Wenn man sich den Boom der Sozialen Netzwerke vor Augen führt oder auch den Erfolg von kommentarbasierten Bewertungsmechanismen, die unseren privaten Konsum lenken und kaum mehr wegzudenken sind (z.B. Amazon), ist es besonders verwunderlich, dass der geschichtswissenschaftliche Buchmarkt hinsichtlich seiner Bewertungsinstrumente bisher auffällig traditionell bleibt.
Das über Jahrzehnte gewachsene und etablierte Textgenre „Buchrezension“ bleibt unerschüttert von der vielbeschworenen „digitalen Revolution“. Nun kann man wirklich nicht behaupten, dass die Rezension nicht den Sprung vom Papier ins Netz geschafft hätte – gerade bei der Rezension liegt es nahe, dass der einfache, schnelle und kostenlose Zugriff allen Beteiligten dienlich ist: Viele Fachjournale publizieren ihre Rezensionsteile inzwischen hybrid. Mehr noch: Online-Rezensionsjournale gründeten sich sehr früh, erfreuen sich stetig wachsender Beliebtheit und sind aus dem geschichtswissenschaftlichen Rezensionsmarkt kaum mehr wegzudenken.
Eine Rezension, die in einem Online-Magazin erscheint, spart ein wenig Zeit ganz am Ende des Publikationsprozesses, bei Druck, Auslieferung, Anschaffungsprozess in der Bibliothek. Dennoch bleibt sie ihrem Charakter nach eine Übertragung des Gewohnten (der gedruckten Rezension) in ein neues Medium (das Internet). Was sie dabei nicht nutzt, ist das eigentliche Potential der Webkommunikation. Gerade im Fall von Rezensionen, die ja nichts anderes sind als ein Kommunikationsinstrument, um sich über Gehalt und Wert neuer Schriften auszutauschen, ist dieses Potential besonders groß. Besteht nicht einer der Nachteile bisherigen Rezensierens in der Einseitigkeit der Stellungnahme? Ein Rezensent spricht und urteilt. Und er urteilt über das Buch als Ganzes: Über jene Aspekte, die er beurteilen kann ebenso wie über die, auf die das vielleicht nicht zutrifft. Und: Wenn es einen Austausch gibt (etwa die Replik des besprochenen Autors), besteht nicht ein gravierender Nachteil in der Schwerfälligkeit, der Langsamkeit der Kommunikation, dem Nicht-Nebeneinander von Rede und Antwort durch die Verteilung des Austauschs auf mehrere Ausgaben einer Zeitschrift, oder im schlechtesten Fall sogar auf unterschiedliche Organe?
Die aktuelle, von den Möglichkeiten flexibler Netzkommunikation und verteilten Arbeitens beflügelte Entwicklung vom ergebnis- hin zum prozessualen Charakter gemeinschaftlichen Arbeitens ließe sich dabei gerade für das Textgenre „Rezension“ fruchtbar machen…
Internationalität – ein anderer Punkt, der bei Rezensionen durch eine bessere Nutzung der Potentiale, die das Internet bietet, verbessert werden soll: Bisher bleibt der Blick auf Neuerscheinungen geschichtswissenschaftlicher Literatur häufig auf den nationalen Radius beschränkt.
Bei der Frage nach den Gründen des beschriebenen Status quo fällt das Stichwort Generationenwechsel. Die Praxis an den Universitäten zeigt immer deutlicher, dass gerade die Generation der Nachwuchswissenschaftler (erst Recht die der Studierenden) sich bei der Suche nach Rezensionen zunehmend auf das beschränken, was über Google auffindbar ist. Der Griff zur Traditionszeitschrift im Regal der Bibliothek zu festgelegten Erscheinungszeitpunkten im Jahr wird – vorsichtig ausgedrückt – seltener. Dagegen sind die Vorbehalte gegenüber fluider Netzkommunikation, gegen Kommentarfunktionen, ja das Desinteresse gegenüber darin verborgener Potentiale, insbesondere im konservativen Flügel des Fachs groß.
Daneben wirft das etablierte Rezensionswesen verschiedene andere Probleme auf, allen voran eine immer größere Unübersichtlichkeit: Immer mehr Rezensionsorgane versuchen den explodierenden Neuerscheinungsmarkt zu spiegeln. Mal auf Papier, mal im Netz, mal in beidem, verstreut an unterschiedlichen Orten, muss der Wissenschaftler auf die Suche gehen, ist dabei selbst von immer stärkerer Arbeitsbelastung betroffen – und in der Regel zugleich Rezensierter und Rezensent, dem immer weniger Zeit bleibt, Rezensionen zu verfassen. Erst recht dann, wenn er davon ausgehen kann, dass diese im Meer der Rezensionsorgane fast ungelesen ertrinkt.
