Interview: Bernadette Burchard über materielle und immaterielle Kirchenschätze

Domschatz von Minden. © Bernadette Burchard, Düsseldorf

Mittelalterliche Kirchenschätze bestanden nicht nur aus kostbaren Materialien wie Gold und Edelsteinen. Auch handelte es sich bei Ihnen nicht um Kleinode, die nur unangetastet in dunklen, geheimen Verstecken lagerten. Wie die Schätze vielmehr durch immaterielle Vorstellungen und konkreten Praktiken konstituiert wurden, untersucht die GRK1678-Stipendiatin Bernadette Burchard in ihrem Dissertationsprojekt “Mittelalterliche Kirchenschätze Westfalens: Eine Analyse des Verhältnisses von Materialität, immateriellen Schatzvorstellungen und Schatzpraktiken anhand der Domschätze von Münster und Osnabrück und ihrer schriftlichen Überlieferung”. Lesen Sie im folgenden Interview von den Verhältnissen zwischen Materialität und Immaterialität bei Kirchenschätzen und Bernadette Burchards Arbeit im GRK1678.

Liebe Bernadette, wie entstand Dein Interesse an “Materialität” und “Produktion”?

Mein Interesse für Fragen der “Materialität” und “Produktion” entwickelte sich schon während des Studiums. Neben meinem Hauptfach Geschichte des Mittelalters habe ich auch Kunstgeschichte studiert. Außerdem besuchte ich nebenbei Veranstaltungen in Fächern wie Archäologie oder Ur- und Frühgeschichte, die den Fokus auf den Sachquellen haben. In der Kunstgeschichte hat mich die Kunsttechnologie immer besonders angesprochen, denn wenn man um die Produktionsprozesse weiß, bekommt man einen ganz anderen Blick auf die Gegenstände. Es war daher kein Zufall, dass ich in meiner Dissertation zu den mittelalterlichen Kirchenschätzen neben den klassischen Quellen des Historikers auch die Sachquellen, also die Kirchenschätze selbst, in die Untersuchung miteinbeziehen möchte.

Die mittelalterlichen Kirchenschätze von Münster und Osnabrück sind Dein Forschungsobjekt. Du gehst aber davon aus, dass immaterielle Konzepte von ‚Schatz’ die tatsächliche Herstellung von Kirchenschätzen beeinflussten. Könntest Du uns hierzu ein Beispiel nennen?

Das wichtigste Schatzkonzept des Christentums ist immateriell, gemeint ist die christliche Lehre als der größte Schatz. Damit einher geht eigentlich die Ablehnung materieller Reichtümer. Das Gleichnis vom Kamel, das eher durch ein Nadelöhr passt, als dass ein Reicher ins Himmelreich kommt (Mt 19, 24; Mc 10, 25; Lk 18, 25), ist hier bezeichnend. Allerdings benutzt auch die Bibel eine Bildsprache in der kostbare immaterielle Dinge mit kostbaren materiellen Dingen gleichgesetzt werden, z. B. gleicht die christliche Lehre einer Perle (Mt 13, 46). Das himmlische Jerusalem besteht aus Gold und Edelsteinen (Apc 21, 18-20). Diese Bildsprache wurde in den Kirchenschätzen umgesetzt. Deshalb wurden bspw. die Gebeine von Heiligen, die zu Lebzeiten materiellen Reichtum abgelehnt hatten, in Behälter aus Gold und Silber gegeben. Es war ein didaktisches Mittel, um ihre Heiligkeit augenscheinlich zu machen, das im Grunde noch aus der Antike stammte, in der Reichtum sozialen Status bzw. Macht darstellte. Das Armutsgebot wurde jedoch nie ganz vergessen, so gebot es die christliche Caritas (Nächstenliebe), dass der Kirchenschatz in Notsituationen für die Gläubigen eingesetzt werden sollte. Für die materiellen Kirchenschätze bedeutet dies im Umkehrschluss, dass sie einen hohen ökonomischen Wert haben können, aber niemals müssen.

Neben der Materialität und Produktion von Schätzen interessiert Dich auch der Umgang mit Schätzen. Was wurde mit den Kirchenschätzen angestellt?

Kirchenschatzobjekte waren in die verschiedensten Funktionszusammenhänge eingebunden und eigentlich mit allen Bereichen des Lebens verknüpft: Als liturgische Geräte waren sie unverzichtbar für den Gottesdienst. Gestiftete Ensemble und Einzelstücke dienten der Memoria ihrer Stifter. Dabei ging es nicht nur darum etwas für das eigene Seelenheil zu tun, sondern auch seinen gesellschaftlichen Status zu präsentieren und zu konservieren. Im Kirchenschatz als Ganzem spiegelte sich die spirituelle, politische und soziale Identität der Gemeinde. Seine verschiedenen Funktionen trugen dazu bei, dass sich ein Kirchenschatz in einem permanenten Wandel befand, also gerade kein Schatz im Sinne eines Hortes, Piratenschatzes oder heute Museumsobjektes war.

Das GRK ist nicht nur interdisziplinär, sondern umfasst auch verschiedene historische Epochen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Wie erlebst Du die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Disziplinen und Fachbereichen?

Für mich ist das GRK ein großartiger Rahmen, um die eigenen Forschungsfragen interdisziplinär zu diskutieren und somit den eigenen Horizont zu erweitern. Dabei wird auch das gegenseitige Verständnis geschärft, indem man die Unterschiede, aber auch die Schnittmengen der verschiedenen Disziplinen und Epochen auslotet. Häufig bekommt man Anregungen und Ideen aus Richtungen mit denen man nicht gerechnet hätte. Das empfinde ich als sehr bereichernd.

Quelle: http://grk1678.hypotheses.org/413

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Interview: Prof. Vittoria Borsò zu den Schlüsselbegriffen des GRK1678

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Ausschnitt aus: Roland Barthes, L’empire des signes, Paris: Seuil 1970, S. 14f.

‘Materialität’ meint nicht nur Material. Auch ist ‘Produktion’ kein Synonym für Herstellung. Welche Implikationen ‘Materialität’ und ‘Produktion’ theoretisch wie methodisch in literaturwissenschaftlicher Hinsicht besitzen, haben wir daher Prof. Vittoria Borsò gefragt. Vittoria Borsò ist emeritierte Professorin für Romanistik an der HHU Düsseldorf sowie stellvertretende Sprecherin des GRK1678 und zeichnet sich u.a. durch ihr profundes theoretisches Wissen aus. Dazu arbeitete sie in ihrer vielseitigen akademischen Karriere mit Vorliebe interdisziplinär und international. Die ideale Gesprächspartnerin also, um sich den Schlüßelbegriffen unseres Graduiertenkollegs anzunähern.

Liebe Frau Borsò, gleich zu Beginn eine Frage, die banal wirkt, aber schwierig zu beantworten ist: Was ist die Materialität der Literatur?

