Üç maymun Eylemleri – Drei Affen-Demonstrationen

Heute abend haben hunderte Teilnehmer/innen des Park-Forums im Istanbuler Stadtteil Beşiktaş ihr Forum unterbrochen, um zum Gebäude des Medienkonzerns ATV-Sabah zu ziehen. Sie haben dort eine sog. “üç maymun” [3 Affen]-Demo abgehalten mit Slogans wie: “Ich sehe nichts, höre nichts, weiß von nichts” (“Görmedim, duymadım, bilmiyorum”) sowie “Takvim, mach doch mal uns zur Nachricht!” (“Takvim bizi haber yapsana”).

3 Affen-Demo vor dem Gebäude des Medienkonzerns ATV/Sabah in Istanbul, 26.6.2013

3 Affen-Demo vor dem Gebäude des Medienkonzerns ATV/Sabah in Istanbul, 26.6.2013  Q:http://www.gazetecileronline.com/newsdetails/10442-/GazetecilerOnline/iktidar-medyasina-uc-maymun-protestosu

Die zum ATV/Sabah-Konzern gehörige Tageszeitung Takvim hatte in ihrer Ausgabe vom 26.6.2013 berichtet, die Protestierenden des Gezi Parks hätten Polizisten fast zu Tode geprügelt, und Ethem Sarısülük – das von einem Polizisten erschossene Opfer – wäre Teil einer Provokateurs-Gruppe gewesen, welche die türkische Flagge verbrannt habe [zum Kampf um und mit dem Symbol der türkischen Flagge will bei anderer Gelegenheit noch geschrieben werden]. Die Website der Zeitung zeigt zudem ein 5minütiges Video, auf dem Ethem inmitten einer Gruppe von Chaoten zu sehen sein soll – im Video jeweils mit einem roten Pfeil markiert.

Der Zeitungsbericht ist Teil einer seit Beginn der Parkbesetzung laufenden großen Propaganda-Maschinerie der Kriminalisierung, die ihren Anfang mit Recep Tayip Erdoğans (RTE) Beschimpfung der Demonstrant/innen als Çapulcu machte – welche sich die Demonstrant/innen aber sogleich aneigneten: Der im Gezi Park als Kollektiv gegründete Internet-TV-Sender www.capul.tv begrüßt seine vielen Interviewgäste grundsätzlich und liebevoll mit “Wie geht es Dir, Çapulcu? Was hast Du uns zu sagen?” Als Neologismus – “Everyday I’m çapuling” – hat der Begriff schon international die Runde gemacht, Wikipedia führt unter “Chapulling (Turkish: çapuling)” bereits einen Eintrag incl. Debatte.

Zum Arsenal der Staats- bzw. Regierungs-Medienoffensive gehört seit neuestem auch ein von der Regierungspartei AKP (Tanıtım ve Medya Başkanlığı=Öffentlichkeits- und Mediendirektion) produzierter 28minütiger Film, der auf CD und von der Jugendbewegung der AKP via Youtube verteilt wird. Der Titel des Propagandafilmchens, das auf unerträgliche Weise alle diffamierenden und verschwörungstheoretischen Argumente der letzten Wochen zusammenfasst, lautet: “Ein großes Schauspiel! Sieh das wahre Gesicht der Ereignisse um Gezi, meine Türkei!” (“Büyük Oyun! Gezi olaylarının gerçek yüzünü gör Türkiyem!”)

Auf unterschiedlichen Wegen versuchen die Çapulcu die Diffamierungen durch Regierung und ‘gleichgeschaltete’ Medien auszuhebeln. In diesem Kampf um und mit Medien praktizieren sie verschiedenste Taktiken: Alternativmedien, (Über)Affirmation, Ironie, Proteste vor Medienkonzernen (schon ganz am Anfang hatte es bei CNN Türk eine Protestkundgebung gegen die Nicht-Berichterstattung von den Protesten gegeben) u.a., wovon ich in den nächsten Wochen noch berichten werde.

Vom Tempo in und mit Alternativmedien zu operieren zeugt auch, dass es innerhalb von zweieinhalb Stunden nach der Demo vor dem ATV-Gebäude ein erstes Video gibt, eingebunden in einen je nach Bedarf aktivierten Liveticker bei der Online-Plattform sendika.org [http://www.sendika.org/2013/06/besiktas-halki-ethem-sarisuluk-hakkinda-yayimlanan-yalan-haber-icin-atv-sabah-binasini-basti/]

“Üc maymun” eylemi 26.6.2013

Während der Begriff  “’3 maymun’ eylemi” schon selbstverständlich verwendet wird, werden die Formen der 3 Affen-Demo noch eingeübt:-) Am Ende des Videos wird skandiert: “Wir wollen keine parteiischen Medien!” ["Yandaş medya istemiyoruz"] – auch dies ein taktischer Zug: unparteiische Medien zu fordern. Die Menge, die ihr Forum/Park-Parlament für die Demo unterbrochen hatte, begibt sich danach wieder in den Abbasağa Park. Auf dem Rückweg wird sie von solidarisch hupenden Autos und töpfeschlagenden Nachbarn gegrüßt.

Währenddessen finden in der Regierungshauptstadt Ankara wieder massive Einsätze der Polizei gegen Demonstrierende statt. Zu verfolgen u.a. am in mehrere Sprachen übersetzten Liveticker gezipark.nadir.org.

Anm.:
- Park-Foren/Park-Parlamente: die seit Vertreibung vom Taksim-Platz allabendlich stattfindenden dezentralen Diskussionsrunden in den Parks Istanbuls
- sendika.org ist eine der wichtigsten alternativen Informations-Plattformen der Bewegung und hat in den ersten Tagen neben Berichten einen Liveticker mit aktuellsten Demo-Infos eingerichtet, der inzwischen je nach Bedarf betrieben wird. Hier finden sich auch Protokolle von den Treffen der Park-Parlamente, Presserklärungen der Taksim-Plattform, veröffentlicht werden auch Erklärungen der Anwaltsvereinigungen, der Ärztekammer, der Gewerkschaften usw. Einzelne Artikel werden ins Englische übersetzt.
- gezipark.nadir.org – Plattform mit kollektiv erstellten Übersetzungen des Livetickers von sendika.org in 9 Sprachen.

Quelle: http://mediares.hypotheses.org/156

Weiterlesen

Stellenangebot wiss. Redakteur(in) am IEG

Am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG) in Mainz ist im Projekt

»EGO | Europäische Geschichte Online« eine Stelle als

Wissenschaftliche(r) Redakteur(in) (50 %, TV-L 13)

vom 01.09.2013 bis zum 28.02.2015 befristet zu besetzen. Die Stelle kann ggf. auch als Vollzeitstelle für die Dauer von 9 Monaten (01.09.2013–31.05.2014) besetzt werden.

Stellenprofil

Das IEG ist ein außeruniversitäres Forschungsinstitut (http://www.ieg-mainz.de) und Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft. Es betreibt Forschungen zu den historischen Grundlagen des modernen Europa und unterhält ein internationales Stipendienprogramm. In dem durch die DFG geförderten Projekt »EGO | Europäische Geschichte Online« wird eine zweisprachige transkulturelle Geschichte Europas der Neuzeit im Internet in internationaler und interdisziplinärer Zusammenarbeit aufgebaut (http://www.ieg-ego.eu).

Die Stelleninhaberin/der Stelleninhaber soll die Online-Redaktion in Mainz in der Endphase des DFG-Projekts übernehmen. Er/sie koordiniert und organisiert das Review- und Publikationsverfahren mit Autoren, Fachherausgebern und Übersetzern. Das Tätigkeitsfeld umfasst vor allem die Redaktion wissenschaftlicher Texte in deutscher und englischer Sprache, die Evaluation und Einbindung wissenschaftlicher Internetressourcen sowie die Rechteermittlung und -klärung.

Einstellungsvoraussetzungen

  • Erfolgreich abgeschlossenes Studium in einer historisch arbeitenden Wissenschaft (z.B. mit Schwerpunkt in der Kirchen- und Theologiegeschichte, Literaturgeschichte, Kunstgeschichte, Philosophiegeschichte)
  • Einschlägige Berufserfahrung im Verlags- und Publikationswesen
  • Erfahrung mit digitalen Redaktions- bzw. Content-Management-Systemen
  • Exzellente Englisch-Kenntnisse
  • Aufgeschlossenheit für interdisziplinäres Arbeiten
  • Interesse an vergleichenden, transnationalen und transfergeschichtlichen Ansätzen
  • Ausgeprägte kommunikative Fähigkeiten

Die Bewerbung von Frauen ist besonders erwünscht. Schwerbehinderte werden bei gleicher Eignung bevorzugt berücksichtigt. Für Fragen steht Ihnen der Projektkoordinator Dr. Joachim Berger zur Verfügung (berger@ieg-mainz.de).

