Über das geozentrische Weltbild des Mittelalters II – die sublunare Welt
Bevor ich heute ein paar Worte zum Aufbau der sublunaren Welt verliere, vorneweg ein kurzer Disclaimer: Mir geht es hier vor allem darum, einen möglichst simplen Einstieg in das mittelalterliche Weltbild zu geben. Viele wichtige Autoren, Theorien und Forschungskontroversen des Mittelalters muss ich daher leider unter den Tisch fallen lassen. Wenn möglich, versuche ich, mittelalterliche Autoren zu Wort kommen zu lassen, auch wenn diese nicht die Urheber der vorgestellten Theorien sein sollten.
Der mittelalterliche Kosmos erinnert ein Stück weit an eine Zwiebeln, die aus verschiedenen, umeinander angeordneten „Schichten“ besteht. Im Zentrum dieser Zwiebel findet sich die Erde, begrenzt wird sie, quasi als Schale, durch die Ebene der Fixsterne. Dazwischen sind die Planeten inklusive Sonne und Mond.
Diese Schichten, oder richtiger Sphären, lassen sich untereinander Qualitativ unterscheiden: in einen sublunaren (also unterhalb der Sphäre des Mondes) und einen himmlischen Bereich. Während die himmlische Welt durch den Menschen nicht beeinflusst werden kann, stellt die sublunare Welt, also die Sphären unterhalb des Mondes im weitesten Sinne dessen Lebensbereich dar – und um diesen dreht sich der heutige Beitrag.
Die sublunare Welt besteht aus vier Elementen oder verschiedenen Mischtypen. Ideengeschichtlich lässt sich diese Vorstellung (wie auch die Einteilung in sublunar und himmlisch) auf Aristoteles zurückführen[1], ich möchte aber mit Wilhelm von Conches, den ich schon des Öfteren zu Wort kommen lassen habe, beginnen. Im Dragmaticon (nach der englischen Übersetzung von Italo Ronca[2]) schreibt dieser: „In his [hier ist Aristoteles gemeint] opinion, the four elements exist from the moon downward […]; all things below the moon are either elements or consist of them.“ (Buch III, cap. 5)
Die vier Elemente sind natürlich die Erde, das Wasser, die Luft und das Feuer. Sie haben verschiedene Eigenschaften und nehmen einen jeweils eigenen Ort im Weltgefüge ein: Über der Erde findet sich Wasser. Über dieser Schicht Luft, und als letztes Element vor den himmlischen Sphären, das Feuer.
Die sublunaren Sphären nach Hartmann Schedel aus seiner Weltchronik (Druck Nürnberg 1943, Digitalisat UB Heidelberg: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/is00309000 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/)
Diese Anordnung ist nicht willkürlich, sondern lässt sich durch Logik und Beobachtung durch die Schwerkraft herleiten: Zum einen hat jedes Element sein ihm eigenes Gewicht (Am schwersten ist die Erde, am leichtesten das Feuer): „[T]here is no part of earth or water that, if raised for some cause, would not descent once that cause was removed; and the heavier earth is than water, the faster it is in this motion toward the center.“ (Buch II, cap. 6, 5) Umgekehrt sei es bei den Elementen Luft und Feuer: sie würden natürlicherweise nach oben streben.
“For since every place except earth is higher than water, and it is contrary to the nature of water to ascend, and since the lowest place is occupied by a more solid element [nämlich die Erde], water cannot move by any kind of transfer.” (Buch II, cap. 6, 11) Gleiches gilt für Luft, die nicht aufsteigen kann, weil sie durch das leichtere Element des Feuers begrenzt wird. „In conclusion, the fabric of the world remains unshaken because of the great bodies, which are called elements by some, have no place to which to move by transfer.” (Buch II, cap. 6, 12)
In der Mitte dieser sublunaren Welt befindet sich also die Erde. Sie ist unbeweglich. „If you want a rational argument: from ist bulkiness, coldness, and dryness“, das sind Qualitäten dieses Elements, die Wilhelm an anderer Stelle ausführt, „the earth is insensible, heavy, and immovable.“ (Buch II, cap. 6, 7).
Sie hat aufgrund der Schwerkraft darüber hinaus die Form einer Kugel, weil “the stars that appear at one latitude do not appear at another: the star of Canopus, which is visible in Egypt, is not visible at our latitude. This would never happen if the earth were flat. Therefore, the earth is round and spherical.” (Buch VI, cap. 2, 6, einen anderen Beweis habe ich hier schon vorgestellt). Besonders schön ist dieser Aufbau der sublunaren Welt in Bruxelles, Bibliothèque Royale de Belgique, MS. 9231, fol. 281v zu finden.
Die Welt verstanden als geographischer Raum wurde im Mittelalter vor allem auf zwei Arten dargestellt[3],
- als TO-Karte
- als Zonenkarte
Eine TO-Karte ist oben abgebildet. Im Grunde zeigen diese Karten lediglich einen kleinen Ausschnitt der bekannten und als bewohnbar erachteten Welt: Mittelmeer, Nil und Don teilen diese bekannte Welt in drei Teile, von denen im Osten Asien 2/4, Europa und Afrika jeweils ¼ der Landmasse einnehmen. Aus kosmologischer Sicht viel interessanter sind aber die sogenannten Zonenkarten.
Martianus Capella, einer der fürs Mittelalter ganz wichtigen spätantiken Autoren, die entscheidend zum kosmologischen Wissen des Mittelalters beigetragen haben, schreibt hierzu (in der etwas manirierten Übersetzung von Hans Günter Zekl[4]):
„Der Erdkreis wird geschieden in fünf Zonen […]. Drei davon haben die Unbilden des Wetters durch vieles Allzuviel von Gegensätzen für menschliche Besiedlung verbannt: Die zweie, die auf beiden Seiten an die Achse [das wären die Pole um die Erdachse] grenzen, die liegen unter ungeheurem Frost und Kälte und geben angesichts des Falls von Schnee und Eis den Anlaß, sie zu meiden; der mittlere dagegen [der Äquator], von heißem hauch der Flammen ausgedörrt, brennt allem, was da lebt, den Zugang fort, wenn es da nähertreten will. Die andern zwei (die jetzt noch dasind) haben mit Einzug wohlgemischten Lebensatems dem, was da atmet, die Besiedlung erlaubt.“ (Buch VI, 602)
„Auf der gesamten Rundungskrümmung der Erde haben sie sich um die obere sowohl wie um die untere Halbkugel herumgelegt. Denn beiderseits trennt Erde die zwei an ihr in Halbkreisform gegebenen Teile mit allerlei Verschiedenheit ab, d.h., sie hat eine obere Hälfte – die bewohnen wir, und es umgibt uns der Okeanus; und eine andere, die untre eben.“ (ebd.)