Die Poiesis, nämlich das materielle Herstellen, kennzeichnet Literatur als eine Arbeit am sprachlichen Material, die gewohnte Sinnbezüge verändert. Insofern scheint die Rede der Materialität der Literatur unmittelbar evident zu sein. Es sind die materiellen Prozesse von humanen und nicht-humanen Mediatoren, nämlich Schriftstellern und Lesern, aber auch Techniken des Schreibens, Notierens, Druckens und Publizierens. Die Frage der Materialität der Literatur hat mit diesem Fokus Studien zu Handschriften, typographischen Prozessen, Formen des Archivierens u.s.w. neu belebt. Trägermaterialien, Schreibstoffe und –geräte, Formate und Techniken sowie die Genese von Texten werden neu beleuchtet. Doch heißt Materialität mehr als nur das sprachliche Material oder die materiellen Prozesse der Herstellung und Archivierung von Literatur. In einer im Abendland eher vergessenen, aber mächtigen Tradition, die auf das von Aristoteles postulierte Verhältnis zwischen der Form und der Substanz ihrer Materie (Hylemorphismus) zurückgeht, ist Materialität etwas “vorgängiges”, “zuvorkommendes”, das was man zwar in kognitiven Prozessen nicht mehr sieht, aber das Werden der Form zuallererst ermöglicht. Die Materialitätswende der Kulturwissenschaften hat diese Tradition wiederaufgenommen, um in der materiellen Ästhetik von Medien – Sprache, Schrift, Bild – die Dynamik des Werdens und die Potenz des Sich-Ereignens beschreiben zu können. Was ist also Materialität der Literatur? Materialität ist ein pool von akustischen, visuellen, körperlichen, imaginativen Energien, aus dem heraus Sinnprozesse werden und sich transformieren. In diesem Sinne muss man fragen, was Materialität in literarischen Texten macht. Und dies ist mein Interesse. Denn wenn wir so fragen, sehen wir, wie sich in der Materialität der Buchstaben und des Klangs ein Raum öffnet, auf den der Literaturwissenschaftler blickt. Der Raum der literarischen Schrift hat eine Eigenzeit (Rhythmen, Reime etc.) und eine eigene topologische Ordnung, in der sich das Verhältnis von Subjekt und Welt, Dingen und Menschen jeweils anders und neu ereignet. Hier werden affektiv Erfahrungen mobilisiert, Blicke werden beweglich, Kontingenzen in der Ordnung sichtbar, mögliche Welten denkbar. Stéphan Mallarmé hat diesen Raum von kontingenten Dynamiken und möglichen Welten durch die auch mathematisch errechnete Disposition der Schrift auf der weißen Seite sichtbar gemacht. Dies ist durch traditionelle hermeneutische oder semiotische Methoden deshalb nicht fassbar, weil diese Methoden im Material der literarischen Sprache nur den Träger eines außerhalb der Materialität (in der Geschichte, der Struktur oder der Realität) bestehenden Sinns sehen. Wenn man also nicht den Sinn, sondern zunächst die Dynamik des Werdens als Eigensinn der Materialität der Schrift beschreibt, so können unerwartete Fragen oder Sinnhorizonte hervorgehen, die andere Pfaden des Denkens, Sehens, Erfahrens erschließen. Dies ist methodisch höchst produktiv, und zwar nicht nur für diejenige (moderne oder aktuelle) Literatur, die extreme Grenzbereiche der Erfahrung oder des Wissens aufsucht, sondern auch in Bezug auf historische Epochen. Wie anders könnte man die Transformationsprozesse der Schrift von Vita Nuova zur Divina Commedia als den Materialitätsraum entdecken, in dem sich Dante als auctor novus ermächtigt, um im Paradies die Überschreitung der Grenzen des Menschlichen zu wagen? Oder die Schrift des Canzoniere bei Petrarca als Raum eines sich durch Affekte materialisierenden Subjektes? Wie die Linie entdecken, der in einer Art parasitären Genealogie von Brunetto Latini zu Giordano Bruno geht? Wie die immanente Ontologie von Diderot, der materiellen Netzwerken und dem Körper eine Potenzialität zuschreibt, welche die Erkenntniskraft des Geistes überschreitet? Derartige Latenzen, denen ich meine Untersuchungen gewidmet habe, sind bei der diskursiven Markierung des Denkens zugunsten einer Materialitätsblindheit abgewählt oder vergessen worden.

“Materialität” und “Produktion” werden im GRK 1678 in Relation zueinander untersucht. Wie ist diese Relationalität in Bezug auf die Literatur zu denken? Können Sie uns ein Beispiel geben?

Wenn Texte mehr als Container von Inhalten sind, und Inhalte über die Form generiert werden, wie schon die Russischen Formalisten und Prager Strukturalisten postuliert haben, so gilt die Relationalität von Form und Inhalt für die literarische Schrift umso mehr. Heute wissen wir, dass sich diese Relationalität als ein Verhältnis von Materialität und Produktion darstellt. Die Dynamik dieses Verhältnisses ist nicht vorgegeben. Sie entwickelt sich vielmehr im Schreibprozess selbst. Beeindruckender Beleg hierfür ist die Fluidität der Schrift in den Varianten eines Wortes oder eines Satzes bei der Genese literarischer Texte, die man heute in der New Philology bzw. der critique génétique untersucht. Aber wie die Materialität muss ihre Relation zur Produktion auf einer grundsätzlicheren Weise betrachtet werden. Materielle Prozesse der Verdichtung wie Rhythmen, Metaphern, aber auch der Verknappung wie Lücken, Leerstellen, Fragmentierung, minimalistische Tendenzen zur Stilisierung von Alltagsdiskursen oder Kleinformen induzieren über das Imaginäre verschiedene Prozesse der psychomotorischen, affektiven, kognitiven und visuellen Produktion, bei der die Arbeit und die Investition des schreibenden und lesenden Subjektes in Abhängigkeit von der materiellen Beanspruchung des Textes steht. In diesem Sinne hat schon Charles Baudelaire das Schreiben als Arbeit, als travail journalier, bezeichnet. Der Literaturwissenschaftler muss also in der Materialität der Schrift die verschiedenen Strategien, Wege und parcours dieses Verhältnisses beschreiben. Erst diese Beschreibung kann die Produktion eines für die Literatur eigenen, poetologischen Wissens freilegen, das an der Konstitution der jeweiligen historischen Welten beteiligt ist und/oder diese transzendiert bzw. gegenüber Normalisierungsprozessen widerständig ist. Literarische Darstellung lebt aus dem jeweiligen Verhältnis des Materialitätsraums der Schrift und der sich in diesem produzierenden Ereignisse – und dies auch im Sinne einer szenischen Hervorbringung emergenter Wissensordnungen und/oder affizierender Erfahrungen einer Physis, die ein anderes, ein ‚situiertes‘ Wissen des Lebens nahebringt. Die Produktionsprozesse sind im literarischen Medium mehr als nur Vermittler von Inhalten, die übersetzt werden, im Sinne des gelungenen Transports eines mobilen Guts von einem Ufer zum anderen. Sie sind vielmehr eine Art Übersetzen, d.h. ein Insistieren auf dem Übergang, auf dem Materialitätsraum der Schrift. Produktionsprozesse sind also Mittler einer Dynamik, welche zum einen ein selbstreflexives Rückblicken auf die eigene Medialität induziert, zum anderen aber auch alles in diesem Raum zum Akteur werden lässt, so dass das schreibende und lesende Subjekt kognitiv, imaginativ und sinnlich Alteritätserfahrungen und Transformationen durchmachen kann. Dies ist die Politik der Materialität der Schrift, um dies in den Begriffen von Jacques Rancière zu fassen. Mir fällt das Beispiel der kleinsten Kurzgeschichte der Weltliteratur ein, die auch Italo Calvino im Kapitel “Rapidità” der Lezioni americane (American Lessons) als Beispiel für die Kunst der mentalen und physischen Geschwindigkeit literarischer Texte erwähnt. Es ist die Mikrogeschichte des guatemaltekisch-mexikanischen Autors Augusto Monterroso: “Cuando despertó, el dinosaurio todavía estaba allí.” / “Als er aufwachte, war der Dinosaurier immer noch da”. Hier gründet die Dynamik des Verhältnisses von Materialität und Produktion auf der (ebenfalls von Calvino gelobten) ikonischen Präzision und zugleich minimalistischen Reduktion des Sprachmaterials bei einer immensen Potenz der Eigenzeit und der topologischen Verhältnisse, die von dieser Materialität produziert werden: Die Präsenz eines Akteurs, des Dinosauriers, der in der kürzesten Erzählzeit eine Zeitreise von Jahrtausenden anregt; die auch körperliche Erfahrung des Fremden und des Erstaunens; die paradoxe und doch spekulativ und imaginativ reale Koexistenz des Prähumanen und des Alltäglichen, die zur reflexiven Auseinandersetzung mit den Grundlagen der abendländischen Philosophie inspiriert.

Das GRK 1678 verfolgt einen interdisziplinären Ansatz. Wer ihre beeindruckende Publikations- und Vortragsliste liest, erhält den Eindruck, dass Sie diese Interdisziplinarität geradezu verkörpern. Worin sehen Sie den Gewinn, aber auch die Schwierigkeiten dieser interdisziplinären Ausrichtung im GRK?

Die Frage der Überschreitung von Disziplingrenzen stellte sich für mich nie, oder vielmehr ich war immer von der curiositas getrieben. Ich war neugierig, mehr zu erfahren über die wunderbaren Gegenstände der anderen Disziplinen, über ihre Verfahren und methodischen Vorgehensweise. Ich glaube, dass wissenschaftliche Neugierde der Motor unseres Tuns, aber auch die Gnade unserer Arbeit ist. Dies lässt sich wissenschaftlich begründen: Es ist die Anziehungskraft des Fremden, die uns treibt. Aber auch ganz rational und erkenntnistheoretisch: Wenn man über den Tellerrand der eigenen Disziplin schaut, dann sieht man besser, was die eigene Wissenschaft tut, welche ihre Grenzen, aber auch Vorzüge sind. Umgekehrt gilt es ganz definitiv: Interdisziplinarität ist nur dann möglich und produktiv, wenn sie auf einer profunden und sicheren Beherrschung der eigenen Disziplin basiert. In einem interdisziplinären Forschungsverbund ist dies ein ernst zu nehmendes Problem für junge Promovendinnen und Promovenden, die sich bei der Arbeit am eigenen Dissertationsprojekt in ihrer eigenen Disziplin erst finden und stabilisieren sollen. Deshalb ist neben den interdisziplinären workshops ganz wichtig auch eine enge und regelmäßige Zusammenarbeit über Themen, Methoden und Theorien der eigenen Disziplin.

