Notizen über „Nutzen und Nachtheil“ kritischer Geschichte für das Leben

In den vergangenen Monaten habe ich zusammen mit Kolleg/inn/en die Geschichte einer Umweltorganisation erarbeitet, die 2013 ihr 100jähriges Gründungsjubiläum beging. Was Historiker/innen kaum überrascht, war für viele Verantwortliche und Mitglieder dieser Organisation, die in den 1970er Jahren eine Wende vom staatsnahen Heimatverein zum kritischen Umweltverband durchlief, in der letztendlichen Deutlichkeit unerwartet.

Der Verband war auf organisatorischer, ideologischer und personeller Ebene mit dem Nationalsozialismus verflochten – er war ein integraler, wenn auch nicht unbedingt wichtiger Teil des NS-Machtapparats. Was mich als akademischen Historiker überrascht hat, waren die praktischen Fragen, die sich aus dieser neuen Sicht der Verbandsgeschichte ergaben und immer noch ergeben. Diese Überraschung möchte ich hier reflektieren und nehme dabei Friedrich Nietzsches Essay “Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben” [1] zu Hilfe.

Stolpersteine

Hier steht ein Gedenkstein für einen Naturschützer, der ein Moor vor dem Zugriff des Reichsarbeitsdienstes gerettet hat – durch seine guten Beziehungen. Er war NSDAP-Mitglied seit 1922, Teilnehmer am Hitler-Putsch von 1923 und „Alter Kämpfer“. Er hielt Naturschutz für “Rasseschutz”. Dort ist eine Straße nach einem Naturschützer benannt, der in den 1960ern den Ortsverband aus der Taufe hob und über Jahre am Leben hielt. Bis 1945 war erObersturmbannführer der SA in deren Propagandastab. Und dann ein Naturschutz-Funktionär, der die Belange von Natur und Umwelt in einem ganzen süddeutschen Bundesland fast allein verteidigte, ganz gegen den Trend der Nachkriegs- und Wirtschaftswunderzeit. Dadurch wurde er zur Identifikationsfigur für eine ganze Generation von Naturschützern/innen der 1960er und 1970er Jahre. Karriere als Wissenschaftler hatte er vor 1945 gemacht, in dem er opportunistisch die Klaviatur des NS-Wissenschaftssystems bespielte und natürlich den einschlägigen Parteigliederungen beitrat.

Gedenksteine, Straßennamen, historische Identifikationsfiguren sind allesamt praktische Stolpersteine für eine kritische Neufassung deutscher Geschichten. Sie sind nicht nur Mittel des Erinnerns und der Traditionsbildung. Oft sind sie zum Selbstzweck geworden, zu eigenen Erinnerungsorten, die Anspruch auf “Denkmalpflege” erheben. Die Menschen, die konkret und vor Ort mit ihnen Umgehen, die sie in ihre eigene Biografien – häufig durchaus als gesellschaftskritische Bürger – eingebunden haben, fordern das Urteil des/r Historikers/in heraus. Und das zu Recht. Die Fakten stehen keineswegs zur Diskussion. Die besagten Naturschützer/innen wollen lediglich eines genauer wissen: was sollen wir nun mit diesem Wissen anfangen? Sollen wir die Plaketten abmontieren, die Straßen umbenennen, die Gründerfiguren durch neue ersetzen? Ist es das, was daraus folgt? Ist das die Antwort?

Nietzsche und Kritische Geschichte

Spätestens hier wird einem der Unterschied zwischen einer/m Historiker/in und einer/m Richter/in deutlich. Dieser setzt nach dem Urteil das Strafmaß fest, jener ist mit solch einer Frage weitestgehend überfordert. Die intuitive Reaktion einer/s Historikers/in wäre vielleicht, sich möglichst zurückzuziehen und allenfalls ein weiteres Projekt anzustoßen, das Gedenkpraxis aus dem Blickwinkel der Erinnerungskulturforschung untersucht. Mehr fällt mir eigentlich auch nicht mehr ein, außer vielleicht nochmal über die Frage des praktischen Werts kritischer Geschichte nachzudenken. Das möchte ich im Folgenden kurz tun, mit Hilfe von Friedrich Nietzsches Reflexion „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“.