Auf dieser Hälfte leben unsere Antipoden, also nach heutigem Verständnis etwa die Australier, die man sich im Mittelalter zum Beispiel so vorstellte:
Antipoden. Aus einer Abschrift von De civitate Dei; Nantes, Bibliotheque Municipale, Ms. fr. 8, fol. 163.
Kartographisch lässt sich das etwa so darstellen, wie in der Arnsteinbibel (Achtung, die Karte ist geostet!): Umgeben von zwei sich schneidenden Ozeanen (der eine ist als Kreis um die Welt dargestellt, der andere als mittlerer Streifen) befindet sich die Welt, die man in fünf verschiedene Zonen teilen kann.
Zonenkarte aus British Library, Harley 2799, fol. 242v
Von diesen Zonen sind jeweils zwei bewohnt, drei aber unbewohnt: die Zonen an den Polen starren vor Kälte, während die mittlere Zone, die sich auf der Karte mit dem mittleren Ozean deckt, völlig verbrannt und ausgedörrt ist (perusta). Tatsächlich ist diese Zone so heiß, dass man sie gar nicht überqueren kann. Von den bewohnbaren Zonen kennen wir daher nur eine, die nördliche, die unserer bekannten Welt entspricht, und die man ihrerseits als TO-Karte darstellen kann.
So viel zur sublunaren Welt, zu den himmlischen Regionen dann das nächste Mal.
[1] dessen Vorstellung ist hier ganz übersichtlich zusammengefasst: Klaus Anselm Vogel, Sphaera terrae – das mittelalterliche Bild der Erde und die kosmographische Revolution (Dissertation zur Erlangung des philosophischen Doktorgrades am Fachbereich Historisch-Philologische Wissenschaften der Georg-August-Universität zu Göttingen 1995.
[2] Italo Ronca, A dialogue on natural philosophy : translation of the new Latin critical text with a short introduction and explanatory noteses. Notre Dame 1997.
[3] Mehr hierzu findet sich bei David Woodward, the history of cartography, Bd. 1. Chicago 1987.
Und sie steht doch? Über das geozentrische Weltbild des Mittelalters I
“a circle of blackness shifts slightly […] and becomes a world under darkness, its stars the lights of what will charitably be called civilization. For, as the world tumbles lazily, it is revealed as the Discworld – flat, circular, and carried through space on the back of four elephants who stand on the back of Great A’tuin, […] a turtle ten thousand miles long, dusted with the frost of dead comets, meteor-pocked, albedo-eyed.”[1]
Das Leben ist ungerecht! Während Autoren unserer Zeit dafür gefeiert werden, bizarre Welten zu entwerfen, so rümpfen wir bei den Welterklärungen der Vergangenheit schon bei der kleinsten Ungenauigkeit die Nase. Gerade gegenüber dem Mittelalter fahren wir dabei zur Verurteilung als intellektuell dunkles Zeitalter schwere Geschütze auf, z.B.: das geozentrische Weltbild.
Der Kosmos nach Hartmann Schedel aus seiner Weltchronik (Druck Nürnberg 1943, Digitalisat UB Heidelberg: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/is00309000 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/)
Diese Vorstellung, die anstatt der Sonne die Erde als Zentrum des Alls erachtet, gilt wohl als Prototyp mittelalterlicher Rückständigkeit und Vernunftfeindlichkeit. Während es heliozentristische Vorstellungen schon in der Antike gegeben hätte, hätte das dogmatische Christentum mit Feuer und Kreuz immer und immer wieder die Vernunft unterdrückt, so eine – nicht nur in den Untiefen des Internets – weit verbreitete Vorstellung.
Dabei ist diese Vorstellung nicht nur unfair[2], sie lässt auch drei entscheidende Punkte außer Acht:
- Das Mittelalter hat das geozentrische Weltbild gar nicht selbst „verbrochen“, das war die griechische Antike
- In eben dieser Antike gab es noch viel „absurdere“ Weltbilder
- Das geozentrische Weltbild ist mitnichten absurd, im Gegenteil es ist im höchsten Maße vernünftig
Ich glaube diese Vorurteile rühren vor allem daher, dass Vielen gar nicht bewusst, wie komplex und clever das geozentrische Weltbild aus Sicht der Zeit eigentlich ist. In der folgenden Artikelreihe will ich dieses Weltbild, das immerhin mehrere Jahrtausende das Bild der Menschen von der Welt bestimmte, daher etwas näher erläutern. Beginnen möchte ich mit ein paar grundsätzlichen Bemerkungen über den Umgang mit überkommenen Wissenschaftsvorstellungen.
Als „wissenschaftlich“ erscheint uns heute oft, was sich im Laufe der Zeit als richtig herausgestellt hat. Das geozentrische Weltbild ist daher eine irrige Annahme, ergo unwissenschaftlich. Die Geschichte der Naturwissenschaft, also auch die Geschichte der Kosmologie verstehen wir auch heute noch oftmals als eine Aufklärungsgeschichte, an deren Ende natürlich der aufgeklärte Mensch der Neuzeit steht.
Aus Camille Flammarion, L’Atmosphere: Météorologie Populaire. Paris 1888, S. 163. (Digitalisat aus den Wiki Commons)
Eine solche Geschichte vom wissenschaftlichen Fortschritt kann man durchaus erzählen, aber – um mit Rodney Thomson zu sprechen – “The least that one might say of this is that it is a variant of history written from the victor’s viewpoint, with the attendant limitations of balance and perspective.”[3] Genauso wenig, wie man einer mittelalterlichen Kathedrale nicht in erster Linie durch das Betonen ihrer Defizite gegenüber moderner Architektur begegnet, sollte man auch das mittelalterliche Weltbild nicht vor dem Hintergrund des aktuellen physikalischen Wissensstandes bewerten: Zum einen, weil dadurch der Sinn für die faszinierenden Eigenheiten der jeweiligen Kultur verloren geht; zum anderen aber auch, weil nicht alles, was sich als falsch herausgestellt hat, zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht vernünftig gewesen sein kann.