Bewerbungen mit den üblichen Unterlagen richten Sie bitte unter Angabe der Kenn.-Nr. IEG-EGO-2013 bis zum 11.07.2013 an das Leibniz-Institut für Europäische Geschichte, Verwaltung, Alte Universitätsstraße 19, 55116 Mainz, und zwar a) auf dem Postweg sowie b) per E-Mail (seibel@ieg-mainz.de, alle Unterlagen in einem PDF zusammenfassen).

Bewerbungsunterlagen können nur dann zurückgesandt werden, wenn ein adressierter und ausreichend frankierter Rückumschlag beiliegt.

Vorstellungsgespräche finden voraussichtlich am 19. Juli 2013 statt.

↗ PDF-Version der Ausschreibung

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=1881

Weiterlesen

Workshops zum Wissenschaftlichen Bloggen am WZB (Berlin) und ZZF (Potsdam)

Sascha Foerster, CC-BY 3.0 DE

Sascha Foerster, CC-BY 3.0 DE

Mareike König (DHI Paris) und ich (Sascha Foerster, Max Weber Stiftung) haben in Berlin und Potsdam zwei Workshops zu wissenschaftlichem Bloggen geleitet. Am 24. Juni 2013 sind wir beim Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) im Rahmen des College for Interdisciplinary Educational Research (CIDER) gewesen. Am 25. Juni 2013 sind wir für einen weiteren Workshop beim Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) in Potsdam gewesen, bei dem auch das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung beteiligt war.

Dort haben wir die Blogplattform de.hypotheses.org vorgestellt, übers Bloggen im Allgemeinen und wissenschaftliches Bloggen im Speziellen gesprochen, über die Sozialen Medien kommuniziert und vor allem Bloggen mit WordPress geübt, vom Einrichten eines Blogs bis zur Veröffentlichung des ersten Artikels. Davor führte Mareike viele Interessierte der Berliner Wissenschafts-Community mit einem Vortrag ins Thema ein, stellte verschiedene Wissenschafts-Blogs vor, sprach über Sinn und Zweck des Bloggens in der Wissenschaft und beantwortete die zahlreichen Fragen. Mareike Königs Präsentation befindet sich zum Nachschauen bei Slideshare!

Dies waren meine ersten beiden Workshops zum wissenschaftlichen Bloggen, die ich begleitet habe. All diese ehrwürdigen Institutionen mit ihren klingenden Namen sind mir im Laufe meines Studiums bereits begegnet. Aber nun die Menschen vor Ort zu treffen, ist doch immer etwas Besonderes. Das Interesse unter den Wissenschaftler für die Veränderungen, die durch das Internet entstehen, wächst und mir scheint es, als würden sich auch im Wissenschaftssystem bald einige Dinge verändern.

Der Vortrag von Paul Stoop hat mir in dieser Hinsicht aus der Seele gesprochen. Er sprach als ehemaliger Journalist und jetziger Leiter des Informations- und Kommunikationsreferats des WZB über die Erfahrungen der Journalisten und Zeitungs-, bzw. Zeitschriftenverlage, die die digitalen Veränderungen oft schmerzhaft erlebt haben. Die Wissenschaftswelt ist in dieser Hinsicht noch relativ lange unberührt geblieben, aber auch dort deuten sich die Verschiebungen immer deutlicher an.

Bei den Fragen der Teilnehmer und Zuhörer (wobei mehr Frauen als Männer anwesend waren) merkte man immer wieder, dass zuerst auf die Risiken geschaut wird, und wir als Referenten daraufhin auf  die Vorteile des Bloggens hinweisen. Ich möchte mal ein paar klassische Fragen nennen (und verkürzte Antworten geben):

  • Wieviel Zeit nehmen das Bloggen und die sozialen Medien in Anspruch? (So wenig und viel, wie man selbst möchte. Es gibt keinen Publikationszwang.)
  • Darf ich (Teil-)Ergebnisse, die ich in Blogs schon veröffentlich habe, nochmal in einer Zeitschrift/Dissertation/… veröffentlichen? (Das kommt auf die Promotionsordnung/Zeitschriften an. Noch gibt es  keine klaren Antworten. Im Prinzip aber ja, weil die Schreibform eines Blogs ganz anders ist.)
  • Was passiert, wenn ich wissenschaftlich zu einem Thema blogge, dass in der Öffentlichkeit sehr umstritten ist? (Dann ist es auch ein wichtiges Thema, zu dem Wissenschaft Stellung beziehen sollte. Vielleicht als Institution und nicht als Privatperson dazu bloggen?…)
  • Oder auch: Wie gewinne ich überhaupt eine Leserschaft? (Selbst lesen, kommentieren, vernetzen, Themen aufgreifen: Web 2.0! Es gibt keine einseitig angesprochenen “Ziel”gruppen mehr. Wechselseitige Kommunikation auf Augenhöhe ist angesagt!)
  • Und die wichtigste aller Fragen war für uns: Sagt man “das” oder “der” Blog? (Mareike leitet “das” her, ich sage trotzdem immer intuitiv “der”. So diskutierten wir mit den Zuhörern, teils ging die Diskussion bei Twitter weiter. Bloggen muss vor allem eben auch Spaß machen! Das oder der ist dann auch egal.)

CIDER WorkshopDazu kommt, dass sehr viele digital-technische Begriffe, Dienstleitstungen, etc. nicht oder kaum bekannt sind: OpenAccess, CreativeCommons, FlattR, FlickR, Google+, ja manchmal muss man auch noch Facebook und Twitter erklären. Aber dabei sind wir nicht lange stehen geblieben. Ich habe versucht recht schnell weg von der Theorie, mitten hinein in die Praxis des Selberpublizierens in einem Blog zu überführen.

In den Praxisteilen dürften sich Studenten, Nachwuchswissenschaftler und PostDocs munter an Ihre Weiterbildungs-Blogs bei de.hypotheses.org ausprobieren. Wie ändert man das Design des Blogs? Wie erstellt man einen Artikel? Wie binde ich ein Bild ein (nebst Exkurs zum Urheberrecht und CC-Lizenzen)? Es gab viele Fragen und viele Antworten! (Viele weitere Antworten finden sich bei uns im Bloghaus)

Am Ende des Tages hatten alle ihren ersten Blogpost erstellt und mit WordPress erste Erfahrungen gesammelt oder vertieft. Viele haben sich auch schon das Anmeldeformular für einen Blog bei de.hypotheses.org genauer angeschaut und ich freue mich über jede Neuanmeldung, die nach diesen Workshops folgt.

Besonders glücklich war ich, wenn in den Vorträgen, nach mehrmaliger Aufforderung zu Twittern, dann doch einige begeistert dabei waren und viele Köpfe nun munter auf Ihre Smartphones schauten um nebenher zu kommentieren und nachzufragen und die Links abzuspeichern, die wir während Mareike Königs Vortrag und danach per Tweet ausgetauscht haben. (Die Hashtags bei Twitter, hier verlinkt zum Nachlesen, waren #wzbhypo und #zzfhypo).

Meine wichtigste Erfahrung war aber eine andere. Beim Workshop am WZB haben die Teilnehmer bereits Beiträge für Ihren Blog vorbereitet. Am Ende des Tages habe ich mir diese Beiträge durchgelesen und die Blogs genauer angeschaut. Ich kann zu jedem einzelnen Teilnehmer nur sagen: Eröffnet einen Blog damit ich und, noch viel wichtiger, die Community endlich Eure tollen Beiträge lesen kann (und nicht erst, wenn Ihr fertig mit dem Forschen seid und dei Ergebnisse als Artikel oder Buch publiziert)! Die Texte, die Ihr schreibt, verdienen es von Menschen gelesen zu werden, die das Thema interessiert, die sich weiterbilden wollen, die Gleichgesinnte suchen und mit Euch kooperieren wollen. Wenn Ihr bloggt, habt Ihr tatsächlich die Chance diese Menschen zu erreichen! Und dafür müsst Ihr nicht zwei Jahre warten. Ihr könnt in einem Blog selbst und sofort veröffentlichen und Rückmeldung bekommen.

In diesem Sinne: Ich freue mich schon auf die vielen tollen neuen Blogs und die fantastischen Inhalte, die die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bald veröffentlichen werden. Sei es bei de.hypotheses.org oder in der weiten Prärie des alten und neuen Internetlands!