Friedrich Nietzsche unterschied in dem Essay von 1874 drei Grundformen von Geschichtsschreibung – die monumentalische, die antiquarische und die kritische (siehe v.a. Kap. 2/3). Die monumentalische Geschichte versuche die vergangenen Heldentaten, die Heroen und ihre Siege in Erinnerung zu rufen; sie sei die Geschichte der Sieger, der Mächtigen und könne im vernünftigen Maß Vorbilder herausstellen und die Fähigen der Gegenwart zu großen Taten motivieren. Im Übermaß betrieben verleite sie dazu, den Niedergang zu beklagen und ob des eigenen Epigonentums in Lethargie zu verfallen. Die antiquarische Variante sei, so Nietzsche, insofern ihr Gegenpol, als sie sich auf den kleinen Raum, die nächste Umgebung und das Gewordensein lokaler Beziehungen konzentriere. Sie rufe dazu auf, den eigenen Nahraum, die jeweilige Lebenswelt als die bestmögliche zu begreifen, es sich in ihr gemütlich zu machen, sich selbst in eine Familien-, Stadt- oder Vereinsgeschichte gleichsam hinein zu erzählen. Nietzsche erkennt die stabilisierende, praktische Lebenshilfe, die aus solch einer fast selbsttherapeutischen Herangehensweise erwächst, warnt aber vor einer ganzen antiquarischen Kultur, die zuletzt überhaupt nichts Neues mehr zulassen will, weil der eigene Ort bereits in der Vergangenheit perfekt eingerichtet worden ist.

Im Gegensatz zu diesen beiden Formen stehe eine dritte, die kritische Geschichte. Sie sei nicht nur die Geschichte der Besiegten, der Unterdrückten und Ausgebeuteten, sie sei destruktiv, indem sie die Fehler vergangener Generation aufsuche und diese zu richten trachte – eine sehr notwendige Funktion, wie Nietzsche meint:

[Der Mensch] muss die Kraft haben und von Zeit zu Zeit anwenden, eine Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen, um leben zu können: dies erreicht er dadurch, dass er sie vor Gericht zieht, peinlich inquirirt, und endlich verurtheilt […]. Mitunter aber verlangt eben dasselbe Leben, das die Vergessenheit braucht, die zeitweilige Vernichtung der Vergessenheit; dann soll es eben klar werden, wie ungerecht die Existenz eines Dings, eines Privilegiums, einer Kaste, einer Dynastie zum Beispiel ist, wie sehr dieses Ding den Untergang verdient. Dann wird seine Vergangenheit kritisch betrachtet, dann greift man mit dem Messer an die Wurzeln, dann schreitet man grausam über alle Pietäten hinweg (33-34).

Sicherlich muss man sich Nietzsches düsterer Kategorisierung von kritischer Geschichte nicht anschließen. Nicht zuletzt ist seine philosophisch-systematische Charakterisierung auch zirkulär bzw. in der eigenen Systematik verhangen; der kritische Ansatz ist düster, weil er von den Besiegten und Entrechteten per definitionem ausgeht und dementsprechend auf die Dekonstruktion der monumentalischen und antiquarischen Geschichte ausgerichtet ist. Dennoch, denke ich, weist Nietzsche auf einige Gefahren historischer Kritik hin, z.B. was das „Richten“ betrifft (siehe v.a. Kap. 6).

“Wer zwingt euch zu richten?”

Einerseits sieht er die Gefahr des umfassenden Historismus, der alles versteht und sich anverwandelt, der „eine solche Zartheit und Erregbarkeit der Empfindung ausbildet, dass ihm gar nichts Menschliches fern bleibt; die verschiedensten Zeiten klingen sofort auf seiner Lyra in verwandten Tönen nach: er ist zum nachtönenden Passivum geworden“ (56). Dieses radikale Historisieren – also des Verstehens aus dem jeweiligen zeitlichen Horizonts heraus und des sich Entäußern der eigenen Werte und Maßstäbe, arte zur „Toleranz, zum Geltenlassen des einmal nicht Wegzuläugnenden, zum Zurechtlegen und maassvoll-wohlwollenden Beschönigen“ (57) aus. Ebenso problematisch sieht er andererseits die billige Selbstgerechtigkeit derjenigen, „die im naiven Glauben [...], dass gerade ihre Zeit in allen Popularmeinungen Recht habe“, die „Vergangenheit“ der  eigenen „Trivialität“ (58) anpassten: „Als Richter müsst ihr höher stehen, als der zu Richtende; während ihr nur später gekommen seid“ (63). Es ist wohl typisch für Friedrich Nietzsche, dass er ein wahres, gerechtes und vor allem dem Leben nützliches Urteil nur von ganz wenigen Berufenen mit „jener innerlich blitzenden, äusserlich unbewegten und dunklen Ruhe des Künstlerauges“ zutraut und den anderen entgegenhält: „Wer zwingt euch zu richten?“ (63) Das gibt Helmut Kohls Spruch von der „Gnade der späten Geburt“ (1984 vor der Knesset), die einen vor Schuld bewahre, noch einmal eine neue Bedeutung. Nämlich: hütet euch zu richten, denn ihr seid lediglich später geboren.