Im Grunde gibt es drei Möglichkeiten, wie Mensch sich ein Bild von der Welt machen kann:
- Mythisch
- Spekulativ
- Empirisch
Der moderne Mensch würde sein eigenes Weltbild eindeutig unter der dritten Kategorie einordnen und sich klar von mythischen und spekulativen Weltbildern, unter die er wohl das geozentrische Weltbild einreihen würde, abgrenzen wollen. So einfach ist es aber nicht!
Zunächst muss man festhalten, dass das geozentrische Weltbild keineswegs eine dogmatische Erfindung des christlichen Mittelalters war. Im Gegenteil, wie auch das heliozentrische Weltbild, musste es sich im Laufe der griechischen Antike erst gegen einer Reihe durchaus bizarrer Weltentwürfe durchsetzen[4]: Hierunter archaische Welterklärungen, wie sie zuweilen bei Homer durchscheinen; aber auch heute durchaus geschätzte Philosophen wie die Pythagoräer erdachten Kosmosmodelle, die uns gelinde gesagt befremdlich vorkommen müssen: Hier sein die Wikipedia zitiert, vor allem des letzten Satzes wegen:
Das geozentrische Weltbild ist also mitnichten mythisch, es ist auch nur in geringem Maße spekulativ, es ist eigentlich äußerst empirisch, wie Arianna Borrelli richtig betont hat:
„This image of the world appears today hopelessly outdated, and might be seen as the product of abstract philosophical speculations, having little or nothing to do with reality. As a matter of fact, though, the homocentric-spheres-model offers a faithful representation and clever explanation of the way heavenly bodies are seen to move in the sky when time passes or when humans travel.”[5]
Das ist ein ganz zentraler Punkt: Das geozentrische Weltbild entspricht ziemlich genau dem All, wie man es von der Erde aus betrachtet erfährt und vermessen kann, etwa als Himmelsglobus:
Himmelsglobus mit Sternzeichen in Ms St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 902, fol. 81, www.e-codices.unifr.ch (http://www.e-codices.unifr.ch/en/list/one/csg/0902)
Es ist als „interaction between a form of mathematical reasoning based on geometrical imagination and natural philosophy“[6], also eigentlich eine Mischung zwischen der zweiten (spekulativ) und dritten (empirisch) Kategorie und unserem eigenen Ansatz damit gar nicht so unähnlich.
In das (übrigens lateinische und arabische) Mittelalter ist das geozentrische Weltbild durch spätantike Autoren tradiert worden, wo es von den Mönchen des frühen Mittelalters mit dem Segen des karolingischen Herrscherhauses gefestigt wurde[7]. Interessant ist, dass es gerade während der Spätantike durchaus auch christliche Gegenentwürfe gab, die sich aber aus naheliegenden Gründen (siehe Bild) nicht gegen das rationale geozentrische Weltbild durchsetzen konnte.
Die Welt im Tabernakel nach Cosmas Indicopleustes Topographia Christiana (6. Jahrhundert) (Digitalisat Wiki Commons)
Das geozentrische Weltbild ist daher also mitnichten das Werk verblendeter christlicher Fundamentalisten. Es basiert nicht einfach auf mythischen oder spekulativen Gedankenmodellen, sondern bildet die scheinbaren Vorgänge am Himmel ab. Das bestimmende Weltbild der Antike, des Mittelalters und der frühen Neuzeit war daher kein intellektueller Rückschritt, sondern muss – aus der Zeit heraus bewertet – im Gegenteil als Fortschritt verstanden werden. Wie dieses Weltbild genau ausgesehen hat, das möchte ich in den nächsten Tagen und Wochen etwas näher erläutern.
[1] Terry Pratchett, Pyramids, London 1989, S. 7.
[2] ganz abgesehen von dem sehr wichtigen Punkt, dass das heliozentrische Weltbild mitnichten durch die Kirche unterdrückt wurde, aber das ist eine andere Geschichte, http://www.zeit.de/1980/46/galileo-galilei-war-kein-maertyrer.
[3] Rodney Thomson, Richard Southern and the twelfth-century intellectual world. In: Journal of religious history Bd. 26 (2002) S. 264-273, hier S. 271.
[4] Einführend in die griechische Astronomie: Árpád Szabó, Das geozentrische Weltbild: Astronomie, Geographie und Mathematik der Griechen. Stuttgart 1992.
[5] Arianna Borrelli, Aspects of the astrolabe. Stuttgart 2008, S. 36.
[6] Ebd.
[7] Hierzu sei nachdrücklich auf das brillante Buch von Bruce Eastwood, Ordering the Heavens: Roman Astronomy and Cosmology in the Carolingian Renaissance. Leiden 2007 verwiesen.
aventinus media Nr. 13 [15.12.2013]: Mittelalter eMGH und dMGH. elektronische und digitale Monumenta Germaniae Historica im Vergleich [=einsichten v. 19.01.2012]
Nelly Labère (Bordeaux): Das ‘Gesamtwerk’ denken – ein mittelalterliches Paradox?