 

Weitere Blogartikel und Links zum Workshop:

http://www.culturalsourcesofnewness.net/articles/zehn-gute-grunde-ofter-mal-zu-schreiben/

http://neuspreeland.wordpress.com/2013/06/25/wissenschaftsblogs-keine-modeerscheinung/

http://irblog.eu/social-media-for-academics/

 

Text und Bilder von Sascha Foerster, CC-BY 3.0 DE

 

Quelle: http://redaktionsblog.hypotheses.org/1410

Weiterlesen

Vier Schätze des Studierzimmers (IV)

Sobald die Tusche auf dem Reibstein angerieben worden ist, konnte und kann man zum Pinsel greifen. Durch ihre Bedeutung für Malerei und Kalligraphie stellen Tusche und Pinsel “vielleicht sogar das prägnanteste Ausdrucksmittel”[1] der chinesischen Kunst dar. In der Phrase bi mo zhi yan 筆墨紙硯 (d.i. Pinsel, Tusche, Papier, Reibstein), die für die wichtigsten Utensilien des Kalligraphen steht, wird der Pinsel gar an erster Stelle genannt.

Während die Legende dem Qin-General Meng Tian 蒙恬 (ausgehendes 3. Jh.v.Chr.) die Erfindung des Pinsels zuschreibt, ist jedoch davon auszugehen, dass der Pinsel schon viel früher Verwendung gefunden hatte, spätestens nachdem man dazu übergegangen war, Texte auf Bambus und Seide zu schreiben. [2]

Bei der Herstellung des Pinsels werden Tierhaare (von Hirsch, Ziege, Hase, Fuchs und Wolf) oder Vogelfedern verwendet.[3]. Stand das Zeichen bi 筆 früher ausschließlich für Pinsel, so bezeichnet es (mit entsprechenden Zusätzen) heute alle Schreibgeräte.

Die Bedeutung des Pinsels für Literatur und Kultur fand nicht zuletzt in frühen Klassifikationen chinesischer Literatur ihren Niederschlag. In seinem Wenxin diaolong 文心彫龍 (“Literarische Gesinnung und das Schnitzen von Drachen”), in dem er die literarischen Werke in 34 Kategorien einteilte, ordnete Liu Xie 劉勰 Prosawerke unter die Rubrik bi 筆 ein, während er die Dichtung in der Rubrik wen 文 – zu wen vgl. Annäherungen zum Kulturbegriff im Chinesischen – auflistete.[4]. Diese Unterscheidung, die also Ende des 5./Anfang des 6. Jahrhunderts verbreitet gewesen zu sein scheint, wird später auch bei dem japanischen Mönch Kūkai (774-835) erwähnt:

“In der Art, Texte zu schreiben, gibt es nur bi und wen. Wen umfaßt Gedichte, Rhapsodien, Inschriften, Preisungen, Ermahnungen, Würdigungen, Klagelieder und dergleichen mehr; bi umfasst Erlasse, Pläne, Throneingaben, Stellungnahmen, Briefe, Berichte usw. Oder um es direkt zu sagen: was sich reimt, ist wen, und was sich nicht reimt, ist bi.”[5]

Die Homophonie von bi 筆 (Pinsel) und bi 必 (sicher, sicherlich) fand etwa in der chinesischen Symbolik ihren Niederschlag. Ist der Pinsel durch die Nabe eines Rades gesteckt, bedeutet dies “er wird sicher treffen” (hier machte man sich die Bedeutungen von zhong 中 (einerseits “Mitte”, andererseits “ein Ziel treffen”) zunutze. Diese Anspielung soll den Wunsch zum Ausdruck bringen, dass ein Kandidat bei den Beamtenprüfungen, die erst eine Karriere als Gelehrten-Beamter ermöglichten, bestehen möge/werde. [6]

 

  1. Thomas O. Höllmann: Das alte China. Eine Kulturgeschichte (München 2008) 221.
  2. Vgl. Helwig Schmidt-Glintzer: Geschichte  der chinesischen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart (München, 2. Aufl., 1999) 84.
  3. Eine nützliche Übersicht über die Herstellung und die einzelnen Teile des Pinsels sowie über die verschiedenen Formen von Pinselspitzen in Grove Art Online: China § XIII,4 Brushes sowie Asia-Art.net: Chinese Brush-Painting.
  4. Vgl. Grand Dictionnaire Ricci de la lange chinoise, Bd. IV, S. 987 (Nr. 8813. Zum Wenxin diaolong vgl. chinaknowledge.de: Wenxin diaolong.
  5. Zitiert nach Schmidt-Glintzer: Geschichte der chinesischen Literatur, 251
  6. Vgl. Wolfram Eberhard: Lexikon chinesischer Symbole. Die Bildsprache der Chinesen (München, 5. Aufl., 1996) 230 (‘Pinsel’), Patricia Bjaaland Welch: Chinese Art. A Guide to Motifs and Visual Imagery (Singapore 2008) 264 (‘Writing Instruments’).

Quelle: http://wenhua.hypotheses.org/558

Weiterlesen

Intersexualität und Normalität: Strukturen eines Verhältnisses am Beispiel des Deutschen Ethikrates – Von Markus Kluge

Seit der Antike werden intersexuelle Menschen und vor allem Kinder, die aufgrund ihrer körperlichen Merkmale nicht eindeutig als Frau oder Mann einzuordnen sind, operativen Eingriffen verschiedenster Art mit der Absicht, diese Kategorisierbarkeit herzustellen (vgl. Klöppel 2010 insbes. Teil I; Voß … Weiterlesen

Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/5102

Weiterlesen

1000 Bücher – Eine Wand voll und doch nur ein Anfang

In der Salzburger Priesterhausbibliothek, die Teil der Diözesanbibliothek (DBS) und damit Teil des Archivs der Erzdiözese Salzburg (AES) ist findet ein voraussichtlich mehrjähriges Projekt zur Sichtung, Reinigung, Konservierung, Neuaufstellung und Katalogisierung der Bestände des 18. Jahrhunderts statt. Dabei wurde nun das tausendste Exemplar fertig bearbeitet. Wie groß der Bestand aus dem 18. Jahrhundert tatsächlich ist, lässt sich nur schwer abschätzen.

Im neu dazugewonnenen Raum werden die Bücher des 18. Jhs. aufgestellt

Im neu dazugewonnenen Raum werden die Bücher des 18. Jhs. aufgestellt

Die Geschichte der Priesterhausbibliothek lässt ab der Gründungszeit des Priesterseminars unter Fürsterzbischof Wolf-Dietrich von Raitenau im ausgehenden 16., bzw. beginnenden 17. Jahrhundert verfolgen. Als Bibliothek, die der umfassenden Bildung der Salzburger Priesterseminaristen dienen sollte, erfuhr und erfährt sie immer noch durch Schenkungen verschiedenster Persönlichkeiten große Zuwächse. Mehrere Umstellungen im Laufe der Jahrhunderte, besonders in den Wirren des 2. Weltkrieges brachten die Bestände etwas durcheinander und machten eine Neuaufstellung und Katalogisierung in den 40er und 50er Jahren notwendig. Diese geschah innerhalb weniger Jahre durch Dr. Schliessleder. Auf ca. 65.000 Katalogkarten wurde eine Autorenkatalog erstellt, parallel dazu ein Sachkatalog. Aufgrund der kurzen Entstehungszeit und der schwierigen Umstände nach dem 2. Weltkrieg ist der Katalog nicht sehr genau. Einige spätere Buchabgaben hinterließen auch Lücken im Buchbestand, einige Bücher dürften auch ohne Wissen und Wollen der Bibliothekare verschwunden sein. Seit der Erstellung dieses Katalogs hat sich der Bestand außerdem durch Schenkungen auf wenigstens 120.000 Bände erhöht.

Die starke Staubbelastung, die schwer zu kontrollierenden klimatischen Verhältnisse und die mangelhafte Katalogisierung in der Priesterhausbibliothek wurden schließlich zum Anlass verschiedener Projekte um die Zustände zu verbessern: So wurden seit der Neuerrichtung des Archivgebäudes des AES alle Buchbestände vor dem Jahr 1701 und alle Handschriften (neuzeitliche wie mittelalterliche) in die dortigen gekühlten Magazine verbracht. Diese sind auch schon vollständig katalogisiert und damit der Wissenschaft zugänglich. Für die Buchbestände des 18. Jahrhunderts war vor allem aus Platzgründen keine derartige Lösung möglich. Während es sich beispielsweise bei den Beständen des 17. Jahrhunderts um ca. 2000 Bände handelt, kann bei den Beständen des 18. Jahrhunderts etwa die fünf- bis zehnfache Menge vermutet werden.

