wirklichen Peer Review, oh weh! ;-)

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/5181

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Offene Fragen zur Gefangennahme von Weberknechten in Kreuznach im Januar 1422

In meinem hypotheses-Blog beschäftige ich mich mit der Ortsgeschichte von Ockenheim in Rheinhessen, unweit von Mainz. Es sind verschiedene, meist kleine Quellen, kurze Erwähnungen, die bislang in der Ortsgeschichte wenig oder gar keine Beachtung fanden, denen ich in meinen „Werkstattberichten“ nachgehe.
In den Regestenbänden von Johannes Mötsch zu Urkunden der Grafen von Sponheim stieß ich zuletzt auf einen Eintrag mit der Erwähnung des Weberknechts Johann von Ockenheim, der mein Interesse gewann. Doch sind mir bislang die Hintergründe für die im Regest beschriebene Handlung nicht klar geworden. Kenner der Sponheimer Geschichte um 1420 mögen mir vielleicht helfen können...

1422 Januar 21

Die Weberknechte Konrad (Contze) von Gelnhausen (Geylenhusen), Rorich von Hachenburg (-berg), Heinrich von Alsenz (Alsentze), Johann (Henne) Seydenknauff von [Kaisers-]Lautern (Lutern), Johann (Henne) von Friedberg (Friede-), Heinrich (Hentze) von Meisenheim, Konrad (Contze) von Dieburg (Diepberg), Erhard von Nürnberg (Nuren-), Peter von Zell (Celle) im Hamm, Markus (Merkel) Leybche von Nürnberg, Johann (Henne) von Wallertheim (Waldertheim), Johann (Henchin) von Ockenheim, Johann (Henne) von Odernheim an der Glan (Glane), Jakob von Driedorf (Drijdorff), Peter von Trier, Konrad (Contze) von Lettweiler (Litwilre), Heinrich (Hentze) von Manrago, Johann (Henne) von Montabaur (Monthabur), und Johann (Henne) von Sobernheim bekunden: sie waren zu Kreuznach (Crutzenach) aufgehalten und ins Gefängnis gelegt worden wegen der gegen die dortige Herrschaft begangenen Frevel. Aus Gnade hat man sie jetzt freigelassen. Sie geloben, sich deswegen nicht an Ludwig Pfalzgraf bei Rhein, Herzog von Bayern (Beyern), Johann Grafen zu Sp. und den Ihren zu rächen, und bitten Schultheiß und Schöffen zu Kreuznach um Besiegelung mit dem Gerichtssiegel. Diese kündigen das Siegel an. [...]1

Warum kam es zu der temporären Festsetzung der Weberknechte? Steht sie in Verbindung mit der Auseinandersetzung um den Kreuznacher Burgfrieden?

Hintergrund: Graf Ludwig V. von Sponheim-Starkenburg erhielt 1417 als Erbe der Gräfin Elisabeth von Sponheim-Kreuznach die „Vordere Grafschaft“ von Sponheim – vier Fünftel des Besitzes der verstorbenen Gräfin. Dazu gehörten die Städte und Ämter Kirchberg, Koppenstein, Kreuznach und Naumburg und vier Fünftel der Burg in Kreuznach. Das andere Fünftel erhielt der Pfalzgraf: die „hintere Grafschaft“ und ein Fünftel der Kreuznacher Burg. Um dieses Fünftel der Burg kam es 1417 zum Streit, denn der Sponheimer Graf wollte es dem Pfalzgrafen nicht gewähren. Der Mainzer Erzbischof schlichtete 1419.2

Diese Auseinandersetzung mag auf eine andere Urkunde rekurrieren, in der ein Ockenheimer Burgherr als Kontrahent von Johann V. genannt wird3 ...