deutschsprachige Zusammenfassung des Vortrages vom 16. Dezember 2013: “Penser l’œuvre complète – un paradoxe pour le Moyen Age ?” Lässt sich im Mittelalter bereits die Idee eines ‚Gesamtwerkes‘ denken? Dies ist die Frage, mit welcher wir uns im Laufe unserer … Continue reading →
Codices im Netz – Die Digitalisierung mittelalterlicher Handschriften und ihre Konsequenzen
Ende November 2013 fand in Wolfenbüttel eine kleine, vom Mittelalter-Komitee der Herzog August Bibliothek organisierte Tagung zum Thema “Konsequenzen der Digitalisierung” statt. Zur Einstimmung in die Tagungsthematik hatten die drei Organisatoren (Stephan Müller/Wien, Felix Heinzer/Freiburg und ich) kurze Statements vorbereitet, die aus der jeweils eigenen Perspektive inhaltliche und methodische Herausforderungen der fortschreitenden Digitalisierung von mittelalterlichen Bibliotheksbeständen und Konsequenzen für deren Erforschung reflektieren. Meine Eingangsüberlegungen können hier in leicht überarbeiteter Form nachgelesen werden. Auf der Tagung hielten ferner Erik Kwakkel (Leiden), Björn Ommer (Heidelberg), Manuel Braun (Stuttgart), Sonja Glauch und Florian Kragl (Erlangen) Vorträge zu laufenden Digital-Humanities-Projekten im Bereich der Analyse, Paläographie, Edition und Auswertung mittelalterlicher Handschriften. Die Ergebnisse der Tagung sollen in einem gemeinsamen Konzeptpapier zusammengefasst und als Blogbeitrag auf de.hypotheses publiziert werden.
Noch ein Turn
Von all den intellektuellen und technischen turns, die die Geistes- und Sozialwissenschaften im letzten Jahrhundert durchgeführt haben, ist der digitale zweifellos von einer anderen Natur und einer breiteren Wirkung, auch wenn nicht jeder in der akademischen Welt von uneingeschränkter Euphorie erfüllt ist. Die Entwicklung von Digitalität (digitality), im Sinne der Konzeptualisierung durch Nicholas Negroponte als ‘the condition of being digital’, ist nicht nur von allgemeiner gesellschaftlicher Relevanz, vielmehr birgt sie auch bedeutende Konsequenzen für die akademische Welt und die Art und Weise, wie wir forschen. Hierbei stellt sich, insbesondere auch bei dem Thema der Wolfenbütteler Veranstaltung die grundlegende Frage: Digitalität verändert zweifellos unseren akademischen Alltag, aber wie sind diese Veränderungen methodologisch, und wenn man es so formulieren will, epistemologisch zu begleiten?
Vor allem die Sicherung, Dokumentierung und Bereitstellung des kulturellen Erbes in seiner materiellen Vielfältigkeit und Heterogenität stellen uns vor neue Herausforderungen. Hier sind grundlegende methodische Konzepte nicht nur für die so genannten Digital Humanities, sondern für alle geisteswissenschaftlichen, insbesondere auch die historisch arbeitenden Disziplinen insgesamt zu entwickeln. Die Frage ist also eindeutig nicht mehr die Frage nach dem ob der Digitalität und der digitalen Wissensbestände, sondern die nach dem wie. Der Bogen an Möglichkeiten spannt sich von mittlerweile anerkannten Parametern wie der Entwicklung und Anwendung von internationalen Standards, der prinzipiellen Verfügbarkeit des digitalisierten Materials über den Open Access Gedanken und der langfristigen Sicherung dieses Materials über die systematische Dokumentation der digitalen Erschließungstools bis hin zur Herausbildung und Akzeptanz neuer Publikations-, Evaluations- und Anerkennungskulturen im Rahmen digital-gestützter, geisteswissenschaftlicher Forschungsprozesse.
Kulturelle Artefakte und Forschungsobjekte im Wandel
Insbesondere wird nicht nur das Verhältnis zwischen Objekt bzw. Artefakt und wissenschaftlichem Beobachter neu ausgerichtet, sondern auch die prinzipielle Daseinsform dieser beiden Akteure im wissenschaftlichen Prozess, der unter Umständen entkörpert, entzeitlicht und enträumlicht werden kann. Es geht auch darum, das Verhältnis auszuloten zwischen dem historischen (analogen) Objekt und dessen digitalen Repräsentanten bzw. Abstraktionen, oder wie es unsere Oxforder Kollegin Ségolène Tarte formuliert, deren digitalen Avataren, die durchaus ihre eigene Existenzformen haben und auch eigene Gefahren im wissenschaftlichen Umgang mit ihnen bergen. Ferner gibt es auch die so genannten “digital born objects”, die so intendiert, gezielt produziert und ausschließlich digital existieren, wie etwa die nur virtuell vorhandene 3D-Rekonstruktion einer Handschriftenseite aus einem heute völlig verkohlten Fragment oder die Rekonstruktion eines Artefakts, das nie existierte, dessen Planung jedoch aus schriftlichen Quellen bekannt ist. Und schließlich gibt es Formen der Hybridität, der unterschiedliche Existenzformen vereinen.
In diesem Spannungsfeld der Objektvielfalt sind Forschungsprojekte im Rahmen der digitalen Erschließung und Analyse von Handschriftenbeständen angesiedelt, welche entsprechende Erkenntnismöglichkeiten eben nur durch die Existenz der Digitalisate ermöglichen. Dies betrifft sowohl das Digitalisat im Sinne der Einzelüberlieferung (etwa die Analyse einer Handschrift bzw. kleinerer Quellengruppen) als auch der Möglichkeit der Analyse und Auswertung von sehr großem Datenmaterial, das nur mit computergestützten Methoden zu bewältigen ist (hierzu hat Björn Ommer einen spannenden Vortrag zur Computer Vision gehalten). Die Herausforderung im Bereich der Digitalisierung ist es aber auch, wie bereits vielfach und auch auf der Wolfenbütteler Veranstaltung unterstrichen wurde, nicht nur Antworten auf die Fragen von heute (die wir ja kennen und formulieren können) zu finden, sondern auch zukünftige Fragen, die wir unter Umständen heute noch gar nicht fassen können, zu ermöglichen. Dies erfordert eine teilweise unübliche, noch zu erlernende methodologische Offenheit, und eine über die Perspektiven der Einzelfächer hinausgehende grundlegende Bereitschaft zur Interdisziplinarität.