Was das inter- oder gar transdisziplinäre Potential eines Nachdenkens über die Relation von Materialität und Produktion betrifft, so ist dieses sehr hoch. Ich hatte zwar Aristoteles als Referenzautor für Materialität erwähnt. Aber gerade neuere Philosophen wie Henri Bergson zeigen, dass die Grundlagen der Materialität, nämlich eine substantielle Ununterscheidbarkeit von Geist und Materie im gemeinsamen Werden von Formen und Bildern, die Bergson in Bezug auf das Gedächtnis entwickelt (Matière et mémoire) und Gilles Deleuze im Bereich des bewegten Bildes des Kinos wiederaufnimmt, von den Erkenntnissen der frühen Quantenphysik gewonnen wurden. Später hat gerade die französische Epistemologie kognitive Konfigurationen und Problemstellungen des Materialitätsparadigmas im Zusammenhang von Physik, Biologie, Biogenetik und Medizin erarbeitet. Und auch die wissenspoetologische Produktion aus der Materialität der Literatur ist im Bereich der Ökonomie schon eindringlich gezeigt worden. Insofern werden unsere Promovenden nicht nur auf die Zusammenarbeit mit affinen Disziplinen vorbereitet, sondern auch auf die Herausforderungen transdisziplinärer Fragen, die heute vom komplexen Setting biologischer, ökologischer oder technischer Prozesse an die scientific community gestellt werden.

Die Wissenschaft arbeitet u.a. mit verschiedenen Materialien und produziert Wissen. Besitzt die historische und systematische Beschäftigung mit “Materialität” und “Produktion” auch eine methodologische Relevanz in dem Sinne, dass die eigene Arbeit reflektiert wird?

Es ist eine wichtige Frage, die ich ohne Zögern mit “ja” beantworte, weil sich dies auch schon aus den vorangehenden Begründungen und Beispielen ergibt. Wenn Materialität das „Vorgängige“ und das energetische Pool ist, aus dem Formen werden, wenn wir also diesen ontogenetischen Zugang zu unserer Kultur wählen, dann reflektieren wir anhand der Mediationen, die sich im Zusammenspiel von Materialität und Produktion ergeben, auch über die Bedingungen unserer eigenen Arbeit, über die materiellen Rahmen und Techniken, die die Produktion unseres eigenen Wissens ermöglichen, ja dieses verfertigen – samt der materiellen Zwänge der erzeugten Diskurse. Nur auf diesem Wege können wir systematisch und historisch auch auf Unerwartetes stoßen. Und dies erfahren zu können oder auch zu erhoffen, ist ein besonders großes Glück.

Quelle: http://grk1678.hypotheses.org/373

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Ein Jahr, ein Bild?

Ausstellung „World Press Photo 2005 Amsterdam
Ausstellung „World Press Photo 2011", 28.4.2011, Museos Científicos Coruñeses

Ausstellung „World Press Photo 2011″, 28.4.2011, Museos Científicos Coruñeses/Flickr CC 2.0

Als der Verfasser dieses Textes 2009 seine Dissertation abschloss, lagen insgesamt 49 World Press Photos of the Year vor. Seit 1955 waren sie durch eine in den Niederlanden ansässige Stiftung mit unablässigem Einsatz aus der immer größer werdenden Flut von Einsendungen herausdestilliert worden. Dass 2014 mehr als 5000 professionelle Fotografen rund 100.000 Fotos zur Begutachtung einsandten, illustriert den enormen Stellenwert dieses eigentlich impertinenten Preises. Steht es einem Foto tatsächlich zu, das Pressefoto des Jahres zu sein? Kann es in seiner endlichen Anzahl von Bildelementen die theoretisch unendliche Komplexität eines Jahres dahingehend verdichten, einen absoluten Bezugspunkt in der retrospektiven Betrachtung seiner Zeit zu verankern? Und lassen sich darüber hinaus überhaupt nachvollziehbare Maßstäbe für die Wahl eines Pressefotos des Jahres formulieren, die sich zumindest nachträglich aus der Analyse des Materials ableiten lassen?

Zu Beginn der 2000er-Jahre war es trotz der bereits einsetzenden Digitalisierung der Fotografie noch möglich, gemeinsame Strukturmerkmale der Siegerbilder pointiert zu formulieren. „Noch nie ist ein Gesamtsiegerfoto aufgetreten, das in technischer Hinsicht mit dem Attribut ‚experimentell‘ belegt werden müsste […]. In den Jahrzehnten der Juryarbeit hat sich demnach eine erkennbare Traditionslinie etabliert: Auch wenn an den Fotografen die Forderung nach einer herausragenden Kreativleistung gerichtet wird […], muss sich sein Bild gleichzeitig innerhalb bestimmter Gestaltungsmuster bewegen. Die optische Umsetzung hat primär der effizienten Illustration des nachrichtlichen Inhalts und allenfalls sekundär der Verdeutlichung technischer Möglichkeiten zu dienen.“[1]

Erfreulicherweise ließe sich die hier zitierte Aussage in dieser Absolutheit heute nicht mehr treffen. In den letzten Jahren wandten sich die international besetzten Jurys wiederholt Bildern zu, die kein punktuelles Ereignis herausgriffen, sondern vielmehr ein komplexes Thema. Einen vorläufigen Höhepunkt markierte dabei das im Jahr 2014 ausgezeichnete World Press Photo 2013. Der US-Fotograf John Stanmeyer zeigte eine Gruppe afrikanischer Migranten, die bei Nacht am Strand der ostafrikanischen Stadt Dschibuti versuchen, ihre Mobiltelefone mit dem nicht weit entfernten Netz des benachbarten Somalias zu verbinden. Von einer geglückten Verbindung hängt der Kontakt zu zurückgelassenen Familien und Freunden ab – eine universell verständliche Problematik, in denen Bezüge zu drängenden Themen wie Globalisierung und Migration, aber auch die vollständige Technisierung der Kommunikation mitschwingen. Das minimalistische Available Light-Foto setzt sich deutlich von der Bildsprache anderer Gesamtsiegerfotos ab. In seiner Innovationskraft markiert es sogar zu den anderen Fotos dieses Jahrzehnts einen wirksamen Kontrapunkt. Zuletzt hatten sich weitaus traditionellere Bildkonzepte durchgesetzt: 2011 gewann das formal inszenierte Kopfporträt einer in grausamer Weise entstellten Afghanin. Die im Stil einer Pietà dokumentierte Fürsorge einer Mutter im Jemen für den an den Folgen einer Tränengasattacke leidenden Sohn setzte sich 2012 durch. 2013 folgte eine wegen des nachträglichen Einsatzes digitaler Beleuchtungseffekte kontrovers diskutierte Darstellung einer aufgebrachten Menschenmenge in Gaza-Stadt.[2]

Hinter dieser scheinbaren Diskontinuität stehen langfristige Trends bei der Wahl des Gesamtsiegerfotos, aber auch innerhalb des globalen Bildermarkts. Um die Rolle von World Press Photo innerhalb dieses Systems verständlich zu machen, soll nun zunächst auf die Stiftung selbst und die für sie ausschlaggebenden Ziele eingegangen werden. Im Anschluss werden die Gesamtsiegerfotos innerhalb eines größeren Verständniskontexts analysiert. Außerdem werden zentrale Ergebnisse zweier Inhaltsanalysen vorgestellt, in denen sämtliche in den Jahrbüchern von World Press Photo publizierten Fotos analysiert worden sind.