Die Bücher des 18. Jhs. werden aus der bisherigen Aufstellung herausgezogen

Die Bücher des 18. Jhs. werden aus der bisherigen Aufstellung herausgezogen

Die Bücher des 18. Jahrhunderts in der Priesterhausbibliothek werden nun aus dem übrigen Bestand herausgezogen, gereinigt, von Auflösungserscheinungen betroffene Einbände werden mit Klucel-G fixiert und in einem Raum, dessen Klima etwas besser kontrollierbar ist, neu aufgestellt. Um diesen Raum (und einen schönen neuen Benutzersaal) wurde die Priesterhausbibliothek bei den jüngsten Umbauten im vergangenen Jahr erweitert. Sind die Bücher dort aufgestellt, werden sie nach und nach katalogisiert. Bei diesen Katalogisierungsarbeiten wurde nun das tausendste Exemplar angelegt – was auch den Anlass zu diesem Artikel bietet.

Ein nicht unerheblicher Teil dieser neu katalogisierten stammt aus dem weiten Themenfeld der Moraltheologie, da mit den Arbeiten an einer Stelle der Bibliothek begonnen wurde, an der Bücher zu diesem Thema etwas verdichtet aufgestellt waren. Beispielsweise in mehreren Auflagen vorhanden sind die moraltheologischen Werke von Paul-Gabriel Antoine. Bibelkommentarwerke von Augustine Calmet, Jacobus Tirinus und Cornelius a Lapide wurden ebenfalls bearbeitet. Bemerkenswert ist eine Sammlung von aufklärerischen Bildungsromanen, die ein gewisser Johannes Chrysostomus Antonius Gschwentner von Adel der Priesterhausbibliothek hinterlassen hat. Auf der Innenseite des Vorderdeckels ist in jedem Band aus dieser Sammlung ein Portrait einer bedeutenden Persönlichkeit des 18. Jahrhunderts eingeklebt – vielleicht um die Gesichter kennenzulernen und zu studieren. Außerdem finden sich noch Textausgaben und Kommentarwerke zu verschiedenen Kirchenvätern, darunter besonders Johannes Chrysostomus, Minucius Felix und Basilius der Große. Aber auch lateinische Klassiker sind vorhanden, so beispielsweise eine Ausgabe des Geschichtswerkes von Livius.

Unter dieser Absauganlage werden in der Priesterhausbibliothek die Bücher gereinigt

Unter dieser Absauganlage werden in der Priesterhausbibliothek die Bücher gereinigt

Der Katalog der Diözesanbibliothek ist leider noch nicht online zugänglich, aber es wird daran gearbeitet dies – eventuell in Kooperation mit anderen kirchlichen Bibliotheken Österreichs – zu verbessern. Der alte Zettelkatalog der Priesterhausbibliothek ist bereits hier einsehbar.

Mit Klucel-G werden vor allem die dunkleren Ledereinbände behandelt, die sich bei jeder Berührung Stück für Stück auflösen

Mit Klucel-G werden vor allem die dunkleren Ledereinbände behandelt, die sich bei jeder Berührung Stück für Stück auflösen

Quelle: http://aes.hypotheses.org/165

Weiterlesen

Avertissement des Brünner Lecturkabinets von Jacob Bianchi, 1773

Nachricht.
Man macht sich das Vergnügen, die Errichtung eines Lecturkabinets, dem lesenden Publicum bekannt zu machen.
Die Absicht der Errichtung dieses Kabinets bestehet, allen Arten von Lesern Gelegenheit zu verschaffen, nach ihrer eigenen Wahl aus einer Sammlung von unterhaltenden und lehrreichen Schriften ihrer Wißbegierde auf eine bequeme und wohlfeile Art ein Genüge zu leisten.
Der Umfang, den theils die auf so vielfache Art in Gang gebrachte Erfindsamkeit, theils das Bestreben, Erfindungen und Entdeckungen gemeinnützig bekannt zu machen, theils die wirkliche Mannigfaltigkeit der Verbindungen, die Theile der Wissenschaften mit einander verknüpfen, deren jeder seine eigene Bearbeitung fodert und findet, und tausend andere bekannte und unbekannte Ursachen den menschlichen Känntnissen gegeben haben, erfordern von einem Manne, der ihn nicht ganz, sondern nur nach einigen Theilen einigermassen übersehen will, eine so ausgebreitete Bibliotheck, daß nur wenige Privatpersonen sich damit versehen können.
Das Kabinet hat daher zur Beförderung dieser Absichten zum Behufe der oben genannten Leser bereits eine Sammlung.
1) Von den berühmtesten periodischen Schriften und Journalen der Ausländer und Deutschen, die gemeinnützigen praktischen Wissenschaften, Oeconomie, Agricultur, Naturgeschichte, Chymie, u.s.w. betreffend, zu machen angefangen; womit zugleich 2) Einen Vorrath von ausführlichen, in diese Wissenschaften einschlagenden Werken verbindet. Eben so hat es zum Behufe der Liebhaber der schönen Litteratur, nicht nur eine beträchtliche Anzahl der besten ausländischen und deutschen Werken des Genies und Witzes zu sammeln angefangen, wo die Liebhaber der Dichtkunst, des Theaters, der Geschichte, der Reisebeschreibungen, Romanen, u.s.w. Stoff zur Unterhaltung und Abwechslung finden; sondern man hat auch eine Anzahl der besten Französischen und Deutschen Journale und gelehrten Zeitungen bestellt, welche von den Pränumeranten mit Bequemlichkeit gelesen werden können, und welche die Liebhaber in den Stand setzen werden, den ganzen Zustand der neuesten Litteratur zu übersehen. Von allen diesen Büchern und Journalen wird ein Catalogus an die Pränumeranten abgegeben werden.
Die nähere Bedingnisse, unter welchen man diese Bücher und Journalen wird lesen können, werden dem Catalogo vorgesetzt werden.
Dieses Lecturkabinet wird allhier den 15 Januarii 1774 eröffnet werden.
Anmerkungen. Diejenigen, welche Journale, Zeitungen, Bücher oder Wörterbücher zu Hause zu lesen verlangen, bezahlen für das ganze Jahr 12 fl. Andere, die nur halbjährig, vierteljährig oder Monatweis pränumeriren, können ebenfalls Bücher nacher Hause bekommen; Journale, Zeitungen und Wörterbücher aber müssen sie in dem Lecturkabinet lesen. Man wird auch der geringern Classe der Lesern, Bücher täglich zu lesen geben, wofür sie, nach Verhältniß des Werkes 1 oder etliche Kr. für den Tag zu bezahlen haben.
Die Pränumeration wird von heute an in dem Lecturkabinet angenommen; man bittet auch sich beyzeiten zu melden, damit man seine Einrichtung wegen der Journals und Zeitungen desto besser machen kann.
Von politischen und gelehrten Zeitungen werden zum Lesen zu bekommen seyn:
Gazette de Leiden. - - de Cologne. Erlanger. Das Wiener Diarium. Die Brünner. Die Wienerische Realzeitung.
Auch verkauft man in selbem allerley Sorten gebundener Bücher um einen sehr billigen Preiß.
Ingleichen von allerhand mathematischen Instrumenten, Perspective und Augengläser.
Das Lecturkabinet ist in dem Freyherrlich Waldorfischen Haus auf dem Getreidmarkt N.ro 436.


Wochentlicher Intelligenz-zetl aus dem Fragamte der Kaiser-Königl. privilegirten Lehen-Bank zu Brünn in Mähren, 16.12.1773, Nr.50, unpaginiert.

-Diese Publikation - Vorgänger der "Brünner Zeitung" - wird zur Zeit an der MZK digitalisiert, einen Vorgeschmack gibt es hier: http://krameriusndktest.mzk.cz/search/i.jsp?pid=uuid:73ad3060-7699-11e2-86a5-005056827e52

Der im Avertissement genannte Catalogus erschien tatsächlich 1774:

Plan des K.K.privilegirten Lecturkabinets in Brünn. Plan d'un Cabinet de Lecture privilegié a Brün. Brünn: Swobodische Schriften, 1774.
Muzeum Brnenska, Benediktu v Rajhrade: R III a. 4098, c.43
-Dank des Brünner Museums verfüge ich über ein Digitalisat dieses etwas entlegenen Werks.