Der Historikerstreit und die Frage von Kollektivschuld versus Kollektivverantwortung muss hier nicht rekapituliert werden. Eins wird jedoch deutlich. Nietzsche selbst liefert eine zeitgebundene Analyse vom Ende des 19. Jahrhunderts her. Nach 1945 wollen und können wir nicht mehr auf eine kleine Gruppe genialer Künstler-Historiker warten, die mit sicherem Auge Gerechtes von Ungerechtem unterscheidet und ihre Urteile fällt, während sich der Rest der Zunft und der Gesellschaft mit der Gnade der späten Geburt zufrieden gibt. Nicht nur, dass sich ein nietzscheanischer Virtuosen-Kult überlebt hat. Die Geschichte der Shoa, des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs, fordert eine wertende Analyse von den späteren Generationen. Eine streng historisierende Bewertung kann natürlich Ereignisse und Handlungen ebenfalls bewerten; vieles war einfach auch nach den damaligen Wertmaßstäben ein juristisches wie moralisches Verbrechen. Aber unsere Gesellschaft hat sich weiterentwickelt, hat neue Maßstäbe produziert – demokratische, pazifistische, inklusive und tolerante. Auch diese muss man an die Vergangenheit anlegen können, ohne selbstgerecht zu werden. Bloß, wie geht das? Das zumindest ist eine der Fragen, die sich mir ganz praktisch angesichts der NS-Geschichte des besagten Naturschutzverbandes stellen, weniger im Bezug auf konkret verurteilbare Verbrechen, als hinsichtlich seiner instrumentellen Funktion für eine antisemitisch, rassistisch, sexistisch und auf viele weitere Weisen ausschließende “Volksgemeinschaft”.

Vergangenes Geschehen und zu erinnernde Geschichte

Was kann man nun als Historiker/in auf die Frage nach den praktischen Konsequenzen neuer Erkenntnis antworten? Man kann darauf hinweisen, dass die Arbeit des/r Historikers/in sich von der des Staatsanwalts, Verteidigers oder Richters unterscheidet. Dass es um ein historisches Urteil geht, dass die Horizonte, die Kontexte und die Alternativen einer historischen Person und ihrer Handlungen berücksichtigen muss, und nicht um eine juristische Verurteilung – dazu ist unsere historische Methode nicht geeignet. Dass aber eine Frage energisch zurückgespiegelt werden muss: Taugen die historischen Akteure als Vorbild für unsere Zeit? Haben sie etwas Lehrreiches für Gegenwart und Zukunft zu sagen? Will man sich in ihre Tradition stehen? Und dass wir Material für eine Antwort liefern, die wir oft nicht alleine geben können.

Analytisch gesehen bedeutet das eine Trennung von Geschichte als vergangenem Geschehen, das mit Hilfe klassischer historischer Methoden rekonstruiert wird, und zu erinnernder Geschichte (explizit nicht erinnerter G., denn dies wäre erneut eine Frage der Rekonstruktion). Letzteres wirft eben die Frage nach unseren gegenwärtigen Maßstäben und unseren Interessen an der Vergangenheit auf, nach einem kritischen Erinnern. Allerdings ist das nicht mehr allein Expertise der Geschichtswissenschaft, sondern eine Frage des gesellschaftlichen Dialogs. Kritisch wäre an so einer Auffassung einerseits die wissenschaftliche Infragestellung/Dekonstrution der Vergangenheit (das Zerstören im Sinne Nietzsches) und andererseits die selbstkritische Begrenzung der eigenen Expertise und die dialogische Frage: wie wollen wir erinnern?

[1] Die Angaben beziehen sich auf die Reclam-Ausgabe Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil die Historie für das Leben, hg. v. Günter Figal, Stuttgart 2009.

Online-Ausgaben gibt es u.a. bei Zeno.org und Projekt Gutenberg.