 

Die Stiftung World Press Photo: Geschichte, Arbeitsweise und Bedeutung

Anlass zur Gründung von World Press Photo war – wie so häufig – ein Jubiläum: 1955 existierte die Niederländische Vereinigung der Fotoreporter (NVF) seit 25 Jahren als Interessenvertretung und gleichzeitig als Forum des Erfahrungsaustauschs. 1948 hatte die NVF im Rahmen ihres jährlichen Treffens damit begonnen, in einem zunächst kleinen Rahmen die Fotos ihrer Mitglieder zu präsentieren. Bedingt durch den großen Erfolg entwickelte sich das Projekt nach und nach zu einem nationalen Wettbewerb für niederländische Fotojournalisten und wurde unter dem Namen „Silberne Kamera“ bekannt.[3] Um ihr langjähriges Bestehen zu feiern, beschloss die NVF, ihre Ausstellung für das Jubiläumsjahr zu einem internationalen Wettbewerb auszuweiten. „The impulse behind the idea was that Dutch photojournalists would benefit from exposure to work of international colleagues.“[4]

 

Sitz der Stiftung in Amsterdam

Sitz der Stiftung in Amsterdam, 2005 © A. Godulla

Sitz der Stiftung in Amsterdam

Sitz der Stiftung in Amsterdam, 2005 © A. Godulla

Obwohl sich zunächst nur die relativ kleine Zahl von 42 Fotografen aus elf Ländern mit 301 Fotos an dem neu geschaffenen Wettbewerb beteiligte, wurde die Veranstaltung von den Initiatoren als großer Erfolg wahrgenommen. Unter dem Dach der NVF sollten noch drei weitere Ausstellungen organisiert werden, ehe 1960 die eigenständige Stiftung World Press Photo gegründet wurde. Als unabhängige Organisation hat sie sich dem Non-Profit-Prinzip verschrieben: Das Stiftungsziel besteht nicht in dem Erwirtschaften eines Gewinns, sondern in der Erfüllung des gemeinnützigen Grundgedankens. Sämtliche Aktivitäten haben den Zweck, professionellem Fotojournalismus ein Forum zu bieten und ihn in seiner Entwicklung zu unterstützen.

Innerhalb der Organisation wird der Erfolg von World Press Photo auch dem Umstand zugeschrieben, dass sich der Stiftungssitz in den Niederlanden befindet. Das relativ kleine Land war im Zweiten Weltkrieg nicht als Militärmacht auf den Plan getreten und unterhält traditionell eine Vielzahl internationaler Beziehungen. Obwohl schon drei Jahre nach Aufkommen des Wettbewerbs der Gesamtsieg an einen US-Amerikaner ging und sechs Jahre später ein chinesischer Fotograf teilnahm, zeigte World Press Photo – zumindest mit Ausstellungsaktivitäten – lange Zeit ausschließlich in Europa Präsenz. 1969 wurde dabei erstmals eine Grenze überschritten, als die eingesandten Fotos in Japan zu sehen waren. 1977 erreichten die prämierten Fotos auch den Ostblock und wurden in Budapest präsentiert.

Die Stiftung hielt dabei stets an dem Prinzip fest, dass die Ausstellung nur unzensiert und vollständig gezeigt werden dürfe. Es ist nur eine einzige Ausnahme aus den frühen 1990er-Jahren bekannt, als im Iran mit Einverständnis aller beteiligten Fotografen Teile ihrer Fotos mit Klebeband verdeckt oder übermalt wurden. Die Maßnahme diente dazu, insbesondere nackte Frauenhaut zu verbergen. Von Seiten der Stiftung wurde damals argumentiert, dass die grundsätzliche Ablehnung jeder Form von Zensur ausnahmsweise der Chance unterzuordnen sei, in dem autoritären Staat auszustellen. Weitergehende Eingriffe in die Bildauswahl werden jedoch nicht akzeptiert: Beispielsweise existiert keine chinesische Ausgabe des World Press Photo Jahrbuchs, da die Volksrepublik für sich das Recht reklamiert, unliebsame Aufnahmen entfernen zu dürfen.[5]

Diese grundsätzliche Ablehnung jeder Form von Zensur macht World Press Photo zu einem prominenten Vertreter des Konzepts der Pressefreiheit. Über die Internetpräsenz der Stiftung lassen sich heute theoretisch von jedem Ort der Erde die aktuellen Siegerfotos und die Gesamtsieger aller Jahrgänge abrufen. Der ursprünglich kleine nationale Wettbewerb hat sich stetig zu einem international präsenten Forum der Pressefotografie entwickelt. Insofern erscheint die Selbstcharakterisierung von World Press Photo gerechtfertigt, nach der sich die Stiftung in einer Position befindet, „where it not only runs the world’s most prestigious contest of photojournalism, but administers the world’s widest-ranging annual photo exhibition, and offers a breadth of related activities that is unmatched”.[6]

Auch wenn World Press Photo durch die große Öffentlichkeitswirkung des vergebenen Preises primär als Wettbewerbsplattform wahrgenommen wird, engagiert sich die Organisation im Feld der Pressefotografie seit den 1970er-Jahren als ehrenamtlicher Ausrichter von Fortbildungsveranstaltungen. Nachdem bereits damals erste Wochenendseminare in Amsterdam angeboten worden waren, überschritt diese Praxis 1990 eine relevante Professionalisierungsschwelle: Ungarn wurde als Schauplatz des ersten Seminars ausgewählt, das die Stiftung im Ausland organisierte. Als im folgenden Jahr ähnliche Projekte in der Tschechoslowakei und Indonesien realisiert wurden, etablierte sich das Seminarangebot als fester Bestandteil des jährlichen Aktivitätenkanons. Um defizitär entwickelte Mediensysteme sukzessive zu verbessern, werden seitdem primär in Entwicklungs- und Schwellenländern Workshops veranstaltet. Neben technischen Kenntnissen sollen den Teilnehmern auch Zugangswege zu nationalen und internationalen Mediendistributionskanälen vermittelt werden.

Das kontinuierliche Wachstum des Wettbewerbs und der gleichzeitig stattfindende Ausbau der Fortbildungsangebote stellen hohe personelle Anforderungen an World Press Photo. Seit 1986 bedient sich die Stiftung deshalb einer zweigeteilten Organisationsstruktur: Während ein in mehrere Abteilungen untergliederter Stab von circa 20 Personen primär administrativen Aufgaben nachgeht, gibt ein ehrenamtlich tätiger Vorstand die Rahmenbedingungen vor und repräsentiert die Stiftung nach außen. Da dort überwiegend Entscheidungsträger aus der meist niederländischen Medienbranche tätig werden, ist World Press Photo trotz internationaler Ausrichtung weiterhin tief in der heimischen Medienszene verwurzelt.

Cover: World Press Photo 2012

Cover: World Press Photo 2012, © World Press Photo 2013

Der Wettbewerb richtet sich seit seinem Bestehen ausschließlich an professionelle Fotografen. Bereits das erste erhaltene Teilnehmerformular aus dem Jahr 1956 trägt den Hinweis „for professionals only“.[7] Wer Fotos einreicht, muss deshalb gleichzeitig die Daten seines Arbeitgebers angeben oder anhand anderer Dokumente wie dem Presseausweis eine journalistische Tätigkeit nachweisen können. Ein Foto der Mondlandung aus dem Jahr 1969 belegt den hohen Stellenwert dieses Prinzips: Obwohl damals mehr als 600 Millionen Fernsehzuschauer die NASA-Mission live verfolgten, durften die Aufnahmen dieses herausragenden nachrichtlichen Ereignisses nicht um den Gesamtsieg konkurrieren – der Astronaut Neil Armstrong konnte als ihr Urheber nicht als Fotograf im Sinne des Wettbewerbs anerkannt werden. Um sein Foto dennoch zeigen zu können, wurden es außer Konkurrenz in eine Sonderkategorie aufgenommen.

World Press Photo spiegelt so seit Jahrzehnten keinesfalls Fotojournalismus in seiner Gesamtheit wider, sondern konzentriert sich ausschließlich auf dessen professionellen Aspekt. Eine besondere Rolle kommt dabei dem jährlich publizierten Buch zum Wettbewerb zu. Seit es 1962 zum ersten Mal erschienen ist, hat es sich zu einem fest etablierten Multiplikator für Pressefotografie entwickelt. Im immer härter werdenden Konkurrenzkampf um Preise und Auszeichnungen müssen Wettbewerbsfotos eine enorme Prägnanz aufweisen, die sie wiederum für die mediale Verwendung prädestiniert. Indem sie in diesem Kontext auch von Fotografen rezipiert werden, erscheinen sie geeignet, deren Bildsprache zu beeinflussen. Das visuelle Destillat vergangener Jahre wird so zum potenziellen Impuls einer künftigen Entwicklung.