Wie kann Abhilfe geschaffen und das Potential des Internets für Rezensionen genutzt werden – und zugleich Übersicht in den bestehenden Rezensionsmarkt gebracht werden?
Diese Frage stellten sich in der Planungsphase von „recensio.net“ (http://www.recensio.net) die Bayerische Staatsbibliothek, das Deutsche Historische Institut Paris und das Institut für Europäische Geschichte in Mainz. Die DFG fördert den Aufbau der Plattform als eine Art Pilotprojekt: Angestrebt wird eine Verbindung von traditionellem und „neuem“ Rezensieren: Einerseits führen wir Rezensionen aus vielen „klassischen“ Rezensionszeitschriften im Open Access auf der Plattform zusammen, andererseits erproben wir neue Instrumente zum kommentarbasierten wissenschaftlichen Rezensieren, die einen flexiblen, partikularen, insbesondere auch internationalen Austausch über Neuerscheinungen möglich machen, ohne dabei auf die im wissenschaftlichen Umfeld notwendige Qualitätskontrolle zu verzichten.
recensio.net ist Anfang 2010 online gegangen. www.recensio.net
Prinzipiell basiert die Plattform auf zwei Grundideen:
Die erste (traditionell orientierte) Säule verbirgt sich hinter dem Hauptlink „Rezensionen“. Hier fungiert recensio.net als ein Open-Access-Aggregator für „klassische Rezensionen“, als Dienstleister für Rezensionszeitschriften. Fachzeitschriften (online oder print), die mit recensio.net kooperieren, stellen ihre Rezensionen zusätzlich über die Plattform zur Verfügung: Als Druck-PDF-Datei, als HTML-Text, mit oder ohne Embargofrist, hier richten wir uns ganz nach den Wünschen der Verlage und Redaktionen, die weiterhin vollständig autark arbeiten und ihre Daten recensio.net in keinster Weise exklusiv zur Verfügung stellen.
Hier ein Beispiel einer Rezension der französischen Zeitschrift „Mélanges de la Casa de Velázquez“.
Alle Inhalte stehen im Open Access im Volltext direkt auf der Plattform zur Verfügung, so dass eine Volltextsuche die Auffindbarkeit der Rezensionen optimiert. Darüber hinaus sind alle Rezensionen mit ausführlichen Metadaten versehen, die neben den üblichen Angaben zum rezensierten Buch auch thematische Klassifikationen sowie Schlagwörter umfassen. Im Laufe des Jahres 2012 werden zudem alle Rezensionen an der Titelaufnahme des rezensierten Werks im OPAC der Bayerischen Staatsbibliothek verlinkt, was ihrer Sichtbarkeit natürlich noch einmal erhöhen wird.
Zugang zur Rezension findet der Nutzer durch die einfache Volltextsuche über alle Zeitschriften hinweg, über verschiedenste Features der Erweiterten Suche (etwa einschränkend auf eine Sprache, ein Thema oder eine Zeitschrift) sowie direkt „browsend“, indem man die Zeitschrift seiner Wahl ansteuert und durchstöbert.
Aus diesen Vorteilen hinsichtlich der Findbarkeit, Erschließung und Bündelung von Rezensionen auf internationaler Ebene erklärt sich das Interesse der Redaktionen, mitzumachen. Gerade kleinere Fachzeitschriften können immer drängendere Fragen wie Metadatenanreicherungen oder Langzeitarchivierung aus eigener Kraft oft kaum leisten. So sind heute bereits 27 Zeitschriften mit mehr als 4000 aktuellen Rezensionen über recensio.net abrufbar. Auch französischsprachige Zeitschriften sind darunter: Die Mélanges de la Casa de Velázquez, Recherches sur Diderot et sur l’Encyclopédie und die Revue d’histoire du XIXe siècle. Nicht zu vergessen der Frankreichschwerpunkt bei Francia-Recensio, herausgegeben vom DHI Paris.