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/434212007/

Weiterlesen

Gründungsmythen der Architektur – der Grundriss als kulturelle Metapher

Der Grundriss ist die archetypische Darstellungsform von Architektur schlechthin. In den Boden geritzt oder nur gedanklich imaginiert, als schematische Skizze auf Papier gebracht oder aufwendig koloriert ist er seit Vitruv und Alberti das gedankliche wie bildliche Fundament des Entwurfs, auf … Weiterlesen

Quelle: http://archidrawing.hypotheses.org/51

Weiterlesen

Ein Dokumentationsprofil für ein Universitätsarchiv – Teil 1: Grundlegung

von Karsten Kühnel

Der folgende Beitrag soll die Anwendbarkeit und mögliche Ausrichtung eines Archivierungs- und Dokumentationsprofils für das Universitätsarchiv Bayreuth reflektieren. Der Autor würde sich über eine rege Diskussion und konstruktive Kommentare in diesem Blog freuen.

„Hochschularchive sind wesentlich mehr als nur Materialsammlungen für die Öffentlichkeitsarbeit ihrer Träger. Sie leisten einen unverzichtbaren Beitrag zur Bildung der von einer zivilisierten Gesellschaft benötigten historischen Überlieferung.“ So beginnt die Einleitung zum 2009 von einem Autorenteam vorgelegten und von der Universität des Saarlandes herausgegebenen „Dokumentationsprofil für Archive wissenschaftlicher Hochschulen“.[1] Und Bezug nehmend auf die typische Situation der Personen, die die Überlieferung tatsächlich formieren, findet sich wenige Zeilen weiter der Satz, dass typischerweise unter anderem der Umstand die Situation im Hochschularchiv charakterisiere, dass die „Archivarin oder der Archivar […] sehr weitgehend eigenverantwortlich“ arbeite. Einer der Autoren schreibt kurz darauf in einer ausführlichen Kommentierung des Profils in der Zeitschrift „Der Archivar“ darüber: „Das Dokumentationsprofil versteht sich […] als Handreichung, nicht als Vorschrift, und es ist an vielen Stellen offen für individuelle Lösungen.“[2]

Das Ziel eines Dokumentationsprofils für ein Archiv ist es, ein Profil vorzugeben, an dem sich die Auswahl und der Erwerb von Archivgut messen lassen können. Die Kriterien, auf denen das Profil beruht, können unterschiedlicher Art sein. Ihm können inhaltliche Aspekte und formale Aspekte aus wiederum unterschiedlichen Sichtweisen zugrunde liegen. Ein Dokumentationsprofil zu akzeptieren ist eine Entscheidung für bestimmte zu erwartende und gegen bestimmte ebenfalls zu erwartende Informationen, deren Erhalt einerseits gewünscht und deren Verlust andererseits akzeptiert wird. Das Dokumentationsprofil ist die Grundlage für die Bewertung, das heißt für die Entscheidung über Archivierung oder Vernichtung von Unterlagen.

Ein Dokumentationsprofil bestimmt nicht nur das Profil des materiellen Archivs, das auf seiner Grundlage anwächst. Es spiegelt auch das Profil des Archivs als Institution. Dem Selbstverständnis einer Institution „Archiv“ entfließt ganz wesentlich dessen Auffassung darüber, was zu archivieren ist und wie das Profil der Überlieferungsbildung aussehen soll. Nicht ohne Grund ist die erste Stufe der archivischen Erschließung die eigene Beschreibung des Archivs als archivischer Institution. Die überblicksartige Beschreibung der Archivbestände ist bereits die zweite Erschließungsstufe. Denn das Profil des Archivs als Institution lässt bereits entscheidende Rückschlüsse auf die Inhalte seiner Bestände zu, und seine Beschreibung gibt dem potentiellen Nutzer den ersten Anhaltspunkt, ob dieses Archiv für seine Forschung überhaupt von Bedeutung sein kann.

„Archivalien konservieren Spuren und Überreste vergangener Zeit.“ So schreibt Alf Lüdtke in seinem Nachwort zur deutschen Übersetzung von Arlette Farge’s Le goût de l’archive.[3] Die Autorin selbst schreibt an einer Stelle über das Archiv: „Unter dem Archiv organisiert sich das Relief, man muss es nur zu lesen wissen – und sehen, dass es an eben diesem Ort eine Produktion von Sinn gibt, an einem Ort, an dem die Leben, ohne es sich ausgesucht zu haben, auf die Macht stoßen.“[4] Farge schreibt diesen Satz angesichts von Archivalien aus dem 18. Jahrhundert. Und doch ist die reliefartige Überlieferungsbildung ein Thema, das seit dem Ende des Ersten Weltkriegs in der sich allmählich bildenden Archivwissenschaft bis heute eine bedeutende Rolle spielt. Heinrich Otto Meisners „Schutz und Pflege des staatlichen Archivguts mit besonderer Berücksichtigung des Kassationsproblems“ von 1939 wird noch heute als Meilenstein in der Bewertungsdiskussion zitiert.[5] Im Jahr 1965 legte die Staatliche Archivverwaltung der Deutschen Demokratischen Republik unter dem Titel „Grundsätze der Wertermittlung ein ausführliches schriftliches Profil für die archivische Überlieferungsbildung unter marxistisch-leninistischen Leitlinien vor, das sie 1984 noch einmal überarbeitete.[6]

In Westdeutschland war es Hans Booms, der 1972 die Überlieferungsbildung auf der Grundlage eines Dokumentationsprofils vorschlug und damit auf großen Widerstand und Ablehnung im Kreis seiner Kollegen stieß.[7] Angelika Menne-Haritz beleuchtete in ihrem Vortrag auf dem ersten Archivwissenschaftlichen Kolloquium der Archivschule Marburg, das am 28. und 29. Juni 1994 unter dem Leitthema „Bilanz und Perspektiven archivischer Bewertung“ stand, terminologische Unschärfen im Zusammenhang mit der Bewertung. Dabei analysiert sie die Verwendung der Begriffe des „Archivierens“ und des „Dokumentierens“ im Rahmen der Überlieferungsbildung und kommt zu der bemerkenswerten Aussage: „Dokumentation gesellschaftlicher Phänomene interessiert sich nicht für Evidenz. Sie läuft Gefahr, Kontexte zu zerstören, ohne zu wissen, was sie tut, da sie nur ihre subjektiven Inhaltsfragen sieht. Dann wird Geschichte zerstört, weil Evidenz vernichtet wird und die Interpretationskontexte für Fakten fehlen.“ Und sie gipfelt in der Warnung vor einem Paradigmenwechsel in der Kultur der Geschichte tradierenden Institutionen: „Wenn Archive sich als Dokumentationsstellen verstehen, besteht die Gefahr, daß sie sich zu rückwärtsgewandten Dokumentenmuseen entwickeln und vom lebendigen, zukunftsorientierten Zusammenspiel mit der Exekutive abgeschnitten werden.“[8]

Die Gegner von Dokumentationsprofilen stellten ihnen den Anspruch an die Bewertung gegenüber, eine nicht auf bestimmte, inhaltlich orientierte und somit vorhersehbare Fragestellungen ausgerichtete, sondern eine nach Möglichkeit für alle Fragestellungen offene Überlieferung zu bilden, die die Kontexte ihrer ursprünglichen Entstehung bewahrt. Infolge dieser Ausrichtung machte sich die Bewertung an Maßgaben wie Zuständigkeiten, Federführung, Verwaltungshierarchie und Aktenplänen fest und mündete in Bewertungsmodelle, die den Grat zwischen horizontalen und vertikalen Bezügen unter Überlieferungsbildnern gangbar machte. Retrospektiv kann man von einer Etablierung einer anderen Art von Dokumentationsprofilen sprechen, die mehr auf formale Bezüge ausgerichtet waren und noch sind, die aber die inhaltlichen Aspekte auch nicht außer Acht ließen.