Auf individueller Ebene ist demnach von einem sehr weit reichenden Stiftungseinfluss auszugehen: Indem jeder Teilnehmer unabhängig von seinem Erfolg kostenlos ein Jahrbuch zugestellt bekommt, kann er seine Arbeit mit Fotos vergleichen, die die Jury als preiswürdig erachtet hat. Das Jahrbuch wird so zu einem integrierenden Element, das Fotografen in aller Welt zu einem virtuellen Forum verbindet. Begreift man Fotografie als visuelle Sprache, wird demnach ihr Vokabular und ihre Grammatik nach den Maßstäben der jährlich wechselnden Jury durch World Press Photo modifiziert. Wiederkehrende Phrasen werden von Beobachtern aufgegriffen und in das eigene Aussagespektrum integriert.

World Press Photo wird so zu einem Katalysator moderner Pressefotografie. In einem reaktiven Prozess wird die Arbeit von Fotojournalisten in aller Welt gebündelt, selektiert und als Konzentrat wieder dem System zugeführt. Seit 1998 bedient sich die Stiftung dabei eines zweistufigen Jurysystems, um die Zahl der eingehenden Fotos zunächst massiv zu reduzieren, ehe der eigentliche Bewertungsprozess eingeleitet werden kann. Beide Jurys setzen sich ausschließlich aus international anerkannten Fotografen, Bildredakteuren und Mitarbeitern von Fotoagenturen zusammen. Deren praktisch erworbenes Fachwissen wird so für die Stiftung zu einer wertvollen Ressource, auf deren Grundlage die Jurymitglieder ihre Entscheidungen treffen.

 

Die Gesamtsiegerfotos: Unterschiede und Gemeinsamkeiten

Die überblicksartige Betrachtung aller World Press Photos of the Year macht bei der Siegerverteilung eine deutliche Asymmetrie deutlich: Von 56 seit 1955 prämierten Fotografen stammen allein 19 aus den USA. Damit dominiert dieses Land auf höchster Ebene nicht nur den Gesamtwettbewerb, sondern gleichzeitig auch die Gewinnerauswahl auf dem eigenen Kontinent. Lediglich zwei kanadischen Teilnehmern ist es ebenfalls gelungen, als Pressefotograf des Jahres ausgezeichnet zu werden. Durch die Addition beider Länder wird Nordamerika so mit 21 Siegern zum wichtigsten Kontinent, der sich knapp vor Europa (20) platziert und andere Teile der Erde wie Asien (10), Afrika (3) und Südamerika (2) deutlich hinter sich lässt. Australien kommt überhaupt nicht vor, da noch nie ein dortiger Teilnehmer den Wettbewerb für sich entscheiden konnte.

Diese ungleiche Verteilung reflektiert jene Dominanz der USA und Europas auf dem Sektor der internationalen Pressefotografie, die häufig als prägende Konstellation der vergangenen Jahrzehnte charakterisiert wird.[8] Gleichzeitig illustriert sie jedoch ein weiteres Phänomen: Offenbar spielt neben der kontinentalen Zugehörigkeit eines Fotografen auch die wirtschaftliche und soziale Entwicklung seines Herkunftslandes für die Siegeschancen eine entscheidende Rolle. Dieser Zusammenhang erschließt sich unmittelbar aus den ökonomischen Rahmenbedingungen des Fotojournalismus. Da dessen primäre Zielsetzung in der Veröffentlichung seiner Produkte besteht, lässt sich hochwertige Pressefotografie nur in einem Umfeld realisieren, das funktionierende Distributionskanäle aufweist. Erst wenn der Fotograf eine Verbindung zwischen den Produkten seiner Arbeit und einem als Käufer auftretenden Mediensystem herstellen kann, werden aktuelle und zukünftige Projekte realisierbar.

Als direkte Folge dominieren Fotografen aus hoch entwickelten Ländern den Wettbewerb. Zieht man den Human Development Index des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen heran, konnte nur einmal ein Fotograf den Wettbewerb zu einem Zeitpunkt für sich entscheiden, als sein Herkunftsland zu den am wenigsten entwickelten Ländern der Erde gezählt wurde. Dabei handelt es sich um den Inder Pablo Bartholomew, der 1984 für sein Foto von der Giftgaskatastrophe in Bhopal ausgezeichnet wurde. Als Arko Datta 2004 als zweiter Inder für eine Aufnahme von der Tsunamikatastrophe prämiert wird, ist das südasiatische Land bereits eine Kategorie aufgestiegen.

Gegenwärtig ist kein Grund erkennbar, warum sich etwas an der nahezu völligen Marginalisierung gering entwickelter Länder auf höchster Ebene ändern sollte. Die Defizite der dortigen Infrastruktur setzen sich nahtlos ins Mediensystem fort und stellen selbst für die Partizipation im kleinen Maßstab einen enormen Hemmschuh dar. Besonders deutlich fällt die Diskrepanz im Falle Afrika aus: Dem Kontinent kommt im Kontext des Gesamtsiegerfotos nicht die Rolle eines Bilderlieferanten zu, sondern vielmehr eines Schauplatzes von Ereignissen. Insgesamt neun Mal ist ein Ereignis in einem afrikanischen Land auf einem World Press Photo of the Year zu sehen. Dieser Teil der Welt hat damit mehr Gewicht als Nordamerika (5) und Südamerika (3) zusammen und platziert sich hinter Asien (26) und Europa (13) auf dem dritten Platz. Der Vorrang Asiens speist sich aus verschiedenen Quellen: So sind allein sechs Motive aus der Zeit des Kriegs in Vietnam prämiert worden, was dieses Land zum mit Abstand am häufigsten im Wettbewerb dargestellten Staat macht. Hinzu kommt der bis heute ungelöste Nahostkonflikt mit wiederkehrenden Fotos aus dem Libanon und den Palästinensischen Autonomiegebieten. In Australien ist indessen kein einziges Gesamtsiegerfoto aufgenommen worden.

Zusammenfassend muss festgestellt werden, dass das Siegerfoto primär ein Bild der Welt zeigt, das sich das Mediensystem des hoch entwickelten Teils der Erde gemacht hat. Dabei ist bis heute eine starke Verortung im westlichen Kulturkreis festzustellen. Auch wenn Teilnehmer aus Asien wahrnehmbar als Gesamtsieger in den Wettbewerb involviert sind, vermögen sie nicht die Dominanz nordamerikanischer oder europäischer Fotografen in Frage zu stellen. Allenfalls latent vorhanden sind Einflüsse aus Südamerika und Afrika, die in ihrer geringen Zahl jedoch keine eigene Strömung innerhalb des Wahrnehmungsfelds etablieren können.

Doch nicht nur auf der Ebene der geografischen Verteilung lassen sich klare Auswahlpräferenzen der Jurys ausmachen. Auch die Fotos selbst weisen in formaler Hinsicht deutliche Gemeinsamkeiten auf. So existiert kein World Press Photo of the Year, das die Wirkung eines grafischen Effekts über den Inhalt selbst stellt. Allenfalls der Einsatz sichtbarer Bewegungsunschärfen (wie der sich manifestierende Regenschleier auf Stanislav Terebas Fußballfoto von 1958), gesteigerter Kontraste (wie auf Don McCullins Porträt einer weinenden Zyprerin von 1964), das Operieren mit mehreren Schärfeebenen (wie auf Jean-Marc Boujus Foto von 2004, auf dem sich der Stacheldraht eines US-Militärgefängnisses unscharf durchs Bild zieht), oder der kombinierte Einsatz von Unterbelichtung und Bewegungsunschärfe (wie auf Tim Hetheringtons Porträt eines erschöpften US-Soldaten von 2007) sind nachweisbar. Bei allen vier Beispielen unterstützt die technische Gestaltung die Kommunikation des Inhalts, ohne diesen jedoch in den Hintergrund zu drängen. Es handelt sich also um gestalterische Mittel, die dosiert eingesetzt als Teil der Komposition auftreten.

Absolute Kontinuität besteht indes in der Praxis, niemals vollständig positive Fotos auszuzeichnen. Implizit besteht offenbar ein bislang unter den Jurys ungebrochener Konsens, der fröhliche oder gar humorvolle Bilder auf höchster Ebene grundsätzlich eliminiert. Von 56 World Press Photos of the Year weist nur ein einziges keine substanziell negative Komponente auf: Stanislav Terebas Aufnahme von einem Fußballländerspiel in Prag (1958) zeigt nicht mehr, als die Störung eines organisierten Sportereignisses durch plötzlich einsetzenden Regen. Dabei handelt es sich allenfalls um ein Handicap, keinesfalls jedoch um ein potenziell gefährliches Unglück oder gar eine substanzielle Katastrophe.