1419 August 23

Johann (Hans) von (Gau-)Algesheim (Algis-) wird lediger Mann des Johann Grafen zu Sp. und gelobt, gegen den Grafen, seine Erben, Land und Leute sowie die, die es vor ihm verantworten wollen, nichts zu tun oder zu veranlassen und des Grafen Schaden zu warnen. Besonders soll er diesen gegen Emmerich von Ockenheim und seine Helfer, bis der Krieg zu Ende ist. Er bittet: (1) Johann von Sötern (Soetern) und (2) Jakob von Lachen um Besiegelung. Diese kündigen ihre Siegel an. [...]4

... aber die obengenannte Urkunde entstand drei Jahre später. Es ist nur eine vage Vermutung, dass sie Johanns V. Launen anheimfielen, die er 1422 mehrmals zeigte.5

Wer kennt sich mit der Sponheimer Geschichte näher aus und kann die Gefangennahme und gnadenreiche Freilassung der Weberknechte 1422 erklären?

Ich danke für Hinweise in der Kommentarfunktion.

  1. Mötsch, Johannes: Regesten des Archivs der Grafen von Sponheim 1065-1437. Band 3: 1400-1425. (= Veröffentlichungen der Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz 43). Koblenz 1989. Seite 469, #4055.
  2. Als weiterführende Literatur sei Dotzauer, Winfried: Geschichte des Nahe-Hunsrück-Raumes von den Anfängen bis zur Französischen Revolution. Stuttgart 2001. S. 282-287 genannt.
  3. Emmerich von Ockenheim ist mehrfach urkundlich erwähnt: 1340/1350, 1353-03-19, 1360-03-23, 1380, 1401, 1419-08-23 (=obige Urkunde), 1429-09/10-xx, 1438, 1454. Da an keiner Stelle etwas zu familiären Beziehungen oder Alter beschrieben werden, ist es müßig, herauszufinden, ob der 1419 genannte Emmerich schon 1340 lebte oder noch 1454. Zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert verwalteten Mainzer Ministeriale die Burg in Ockenheim, danach wurde sie vermutlich nur noch als Steinbruch benutzt.
  4. Mötsch, Johannes: Regesten des Archivs der Grafen von Sponheim 1065-1437. Band 3: 1400-1425. (= Veröffentlichungen der Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz 43). Koblenz 1989. Seite 401, #3914.
  5. Vgl. Dotzauer, Winfried: Geschichte des Nahe-Hunsrück-Raumes von den Anfängen bis zur Französischen Revolution. Stuttgart 2001. S. 287.

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/4958

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Post Neujahr! Zwei Jahre Mittelalterblog

Wir wünschen ein rauschendes Fest mit dem Kalenderblatt für Januar aus den Très Riches Heures des Duc de Berry (Quelle: Wikimedia Commons, gemeinfrei)

Vorgestern wurde das Mittelalterblog zwei Jahre alt – am 29.12.2012 veröffentlichten wir mit dem Rezensionsüberblick Dezember 2012 unseren ersten Beitrag. Vom Säugling, den man liebevoll hegt und pflegt, ist es zum Kleinkind herangewachsen, das erste unsichere Schritte schon hinter sich hat, dabei vielleicht auch manchmal auf den Hosenboden gelandet ist – doch die Entwicklung ist nicht zu leugnen. Inzwischen aber kommuniziert dieses Kleinkind kontinuierlich, und es findet das, was auf unterschiedlichem Niveau viele Menschen – vom Säugling bis zum Lehrstuhlinhaber – erst zur Hochform auflaufen lässt: Aufmerksamkeit.

Schauen wir darauf zurück, wie sich unser „Baby“ entwickelt hat, so stellen wir fest, dass sich gerade in dem vergangenen Jahr viel verändert hat. Was vormals als Experiment mit vorläufiger Versuchsanordnung und ungewissem Ausgang begann, hat sich mittlerweile zu einem der führenden Blogs der deutschsprachigen Mediävistik entwickelt. Wir haben das vielleicht ganz versteckt erhofft, doch zu erwarten war es nicht. Der 3. Platz beim de.hypotheses Blogaward 2014 (Jurywahl) und die aktuelle Nominierung für das Wissenschaftsblog des Jahres 2014 (bis zum 1. Januar, 24 Uhr kann noch abgestimmt werden!) sind nicht nur eine wunderbare Wertschätzung unseres bisherigen Engagements, sondern auch unser Motor, 2015 nicht nachzulassen. Über die kontinuierliche Aufnahme unserer wissenschaftlichen Artikel in den RI-Opac und, nach ISSN-Vergabe und Zuteilung einer ZDB-ID schon 2013, unsere kürzlich erfolgte Aufnahme in die Elektronische Zeitschriftenbibliothek, erreichen wir dankenswerterweise ein größeres Fachpublikum. Auch die besondere Unterstützung durch de.hypotheses ist eine schöne Anerkennung unserer Arbeit. Deren unermüdliches Rühren der Werbetrommel für uns wie überhaupt für alle Blogs des Portals ist sicherlich ein Grund, warum unser Blog sich zunehmend etabliert. Und dass immer wieder einige unserer Beiträge für den Slider ausgewählt werden, spornt uns an, den gewohnten Standard nicht zu unterschreiten.