Damit einher ging das nur zaghafte Aufgeben der Tradition der engen Bindung an den eigenen Träger bzw. an die Behörden in der Sprengelhoheit eines Archivs. Archive waren dazu da, die Überlieferung derjenigen Einrichtungen zu archivieren, für die sie explizit als zuständig deklariert worden waren. Je mehr sich die historische Forschung der ganzen Breite gesamtgesellschaftlicher Überlieferung und Dokumentation zuwandte, desto mehr wurden die Archive aus dem Mittelpunkt des Interesses der Historiker bei der Suche nach authentischen Quellen verdrängt. Die Bildung von Ergänzungsüberlieferung in Form von Sammlungen und Nachlässen wird heute zu den Kernaufgaben eines Archivs gerechnet, was durchaus nicht immer selbstverständlich gewesen war.[9] Diese Selbstverständlichkeit zeigt aber exemplarisch, wie sich das Selbstverständnis der Archive in den vergangenen Jahrzehnten schrittweise verändert hat. Das Bewusstsein, in einem Archiv immer nur Ausschnitte der gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen abbilden zu können, rückte wieder die Frage nach den Inhalten in den Vordergrund: Was oder welche Entwicklungsstränge sollen abgebildet werden? „In diesem Szenario kann das Ziel der Bewertung einzelner Überlieferungen nicht darin bestehen, die Tätigkeit einer Provenienzstelle abzubilden, sondern möglichst aussagekräftige Spuren aus der jeweils berührten Lebenswirklichkeit zu bewahren“, ist die Antwort, die Robert Kretzschmar in seiner Einführung in das Positionspapier des Arbeitskreises Archivische Bewertung im VdA zur archivischen Überlieferungsbildung gibt.[10] Wie nebenbei wurde der Dokumentationscharakter archivarischer Tätigkeit terminologisch salonfähig. Max Plassmann ging auf das terminologische Unbehagen in seinem 2004 veröffentlichten Aufsatz „Dokumentationsziele als Grundlage der Arbeit von Universitätsarchiven: Bewertung, Erschließung, Bestandserhaltung“ noch ein, wenn er schreibt: „Wer etwa aus standespolitischen Erwägungen heraus Unbehagen verspürt, den Begriff ‚Dokumentation‘ zu nutzen, der mag auch auf ‚Festlegung inhaltlicher Ziele der Überlieferungsbildung‘ oder etwas anderes ausweichen.“[11]

Das Positionspapier des Arbeitskreises Archivische Bewertung von 2004 rät zu Abstimmungen zwischen Archiven unterschiedlicher Träger bei Überschneidungen und Berührungen und empfiehlt die Methode der horizontalen und vertikalen Bewertung zur archivübergreifenden Überlieferungsbildung. Gleichzeitig wird vor dieser Bewertungsmethode gewarnt, sofern keine verlässlich strukturierte Akten- und Registraturführung vorliegt. Somit kommt das Modell für weite Bereiche universitärer Überlieferung nicht in Frage. Das Thema blieb aktuell und mündete in die Forderung, Überlieferung im Verbund zu gestalten. Im Jahr 2011 folgte vom gleichen Arbeitskreis ein Positionspapier zur „Überlieferungsbildung im Verbund“, das an das Papier von 2004 anknüpfte.[12] Was Überlieferung im Verbund ist, definieren die Autoren wie folgt: „Überlieferungsbildung im Verbund bedeutet, dass sich Archive unterschiedlicher Trägerschaft in einem definierten, beide Seiten berührenden Zuständigkeitsbereich bei der Überlieferungsbildung austauschen und abstimmen. Das Ziel des Abstimmungsprozesses zwischen den beteiligten Archiven sind langfristig verlässliche Absprachen, die darauf abzielen, eine qualitätsvolle, sich ergänzende und Redundanzen vermeidende Überlieferung bei gleichzeitiger grundsätzlicher Wahrung des Provenienzprinzips und der Sprengelzuständigkeit zu schaffen.“[13] Berührungspunkte mehrerer Universitätsarchive können sich beispielsweise bei Professorennachlässen ergeben. Hier könnten gemeinsame Richtlinien vereinbart werden, nach denen bestimmte Konstellationen einem bestimmten Universitätsarchiv den Vortritt einräumen. Hinsichtlich der Überlieferung studentischer Initiativen wäre beispielsweise mit dem jeweiligen Stadtarchiv zu klären, wer sich dafür zuständig fühlen soll.

Überlieferungsbildung im Verbund ist aber nach dem Papier des Arbeitskreises deutlich mehr, ja wohl sogar eigentlich etwas anderes als Verabredungen über den besten Verwahrungsort für Bestände. Sie bezieht sich auf Abreden hinsichtlich der zu überliefernden Inhalte und basiert demnach auf gemeinsam vereinbarten Dokumentationsprofilen, Festlegungen inhaltlicher Ziele oder Bewertungsmodellen. Ist bereits die Festlegung inhaltlicher Dokumentationsziele innerhalb eines einzelnen Archivs eine strategische Entscheidung enormer Reichweite, so ist sie es umso mehr im Kreis von Überlieferungsverbünden.

Destruktiv wäre es, die Ergebnisse der Bewertungsdiskussion der 1990er Jahre einfach über Bord zu werfen, und den Informationswert von Unterlagen als das einzig Wahre für die Bestimmung der Ziele einer Überlieferungsbildung und von Bewertungskriterien anzusehen. Man würde dadurch um Jahrzehnte zurückfallen und sich zudem einer historischen Mindermeinung anschließen. Frank M. Bischoff brachte in seinem Vortrag über „Bewertung als Gegenstand der Archivarsausbildung“ auf einem Workshop der Archivschule Marburg im November 2004 im Zusammenhang mit der Vielfalt von Bewertungsansätzen, die die Archivwissenschaft kannte und noch kennt, den in den 1990er Jahren in Deutschland wirkungsvoll von Angelika Menne-Haritz propagierten Schellenbergschen Ansatz erneut ins Bewusstsein der Archivare.[14] Er betonte dabei, dass die Diskussion der 90er Jahre zu einer Polarisierung im Archivarsstand und letztlich zu einer übermäßigen Betonung des Evidenzwertes als Bewertungskriterium geführt habe, dass aber Schellenberg mit dem Evidenzwert auch den Informationswert verknüpft habe. Der Hinweis Bischoffs kann als Aufforderung verstanden werden, Dokumentationsprofile nicht nur inhalts- oder informationswertorientiert auszurichten, sondern auch mit den Elementen der Evidenzdokumentation synergetisch zu verbinden.

Bemerkenswert ist, dass sich das bereits erwähnte Dokumentationsprofil für Archive wissenschaftlicher Hochschulen von 2009 nach Aussage Max Plassmanns in seiner ebenfalls bereits genannten Kommentierung im Archivar an den „Hauptaufgaben von Universitäten – Forschung und Lehre“ orientiert, dass in der Einleitung des Dokumentationsproifls selbst aber stets nur von Inhalten die Rede ist, an denen man sich orientiere: „Das Dokumentationsprofil orientiert sich vorrangig an den in Hochschularchiven zur Bewertung anstehenden Inhalten und setzt sich dabei mit typischen Schriftgutsorten auseinander. Die Überlieferungssituation an Hochschulen ist oft so unübersichtlich, dass eine vorrangig nach Organisationsstrukturen gegliederte Darstellung die weniger sinnvolle Alternative wäre.“[15] In beiden Texten ist von Funktionen einer Universität als Orientierungskriterien nicht die Rede, obwohl doch einiges darauf hindeutet, dass die Intention der Autoren in etwa in diese Richtung ging. Es zeigt sich jedoch bei anderen Dokumentationsprofilen der letzten Jahre, dass Funktionsorientierung offenbar insgesamt keine herausragende Rolle spielte. In ihrer „Arbeitshilfe zur Erstellung eines Dokumentationsprofils für Kommunalarchive – Einführung in das Konzept der BKK zur Überlieferungsbildung und Textabdruck“ lässt Irmgard Christa Becker eine sehr starke inhaltsbezogene Orientierung erkennen, die Aufgaben- und Funktionsbezogenheit in den Hintergrund zu stellen scheint.[16]

Die amerikanische Archivarin und Bibliothekarin Helen Willa Samuels veröffentlichte 1998 unter dem Titel „Varsity Letters“ ein Buch über die Dokumentation von Universitäten und ebnete darin den Weg zur Erstellung eines auf Funktionen basierenden Dokumentationsprofils. Sie stellt bereits im einleitenden „Rationale“ prägnant fest, dass Funktionen von Organisationsstrukturen gelöst zu betrachten sind und zitiert dazu David Baerman und Richard Lytle: „Functions are independent of organizational structures, more closely related to the significance of documentation than organizational structures, and both finite in number and linguistically simple.“[17] Die Funktionen, die sie für Hochschulen herausarbeitet, sind gegründet auf eine Analyse dessen, was diese Institution tut. Damit unterscheidet sich ihre Herangehensweise von der Beschreibung zugewiesener Funktionen und blickt stattdessen auf die in Vergangenheit und Gegenwart tatsächlich wahrgenommenen Funktionen. Sie unterscheidet sich damit auch vom Funktionsbegriff des ISDF-Standards des Internationalen Archivrats, der eine Funktion wie folgt definiert: „Any high level purpose, responsibility or task assigned to the accountability agenda of a corporate body by legislation, policy or mandate. Functions may be decomposed into sets of co-ordinated operations such as subfunctions, business processes, activities, tasks or transactions.”[18] Dabei ist es ihr ein Anliegen, von der Betrachtung der einzelnen Akte oder der einzelnen Büros bei der Bewertung loszukommen und den Bewertungsvorgang mit der Analyse des konzeptualen Kontexts der Unterlagen einer Universität vorzubereiten. Mit Terry Cook befürwortet sie einen Perspektivenwechsel von der physischen Einheit zur intellektuellen, „from matter to mind“.[19] Samuels möchte bei der Funktionsanalyse die enge Sichtweise auf die Reflexion administrativer Prozesse aufgeben und in den Funktionen zwar auch die administrativen Aktivitäten, aber ebenso die anderer Akteure wie der Studenten, der Fakultäten, des Personals und von Personen und Körperschaften außerhalb der Universität einbeziehen.