Es existiert kein anderer Fall, der nicht zumindest partiell Teil eines negativen Kontexts wäre: Helmuth Piraths Foto von der Rückkehr deutscher Soldaten aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft am 9. Oktober 1955 zeigt nicht nur eine Familienzusammenführung, sondern zugleich Menschen, die durch den Krieg gelitten haben. David Burnetts Aufnahme aus einem thailändischen Flüchtlingslager (1979) dokumentiert neben der geglückten Flucht einer Mutter und ihres Kindes aus Kambodscha zugleich auch die Folgen willkürlicher Gewaltexzesse. Lara Jo Regans Aufnahme aus dem Leben einer mexikanischen Emigrantenfamilie (2000) berichtet von einem Leben minimaler sozialer Sicherheit, die jederzeit in völlige Armut umschlagen kann.

In aller Regel schwingt das schlechthin Negative jedoch nicht latent im Echo seiner Konsequenzen mit, sondern manifestiert sich unmittelbar im Schicksal abgebildeter Protagonisten. Weit mehr als die Hälfte aller World Press Photos of the Year zeigt Teile des Spektrums emotionalen Leids, das vom stillen Blick der Trauer bis zum für den Betrachter unhörbaren Schrei der Verzweiflung reicht. Leichte Spuren des Hungers, bandagierte Wunden oder Gesichter, die in Flammen aufgehen oder schwer verstümmelt wurden, sind derweil die bisweilen schockierenden Eindrücke, die physisches Leid auf fast jedem dritten prämierten Foto hinterlassen hat. Zehn Leichen finden sich ebenfalls auf den Aufnahmen, was fast jedes sechste Foto gleichzeitig zu einem Totenbild macht. Für den Fotografen bedeutet die Konfrontation mit diesen Motiven nicht nur eine ethische und emotionale Gradwanderung, sondern häufig auch ein gesundheitliches Risiko, das bis hin zur akuten Lebensgefahr reichen kann.

Ausstellung „World Press Photo 2011", 28.4.2011, Museos Científicos Coruñeses

Ausstellung „World Press Photo 2011″, 28.4.2011, Museos Científicos Coruñeses/Flickr CC 2.0

Die kontinuierliche Visualisierung menschlicher Miseren und gewalttätiger Konfrontationen verleiht dem World Press Photo of the Year die Form eines prinzipiell anthropomorphen Bildes: Der Mensch und sein Schicksal stehen immer im Mittelpunkt. Es erscheint vollkommen undenkbar, statt eines Katastrophenopfers nur das Desaster selbst zu zeigen oder die Ruinenlandschaft eines Kriegsschauplatzes ohne seine Bewohner zu dokumentieren. Der Mensch mit seinen Verletzungen und Affekten ist der Ausgangspunkt emotionaler Teilhabe, der die Brücke in die Gefühlswelt des Betrachters schlägt. Um im Rahmen einer Redewendung zu bleiben, handelt es sich dabei fast immer um Personen „wie du und ich“ – nur drei Mal treten Prominente in Gestalt des japanischen Politikers Inejiro Asanuma (1960), des chilenischen Präsidenten Salvador Allende (1973) oder des spanischen Putschisten Antonio Tejero (1981) auf. Die auf diese Weise entstehende Unmittelbarkeit wird durch den Umstand unterstrichen, dass die Abgebildeten in den seltensten Fällen wie in den frühen Tagen des Fotojournalismus für die Kamera posieren. Außer dem aidskranken Ken Meeks (1986), den spielenden Palästinenserkindern (1993), dem verstümmelten Hutu (1994), den Landminenopfern in Angola (1996) und der durch ihren Ehemann entstellten Afghanin (2010) sind alle anderen Protagonisten aus der Situation heraus aufgenommen worden, die so für den Rezipienten authentisch erfahrbar wird.

In rund der Hälfte aller Siegerfotos speist sich die abgebildete Konstellation direkt oder indirekt aus einem Kriegsereignis. In keinem anderen Kontext lösen sich fundamentale Prinzipien der Humanität so nachhaltig auf wie dort. Ein damit verbundener gesellschaftlicher Zerfallsprozess bis hin zur vollständigen Desintegration ist naturgemäß ein Kondensationspunkt besonderen medialen Interesses. Der Krieg bringt so fortwährend Ereignisse großer journalistischer Relevanz hervor. Einen festen Platz im Themenkanon können daneben nur Katastrophen großen Ausmaßes und politisch motivierte Demonstrationen und Auseinandersetzungen für sich behaupten. Zwei 1955 und 1958 ausgezeichnete Sportfotografien nehmen demgegenüber einen Platz in einer Außenseiterkategorie ein, die mit hoher Wahrscheinlichkeit keinen weiteren Zuwachs erfahren wird. Eine ähnliche Beobachtung trifft auf Ereignisse wie die Schießerei bei Saarbrücken (1971) und den Hausbrand von Boston (1975) zu, die keinen substanziellen Anteil am globalen Nachrichtengeschehen haben. Auch die sozialdokumentarischen Ansätze von Alon Reiningers HIV-Dokumentation (1986) und Lara Jo Regans Porträts einer mexikanischen Emigrantenfamilie (2000) sind Einzelfälle geblieben.

Ungleich häufiger stellen die Gewinnerfotos materiellen Mangel oder Katastrophen in den Mittelpunkt. Das in seinen Konsequenzen mit Abstand am häufigsten thematisierte Phänomen bleibt indessen die Gewalt: Fast zwei Drittel der ausgewählten Fotos richten ihren Fokus darauf, ihre direkten oder indirekten Folgen zu zeigen. Die Wirklichkeit des World Press Photo of the Year besteht demnach nicht in der zivilisatorischen Errungenschaft, sondern im Zivilisationsbruch, nicht im sozialen Fortschritt, sondern im Elend, nicht im Frieden, sondern im Krieg. Seine elementaren Motive haben sich seit 1955 in ständiger Variation entfaltet und determinieren so auch künftige Selektionsentscheidungen.

 

Visuelle Traditionslinien in den Jahrbüchern von World Press Photo

In insgesamt zwei Studien wurden sämtliche in den Jahrbüchern von World Press Photo publizierten Fotos in einer Vollerhebung analysiert. Neben der bereits erwähnten Dissertation wurde eine weitere Folgestudie vorgenommen,[9] die bestehende Tendenzen auf ihre Richtung und Stetigkeit hin untersuchte. Analysiert wurden dabei 9647 (2006) bzw. 10.430 (2012) Fotos nach Kriterien, wie abgebildete Themen, Negativismus, Technik und Narration, sowie nach den Ländern, aus denen die Fotografen sowie die abgebildeten Motive stammen. Außerdem wurde anhand des bereits erwähnten Human Development Index analysiert, wie hoch der Entwicklungsstand der jeweiligen Länder zum Aufnahmezeitpunkt war. Auf diese Weise wird die Gesamtkonfiguration der jeweiligen Jahresausstellung sichtbar, die typischerweise aus etwa 200 Fotos besteht. Detaillierte Prozentwerte und Auskünfte zu methodischen Fragen sind insbesondere der Publikation von 2006 zu entnehmen.

Es wäre naiv anzunehmen, dass sich in der von World Press Photo vorgenommenen Bildauswahl der multiperspektivische Charakter des internationalen Mediendiskurses in pluralistisch ausgewogener Form verdichtet. Dies ist bereits durch die Heterogenität des Teilnehmerfelds ausgeschlossen, dessen Repräsentanten primär aus Europa und Nordamerika stammen. Auch wenn asiatische Fotografen sich daneben als dritte Einflussquelle zusehends engagieren, folgt die Perspektive der involvierten Personen damit primär den Maßgaben einer Enkulturation durch ein westliches Werte- und Gesellschaftssystem. Indem der Wettbewerb im Laufe seiner Geschichte jedoch Zehntausende von Fotografen als Teilnehmer mobilisiert hat und Hunderttausende von Fotos zugunsten einer winzigen Auswahl verwarf, entstand durch die Selektionsleistung der Jurys eine beachtenswerte Metaebene. In gewisser Weise kann jeder Jahrgang von World Press Photo als Stichprobe eines explosionsartig anwachsenden Bilderkosmos gewertet werden, der sich in seiner Komplexität längst jeder Auswertung entzieht.