Was hat sich verändert? Über das Jahr hat sich ein kleiner, aber feiner Stamm von Autorinnen und Autoren gebildet, die nun öfter längere Beiträge posten und zusammen mit unseren beliebten Serien Calenda, Jacques de Vitry, IMC Leeds und den Rezensionsüberblicken ein abwechslungsreiches Leseangebot unterbreiten. Zugegebenermaßen haben wir insgesamt noch etwas „Historikerüberschuss“ , doch gab es gleich zu Beginn des Jahres einen Beitrag aus der altskandinavistischen Literaturwissenschaft in unseren 1000 Worten Forschung, dem nicht lange danach eine philosophiegeschichtliche und eine kunsthistorische Projektvorstellung folgten. Die erwähnte Vitry-Übersetzung leistet mit Christina Franke wiederum eine Theologin.

Auch haben wir dieses Jahr zum ersten Mal ein laufendes Habilitationsprojekt den bisher gut vertretenen Dissertationsvorhaben hinzugesellen können. Besonders erfreulich ist die immer größere Beteiligung aus „altehrwürdigen“ Instituten. So haben Andreas Kuczera von den Regesta Imperii sowie Christian Lohmer und Nikola Becker von den Monumenta Germaniae Historica bereits zwei oder mehrere Beiträge für uns verfasst; hinzu kam Andrea Rzihacek von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, die ihr Leeds-Paper bei uns veröffentlicht hat. Martin Bertram (DHI Rom) hat erstmals eine rechtsgeschichtliche Teiledition als Beitrag beigesteuert, die von höchster fachlicher Qualität ist. Auf Jan Keupps (WWU Münster) Vorschläge warten wir mittlerweile fast schon ungeduldig. Daneben haben aber auch manche das erste Mal zur Tastatur gegriffen und unseren Autorenkreis vor allem auch international erweitert. Zweimal französischsprachige 1000 Worte, ein Opusculum eines spanischen Forschers und die häufiger werdenden englischsprachigen Beiträge sind nur einige Beispiele dafür.

Zugriffe-2014

Zugriffe aufs Mittelalterblog im Lauf des Jahres 2014 - die Grenzen des Wachstums sind noch nicht erreicht... Quelle: openedition.org

Und auch die Leserschaft wächst beständig. Schauen wir im analogen tête-à-tête nun schon viel seltener  in verständnislose Gesichter und treffen immer häufiger auf „Ja wir lesen auch fleißig mit!“, wenn wir über das Blog berichten, so zeigt sich das auch in der Blogstatistik:  Hatten wir im Januar 2014 noch etwas mehr als 4100 unique visitors, so schauten gut  7700 Leser  im November vorbei; und für Dezember nähern wir uns der Zahl 9000.