Die zweite Grundidee, auf der recensio.net fußt, beschreitet Neuland: Der Hauptlink „Präsentationen“ auf der Startseite führt in diesen Bereich, der einen Schritt in Richtung Web 2.0 vornimmt: Autoren können hier direkt auf der Plattform Präsentationen bereits publizierter Schriften einstellen, wobei es sich selbstverständlich nicht um ausschweifendes Selbstlob handeln soll, sondern um eine knappe Präsentation der Kernthesen innerhalb eines durch ein Formular vorgegebenen recht strengen Rahmens. Diese Thesen sollen über ein „Klappentextniveau“ hinausgehen, sollen möglichst pointiert, gern auch provokant formuliert sein, um andere Plattformnutzer (in der Regel auch Wissenschaftler) dazu anzuregen, Kommentare zu verfassen. Ein Kommentar muss eben nicht eine vollständige Rezension eines ganzen Werks sein, sondern kann auch eine Stellungnahme zu einem Einzelaspekt sein. Damit wird einerseits die wachsende Hemmschwelle gesenkt, überhaupt „rezensierend“ tätig zu werden (die es angesichts der wachsenden Arbeitsbelastung im universitären Alltag zunehmend gibt). Zugleich wird aber auch, so denken wir, der Blick über Fachgrenzen hinweg erleichtert: Selten werden geschichtswissenschaftliche Schriften von Vertretern benachbarter Disziplinen rezensiert, obschon diese nicht selten zu Spezialfragen wertvollen Input liefern könn(t)en.
Autoren können nicht nur Monographien, sondern auch Aufsätze präsentieren, die sie in Sammelbänden oder in Zeitschriften publiziert haben. Darüber hinaus können auch Internetressourcen für Historiker präsentiert und kommentiert werden (Datenbanken, Blogs, Bibliographien u.ä.). Der Präsentierende wird über den Eingang eines Kommentars informiert. Im Idealfall entspinnt sich um eine Präsentation herum eine neue Art von Rezension, eine „lebendige Rezension“.
Dieser zweite Teil der Plattform wird Zeit zum Anlaufen brauchen. Um selbiges zu erleichtern, wird der Autor im Formular seiner Präsentation um die Angabe von „Bezugsautoren“ gebeten.
Dabei handelt es sich um Kollegen, mit deren Thesen er sich in seiner Schrift beschäftigt hat. Nach der Publikation einer Präsentation werden diese von recensio.net auf die Existenz der Publikation und die der Präsentation hingewiesen und natürlich auf die Möglichkeit, direkt auf der Plattform zu antworten.
recensio.net ist nun zehn Monate online. Der Erfolg der „Säule 1“, des klassischen Ansatzes, hat all unsere Erwartungen übertroffen. Hinsichtlich der innovativen „Säule 2“ fällt die erste Bilanz erwartungsgemäß aus: Die Kommentarfunktion wird selten benutzt. Dies liegt wohl daran, dass wir zwei neue Dinge auf einmal von den Wissenschaftlern verlangen: die eigene Schrift einem potentiell weltweiten Publikum vorzustellen und zugleich andere Präsentationen qualifiziert zu kommentieren – unaufgefordert und zusätzlich zum bestehenden “klassischen” Rezensionswesen. Es ist ein gutes Vorzeichen, dass schon jetzt stetig Präsentationen (aus internationalem Umfeld) eingestellt werden, wenn auch die Akzeptanz und Etablierung des „lebendigen Rezensierens“ sich eher über einen langen Zeitraum vollziehen wird.
Für die Sicherung des wissenschaftlichen Standards von Präsentationen und Kommentaren sorgt das Redaktionsteam der Plattform.
Individuelle Suchen können als RSS-Feeds abonniert werden. Ansonsten kann, wer auf dem Laufenden bleiben möchte, sich für den monatlichen Newsletter einschreiben, oder recensio.net auf Facebook oder Twitter folgen: http://de-de.facebook.com/recensio.net und http://twitter.com/RecensioNet.
Recensio.net hat einen gesamteuropäischen Ansatz, der sich jetzt bereits in den kooperierenden Zeitschriften der Säule 1 spiegelt. Die gesamte Plattform ist vollständig dreisprachig navigierbar (Englisch, Deutsch, Französisch). Klassische Rezensionen erscheinen in der Sprache ihrer Erstpublikation, jetzt schon bis hin zu Finnisch und Russisch. Wer präsentiert und kommentiert kann dies prinzipiell in seiner Sprache tun, alle europäischen Sprachen werden angeboten.
Die DFG hat kürzlich gemeinsam mit drei weiteren europäischen Institutionen (http://www.knowledge-exchange.info/) ein Portal gegründet, das der Sichtbarkeitssteigerung von Erfolgskonzepten im Open-Access-Bereich dienen soll. Es nennt sich Open Access Success Stories (http://www.oastories.org/success-stories/). Wir freuen uns darüber, dass recensio.net unter den ersten sechs dort für den Plattformstart präsentierten Konzepten aus Deutschland ist. Und wir freuen uns darauf, die Idee hinter recensio.net in den kommenden Jahren weiter auszubauen. Ihre Fragen, Anregungen und Wünsche sind dabei jederzeit willkommen! Schreiben Sie uns eine Mail: redaktion@recensio.net
Quelle: http://dhdhi.hypotheses.org/683