Einsortiert unter:Erfahrungen, Erinnerung, Faschismus, Geschichte, Geschichtspolitik, Umweltgeschichte, Vermittlung

Quelle: https://kritischegeschichte.wordpress.com/2014/01/07/notizen-uber-nutzen-und-nachtheil-kritischer-geschichte-fur-das-leben/

Weiterlesen

Reinhard Strecker, 1968 und der Nationalsozialismus in der bundesdeutschen Historiografie, Münster, 2013

933-5Bernd Hüttner rezensiert auf der website des Magazins “prager frühling” das Buch
Gottfried Oy/Christoph Schneider: Die Schärfe der Konkretion. Reinhard Strecker, 1968 und der Nationalsozialismus in der bundesdeutschen Historiografie, Münster, 2013, 252 S., 24,90 Euro
Er schreibt: “Der 1930 geborene Reinhard Strecker organisierte 1958 aus dem SDS heraus eine Petition an den Bundestag, in der eine Verfolgung der Straftaten von Richtern, Ärzten und Staatsanwälten während des Nationalsozialismus gefordert wurde. Aus den dafür mühsam zusammengetragenen Materialien erstellte er zusammen mit anderen eine Ausstellung, die erstmals – eher halböffentlich – im Mai 1959 im Rahmen einer Konferenz des SDS in Frankfurt/Main gezeigt wurde. Thema der Konferenz war der zehnte Jahrestag der Verabschiedung des Grundgesetzes.” Abschließend urteilt er: “Oy und Schneider haben mit ihrem Buch das Wirken von Strecker und anderen Einzelpersonen gewürdigt. Neben der lesenswerten Gesellschaftsdiagnose liefern sie ein eindrückliches Beispiel dafür, dass das engagierte Handeln von einzelnen Menschen sehr wohl Bedeutung und Folgen hat.” (Zum Text der Rezension)
Johannes Spohr hat es bereits Mitte Juli auf der Themenseite Geschichte der Rosa Luxemburg Stiftung besprochen. Spohr schreibt zum Ende seiner ausführlichen Besprechung: “Es ist verdienstvoll, dass die Autoren sich die Mühe machen, den aufwendigen und erkenntnisreichen Weg der Konkretion zu gehen. Sie zeigen damit, dass es Wege gibt, um sich jenseits von „68er-Bashing“ und der Reproduktion des Mythos’ der über den NS aufklärenden Generation den tatsächlichen Formen von Auseinandersetzung zu nähern.” (Zum Text der Rezension).
Deutschlandradio Kultur hat, ebenfalls im Juli, über das Buch berichtet. Winfried Sträter schreibt: “…wer genauer wissen und verstehen will, wie sich die Bundesrepublik nach der NS-Katastrophe entwickelt hat, dem sei das Buch von Gottfried Oy und Christoph Schneider ans Herz gelegt. Es ist ein aufschlussreiches Buch, das nicht mit großem Geschrei auf den Buchmarkt drängt.” Abschließend urteilt er: “Historisch interessierten Lesern ist das Buch sehr zu empfehlen. Mit der Konkretion der persönlichen Geschichte eines Aufarbeitungspioniers und der Reflexion der bundesdeutschen Entwicklung ist es klug aufgebaut, mit den Erläuterungen von Namen, Begriffen und Hintergründen ist es auch verständlich für alle, die die historischen Details nicht kennen. Was fehlt, ist – neben einem Register – Bildmaterial.” (Zum Text der Rezension)


Einsortiert unter:Biographie, Ereignis, Erfahrungen, Erinnerung, Faschismus, Geschichtspolitik, Historiker, Linke Debatte, Literatur, Vermittlung

Quelle: https://kritischegeschichte.wordpress.com/2013/09/26/reinhard-strecker-1968-und-der-nationalsozialismus-in-der-bundesdeutschen-historiografie-munster-2013/

Weiterlesen

Erfurt: Häuserkampf und linke Erinnerungspolitik (Rezension)

Die Besetzung des Areals der ehemaligen Firma “Topf und Söhne” in Erfurt dauerte von April 2001 bis April 2009. Die vielen BesetzerInnen hatten sich etwa ein Viertel des über 50.000 Quadratmeter umfassenden Geländes angeeignet – es genutzt, dort gewohnt, Kultur veranstaltet, Raum für Politik und Werkstätten geschaffen. Mit diesem sehr preiswerten Buch sollen nun die Erfahrungen dieser Zeit festgehalten werden.

Zuerst wird aber die Geschichte der Hausbetzungen in Erfurt bis 2001 nacherzählt. Danach folgen unterschiedliche Beiträge zum Alltag in einem linken Projekt. Zu seinen Untiefen, seinen internen und öffentlichen Debatten und zur “Organisierung des Chaos”. Das besetzte Haus wollte nie ein Freiraum in der alten politischen Bedeutung sein. Es wird aber doch deutlich, dass ein besetzter Raum immer auch ein Laboratorium für Ideen und ihre Umsetzung ist. Der Bedeutung jenseits seiner Mauern hat, ja über die Stadt Erfurt hinauswirkte.