Die größere Bekanntheit hat auch zu einer Auffächerung des Beitragsspektrums geführt, so dass wir nach der  Sommerpause mit  neuer, verbesserter Navigationsstruktur an den Start gegangen sind. Wissenschaftliche Artikel sind nun getrennt von anderen Beitragsformen, Berichte und Rezensionsüberblicke haben jeweils einen eigenen Platz bekommen;  im Forum gibt es verschiedene Möglichkeiten in den wissenschaftlichen Austausch zu kommen, wofür auch die Kommentarfunktion tatsächlich intensiver genutzt wird. Hier darf wohl Werner Paravicini zitiert werden, der in unserer "Digitalen Kaffeepause" um Mithilfe bei der Identifikation eines "nicht identifizierten Gesellschaftszeichens auf dem Grabstein des Konrad von Kraig" bat und den prompt zwei Kollegen mit äußerst zielführenden Hinweisen unterstützen konnten : „So ein Blog ist wirklich effizient!“ (mail an M.B.vom 17.11.2014)

Ein Highlight war natürlich unser Blogworkshop (#bsmm14) im Juni am DHI in Rom. Abgesehen davon, dass das DHI Rom damit seiner Kooperationszusage postwendend hat Taten folgen lassen und uns die Max-Weber-Stiftung technisch größte Unterstützung gewährt hat, war der Workshop ein wichtiger Schritt, um den Status quo des Wissenschaftsbloggings in der Mediävistik abzuklopfen. Die Ergebnisse wurden zum einen in unserer donnerstäglichen Videoserie  – das letzte Video kam kurz vor Weihnachten -, mit Hilfe der Max-Weber-Stiftung verfügbar gemacht. Das geplante „Römische Manifest“ zu Blogs und Social Media für Mediävisten steht in den Startlöchern.

Wie immer wollen wir uns aber nicht auf Jubelarien und Selbstlob beschränken. Wäre das Blog wirklich ein Kind, könnten wir es getrost noch ein paar Jahre auf seiner Spielwiese belassen, ohne es mit Zwangsjacken frühkindlicher Bildung zu traktieren. Doch als mediävistische Kommunikationsplattform stellen sich uns Fragen nach der Entwicklungsperspektive für das neue Jahr: Wir sind bewusst als Gemischtwarenladen gestartet – aber ist das noch das, was unsere Leser wollen (und was uns Spaß macht)? Ganz konkret: Können wir uns CFPs und Veranstaltungsankündigungen künftig sparen oder doch zumindest in komprimierter Form abhandeln? Dann käme zum Rezensionsdigest der CFP- und Veranstaltungsdigest, sozusagen ‚Calenda für alle‘. Wir wollten weder Rezensionsorgan noch herkömmliches Onlinejournal sein: Verschiedentlich haben wir aber Ausstellungen rezensiert und einige Beiträge der Opuscula - und gerade die neuste Edition - gehen doch in eine Richtung „ausgewachsene Publikation“. Und natürlich die Gretchenfrage allen wissenschaftlichen Bloggens: Warum lesen uns so viele Kolleginnen und Kollegen, aber warum ist die Kommunikation über die Kommentarfunktion immer noch relativ eingeschränkt? Ein wenig wie im Proseminar: Es gehen immer die gleichen vier Hände hoch,  obwohl man als Dozent genau weiß, dass Student A in der zweiten Reihe und Studentin B außen rechts intensiv mitdenken und auch etwas zu sagen hätten. Wie also diese Seminarsituation aufbrechen? Direkte Ansprache ist ja schwierig; vielleicht mit einem anonymen Evaluationsinstrument?

Wie immer bitten wir um Rückmeldungen, die für uns unverzichtbar sind. Und wir danken unseren institutionellen Unterstützern, dem DHI Rom und dem Fachgebiet Mittelalterliche Geschichte an der TU Darmstadt, die uns erst die Freiräume ermöglichen, dieses Blog zu betreiben, und natürlich all unseren Besuchern und Autoren fürs treue Anklicken, Mitlesen und noch mehr für Beiträge und Kommentare im vergangenen Jahr. Wir freuen uns auf 2015 auch auf dem Mittelalterblog.

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/5014

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Ein Seminar, ein Blog und ein Netzwerk neuer Akteure

screenshot_madapEs ist im Wortsinne eine verrückte Sache: Ein Seminarblog, der von Beginn an dazu angelegt ist, altgewohnte Sichtweisen zu ver-rücken. Er repräsentiert in doppelter Hinsicht ein Experiment: Inhaltlich wagt er sich mit der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) auf ein unter Mediävisten weithin unbekanntes Terrain. Methodisch prüft er die Möglichkeiten, über das Medium 'Blog' nicht nur die interne Seminardiskussion anzuregen, sondern auch Außenstehende unmittelbar an den gewonnenen Einsichten teilhaben zu lassen. Er verknüpft damit akademische Lehrveranstaltung, wissenschaftlichen Arbeitsprozess und Fachveröffentlichung, ohne dass die Grenzen dieser zumeist hermetisch getrennten Sphären erkennbar blieben.