Im Hinblick auf historische Bibliotheksbestände ist die Ausgangslage eine auf den ersten Blick Erfreuliche: Früh hat sich das “digitale” Augenmerk auf diese einmaligen Kulturbestände gerichtet, so dass inzwischen solide Erfahrungswerte vorhanden sind, und vielfach auch entsprechende Digitalisierungsstandards entwickelt werden konnten. Die Anzahl der Digitalisierungsprojekte oder der virtuellen Rekonstruktionsprojekte zu mittelalterlichen Bibliotheken ist etwa bereits für den europäischen Raum kaum zu überschauen, ganz zu schweigen von Vorhaben zu nicht-europäischen Schriftkulturen. Teilweise entstehen – auch durch besondere Umstände bedingt und abhängig von der jeweiligen Fragstellung oder Schwerpunktsetzung – so genannte Insellösungen, die nicht immer mit gängigen Digitalisierungs- und Kodierungsstandards kompatibel sind, und die somit auch eine Vergleichbarkeit und eine Interoperabilität der unterschiedlichen Digitalisierungsprojekte bereits auf nationaler Ebene erschweren. Hier wird eine der wichtigen Herausforderungen der nächsten Zeit sein, Brücken zu schlagen und Austauschmöglichkeiten der Formate zu ermöglichen, um übergreifende Untersuchungsszenarien zu ermöglichen.
Verlässt man die reine Digitalisierungsebene der Bestände in Richtung wissenschaftliche Erschließung, so können einerseits ausgehend von bereits vorhandenen, digitalisierten und entsprechend annotierten Beständen weiterführende Forschungsprojekte angeschlossen werden. Aus dem Trierer DFG-Projekt „Virtuelles Scriptorium St. Matthias“, das die heute dislozierte, mittelalterlich Bibliothek von St. Matthias in Trier virtuell rekonstruiert, ist zum Beispiel das größere, vom BMBF geförderte Kooperationsprojekt „eCodicology“ entstanden, in dem u. a. Philologen, Buchwissenschaftler und Informatiker aus Darmstadt, Karlsruhe und Trier Algorithmen zum automatischen Tagging mittelalterlicher Handschriften entwickeln, die Makro- und Mikro-Strukturelemente einer Handschriftenseite im Hinblick auf Layout und Aufmachung automatisch erkennen und diese Informationen in die Metadaten zu jedem Image einpflegen. Das geht so weit gut, weil wir uns quasi ins gemachte Bett legen, sprich eigene, homogene Daten zu 500 mittelalterlichen Handschriften zu forschungsfragengetriebenen Analysen verwenden können.
Hybridität der Angebote in den digitalen Wissensräumen und Hürden im Forschungsalltag
Anders sieht es bezüglich der Quellengrundlage bei Vorhaben bzw. forschungsgetriebenen Einzelfragen aus, die man gerne als “traditionelle” Vorgehensweise bezeichnet (aber nicht ganz zutreffend, da diese doch eine zeitlose Daseinsform geisteswissenschaftlicher Forschung darstellt), und die auch nicht mit einem vorhandenen, homogenen digitalen Korpus etwa einer Bibliothek bzw. einem bereits fertigen Digitalisierungsprojekts zu einem bestimmten Thema zu bewältigen ist (bzw. es zur Zeit noch nicht ist). Ich möchte hier von einem eigenen Beispiel ausgehen: Im Rahmen einer Untersuchung zur Kulturgeschichte der Annotation habe ich an einer kleineren interdisziplinären Fallstudie, bei der der Ausgangsgedanke war, die Textgeschichte (und auch Texterfindung) des berühmten Architekturtraktates des antiken Autors Vitruvius durch die Überlieferung annotierter Exemplare vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit zu erforschen. Eine erste Stichprobe ergab, (u.a. auch dank der Existenz einer Online-Vitruv-Datenbank, die zumindest einen Teil der Zeitstrecke abdeckte), dass offenbar genügend Digitalisate entsprechender zentraler Handschriften, Inkunabeln und frühen Drucke für diese Fallstudie zugänglich sein müssten. Soweit die Theorie, die Praxis sah jedoch etwas anders aus: Viele Digitalisate, auch aus bekannten Bibliotheken bzw. auf der Europeana-Plattform, waren qualitativ so heterogen, dass zum Teil im schwarz-weißen Avatar der Buchrand selber und auch die eigentlich im Ausgangsobjekt vorhandenen Marginalien nicht mehr erkennbar waren. Ferner gab es regelmäßig Fehlverknüpfungen bzw. ungenaue Zuweisungen der Digitalisate einerseits innerhalb der Bibliothekskataloge selber und andererseits (wenn auch in geringerer Anzahl) in die vorhandene Vitruvdatenbank. Was hier unter Umständen für eine wissenschafts- oder architekturhistorische Fragestellung zu verschmerzen gewesen wäre (aber wahrscheinlich auch dort nicht), war aus philologischer Sicht methodisch deprimierend. Das Resultat war, dass ich die im Netz gewonnenen Daten zwar genauestens im Sinne einer Quellenkritik und auf dem Hintergrund eines Gesamtkorpus geprüft habe, aber dann entschieden habe, das digitale Angebot eher als Zusatzmöglichkeit zu nutzen und sonst gezielt wiederum das Original in der Bibliothek aufzusuchen. Trotz des vermeintlich überlieferungsgeschichtlich gut dokumentierten Vitruv, hat also das zur Zeit vorhandene, recht üppige digitale Angebot nicht gereicht, um (bereits jetzt) eine digital indizierte Einzelstudie durchzuführen, unter anderem eben wegen der unterschiedlichen Qualität der Digitalisate und deren Erschließung. In diesem Zusammenhang kommen die Historizität und Heterogenität der Bestandsdigitalisierung selber zum Vorschein, die im Laufe der letzten fünfzehn Jahre entsprechende Variabilitäten erzeugt hat. Insgesamt wäre es bestimmt interessant für Vitruv-Forschergemeinschaft, auf eine auch eine unkomplizierte, kollaborative Forschungsplattform zurückzugreifen, in der eigene zusätzliche Digitalisate und Erkenntnisse hätten eingepflegt werden können, und so langsam aus dem vorhandenen digitalen Angebot zu schöpfen bzw. diesen gezielt zu ergänzen.