Die Firma “Topf und Söhne” war nicht irgendeine Firma. Sie stellte während des Nationalsozialismus auf dem später besetzten Gelände Krematoriumsöfen für Auschwitz und andere Lager her. So war von Anfang an klar, dass die BesetzerInnen sich dazu verhalten mussten und dies dann auch taten. In mehreren Artikeln wird sowohl die Geschichte der Firma wie die vielfältigen Aktivitäten der BesetzerInnen dokumentiert. Diese stoßen immer wieder, zum Beispiel anhand des Topos der “deutschen Wertarbeit”, auf die schwierige Frage des Verhältnisses von Nationalsozialismus und Kapitalismus. Die Konflikte und die Zusammenarbeit mit dem schon 1999 gegründeten “Förderkeis Geschichtsort” werden analysiert. Einige kritisieren, er kehre durch seine Arbeit Schuld und Verantwortung unter den Tisch – ganz im Sinne der neuen deutschen Erinnerungspolitik.

Heute ist auf dem Gelände ein Baumarkt und Gartencenter samt Parkplatz. In einem Gebäude, das nie Bestandteil der Besetzung war, wurde ein offizieller Geschichtsort zur Firma eingerichtet. Alle Spuren der Besetzung sind getilgt, auch im Gedenkort wird nicht darauf hingewiesen, dass die BesetzerInnen sich erinnerungspolitisch und antifaschistisch engagiert haben und somit zu seiner Durchsetzung mit beigetragen haben.

Durch das mit über 200 Fotos reichhaltig illustrierte Buch entsteht ein sehr plastisches Bild, das von der Spannung zwischen dem linksradikalen Alltag sowie der historischen Bedeutung des Ortes lebt – und den jeweiligen Umgang damit schildert.

Bernd Hüttner

Karl Meyerbeer, Pascal Späth (Hrsg.): Topf & Söhne – Besetzung auf einem Täterort; Verlag Graswurzelrevolution, Nettersheim 2012, 187 Seiten, 12,90 EUR


Einsortiert unter:Erinnerung, Faschismus, Geschichtspolitik, Literatur

Quelle: http://kritischegeschichte.wordpress.com/2012/12/07/erfurt-hauserkampf-und-linke-erinnerungspolitik-rezension/

Weiterlesen

aventinus antiqua Nr. 19 [12.09.2012]: Faschismus und Altertum. Die Antike als Vermittler der romanità im ventennio [=Skriptum Ausg. 2/2011]

http://www.aventinus-online.de/altertum/allgemeines/art/Faschismus_und/html/ca/view Die folgende Untersuchung gewährt einen Einblick, welche Denkmuster in der Inszenierung der Antike zur Zeit des Faschismus in Italien zusammenflossen. Gleichzeitig wird aber auch gefragt, welche Mittel eingesetzt wurden, um den Mythos Rom in die Öffentlichkeit zu tragen.

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2012/09/3267/

Weiterlesen

Kleine Anfrage zur deutsch-italienischen Historiker_innenkommission

Festnahme von Zivilisten durch deutsche Soldaten in Rom 1944

Bildbeschreibung laut Quelle: Italien, Rom.- Festnahme von Zivilisten durch deutsche und italienische Soldaten nach dem Attentat in der Via Rasella auf eine Südtiroler Polizei-Einheit am 13. März 1944 vor dem Palazzo Baberini; die Festgenommenen wurden später als Repressalie in den Ardeatinischen Höhlen ermordet; PK (= Propagandakompanie) 699. Bundesarchiv, Bild 101I-312-0983-03 / Koch / CC-BY-SA via Wikimedia Commons

Die deutsch-italienische Historiker_innenkommission wurde 2008 ins Leben gerufen und nahm 2009 ihre Arbeit auf. Von Anfang an, stand die Kommission unter dem Vorbehalt, dass sie eher anstelle als zusätzlich zu einer Entschädigungsregelung geplant war. Die Kommission hat unterdessen die Arbeit beendet. Der Umgang mit den Ergebnissen wird viel über den Willen verraten sich auf deutscher Seite endlich der Verantwortung für die zahllosen Massaker der Wehrmacht und dem Umgang mit den IMI, den italienischen Militärinternierten, zu stellen. Die Presseerklärung der Bundesregierung vom 24.8. verspricht nichts gutes: “Der Abschlussbericht soll den Außenministern beider Staaten im September/Oktober dieses Jahres „in einem angemessenen Rahmen“ übergeben werden. Ein konkreter Termin oder Ort ist hierfür noch nicht vereinbart, schreibt die Bundesregierung in ihrer Antwort (17/10480) auf die Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke (17/10176). Der Abschussbericht werde in kleinerer Auflage in gedruckter Form veröffentlicht und solle der interessierten Öffentlichkeit auch über das Internet zugänglich gemacht werden. Eine Veröffentlichung des gesamten Abschlussberichts in Buchform sei nicht beabsichtigt.” – Will wohl heißen, so ganz untergehen lassen können wir die Ergebnisse nicht, aber wir werden alles tun um möglichst nahe dran zu kommen.