Wer sich auf ein solches Experiment einlässt, sollte auch seine Risiken benennen können. Ein Blog wirkt weitaus extrovertierter als ein geschlossenes Diskussionsforum, z.B. auf der learnweb-Plattform der Universität. Es enthüllt mindestens ebensoviel Handwerk wie Erkenntnis und legt das Scheitern von Denkansätzen - oder gar der ganzen Veranstaltung - schonungslos offen. Es inspiriert und provoziert zu rasch verfassten Einträgen und Kommentaren, die qualitativ nicht überall das Niveau mehrfach redigierter und lektorierter Druckpublikationen erreichen. Dies alles bedeutet ein Mehr an Transparenz, aber auch ein höheres Maß an Exponiertheit für die Studierenden und den Dozenten.

Diesen Risiken haben wir Rechnung getragen, indem wie das Blog zunächst als 'Leerraumphänomen' in den Weiten des WWW unvernetzt belassen haben. WordPress verfügt über einen Löschen-Button, den wir im Falle eines absehbaren Scheiterns bedenkenlos betätigt hätten. Das Netz sollte auch einmal vergessen können. Während wir inhaltlich derzeit zwischen Kritik und Begeisterung der ANT schwanken, betrachten wir den methodischen Teil des Versuches mittlerweile als geglückt.

Als Dozent kann ich über das Blog Denkanstöße aus dem Seminargespräch aufnehmen und über die Woche 'retten'. Als Forscher profitiere ich hochgradig von der selbstauferlegten Notwendigkeit zur vertieften schriftlichen Debatte. Als Wissenschaftler freue ich mich, dass das Blog als Werkzeug der Vernetzung allmählich seine Wirkung entfaltet. So hat sich kürzlich Bruno Latour, der prominenteste Mitbegründer der ANT, per E-Mail in unsere kritische Diskussion eingeschaltet. Es ist offenbar tatsächlich eine Plattform entstanden, die Grenzen und Hierarchien zu überwinden in der Lage ist. Ich lade daher ausdrücklich alle Interessierten ein, sich am Blog als Leser, Kommentatoren oder Autoren zu beteiligen.

Noch ein Wort zu den Rahmenbedingungen des Experiments: Möglich wurde es im Kontext eines kleinen, aber umso lebendigeren Oberseminars. Es basiert auf dem Selbstvertrauen, Engagement und Erkenntnisinteresse von höchst heterogenen Akteuren (zu den wir mittlerweile auch Tageslichtprojektoren und Kaffeetassen zählen). Mit einem gut gefüllten Pro- oder Hauptseminar hätte ich diese Form kaum gewählt, hier haben sich geschlossene Foren bewährt. Das Projekt profitiert sicherlich auch davon, dass es sich außerhalb des mediävistischen Mainstreams bewegt. Aus seiner kalkulierten Verrücktheit ist somit eine Tugend geworden.

Seminarblog: Auf dem Ameisenpfad (seit heute mit Hinweis auf die 'Ersterwähnung' des Weihnachtsbaums von 1521)

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/4924

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Kein Wunder nirgendwo – die genetische Herausforderung der Geschichte

Unter dem Titel „Die DNA der Geschichte“ hat der Heidelberger Historiker Jörg Feuchter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 5. November 2014 einen Appell zur epistemologischen Reflexion historischer Genforschung seitens der Mediävistik  lanciert.[1] Obgleich ich mich diesem Aufruf grundsätzlich anschließen möchte, will ich diese Zustimmung mit deutlich kritischeren Akzenten gerade in Richtung meiner eigenen Disziplin versehen.