Als Zwischenfazit bleibt im Bereich der einzelnen forschungsfragengetriebenen Analysen (die man auch als bottom-up-Prozesse verstehen kann) der Befund eines qualitativ hybriden Angebots im Bereich der Digitalisierung und der digitalen Erschließung mittelalterlicher Quellen, bei dem wir als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sehr genau darauf achten müssen, womit wir es zu tun haben (bzw. in anderen Worten: Prüfe, bevor du dich bindest). Dies sollte jedoch kein Grund sein, digitale Quellen nicht zu nutzen, sondern auch als Ermutigung verstanden werden, sich für eine Verbesserung des Angebots und dessen transparente Dokumentation zu engagieren, und sich auch konsequent für eine entsprechende heuristische Quellenkritik (“critique des sources”) einzusetzen, wie wir es ja sonst auch bei der “traditionellen” Quellenarbeit mit historischem Material tun.
Brainstorming für eine übergreifende Dokumentation einer bestands- und forschungsorientierte Digitalisierung
Die Frage ist ferner, wie man internationale Standards, offene Schnittstellen und Best Practice-Verfahren für die Digitalisierung und Erschließung dieser Bestände nicht nur entwickeln kann (denn die gibt es ja vielfach schon), sondern auch so propagieren kann, dass Insellösungen eher vermieden bzw. mit ihren Besonderheiten anknüpffähig werden, sowie Anforderungen der disziplinenindizierten Grundlagenforschung (wie etwa mit dem Vitruvbeispiel) aufgefangen werden können.
In dieser Hinsicht wäre der Gedanke eines internationalen Digital Documentation Platform of Manuscript Collections überlegenswert (hier könnte dann Erik Kwakkel zum Beispiel nach allen digitalisierten, westeuropäischen Handschriften des 12. Jahrhunderts sammlungsübergreifend suchen, wie er es sich in seinem Wolfenbütteler Vortrag gewünscht hat). Sinnvoll wären in diesem Sinne auch grenzüberschreitende Zusammenschlüsse versierter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die als interdisziplinär aufgestelltes Gremium auch methodologisch-infrastrukturell operieren und das Verhältnis von Digitalisat und analoger Vorlage sowie das Verhältnis zwischen digitalisiertem historischem Objekt und Wissenschaftlern theoretisch ausloten (im Sinne kollaborativer Zusammenarbeit, ohne top-down-Vorgehen). Dabei wären Synergien mit anderen Initiativen zu digitalen Forschungsinfrastrukturen (etwa Nedimah, Dariah u. a.) und Census-Vorhaben zur mittelalterlichen Überlieferung auszuloten und anzustreben.
Auch die Erarbeitung eines Kriterienkatalogs oder “Qualitätssigels” zur wissenschaftlichen Bewertung der digital zur Verfügung stehenden Handschriften bzw. Sammlungen sollte überlegt werden, anhand dessen die Benutzerin auf der jeweiligen Homepage übersichtlich und transparent über das Datenmaterial und dessen Aufbereitung informiert wird, und ihr auch die Möglichkeit eines direkten Feedbacks gegeben wird (etwas was ich mir schon lange für das VD16 und VD17 zum Beispiel wünsche). Notwendig sind ferner die Entwicklung und Auslotung von konkreten Benutzerszenarien und Benutzerstudien, mit deren Hilfe dokumentiert werden kann, welche Anforderungen an Digitalisate sowohl disziplinenorientiert als auch in übergreifender Sicht gestellt werden können und müssen.
Und schließlich sollten Studierende und der wissenschaftliche Nachwuchs frühzeitig für die Gesamtproblematik der Digitalisierung, dem Umgang mit dieser sowie ihrer Konsequenzen sensibilisiert und entsprechend ausgebildet werden – dies nicht nur in den neuen Studiengängen der Digital Humanities, sondern allgemein in den Einzeldisziplinen im Sinne einer traditionellen Heuristik und Quellenkunde im Umgang mit digitalisiertem Kulturgut.
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Für die Diskussion über und Anregungen zu meinem Eingangsstatement danke ich den Tagungsteilnehmerinnen und Tagungsteilnehmern sowie Vera Hildenbrandt (Trier Center for Digital Humanities), Falko Klaes (Universität Trier, Ältere Deutsche Philologie) und Georg Schelbert (Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Kunstgeschichte).
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Literatur (Auswahl)
Claudine Moulin, Multiples vies paratextuelles: Vitruve, De Architectura, 2013 (abrufbar unter: http://annotatio.hypotheses.org/222)
Nicholas Negroponte, Being Digital, New York 1996
Ségolène Tarte, Interpreting Ancient Documents: Of Avatars, Uncertainty and Knowldege Creation, ESF exploratory workshop on Digital Palaeography, Würzburg, Germany, http://tinyurl.com/esfDPwkshp, Talk given on 22d July 2011(http://oxford.academia.edu/SegoleneTarte/Talks/49627/Interpreting_Ancient_Documents_Of_Avatars_Uncertainty_and_Knowldege_Creation)
Virtuelles Skirptorium St. Matthias: http://www.stmatthias.uni-trier.de/ (DFG-Projekt
ECodicology: Algorithmen zum automatischen Tagging mittelalterlicher Handschriften: http://www.digitalhumanities.tu-darmstadt.de/index.php?id=ecodicology (BMBF-Projekt)
Die digitale Bibliothek der mittelalterlichen Handschriften BVMM und andere Datenbanken des IRHT (Mittwochstipp 21)
Das Institut für Textforschung und Textgeschichte des CNRS (IRHT), das im Rahmen seiner Forschungsprogramme seit 1937 Reproduktionen mittelalterlicher Handschriften und früher Druckschriften sammelt, stellt auf seiner Website zahlreiche Datenbanken zur Verfügung, darunter auch zu griechischen, hebräischen oder syrischen Handschriften, zur … Continue reading →
aventinus varia Nr. 43 [26.11.2013]: Der Mensch hinter der Staatsphilosophie. Die Genese der staatsphilosophischen Vorstellungen bei Dante Alighieri [PerspektivRäume Jg. 2 (2011) Heft 1, S. 15-42]
Eine Beobachtung an der Carta Marina des Olaus Magnus
Die Carta Marina in einer späteren verkleinerten und kolorierten Fassung von 1572.