Selbst eine Kommission, die unter der Führung des eher konservativen Wolfgang Schieders arbeitete, war wohl noch zu kritisch. Obwohl der zu Beginn der Arbeit erklärte: “Wir haben hier aber noch eine neue Idee, und das ist die, dass wir nicht so sehr die Auseinandersetzung zwischen den deutschen Militärs und den italienischen untersuchen, sondern dass wir die Erfahrungen der Betroffenen untersuchen wollen: der Soldaten, der Kriegsgefangenen, der KZ-Häftlinge. Und dass wir diese Ebene in den Vordergrund stellen, weil das die Erinnerungen sind, die auch nach dem Krieg bei Millionen von Menschen weitergewirkt haben und bis heute weiter wirken.” (in: Henning Klüver: Kulturelles Feigenblatt, Deutschlandfunk, 29.3.2009) Obwohl Schieder also die Erfahrungen der KZ-Häftlinge neben die der Kriegsgefangenen und die der deutschen und italienischen Soldaten stellen wollte, also durch einebnende individualisierte Erfahrungsrekonstruktion ein auf ein “ja, schrecklich wars, war ja auch Krieg” hinauswollte, schienen die Verbrechen der Deutschen nach 1943 noch zu deutlich zu werden.

Da der Text der Ergebnisse der Kommission noch nicht öffentlich vorliegen, ist es noch zu früh um im Detail zu erkennen, was der Bundesregierung missfallen hat. Die Richtung wird jedoch an Antworten wie der folgenden deutlich:

“[Frage] 14. Ist die Bundesregierung tatsächlich der Auffassung, die bisherige Entschädigungspolitik sei so umfassend, dass kein Nachbesserungsbedarf besteht,
um bislang unentschädigt gebliebene NS-Opfer zu entschädigen?

Die Bundesregierung wird sich auch weiterhin mit der Frage weiterer politischer Gesten gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus auseinandersetzen.

[Frage] 15. Sieht sich die Bundesregierung mittlerweile veranlasst, aus der Urteilsbegründung des Internationalen Gerichtshofs (IGH) vom 3. Februar 2012 irgendwelche Konsequenzen zu ziehen, etwa hinsichtlich der Aufnahme von Gesprächen entweder mit NS-Opfern oder der italienischen Regierung über wenigstens symbolische, humanitäre Leistungen für überlebende NS-Opfer bzw. deren Angehörige (bitte gegebenenfalls erläutern)?

Die Bundesregierung sieht durch das Urteil keine Veranlassung, ihre Rechtsauffassung zu Entschädigungsfragen zu ändern. Gegenstand des Verfahrens war die Verletzung des völkerrechtlichen Grundsatzes der Staatenimmunität, dessen Geltung vom Internationalen Gerichtshof (IGH) bestätigt wurde. Die Bundesregierung hat sich dabei stets zu ihrer moralischen Verantwortung für NS-Verbrechen bekannt. Die Bundesregierung wird auch weiterhin versuchen, ihrer Verantwortung gegenüber den Opfern durch politische Gesten gerecht zu werden und sich hierbei zunächst auf die Empfehlungen der Historikerkommission stützen. Die Umsetzung dieser Empfehlungen ist aus Sicht der Bundesregierung vorrangig vor anderen Überlegungen.” (Seiten 6-7 des pdfs 17/10480 Fett im Original, meine Kursiven).


Einsortiert unter:Faschismus, Geschichtspolitik

Quelle: https://kritischegeschichte.wordpress.com/2012/09/05/kleine-anfrage-zur-deutsch-italienischen-historiker_innenkommission/

Weiterlesen

Gewalträume – Michael Wildt diskutiert eine globale Verflechtungsgeschichte der genozidalen Gewalt im 20. Jahrhundert

Gefangene Herero-Frauen, DSWA, 1904; Bildarchiv der Dt. Kolonialgesellschaft, Frankfurt/M.