 

Wellcome Library, London, Ms 49, fol. 37 v (Lizenz: CC BY 4.0)

Wellcome Library, London, Ms 49, fol. 37 v (Lizenz: CC BY 4.0) 

„Wo waren die Mikroben vor Pasteur?”, so fragte 1999 der französische Soziologe Bruno Latour, um sogleich in apodiktischer Schärfe selbst zu antworten: „Sie existierten nicht, bevor er daherkam“.[2] Auf den ersten Blick provokant, folgt dieses Postulat letztlich einer ebenso simplen wie stringenten Forschungslogik: Für Latour und seine ANT gelten nur jene Entitäten als (historische) Akteure, die im Handeln anderer „einen Unterschied“ machen. Gewiss, Milch wurde bereits im Mittelalter sauer. Die Mikroorganismen der Milchsäuregärung aber stiegen erst zu historischen Mächten auf, nachdem sie im Mikroskop Pasteurs Gestalt angenommen hatten. Seit diesem Moment setzten sie sich in den Köpfen der Menschen fest, wurden zu begehrten Ansprech- und Verhandlungspartnern, avancierten schließlich zu Auslösern einer Hygienebewegung und Initiatoren einer Biopolitik, wie es sie allein auf der Grundlage ‚mittelalterlich’ saurer Milch kaum je gegeben hätte.

‚Wo waren die Gene vor Mendel und Avery?’, so möchte ich im Fahrwasser dieser Überlegungen fragen und meine Antwort gleicht notgedrungen jener Latours: ‚Sie existierten nicht!’ Gewiss registrierte man Unterschiede in Geschlecht, Hautfarbe und Körperbau, ignorierten die Menschen des Mittelalters keineswegs die phänotypische Fremdheit ihres Gegen­übers. Auch Migrationsströme, Erbfolgen und selbst Krankheitsdispositionen entgingen ihnen nicht, die DNA blieb gleichwohl hartnäckig außerhalb ihres Denk- und Handlungshorizonts. Die ‚Gene’ – zumal jene „95 Prozent (…), die nicht kodiert sind“ – müssen dem Mediävisten daher als anachronistischer Fremdkörper ‚seiner’ Geschichtsforschung gelten. Insofern die Kategorie der ‚Kultur’ als konventionelles Produkt mensch­licher Diskurse und Sinnstiftungen betrachtet wird, führt von der DNA aus kein Weg zum „Gegenstand der Geschichtswissenschaft“, der „kulturelle[n] Entwicklung der letzten zwei- bis dreitausend Jahre.“ Ebensowenig sind Nukleotidsequenzen „stets unmittelbar mit Fragen der Identität verknüpft“, sofern diese nicht als faktisch stabile ‚Rassezugehörigkeit’, sondern als soziales Interaktionsprodukt betrachtet wird.

Hat die ‚genetic history’ ihren Geltungsanspruch innerhalb der Geschichtswissenschaft damit gänzlich verwirkt? Wohl kaum! Im Sinne des von Peter von Moos begrüßten ‚heuristischen Anachronismus’[3] hat sie längst eine Diskursarena etabliert, die unserer Disziplin umfangreiche neue Frage­stellungen zuführt. So anachronistisch der Faktor DNA erscheinen mag, so wenig darf er ferner als ahistorisch qualifiziert werden. Die Entwicklung menschlichen Erbgutes ist integraler Bestandteil des historischen Prozesses und als solcher allemal der Erforschung wert. Allerdings liefert die Molekularbiologie kaum verlässliche Fakten. Sie produziert zu­nächst einmal nichts als Rohdaten, die einer sorgfältigen Deutung und Einordnung in historische Narrative bedürfen. Zu Recht mahnt Jörg Feuchter eine „epi­ste­mologische Reflexion“ über den Gebrauch dieses Datenmaterials an.