CC-BY James Ford Bell Library, University of Minnesota
Neben der Bayrischen Staatsbibliothek München besitzt die Universitätsbibliothek in Uppsala eines von heute noch zwei erhaltenen Exemplaren der Carta Marina von 1539 und stellt auf ihrer Homepage hochaufgelöste Scans bereit.
http://www.ub.uu.se/en/Collections/Map-collections/Section-for-Maps-and-Pictures-map-collection/Carta-Marina/
Die Kopfzeile unseres NordicHistoryBlogs ziert nicht ohne Grund ein Ausschnitt der Carta Marina. Diese 1539 in Venedig erstmals im Druck erschienene Karte zeigt eine Fülle an historischen, ethnografischen sowie phantastischen Details und dazu die erste geographisch annähernd korrekte Darstellung des europäischen Nordens.
Der Schöpfer dieser Karte Olaus Magnus musste seine Karte im italienischen Exil fertigstellen, wohin es ihn mit seinem Bruder Johannes aufgrund der Einführung der Reformation in Schweden 1527 verschlagen hatte. Beide Brüder waren wichtige schwedische Gelehrte, die sich um die Geschichtsschreibung ihrer Heimat verdient gemacht haben.
Geht es um die Vorstellungen, die man im 16. Jahrhundert vom Norden hatte, kommen wir an dieser Karte gar nicht vorbei – als Illustration für die Website des NordicHistoryBlogs verweist sie auf die mannigfaltigen Imaginationen über den Norden durch die Geschichte bis heute.
Ich möchte und kann an dieser Stelle nicht auf die Fülle an Details eingehen, die auf der Carta Marina zu finden sind – es wird im Folgenden nur um ein Detail gehen, das aber mehrfach auf der Karte erscheint.
Bestimmten Orten sind von der jeweiligen Seeseite her kleine Anker zugeordnet. Insgesamt finden sich 14, wovon drei auf dem Druckstock A an der Südküste Islands und die restlichen elf auf dem Druckstock H liegen – jeweils einer an der Nordspitze Dänemarks, bei Varberg, bei Lyckeby, vor Stockholm und bei Gotska Sandön sowie zwei bei Öland und vier um Gotland. Diese Verweise auf Ankerplätze oder schiffbare Naturhäfen sind so ausgewählt platziert, dass sie doch einige Kenntnisse über die jeweiligen geographischen Gegebenheiten vermuten lassen – Naturhäfen und Handelsplätze außerhalb großer Städte fanden sich in der Zeit viel mehr und gerade die südliche Ostseeküste zeigt nicht eines dieser Ankersymbole.
Ich möchte mich nun v.a. auf die vier Anker um Gotland konzentrieren und versuchen aufzuzeigen, wie Olaus Magnus auf die Orte gekommen sein könnte. Doch zunächst: Welche Landhäfen kann Olaus gemeint haben?
Gotland erscheint vergleichsweise kompakt auf der Carta Marina und in seiner eigentlichen Nord-Süd-Ausdehnung nicht sonderlich gut getroffen – auch wenn Olaus diese in der der Karte beigefügten Beschreibung (Ain kurze Avslegvng) hervorhebt: „Die Insel Gotland, die zum Gotenreich gehört, ist 18 Meilen lang und 8 Meilen breit.“i Die südliche Halbinsel Hoburgen lässt sich z.B. gar nicht erkennen und ist nur namentlich auf Gotland mit Hoborg bezeichnet.
Tryggve Siltberg hat die gotländischen Landhäfen in einem Aufsatz thematisiert und auf verschiedene Quellen des 16. und 17. Jahrhunderts verwiesen.ii So zählt Hans Nielsson Strelow in seiner Cronica Guthilandorum von 1633 die acht Häfen auf, in denen zu seiner Zeit Hafenvögte als Amtmänner des dänischen Statthalters auf Gotland tätig waren: Burgsvik, Fröjel, Västergarn, Hall, Bunge, Slite, Östergarn, När und erwähnt weiterhin auch Klinte. Diese acht Haupthäfen finden sich ebenso in den Lehnsrechnungen Gotlands ab 1601.iii In einem Bericht an die wendischen Städte von 1524 finden sich Angaben über Verteidigungsanlagen aus Holz in einigen Häfen Gotlands: Dies waren die sechs Häfen von Klinte, Burgsvik, Västergarn, Hoburg, Östergarn und Slite, womit die Bedeutung dieser Häfen schon in dieser Zeit angedeutet wurde.iv
Lässt sich dies nun mit der Carta Marina verbinden?
Eindeutig leider nicht, da Gotland recht schematisch dargestellt ist. Die Wiedergabe der Buchten und auch der beiden Gotland an der Westküste vorgelagerten Großen und Kleinen Karlsinsel lassen jedoch einige Mutmaßungen zu:
Der Anker in der großen Bucht südlich von Visby in der Nähe der Karlsinseln könnte auf Fröjel bzw. Klinte verweisen. Klintehamn ist heute noch ein wichtiger Hafenort auf der Insel; von Fröjel kann man dies nicht behaupten, aber in der Vikingerzeit befand sich hier einer der größten Häfen der Insel.v Der Anker an der Süd-Ost-Küste Gotlands könnte durch seine Nähe zur Bezeichnung Hoborg auf der Karte zu Burgsvik und der südlichen Halbinsel Hoburgen gehören. Der an der Westküste darüber liegende Anker ist wiederum nicht eindeutig zuzuordnen. Als wichtige Häfen aus obiger Aufzählung kommen När und/oder Östergarn in Frage. Der Anker an der Nord-Ost-Küste schließlich scheint über die Bezeichnung Vestragarn eindeutig als Västergarn identifizierbar. Dieses müsste aber natürlich eigentlich an der Westküste liegen, wo heute auch Västergarn nördlich von Klintehamn zu finden ist. Diese nordöstliche Bucht scheint besser zu den Häfen von Slite und/oder Bunge zu passen. Der hier zuerst beschriebene Anker an der Westküste könnte also neben Fröjel und Klinte auch noch Västergarn meinen.
So schematisch Gotland auf der Carta Marina auch erscheint, so läßt die Darstellung des Küstenverlaufs und die Platzierung der Anker doch partiell auf geografische Ortskenntnisse schließen, die Olaus Magnus wohl nicht aus eigener Anschauung gewonnen hat.