Zahlreiche intervenierende Faktoren geben dieser Stichprobe eine Gestalt, deren Gewichtungen tatsächliche Medienkonstellationen reflektieren – zumindest aus westlicher Sicht. Die Dominanz europäischer und nordamerikanischer Teilnehmer bei der Gestaltung des Gesamtsiegerfotos und des verbleibenden Bildbestands ist dabei als zentraler Faktor zu werten. Aus hocheffizienten Mediensystemen stammend, verwirklichen diese Teilnehmer offensichtlich jene Definition des nachrichtlichen Fotos am besten, der die regelmäßig westlich dominierten Jurys durch ihren Abstimmungsprozess jedes Jahr erneut Gestalt verleihen.

Außer Australien existiert kein Kontinent, dessen Abbildungen nicht mehrheitlich von Europäern und Nordamerikanern angefertigt wurden. Dennoch beginnen sich die Schwerpunkte in diesem Jahrzehnt sukzessive zu verlagern. Zeigte bis in die 1980er-Jahre nicht einmal jedes zehnte Foto ein afrikanisches Land, stammt in diesem Jahrzehnt fast jede fünfte Abbildung von dort. Analog dazu wuchs auch der Anteil asiatischer Länder, die in der Gegenwart auf fast 30 Prozent des Gesamtmaterials gezeigt werden. Diese Veränderung geht so weit, dass sich Asien heute sogar knapp vor dem bis dahin dominanten Europa positionieren kann. Asiens steigende Relevanz geht jedoch nicht zuletzt auf die Berührung zahlreicher westlicher Interessen zurück, die dort ihren Kulminationspunkt finden: Neben den an wirtschaftlicher Bedeutung weiter zunehmenden Schwellenländern China und Indien sind es insbesondere Regionen wie der Irak, die Palästinensischen Autonomiegebiete oder Afghanistan, die als Krisengebiete porträtiert werden oder als Austragungsort militärischer Auseinandersetzungen in den Fokus drängen.

Ausstellung „World Press Photo 2005 Amsterdam

Ausstellung „World Press Photo 2005″, Amsterdam 2006 © A. Godulla

Erst wenn sich das Feld der platzierten Fotografen pluralisiert und sich in seiner Gewichtung den abgebildeten Ländern annähert, steigt die Chance auf eine ausgeglichene thematische Verteilung. Gegenwärtig sprengt die Zahl der Konfliktfotos in Afrika und Asien jede Proportion, während sie in Europa und Nordamerika deutlich unter dem Durchschnitt verharrt. Dafür wird auf diesen Kontinenten die Mehrzahl der Fotos von Themen wie Gesellschaft, Politik und Sport dominiert. Australien und Südamerika werden derweil so selten mit Aufmerksamkeit bedacht, dass kaum verlässliche Aussagen über die dortigen Themenagenden möglich sind. Das mit dem Namen „World Press Photo“ implizit verknüpfte Versprechen einer globalen Betrachtung des Fotojournalismus wird in dieser Hinsicht also nicht eingelöst. Es handelt sich vielmehr um eine Momentaufnahme von Bildern, die aus westlicher Sicht relevant erscheinen. Je weiter sich Fotos demnach vom Epizentrum des Interesses entfernen, desto seltener finden alltägliche nachrichtliche Ereignisse auf ihnen einen Niederschlag.

Während in hoch entwickelten Ländern die Gesamtzahl der negativ aufgeladenen Fotos knapp über einem Viertel liegt, überschreitet sie in Schwellen- und Entwicklungsländern deutlich die Hälfte. Normativ abweichende Phänomene wie Gewalt, Unglücke, soziale Miseren oder das Leid unheilbar Kranker erfahren in Industriestaaten demnach eine Porträtierung als Ausnahmephänomen – in allen anderen Teilen der Welt werden sie visuell zur Regel stilisiert. Je geringer die Entwicklung eines Landes ausfällt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, auf dort entstandenen Fotos leidende Menschen oder gar Leichen zu erblicken. Dies bedeutet nicht, dass Leid und Elend nicht auch in hoch entwickelten Ländern dargestellt werden – in absoluten Zahlen erreichen sie sogar häufig die höheren Werte. Da hier jedoch auch eine Sphäre jenseits des Zivilisationsbruchs thematisiert wird, drängt sich das Bild des Menschen in prekären Situationen nie in den Vordergrund.

Es ist ein Privileg hoch entwickelter Länder, auch auf Fotos dargestellt zu werden, die per se über keinerlei Nachrichtenwert verfügen. Die Chance auf eine Darstellung trivialer oder gar komischer Alltagsbegebenheiten sinkt gemeinsam mit dem Entwicklungsstand. Die gleiche Beobachtung lässt sich auf das Auftreten prominenter Personen übertragen: Während bekannte Persönlichkeiten und Entscheidungsträger direkt oder indirekt auf jedem fünften Foto aus Europa, Nordamerika oder Australien eine Rolle spielen, ist dieser Wert in Afrika, Asien oder Südamerika gerade einmal halb so groß. Dafür begibt sich der Fotograf hier mehr als doppelt so oft in potenzielle oder akute Lebensgefahr, um die Motive seiner Fotos auf Film und Chip zu bannen. Natürlich könnte man diesen Befunden entgegenhalten, dass mit fallender Entwicklung auch die Probleme eines Landes ansteigen würden und damit problematische Ereignisse weitaus häufiger anzutreffen seien. Dem ist jedoch zu erwidern, dass auch in Industrienationen Menschen mit entsetzlichen Situationen des Leids konfrontiert sein können und auch hier eskalierende Momente anzutreffen sind.

Das World Press Photo of the Year übt durch seine enorme Öffentlichkeitswirkung einen weit reichenden Einfluss auf die Wahrnehmung des Gesamtwettbewerbs aus. Die Untersuchung hat gezeigt, dass Negativismus hier als narrativer Standard angesehen werden muss. Implizit hat sich hier ein Kommunikationsstandard entwickelt, der ein herausragendes nachrichtliches Ereignis mit einer ebenso herausragenden Bildsprache kombiniert. Dies provoziert regelmäßig das Entstehen von ikonografisch anmutenden Bildern des Leids. Innovative Konzepte können sich demgegenüber vergleichsweise selten Geltung verschaffen. Offenbar orientieren sich die einzelnen Jurys bewusst oder unbewusst an dem bereits durch andere Siegerfotos abgesteckten Horizont und gehen nur selten über die so etablierten Traditionslinien hinaus. Anders ist nicht zu erklären, dass bestimmte Bildkonzepte kontinuierlich reproduziert werden. Die vom Schicksal ihres Kindes zu Tränen gerührte Mutter ist nur ein Beispiel für verschiedene archetypische Erzählmuster, die als Stereotypen zur Effizienz der Kommunikation einen maßgeblichen Beitrag leisten. Es ist auch in Zukunft davon auszugehen, dass die Mehrzahl der Jurys bei der Wahl des Gesamtsiegerfotos jenes Bild bevorzugen wird, das einen größeren und oftmals abstrakten Zusammenhang mit dem erschütternden Schicksal eines Individuums verknüpft. Müsste ein einzelner Terminus zur Charakterisierung des Hauptpreises benannt werden, wäre dies zweifellos Emotionalisierung.

Es liegt nicht in der Verantwortung von World Press Photo, ob auf die actio des visuellen Reizes die reactio der Anteilnahme folgt. Wie und ob der Rezipient auf die Ausstellung reagiert, ob er sich innerlich mit den Abgebildeten solidarisiert oder achtlos an ihnen vorübergeht, entscheidet sich genauso häufig, wie Besucher die Ausstellung aufsuchen. Als Plattform für die Präsentation von Fotojournalismus verfolgt die Stiftung primär das Ziel, Interesse für journalistische Fotografie in all ihren Facetten zu wecken. Dass deren Motive auch nach mehr als 50 Wettbewerben immer wieder von Missständen geprägt sind, die die Menschheit nach wie vor nicht überwunden hat, kann nicht dem Fotografen zur Last gelegt werden.

Obwohl die von World Press Photo berufenen Jurys nachweislich kein ausgewogenes Bild der Wirklichkeit selektieren, erheben sie zumindest den Anspruch, manipulierte Fotos durch das Reglement auszuschließen. Die größte Leistung der Stiftung könnte demnach darin bestehen, die Glaubwürdigkeit des Mediums Fotografie auch im Zeitalter der digitalen Bilderwelten partiell zu bewahren. Auch wenn World Press Photo neben dem System der Pressefotografie auch dessen Defizite widerspiegelt, leistet die Stiftung gleichzeitig einen zentralen Beitrag zum Erhalt seines ambitioniertesten Anspruchs: Wenn sie dem Betrachter neben der bloßen äußeren Gestalt eines Ereignisses auch einen Moment der Wahrhaftigkeit eröffnet, ihn mit ihrem Zauber gefangen nimmt oder aufrüttelt, baut sie ihm gleichzeitig eine Brücke zu einem Ereignis, das ihm sonst verschlossen geblieben wäre. Als Fokus mag World Press Photo blinde Flecken und Unschärfen aufweisen – was aber einmal scharf abgebildet wird, kann sich ins kollektive Gedächtnis einbrennen und so vielleicht nicht die Welt, aber zumindest unsere Einstellung zu ihr verändern.