Naturwissenschaftliche Versuche beruhen ebenso wie das Gedankenexperiment des Geisteswissenschaftlers auf Prämissen und Schlussfolgerungen, die methodisch hinterfragt und ggf. revidiert werden können. Insofern verwundert es, wenn Feuchter die „erstaunlichen Resultate“ der Studie von Michael E. Weale et al.[4] hervorhebt, in der nichts weniger behauptet werde, alsdass die angelsächsische Immigration nach England im 5. bis 7. Jahrhundert mit einem fast kompletten Austausch der männlichen Bevölkerung auf der Insel“ verbunden gewesen sei. Ein Triumph der Genforschung über die Geschichtswissenschaft? Nur knapp sei darauf verwiesen, in welchem Maße sich der Diskussionsstand seit Annahme des Papers im Januar 2002 verschoben hat[5]: Ein Oxforder Forscherteam reklamierte bereits im Folgejahr einen Teil des vermeintlich ‚angelsächsischen’ Erbgutes als Relikt der dänischen Invasionsbewegung des 10. Jahrhunderts[6], während rezente Rechenmodelle den angelsächsischen Einwandereranteil auf eine Quote von 10-20% absenken. Jenseits des reinen Zahlenspiels stellt sich die Frage, ob durch die Fokussierung auf genetische Merkmale nicht die unter Archäologien verpönte Formel ‘Topf gleich Volk’ durch das neue Mantra ‘Gen gleich Volk’ ersetzt wird. Gerade Migration lässt sich nicht auf Reinraumbedingungen reduzieren oder unter die ceteris-paribus-Klausel stellen. Moderne Waliser sind keine ‚Britonen’, heutige Friesen keine Angelsachsen, der genetische Austausch zwischen Kontinent und Insel nicht auf ein singuläres Ereignis zurückzuführen. Mithin müssen sich alle Bemühungen, aus den genetischen Daten Rückschlüsse auf die Sozialstruktur der Inselbevölkerung zu ziehen, gar einen Genozid oder ein System der ‚racial apartheid’[7] zu postulieren, der Vetomacht schriftlicher und archäologischer Quellen stellen.

Vor dem Hintergrund einer fluiden Deutungsmatrix erstaunt der Anspruch des neuen MPI-Direktors Russell Gray, mit naturwissenschaftlicher Präzision nunmehr die „Mechanismen der Staats- und Religionsbildung“ rekonstruieren zu wollen. Gray erklärt die Regelhaftigkeit der Geschichte zu einer allein „empirischen Frage“, zweifellos lösbar auf ausreichender Datenbasis: „There are no wonders“[8]. Der Versuch, den Gang der Geschichte einem überzeitlich gültigen Schematismus aus Zyklen, Stadien und Entwicklungsintervallen zu unterwerfen, ist keineswegs neu, mit der Marx’schen Geschichtsmechanik sei nur sein prominentester Vertreter benannt. Prophetisches Prognosepotential besitzt sie ebensowenig wie ihre aktuellen – in diesem Punkt wesentlich bescheideneren – sozialwissenschaftlichen Pendants. Dies spricht keineswegs generell gegen eine Komplexitätsreduktion durch Modellbildung, warnt freilich vor übertriebenen Erwartungen: Von der historischen Genetik aus den Götzen objektiver Geschichtsgesetze erneut herauf zu beschwören, hieße mithin, sich von der Kontingenz und Multiperspektivität der Geschichte zu verabschieden.

Die von Jörg Feuchter vermerkte Reaffirmierung „für obsolet gehaltener Forschungsstände“ erweist sich nicht nur an diesem Punkt als riskantes Unternehmen.[9] Mit Blick auf die Trias von ‚race, class and gender’ lassen sich derzeit besorgniserregende Tendenzen beobachten, alle drei Kategorien aus dem Status kultureller Konstruiertheit (abermals) auf die Ebene objektiver historischer Wirkfaktoren zu überführen. Nein, an diesem Punkt soll den Biowissenschaften keinesfalls ein Rückfall in ein Denken rassisch-genetischer ‚Kulturträgerschaft’ unterstellt werden. Der Fehler liegt zumeist auf Seiten jener Historiker, die den methodischen Grundlagen des eigenen Faches nicht mehr vertrauen und unüberlegt der vermeintlichen Faktizität naturwissenschaftlicher Evidenzen huldigen. Wenn Feuchter – womöglich zutreffend – konstatiert, dass „DNA im heutigen Bewusstsein mehr und mehr als primärer Identitätsträger“ Anerkennung findet, so sollte dieser Befund zu einem kollektiven Aufschrei aller historischen Kulturwissenschaften führen. Der vom Verfasser des FAZ-Beitrages angemahnte „kritische Dialog“ muss mit dem Selbstbewusstsein einer empirisch arbeitenden und methodisch fundierten Fachdisziplin gesucht werden. Nicht nur gegenüber den „historisch arbeitenden Genetikern“, sondern vor allem innerhalb der Historikerzunft selbst. Die genetische Herausforderung betrifft in erster Linie das Selbstverständnis unseres eigenen Faches.