Sie kommt schließlich zu sieben Hauptfunktionen einer modernen Hochschule:

  1. Ausstellen von Zeugnissen: beinhaltet den Prozess des Anwerbens, Auswählens und Zulassens von Studenten, die Vergabe finanzieller Unterstützung und akademischer Beratung sowie die Graduierung der Studierenden.
  2. Transport von Wissen: beinhaltet die Gestaltung der Curricula und die Lernprozesse.
  3. Förderung der Sozialisation: beinhaltet die informellen Lernvorgänge außerhalb der Vorlesungen und Seminare in organisierter und nicht organisierter Form im häuslichen Leben, in extracurricularen Aktivitäten und in persönlicher Beratung.
  4. Forschung und Ermöglichung von Forschung: beinhaltet Maßnahmen und Aktivitäten der Fakultäten und graduierten Studenten bei der Suche nach neuem Wissen und neuer Erkenntnis
  5. Verwaltung der Institution: beinhaltet die Aktivitäten, die für den reibungslosen Betrieb der Institution nötig sind (inkl. Leitung, Finanz- und Personalverwaltung, technische Anlagenverwaltung etc.).
  6. Dienstleistungen für die Öffentlichkeit: beinhaltet die Aktivitäten, die in erster Linie für externe Adressaten(gruppen) erfolgen (inkl. technische Supportdienstleistungen und Weiterbildungsangebote).
  7. Kulturelle Integration: bedeutet die Funktion der Institution als Vermittler von Kultur, z.B. durch die Unterhaltung von Sammlungen, Museen, Bibliotheken und Archiven.

Schwieriger wird es nun bei der Zuordnung von Aktivitäten zu Funktionen, und Samuels räumt selbst ein, dass ein und dieselbe Aktivität durchaus in unterschiedliche oder mehrere Funktionen eingereiht werden könnte. Es sei aber auch von ihr nicht beabsichtigt gewesen, Aktivitäten speziellen Funktionen zuzuordnen, sondern einen Ausgangspunkt für eine weitergehende Funktionsanalyse anzubieten und das Verständnis von Funktionen zu fördern.[20]

Es stehen nun vier Größen sowohl als Bestandsbildungs- als auch als mögliche Ordnungskriterien archivischer Überlieferung im Raum:

  1. Inhalte
  2. Strukturen
  3. Aufgaben
  4. Funktionen

Inhalte zu archivieren ist nichts anderes als das zu archivieren, was das Objekt der Archivierung überhaupt ist: Information. Bei der Überlieferungsbildung bedarf es demnach eines Konsenses darüber, welcher Wert einer Information innewohnen muss, um sie archivwürdig erscheinen zu lassen. Schellenberg nennt für die Analyse des Informationswerts drei Kriterien, die ihm dabei wichtig sind: den Unikatcharakter der Information, ihre Form und ihre Bedeutung für die historische Forschung. Zu finden ist Information in den Unterlagen, die prozessbezogen und ergebnishaft davon zeugen, mit welchen Angelegenheiten ein Schriftgutbildner zu tun hatte.[21] Doch wird man bei der Archivierung von Information letztlich nie um die parallele Evidenzwertermittlung herumkommen, die ebenfalls bereits bei Schellenberg die Informationswertermittlung gleichberechtigt begleitet.[22] Denn nur so lässt sich garantieren, dass Information nicht kontextdefizitär bewahrt wird. Kontexte sind durch Handlungen verursacht, die mit Zwecken und Aufgaben im Zusammenhang stehen. Insofern kann man davon ausgehen, dass eine primäre Konzentration auf kontextverursachende Kriterien eher zu seiner umfassend aussagekräftigen Überlieferung führt als eine primäre Konzentration auf Inhalte.

Strukturen unterliegen häufigen Veränderungen und müssen mit Aufgaben und Funktionen nicht deckungsgleich sein. Die Dokumentation von Organisationsstrukturen und ihrer historischen Entwicklung beinhaltet Aussagen zur Arbeitsweise der Einrichtung und hat einen hohen Wert für die Evidenzüberlieferung. Deshalb kann die Archivierung von Information über Strukturen nicht unterbleiben. Die Nutzung von Archivgut, das den Strukturen einer Einrichtung entsprechend in Findmitteln präsentiert wird, ist für den Nutzer dadurch erschwert, dass er für eine systematische Suche Kenntnisse über die Aufgaben und Funktionen der jeweiligen Organisationseinheiten und über chronologische Schnitte, an denen sich Aufgaben- und Funktionszuweisungen geändert haben, kennen muss. Ein intensives Studium der Schriftgutbildner und ihrer Geschichte muss der effizienten Archivgutrecherche vorausgehen.

Aufgaben werden zugewiesen. Die Zuweisung einer Aufgabe sagt jedoch noch nichts über den Grad und die Art ihrer tatsächlichen Erfüllung aus. Zudem versuchen Aufgabenzuweisungen, den Tätigkeitsrahmen und den Wirkungskreis einer Institution ex ante abzustecken. Das Fortwirken und das Feedback, das sich aus der Erfüllung von Aufgaben ergibt, ist in eine aufgabenbezogene Dokumentation nicht eingebunden. Gleichwohl basiert das Handeln und Funktionieren einer Einrichtung darauf, zugewiesene Aufgaben wahrzunehmen. Für die Recherche nach geeignetem Archivgut ist es für den Forscher wichtig, die Aufgaben eines Bestandsbildners zu kennen, um einschätzen zu können, ob dessen Überlieferung für sein Forschungsthema relevant sein kann. Die Orientierung an Schriftgutbildnern und an deren zugewiesenen Aufgaben ist ein grundlegendes Element des Provenienzprinzips.

Funktionen, verstanden als Zusammenfassung von Aufgaben, Handeln und Wirken einer Stelle, betrachten das Leben einer Einrichtung, ohne dabei eine fremdbestimmte Sichtweise einnehmen zu müssen. So ist es beispielsweise nicht mehr die Sicht des Aufgaben zuweisenden Staats auf eine seiner Behörden, die der Archivar für die Dokumentation, Archivierung oder Bewertung einnehmen muss, vielmehr ermöglicht die Bestandsbildung auf der Grundlage von Funktionen eine objektivere oder neutralere Sicht auf den Bestandsbildner. Funktionsorientierung vermeidet zudem eine Fragestellungen an das Archivgut vorwegnehmende inhaltsorientierte Bestandsbildung, weil sie keine Inhalte definiert, sondern neben Funktionen, die sich durch Aktivitätsbezeichnungen darstellen lassen und dann mit Aufgaben zusammenfallen, den Ausfluss des Handelns einer Stelle durch die beobachtete Wirkung als Funktionsbenennung kennt. Will man Funktionen nach diesem Verständnis als Bestandsbildungskriterien heranziehen, so steht man freilich vor der Situation, dass ihre Bezeichnung hinsichtlich des Zeitraums des Handelns einer Stelle erst ex post geschehen kann, weil erst dann eine Funktionsanalyse im Sinne einer Wirkungsanalyse möglich wird. Hier könnte ein Konfliktpotential mit den Grundsätzen des Provenienzprinzips bestehen, das sich aber als ein nur scheinbares erweist, wenn man auf die Ursache von Verwaltungshandeln als aus der Not, das Chaos im menschlichen Zusammenleben zu verhindern, geborene Tätigkeit sieht. Dann nämlich sind auch Aufgabenzuweisungen an öffentliche Stellen als Resultate der Erkenntnis über ein Handlungsvakuum zu verstehen und somit ebenfalls ex post definiert. Die Funktionsanalyse geht insofern weiter, als sie auf das täglich neu von einer öffentlichen Stelle zu erkennende und auszufüllende Handlungsvakuum rekurriert, das die Realität ihres Wirkens in all seiner Breite bestimmt. Sie nimmt insofern Bezug sowohl auf die Ursache als auch auf die Wirkung von Handlungen.

