
Eine word-cloud vom Wikipedia Eintrag “Luxemburg im Zweiten Weltkrieg” (30. Mai 2013) zeigt ein nüancierteres Bild als das zur Zeit dominante “Tabu-Narrativ”
“Ein Tabu beruht auf einem stillschweigend praktizierten gesellschaftlichen Regelwerk, auf einer kulturell überformten Übereinkunft, die Verhalten auf elementare Weise gebietet oder verbietet. Tabus sind unhinterfragt, strikt, bedingungslos, sie sind universell und ubiquitär” 1
In einen rezenten Woxx-Artikel über die Ausstellung “Between Shade and Darkness” im Escher Resistenzmuseum, bedauert die Journalistin Anina Valle Thiele das “historische Narrativ von den braven Luxemburgern, die von den Nazis überfallen wurden”2. Bedauerlicherweise verweist sie nicht mit Fussnoten, auf Bücher, Filme oder Ausstellungen, in denen sie dieses Narrativ in den letzten Jahren gefunden hat. Ich habe es in den letzten 15 Jahren nicht gehört. Nicht in der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung3. Nicht in Ausstellungen4. Nicht auf Tagungen5. Nicht in der Literatur6. Nicht im Film7. Und auch in der rezenten Debatte um die Mitarbeit der Luxemburger Verwaltung an der Judenverfolgung im Zweiten Weltkrieg hat keiner diese Geschichte erzählt, weder Denis Scuto, noch Ben Fayot, Jean-Claude Juncker oder die zahlreichen Kommentare auf rtl.lu8 und tageblatt.
Wenn es im Moment ein “historisches Narrativ” gibt, dann es ist eher das vom “Tabu”. Eine kurze Suche auf Google zeigt, dass diese Erzählung in Luxemburg schon fast so lange existiert, wie es die Suchmaschine gibt. Bereits 2003 bemühte Denis Scuto mit Hinblick auf die Wehrmachtsausstellung den Begriff des Tabus9. Und seitdem hat es sich zum dominanten Schlagwort entwickelt unter dem über den Zweiten Weltkrieg in Luxemburg gesprochen wird, was ja in einem gewissen Widerspruch zur Definition des Wortes steht. Gebetsmühlenartig wird betont: “Die Ausstellung soll helfen, Tabus zu brechen” 200410, “Es gibt kein Tabu” (2012)11, “Le recrutement de force durant la Deuxième Guerre mondiale a pendant longtemps été un sujet tabou au Luxembourg.” (2013)12. Kein anderes Thema wurde in den letzten zehn Jahren mehr behandelt als die Kollaboration und Judenverfolgung in Luxemburg. Heute gibt es mehr Magisterarbeiten über Gielemännerchen als über Resistenzler.
Ganz eng mit diesem Tabu-Narrativ verbunden ist das weiße-Flecke-Narrativ. In dem am Anfang genannten Artikel wird Änder Hoffmann wie folgt zitiert. Diese Ausstellung sei besonders wichtig “in Bezug auf die weißen Flecken, die es noch in der Luxemburger Geschichte gibt”. Weiße Flecken gibt es in der Tat viele in der Luxemburger Historiographie. Die frühe Neuzeit, die Lebenswelt der Bauern im 19. und 20. Jahrhundert, der Finanzplatz seit den 1970er Jahren sind klaffende Lücken der Luxemburger Historiographie. Die Mär von den weißen Flecken in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg wirkt überzogen. Keine Zeitspanne ist so thematisiert wie die Jahre 1940-45.
Dieses Narrativ ist doppelt nervend. Erstens weil es so schwarz-weiss ist, wie die ewige Reduktion der Besatzung auf die Frage Widerstand versus Kollaboration. Zweitens weil im Hintergrund immer eine Verschwörungstheorie mitschwingt. “Jemand” hätte Interesse daran, dass dieses Tabu bestehen bleibt und würde alles in die Wege leiten damit diese Jahre unerforscht bleiben. Vielleicht sind wir als Historiker faul gewesen. Vielleicht hat der Luxemburger Staat nicht die nötigen Strukturen geschaffen (Archivgesetz) – aber dies betrifft die gesamte Historiographie nicht nur die Jahre 1940-45. Vielleicht ist die späte Institutionalisierung der Geisteswissenschaften ein Grund für gewisse Lücken. Ich arbeite jetzt seit fast 15 Jahren immer wieder über Luxemburg im Zweiten Weltkrieg. Nie hat mir jemand abgeraten über diese Zeit zu arbeiten, nie hat mir den Zugang zu den Archiven verweigert, die für meine Fragestellung relevant waren, nie hatte ich das Gefühl eine soziale Norm zu durchbrechen, weil ich über die Kollaboration in Luxemburg arbeitete… Und diese Schlußfolgerung gilt auch für die 5-6 Studenten, die ich seit der Zeit bei ihren Magister- oder Doktorarbeiten begleitet haben.
Bleibt die für mich ungelöste Frage, welche Funktion das “Tabu-Narrativ” in der luxemburgischen Gesellschaft hat.
P.S. Wer noch mehr Fussnoten lesen will: Majerus B., « Besetzte Vergangenheiten. Erinnerungskulturen des Zweiten Weltkrieges in Luxemburg – eine historiographische Baustelle », Hémecht, 2012, p. 23‑43. Den Text gibt es hier.
- http://de.wikipedia.org/wiki/Tabu (30. Mai 2013)
- http://www.woxx.lu/id_article/6507
- Ab den 1970er werden dort andere Narrative dominant: Dostert P., Luxemburg zwischen Selbstbehauptung und nationaler Selbstaufgabe: Die deutsche Besatzungspolitik und die Volksdeutsche Bewegung 1940-1945, Luxembourg, Imprimerie Saint-Paul, 1985 oder Cerf P., De l’épuration au Grand-Duché de Luxembourg après la seconde guerre mondiale, Luxembourg, Imprimerie Saint-Paul, 1980
- ‘… et wor alles net sou einfach (2002) oder ‘Le grand pillage’ (2005)
- Les courants politiques et la résistance: continuités ou ruptures? (2003) Collaboration: Nazification ? (2006) oder Émancipation, Éclosion, Persécution. Le développement de la communauté juive luxembourgeoise de la Révolution française à la Seconde Guerre mondiale (2011)
- als Beispiel zwei Autoren die vieles trennt und bei denen die Kollaboration behandelt wird: Hoffmann F., Die Grenze: Roman, Luxembourg, De Frendeskrees, 1972 und Manderscheid R., Schacko Klak: Biller aus der Kandheet (1935-1945), Iechternach, Editions Phi, 1988.
- Schwaarze Schnéi (1985) oder Déi zwéi vum Bierg (1985)
- http://news.rtl.lu/news/national/401301.html
- http://archiv.woxx.lu/0600-0699/670-679/675/675p4p5.pdf
- http://www.forum.lu/pdf/artikel/4850_218_Pauly.pdf
- http://www.tageblatt.lu/nachrichten/story/25187877
- http://www.luxembourg.public.lu/fr/actualites/2013/05/22-jongen-a-meedercher/index.html