[1] Jörg Feuchter, Die DNA der Geschichte, in: FAZ Nr. 257, Mi. 5. Nov. 2014, S. N4. Dem Artikel entnommene und mit „“ gekennzeichnete Zitate sind nicht mehr separat ausgewiesen.

[2] Bruno Latour, Wo waren die Mikroben vor Pasteur?, in: ders.: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt a.M. 2002, S. 175.

[3] Peter von Moos, Einleitung. Persönliche Identität und Identifikation vor der Moderne. Zum Wechselspiel von sozialer Zuschreibung und Selbstbeschreibung, in: Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft, hrsg. von Dems. (Norm und Struktur 23), Köln/Weimar/Wien 2004, S. 1–42, S. 2.

[4] Michael E. Weale/Deborah A. Weiss/Rolf F. Jager/Neil Bradman/Mark G. Thomas: Y chromosome evidence for Anglo-Saxon mass migration, in: Molecular Biology and Evolution 19,7 (2002), S. 1008-1021.

[5] Siehe dazu Erik Grigg: Genetics and the Anglo-Saxon Invasion, unter: https://www.academia.edu/2607635/Genetics_and_the_Anglo-Saxon_Invasion; Heinrich Härke: Die Entstehung der Angelsachsen, in: Heinrich Beck/Dieter Geuenich/Heiko Steuer (Hrsg.): Altertumskunde – Altertumswissenschaft – Kulturwissenschaft. Erträge und Perspektiven nach 40 Jahren Reallexikon der Germanischen Altertumskunde (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 77), Berlin/Boston 2012, S. 429-458; Robert Hedges: Anglo-Saxon Migration and the molecular evidence. In: Helena Hamerow/D David A. Hinton/Sally Crawford (Hrsg.): The Oxford Handbook of Anglo-Saxon Archaeology, Oxford 2011, 79-90.

[6] Cristian Capelli/Nicola Redhead/Julia K. Abernethy/Fiona Gratrix/James F. Wilson/Torolf Moen/Tor Hervig/Martin Richards/Michael P.H. Stumpf/Peter A. Underhill/Paul Bradshaw/Alom Shaha/Mark G. Thomas/Neal Bradman/David B. Goldstein: A Y chromosome census of the British Isles, in: Current Biology 13 (2003), S. 979-984.

[7] Mark G.Thomas/Michael P.M. Stumpf/Heinrich Härke: Evidence for an apartheid-like social structure in early Anglo-Saxon England, in: Proceedings of the Royal Society B: Biological Sciences 273/1601 (2006), S. 2651-2657.

[8] Virginia Morell: Feature: ‘No miracles’, in: Science 345/6203 (2014), S. 1443-1445, unter; http://www.sciencemag.org/content/345/6203/1443.full.pdf

[9] Zu Recht verweist der Autor hier warnend auf den markanten Fall des Biologen Pierre Zalloua, der die Religionsgemeinschaften des Libanon auf ideologische Weise ethisch interpretiert. Dahinter ist jedoch ein Grundsatzproblem zu erkennen: Genetische Bevölkerungsanalysen basieren auf einer überschaubarer Zahl von Axiomen und Parametern, die oftmals ‚fachfremd’ der Geschichtsforschung entnommen werden. Sie reduzieren damit historische Komplexität, ohne die epistemologischen Grundlagen ausreichend zu reflektieren und sich so gegen zirkuläre Schlussfolgerungen abzusichern. Hier wäre in der Tat die Expertise von Historikern dringend gefragt.

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/4734

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