Seit einiger Zeit debattiert die Osteuropageschichte und zunehmend auch die NS-Forschung die räumliche Wendung in der historischen Genozidforschung und ihr bisher prominentestes Ergebnis, Timothy Snyders Bloodlands (München 2011). In der Süddeutschen Zeitung Online (23.5.12) diskutiert der Berliner Historiker Michael Wildt nun unter dem Titel “Ist der Holocaust nicht mehr beispiellos?” die Möglichkeiten, Probleme und die Kritik an dieser neuen Lesart der genozidalen Gewalt in Mittel- und Osteuropa. Insbesondere die Einfügung des Holocaust in die Gewaltgeografie des 20. Jahrhundert ist dabei umstritten. Wildt argumentiert in dieser Hinsicht weniger über die historische Methodik des einebnenden Systemvergleichs, sondern über neuere Konzeptionen der Verflechtungs- und Transfergeschichte:

Das gilt besonders für die “bloodlands”. Gewalt wird durch die vergleichende Analyse nicht gleich, sondern klarer. Die Schoah gehört in diesen Gewaltzusammenhang des zwanzigsten Jahrhunderts wie die stalinistische Politik und die europäische koloniale Gewalt in Afrika, Asien und Lateinamerika – als vielfach verflochtene, aufeinander Bezug nehmende, aber eben keineswegs gleichzusetzende Geschichte.

Damit werden die ideologischen und methodischen Untiefen des Historikerstreits von 1986/87 vermieden, ohne die globalen Beziehungen der verschiedenen genozidalen Ereignisse und Handlungen zu verdecken.

Zum “komplexen Geschehen, das Historiker heute untersuchen”, gehöre so Wild “eine Vielzahl von Gewaltakteuren, Gewaltsituationen und Gewaltentscheidungen”.  Dies führt zu einem weiteren Desiderat, das Wild nicht explizit anführt. Eine globale Transfergeschichte, die genozidale Gewalt als eine Geschichte verflochtener Räume, Ideologien und Handlungen zeigt, darf die Ebene der lokalen Aushandlung von Gewalt nicht übersehen. Diese Ebene sollte nicht hinter Chiffren wie “Kollaboration” oder “Mitschuld” verschwinden. Die Beziehungen und Aushandlungen auf und zwischen unterschiedlichen Untersuchungsebenen sind v.a. eine Herausforderung an die zukünftige Darstellung historischer Gewalt.


Einsortiert unter:Faschismus, Geschichte, Geschichtspolitik, Globalgeschichte, Kolonialismus, Methodik

Quelle: https://kritischegeschichte.wordpress.com/2012/05/23/gewaltraume-michael-wildt-diskutiert-eine-globale-verflechtungsgeschichte-der-genozidalen-gewalt-im-20-jahrhundert/

Weiterlesen

“Gernika kämpft gegen das Vergessen”

So der Titel eines Beitrags von Ralf Streck auf Telepolis über den Umgang der spanischen Regierung mit der Stadt Gernika. Bis heute erkennt diese das Kriegsverbrechen offiziell nicht an:

Die neue Regierung hat sich offensichtlich im Rahmen der Gedenkfeiern sogar zu Provokationen entschlossen. Denn so stufen es die Basken ein, dass ausgerechnet am Dienstag spanisches Militär zu Übungen im Dorf Elgeta einlief. Das war genau der Tag, an dem auch dieses Dorf vor 75 Jahren bombardiert wurde und nach sieben Monaten im Widerstand in die Hände der Putschisten fiel. Sie bekamen “freie Hand zum Mord und Vergewaltigung”, sagte Bürgermeister Oxel Erostarbe.

Die Verharmlosung, wenn nicht gedenkpolitische Stützung des Franco-Faschismus ist kein Einzelfall, wie  hier im Blog bereits in einem anderen Kontext vermerkt wurde.

Deutschland, genauer der Bundestag, hat sich 1998 etwas halbherzig entschuldigt. Es floss mal ein wenig Geld für eine neue Sporthalle. Aber so richtig konsequent ist man dann hierzulande auch nicht:

Erst am 6. Juni 1939 ehrte Adolf Hitler in Berlin seine Soldaten für ihren “heroischen Einsatz”. Die Straße, auf der einige der eingesetzten Soldaten defilierten, wurde von der “Wannsee-Allee” in die “Spanische Allee” umbenannt. Unter diesem Namen erinnert sie noch heute an die “Helden” im “Kampf gegen den Bolschewismus”.

So schauts aus. Aber es gibt auch Gegenwehr. Wie zum Beispiel durch diesen spanischen Richter.


Einsortiert unter:Erinnerung, Faschismus, Geschichtspolitik

Quelle: http://kritischegeschichte.wordpress.com/2012/04/26/gernika-kampft-gegen-das-vergessen/

Weiterlesen

Nachdenken als Gedenken – Michel Foucaults Vorlesung über Biomacht und Rassismus vom 17. März 1976

Morgen findet in Berlin die “Gedenkfeier für die Opfer der fremdenfeindlichen Mordserie” (Bundespräsidialamt) statt. Von einer Gruppe Neonazis ermordert wurden zwischen 2000 und 2006 Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter (meine Quelle ist hier Wikipedia).