Der Standard ISDF sieht in der Beschreibung von Funktionen eine Möglichkeit, Archivgut mit höherer Sorgfalt in seinen Entstehungs- und Verwendungszusammenhängen zu präsentieren und Beziehungen zu anderen Teilen des Archivguts herauszuarbeiten.[23] Funktionsanalyse wird in ihm als mögliche Grundlage für die Ordnung, Klassifikation und Beschreibung, für die Bewertung und für die Recherche und Auswertung von Archivgut bezeichnet.[24] Außerdem ist die Beziehung zwischen Archivgut und den seine Entstehung verursachenden Funktionen eine mögliche Definition des Begriffs der Provenienz.[25]

Das Dokumentationsprofil des Universitätsarchivs Bayreuth ist die Grundlage seiner Bestandsbildung. Es orientiert sich an den Funktionen der Universität in ihrem Handeln und gesamtgesellschaftlichen Wirken und greift somit über die amtliche Überlieferung der Universität hinaus und bezieht externe und private Stellen in die Bestandsbildung mit ein. Dabei bleibt es dem Provenienzprinzip treu, indem es Funktionen als Ursachen für Entstehungsprozesse auffasst, beschreibt und bei der Bewertung der Archivwürdigkeit als maßgebende Kriterien mitwirken lässt.

[1] Dokumentationsprofil für Archive wissenschaftlicher Hochschulen / von Thomas Becker, Werner Moritz, Wolfgang Müller, Klaus Nippert und Max Plassmann, hg. v. d. Universität des Saarlandes, Saarbrücken, 2009; hier: S. 7-8.

[2] Max Plassmann, Das Dokumentationsprofil für Archive wissenschaftlicher Hochschulen. In: Der Archivar 62 (2009), S. 132-137; hier: S. 133.

[3] Arlette Farge, Der Geschmack des Archivs, aus dem Französischen von Jörn Etzold in Zusammenarbeit mit Alf Lüdtke, Göttingen, Wallstein Verlag, 2011; Nachwort von Alf Lüdtke, S. 115.

[4] Farge, aaO, S. 28.

[5] In: Archivalische Zeitschrift, 45 (1939), S. 34-51.

[6] Grundsätze der Wertermittlung für die Aufbewahrung und Kassation von Schriftgut der sozialistischen Epoche in der Deutschen Demokratischen Republik, hrsg. v. d. Staatlichen Archivverwaltung im Ministerium des Innern der Deutschen Demokratischen Republik, 1965, S. 14.

[7] Hans Booms, Gesellschaftsordnung und Überlieferungsbildung – zur Theorie archivarischer Quellenbewertung. In: Archivalische Zeitschrift, 68 (1972), S. 3-40. Der Beitrag wurde 1987 ins Englische übersetzt und in der kanadischen Zeitschrift „Archivaria“ (24) unter der Überschrift „Society and the Formation of a Documentary Heritage: Issues in the Appraisal of Archival Sources“ veröffentlicht. Booms nimmt erneut Bezug darauf in einer Neubetrachtung unter dem Titel „Überlieferungsbildung: Keeping Archives as a Social and Political Activity“ in Archivaria 33 (1991/92, S. 25-33), die erst 1999 in Deutschland unter „Überlieferungsbildung als eine soziale und politische Tätigkeit“ verbreiteter zugänglich wird (Archivistica docet. Beiträge zur Archivwissenschaft und ihres interdisziplinären Umfelds. Hrsg. von Friedrich Beck, Wolfgang Hempel, Eckard Henning (Potsdamer Studien 9). Potsdam 1999. S. 77-89).

[8] Angelika Menne-Haritz, Archivierung oder Dokumentation – Terminologische Fallen in der archivischen Bewertung. In: Bilanz und Perpektiven archivischer Bewertung – Beiträge eines Archivwissenschaftlichen Kolloquiums, hg. v. Andrea Wettmann, Marburg, 1994 (= Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, Bd. 21), S. 232.

[9] Noch im März 2013 sah der Bayerische Archivtag die Notwendigkeit, dieses Selbstverständnis zu propagieren, indem er sein Motto in eine rhetorische Frage kleidete: Pflicht oder Kür? Nachlässe, Sammlungen, Verbandsschriftgut“.

[10] Robert Kretzschmar, Positionen des Arbeitskreises Archivische Bewertung im VdA – Verband deutscher Archivarinnen und Archivare zur archivischen Überlieferungsbildung. In: Der Archivar 58 (2005), S. 88-94; hier: S. 90. Im Internet wurde das Positionspapier bereits im November 2004.

[11] Max Plassmann, Dokumentationsziele als Grundlage der Arbeit von Universitätsarchiven: Bewertung, Erschließung, Bestandserhaltung. In: Dokumentationsziele und Aspekte der Bewertung in Hochschularchiven und Archiven wissenschaftlicher Institutionen – Beiträge zur Frühjahrstagung der Fachgruppe 8 – Archivare an Hochschularchiven und Archiven wissenschaftlicher Insitutionen – des Verbandes deutscher Archivarinnen und Archivare am 23. und 24. März 2006, hg. v. d. Universität des Saarlandes, Saarbrücken, 2007 (= Universitätsreden, Bd. 73), S. 33-45; hier: S. 34.

[12] Abgedruckt in: Der Archivar 65 (2012), S. 6-11.

[13] aaO, S. 7.

[14] Frank M. Bischoff, Bewertung als Gegenstand der Archivarsausbildung – Fragen aus Sicht der Archivschule Marburg. In: Neue Perspektiven archivischer Bewertung, hg. v. Frank M. Bischoff u. Robert Kretzschmar, Marburg, 2005, S. 119-144; hier v.a.: S. 140-141; Theodore R. Schellenberg, Die Bewertung modernen Verwaltungsschriftguts, übers. und hrsg. v. Angelika Menne-Haritz, Marburg 1990 (= Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, 7).

[15] Dokumentationsprofil, S. 12.

[16] In: Der Archivar 62. 2009, S. 122-131.

[17] David Bearman und Richard Lytle, The Power of the Principle of Provenance. In: Archivaria 21 (Winter 1985-86), S. 22; zitiert aus: Helen Willa Samuels, Varsity Letters – Documenting Modern Colleges and Universities, Lanham, Md., und London, 1998, S. 4. Die gleiche Auffassung vertreten die Autoren des Standards ISDF: “Functions are recognised as generally being more stable than administrative structures, which are often amalgamated or devolved when restructuring takes place.“ (ISDF, Kap. 1.3).

[18] ISDF – International Standard for Describing Functions, First Edition, hg. v. International Council on Archives (ICA), 2007

[19] Samuels zitiert hier Terry Cook, Mind or Matter – Towards a New Theory of Archival Appraisal. In: Festschrift für Hugo Taylor, hg. v. d. Association of Canadian Archivists, 1992.; bei Samuels auf Seite 3.

[20] Samuels, Varsity Letters, S. 22-23.

[21] Theodore R. Schellenberg, Die Bewertung modernen Verwaltungsschriftguts, übers. u. hg. v. Angelika Menne-Haritz, Marburg 1990 (= Veröfffentlichungen der Archivschule Marburg, 17), S. 58-59.

[22] Vgl Schellenberg, aaO, S. 38 ff.

[23] ISDF, Kap. 1.4.

[24] ISDF, Kap. 1.3.

[25] ISDF, Kap. 3 „Glossary of Terms and Definitions“, s.v. “Provenance. […] Provenance is also the relationship between records and the functions which generated the need of the records.”

Quelle: http://archive20.hypotheses.org/693

Weiterlesen

Tagungsbericht: “Automatic Pattern Recognition and Historical Handwriting Analysis”

Ein wesentlicher Bestandteil historischer Forschung ist die Interpretation primären Quellenmaterials. Hier spielen insbesondere Handschriften oft eine entscheidende Rolle. Der seit Jahren stetig anwachsende Bestand digitalisierter historischer Schriftzeugnisse lässt inzwischen auch Analyse- und Vergleichsmöglichkeiten für derartige Dokumente zu, welche mit händischen Verfahrensweisen nur unter erheblichem Aufwand zu denken wären. Ein in Erlangen veranstalteter Workshop zum Thema “Automatische Mustererkennungsverfahren und Analyse historischer Handschriften” stellte nun eine Reihe von Techniken vor, mit denen Schrift- und Layoutanalysen für handschriftliches Material unternommen werden können. Ein detaillierter Bericht zur Konferenz kann hier abgerufen werden.

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=1862

Weiterlesen