Die Gebrüder Magnus wurden beide in Linköping geboren – Johannes 1488 und Olaus 1490. Zum Stift Linköping gehörten damals auch die Inseln Öland und Gotland. Es ist nicht bekannt und wohl eher unwahrscheinlich, dass einer von beiden diese Inseln besucht hat. Olaus gewann seine Kenntnisse der schwedischen Landschaft v.a. durch eine Reise nach Nordschweden und Norwegen, um Ablassbriefe zu verkaufen.vi Daneben führten die Wege der beiden eher in den Süden – einerseits zum Studium an Universitäten im Heiligen Römischen Reich und Flandern und andererseits im Auftrag des schwedischen Reichsvorstehers Sten Sture des Jüngeren oder des späteren Königs Gustav Vasa nach Italien, die Niederlande und Polen.
Die religionspolitischen Veränderungen in Schweden nach 1527 hatten auch auf die Leben der Gebrüder Magnus Einfluss. Johann wurde 1523 zum letzten katholischen Erzbischof von Uppsala gewählt, konnte sein Amt jedoch nicht antreten, da er erst 1533 die päpstliche Bestätigung erhielt und zwischenzeitlich sein Bischofsstuhl durch Gustav Vasa anderweitig besetzt wurde. Olaus wurde 1523 Dompropst in Strängnäs. Zunächst erhielten die Brüder noch offizielle Aufträge von Gustav Vasa, die sie ins Ausland führten. Johannes begab sich 1526 nach Polen und sollte nie nach Schweden zurückkehren, ebenso wie Olaus, der schon seit 1524 außerhalb Schwedens tätig war.
Nach der Einführung der Reformation in Schweden fand sich eine kleine schwedisch-katholische Exilgemeinde in Danzig zu der die Brüder Magnus sowie die Bischöfe Magnus Haraldsson von Skara und Hans Brask von Linköping gehörten.
Gerade letztgenannter kommt als Informationsquelle bezüglich Gotland in Frage. Als Bischof von Linköping bestand eine seiner Aufgaben in regelmäßigen Visitationen in seiner Kirchenprovinz, wobei Gotland nur alle drei Jahre besucht werden sollte. Bei jeder Visitation sollte mindestens die Hälfte der Kirchen Gotlands aufgesucht werden, wodurch die Bischöfe auch einen Großteil der gotländischen Landschaft kennenlernen konnten. Nun hing die Umsetzung dieser Vorgabe stark von der jeweiligen Person des Bischofs sowie von den gerade vorherrschenden politischen Verhältnissen ab. Gotland war seit 1361 ein Streitpunkt zwischen Dänemark und Schweden, so dass die Bischöfe von Linköping sich z.T. auf politisch dünnes Eis begaben, wenn sie ihren Pflichten auf Gotland nachkommen wollten. Für Hans Brask trifft dies ebenso zu, jedoch war er sehr daran interessiert, auch politisch Einfluss auf die Wiedergewinnung Gotlands für Schweden zu nehmen.vii
Seine erste Reise führte Brask 1513, kurz nachdem er Bischof von Linköping wurde, nach Gotland. Neu auf die Agenda kam Gotland für den Bischof 1523/24 als Gustav Vasa einen Feldzug gegen den dänischen Lehnsmann Sören Norby auf Gotland plante und die Insel für Schweden zurückgewinnen wollte. Letztlich scheiterte die schwedische Unternehmung, da die Feste Visborg nicht einzunehmen war und man sich zwischen Dänemark und Schweden auf einen Schiedsspruch seitens Lübecks für das Jahr 1525 einigte. Letztmalig besuchte Hans Brask 1527 Gotland, kurz bevor auch er ins Exil nach Danzig ging.
In Danzig traf Brask nicht nur auf die Brüder Magnus – mit Johannes stand er schon seit Jahren in Briefkontakt – sondern auch auf eine sehr lebhafte humanistisch geprägte Kartografenszene.viii Auch Brask hatte Interesse an der Kartografie und stellte 1533 eine Karte des nördlichen Bereichs der Ostsee fertig, die jedoch aufgrund seiner fehlenden mathematischen und kartografischen Ausbildung ihren kulturhistorischen Wert v.a. in der Darstellung des schwedischen Königreichs und von Handelsrouten in der Ostsee zeigt.ix
Auch wenn es nicht mit Sicherheit zu sagen ist, so liegt es doch nahe, dass Hans Brask als Vermittler des Wissens um Naturhäfen und Ankerplätze bei Gotland und Öland an Olaus Magnus anzunehmen ist – 1525 unternahm Brask auch eine Visitationsreise nach Öland. Eventuell war er nicht die einzige Quelle, da Olaus und Johannes Magnus auf ihren Reisen in Kontakt mit vielen Schiffsleuten gekommen sein dürften – aber zumindest könnte er als versierter Gesprächspartner, der die karthografischen Neuerungen seiner Zeit kannte und verfolgte, doch wichtige Anregungen gegeben haben.
i Balzamo, Elena/Kaiser, Reinhard (Hgg.): Olaus Magnus – Die Wunder des Nordens. Frankfurt a.M. 2006, S. 77.
ii Siltberg, Tryggve: Lanthamnar på Gotland och hamnordningar i Sverige, Danmark och på Gotland, in: Stobaeus, Per: Kust och kyrka på Gotland. Historiska uppsatser. Värnamo 2010, S. 299-364. Englisch auch ders: Country Harbours on Gotland and Harbour Statutes (hamnordningar) in Sweden, Denmark and on Gotland, in: Auns, Muntis (Hg.): Lübeck style? Novgorod style? Baltic Rim Central Places as Arenas for Cultural Encounters and Urbanisation 1100-1400 AD. Riga 2001, S. 109-152.
iii Vgl. ebd. S. 301.
iv Vgl. HR II, 8, Nr. 692, Anm 1 S. 599f.
v Siltberg 2010, S. 327.
vi Vgl. Ehrensvärd, Ulla: Nordiska Kartans Historia. Från Myter till Verkligheten. Helsingfors 2006, S. 57.
vii Vgl. allg. Stobaeus, Per: Biskop Hans Brask och Gotland, in: Ders (Hg.): Kust och kyrka på Gotland. Historiska uppsatser. Värnamo 2010, S. 133-172.
viii Vgl. Ehrensvärd 2006, S. 58.
ix Vgl. ebd. S. 56.