Das Gedenken an die Opfer des Rassismus und das Mitgefühl für ihre Angehörigen, die durch rassistische Voreingenommenheit der Öffentlichkeit, der Medien und der Polizei nach der Ermordung ihrer Väter, Brüder, Söhne und Freunde zum zweiten Mal Opfer wurden, könnte ein guter Anlass sein, über die Grundlagen rassistischen Denkens in modernen Gesellschaften nachzudenken. Ein interessanter Ansatz, der Rassenlehre, “Bevölkerungspolitik”, staatliche Herrschafts- und Reinigungstechniken vom Gesundheitsamt über Grenzregime und Einwanderungpolitiken zu kriminalpolizeilichen Screening-Methoden bis hin zur absoluten Vernichtungspolitik des Holocaust differenziert erfassen kann, ist Michel Foucaults “Biomacht”. Man muss nicht in allen Teilen mit dieser Sicht der Rassismus-Geschichte einverstanden sein – zumindest aber regt sie zum Nachdenken über den Zusammenhang von Rassismus und staatlicher Herrschaft an, im Nationalsozialismus und weit darüber hinaus.

Der Berliner Philosophie-AK MoMo hat den Schlüsseltext, Foucaults Vorlesung am Collège de France vom 17. März 1976 (gedruckt erschienen bei Suhrkamp 1999 in der Übersetzung von Michaela Ott), online gestellt. Danke dafür.

 


Einsortiert unter:Faschismus, Geschichte, Geschichtspolitik

Quelle: https://kritischegeschichte.wordpress.com/2012/02/22/nachdenken-als-gedenken-michel-foucaults-vorlesung-uber-biomacht-und-rassismus-vom-17-marz-1976/

Weiterlesen

Karl Bosl in Cham abmontiert

Wie die Süddeutsche Zeitung (sueddeutsche.de, 29.11.2011, 12:20) gestern berichtete und der Nachrichtendienst für Historiker verlinkte, hat der Stadtrat von Cham vergangene Woche beschlossen Karl Bosl (1908-1993) die Ehrungen durch seine Geburtsstadt abzuerkennen. Ummittelbar danach wurde das Straßenschild des nun ehemaligen Prof.-Karl-Bosl-Platzes abmontiert. Gleiches soll mit einer 50.000 Euro teueren Bronzebüste Bosls geschehen, die die Stadt 2003 aufgestellt hatte.  Zuvor hatte der Stadtrat den Stadtarchivar Timo Bullemer beauftragt, Vorwürfe zu prüfen, Bosl habe seine Rolle als Widerstandskämpfer während der NS-Zeit erfunden.

Bosl – Erneuerer der Bayerischen Landesgeschichte im Sinne einer Struktur- und Sozialgeschichte in den 1950er und 60er Jahren -  war seit 1930 Mitglied des Stahlhelm gewesen, im Mai 1933 in die NSDAP, in den NS-Lehrerbund und danach auch in die SA eingetreten. Der Historiker Matthias Berg verweist in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft darauf, dass Bosl zunächst keine aktive Rolle in den NS-Organisationen eingenommen habe, die Mitgliedschaft  sogar nach Wohnungswechseln einschlafen ließ. Nach seiner Promotion 1938 allerdings erwies sich Bosl als linientreuer Nachwuchsforscher und übernahm ein Forschungsprojekt des SS-Ahnenerbes zur Lehensgeschichte. Dass dem jungen Bosl keine Dozentur zuerkannt wurde, lag viel eher daran, dass das Kriegsende nahte, als an einer vermeintlich Widerstandstätigkeit, wie Bosl nach 1945 vorgab. Um eine Einstufung als ‘Mitläufer’ zu verhindern, gab Bosl unter Eidesstatt an, er sei Mitglied des Ansbacher Widerstands gewesen. Zeugen oder Quellenbelege gibt es dafür keine. Im Gegenteil deuten die von Berg  untersuchten Akten auf eine ‘mustergültige’ Wissenschaftlerkarriere und Vernetzung im NS-Wissenschaftsapparat hin, die vor allem über die Beziehung zu seinem Lehrer Karl-Alexander v. Müller ging.

Vgl. Matthias Berg, Lehrjahre eines Historikers. Karl Bosl im Nationalsozialismus, in: ZfG 59 (2011) 1, S. 45-63.


Einsortiert unter:Biographie, Faschismus, Geschichte, Geschichtspolitik, Historiker

Quelle: http://kritischegeschichte.wordpress.com/2011/11/30/karl-bosl-in-cham-abmontiert/

Weiterlesen