 

Link zur Dissertation: Alexander Godulla, Fokus World Press Photo. Eine Längsschnittanalyse „ausgezeichneter“ Pressefotografie von 1955 bis 2006, Saarbrücken 2009 http://d-nb.info/997407689/34

 

[1] Alexander Godulla, Fokus World Press Photo. Eine Längsschnittanalyse „ausgezeichneter“ Pressefotografie von 1955 bis 2006, Saarbrücken 2009, S. 148.

[2] Vgl. Alexander Godulla, Authentizität als Prämisse? Moralisch legitimiertes Handeln in der Pressefotografie, in: Communicatio Socialis 47 (2014), Heft 4, S. 402-410.

[3] Michaela Pissermayr, World Press Photo – Die Welt durch das Auge der Kamera. Diplomarbeit, Wien 2004.

[4] World Press Photo (Hrsg.). Broschüre zum 50-jährigen Jubiläum, Amsterdam 2005, S. 2.

[5] Vgl. Colin Jacobson, Underexposed. „Pictures can lie and Liars use Pictures“, London 2002, S. 63.

[6] World Press Photo (Hrsg.). Broschüre zum 50-jährigen Jubiläum, Amsterdam 2005, S. 3.

[7] N.N., World Press Photo 56 Amsterdam, in: De Fotojournalist 4 (1956), S. 10.

[8] Mary Panzer, Things as they Are. Photojournalism in Context Since 1955, London 2005, S. 6.

[9] Alexander Godulla, Pluralization through Digitalization? Contemporary Changes in the Development of Transnational Crisis Photography, in: IAMCR, Crises, ‚Creative Destruction‘ and the Global Power and Communication Orders, Montevideo 2013, S. 1-15.

Quelle: http://www.visual-history.de/2015/02/09/ein-jahr-ein-bild/

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Exkursionsbericht Griechenland 2014 Alte Geschichte

Griechenland - Auf den Spuren der Götter (Bericht von Theresa Dorsam und Dimitros Adamopoulos)

Unter diesem Motto stand die Exkursion der Alten Geschichte vom 01. bis 12. Oktober 2014 nach Athen und auf die Peloponnes. Nach einer intensiven Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Quellentexten - von Aischylos bis Platon - aus und über diese Regionen im vorausgegangenen Sommersemester 2014 freuten wir uns auf die Reise und waren bereit für die Spurensuche.

Mittwoch, 01.10.2014: Unsere erste Spur führte uns von Frankfurt/Main über den Flughafen Wien nach Athen, wo wir von der griechischen Sonne empfangen wurden. Weitere griechische Besonderheiten wie der Ouzo und die berühmte Landesküche sollten am selbigen Abend noch folgen. Nach der Ankunft im Hotel fuhren wir nämlich zum Einstieg gemeinsam in den Athener Stadtteil ,,Plaka“, wo wir unter der Akropolis dinierten. Der Anblick des beleuchteten Parthenons ließ schon erahnen, was uns am nächsten Tag erwarten sollte.

Donnerstag, 02.10.2014: Voller Tatendrang erreichten wir am frühen Vormittag des ersten wirklichen Exkursionstages das Wahrzeichen der griechischen Landeshauptstadt: die Akropolis. Nachdem uns die beeindruckenden aber mit Menschenmassen überfüllten Propyläen näher erläutert worden waren, liefen wir am berühmten Nike-Tempel vorbei in Richtung Erechteion. Dann endlich fanden wir eine wichtige und langersehnte Spur unserer Exkursion: den Parthenon. An Ort und Stelle spürten wir die 2500 Jahre alte Geschichte dieses architektonischen Meisterwerkes – und diese Geschichte ist noch lange nicht beendet, denn wir konnten live miterleben, wie der Tempel der Göttin Athene, der nach dem Sieg über die Perser errichtet und Ende des 17. Jahrhunderts schwer beschädigt wurde, in mühevoller Kleinstarbeit wieder aufgebaut wird. Im neuen, modernen Akropolis-Museum konnten wir viele archäologische Schätze wie z. B. die Koren des Erechteions bewundern. Danach ging es über die Überreste des Dionysos-Theaters und über das Odeon des Perikles zur Agora. Manch einer bekam eine Gänsehaut, als er erfuhr, dass genau an diesem Platz die Wurzeln der Demokratie liegen. Etwas enttäuschend war freilich der schlechte Erhaltungszustand der Agora. Dennoch halfen uns Rekonstruktionszeichnungen, Stück für Stück die Spuren auf der Agora zusammenzufügen.

Freitag, 03.10.2014: Nach einem langen Weg durch zahlreiche von der Wirtschaftskrise sichtlich getroffene Stadtteile trafen wir im griechischen Nationalmuseum in Athen ein. Dort wurden wir von der goldenen ‚Maske des Agamemnon’, die von Heinrich Schliemann 1876 in Mykene gefunden wurde, begrüßt. Wir haben diese, wie auch zahlreiche andere Ausstellungsstücke des Museums, kritisch betrachtet und hinterfragt. Tatsächlich ist es umstritten, ob es sich wirklich um die Maske des Agamemnon handelt. Insgesamt gingen wir mit vielen neuen Eindrücken - auch aus der archaischen Zeit - aus dem Museum. Der Tag hatte damit aber nur angefangen, denn unsere Reise führte uns weiter in das Theater von Thorikos, welches zu den ältesten Theater Griechenlands zählt. Hier suchten wir gemeinsam mit unseren Dozenten nach den Überresten von Silber und Blei, die hier bereits in der Archaik abgebaut wurden. Danach hatten wir uns einer besonderen Herausforderung zu stellen: dem windigen Poseidon-Tempel in Sunion. Hier mussten wir alle gegen Poseidons Winde kämpfen. Scheinbar war der Meeresgott uns gegenüber mürrisch gestimmt, denn er machte uns die Spurensuche nicht einfach. Die atemberaubende Aussicht an der südlichen Küste Attikas ließ uns den anstrengenden Aufstieg dann allerdings vergessen.

Samstag, 04.10.2014: Nach einem dreitägigen Aufenthalt in Athen brachen wir in Richtung Tolo auf der Peloponnes auf. Die 25 Kilometer lange heilige Straße führte uns zunächst zum Grabungsgelände in Eleusis. Nach einem kurzen Aufenthalt und der Besichtigung des Telesterions ging es über den Isthmus von Korinth. In der antiken Ausgrabungsstätte von Korinth begegneten wir schließlich dem nächsten Gott, Apollon, und dessen beeindruckenden Tempel. Nach einem anschaulichen Gang durch die Stadtanlage Korinths machten wir einen Zwischenstopp in Nemea. Die Besichtigung hier stellte sich als schwierig heraus, da das Grabungsgelände aufgrund der Winteröffnungszeiten geschlossen war und wir die Größe des Zeus-Tempels nur vom Zaun aus erahnen konnten. Danach fuhren wir nach Tolo, wo wir in einem kleinen Hotel, das von einer netten griechischen Familie geleitet wurde, direkt am Meer untergebracht waren.

Sonntag, 05.10.2014: Am nächsten Morgen begaben wir uns auf eine weitere wichtige Spurensuche in Mykene. Beim Erblicken der riesigen Felsblöcke in den mykenischen Mauern und des Löwentors, kamen wir ins Staunen und konnten Aischylos‘ Tragödie Agamemnon, welche wir im Vorbereitungsseminar gelesen und nachgespielt hatten, vor Ort nachempfinden. Das Megaron und die Gräber auf dem Grabungsgelände von Mykene ließen uns die prächtige mykenische Kultur, welche ca. vom 16. bis ins 12. Jahrhundert v. Chr. bestand, erahnen. Nach einem kurzen Zwischenstopp am ‚Schatzhaus des Atreus’, einem Tholosbau aus dem 13. Jahrhundert v. Chr., fuhren wir weiter zum Heraion von Argos. Dieses Hera-Heiligtum zählte seit früharchaischer Zeit zu den ehrwürdigsten Heiligtümern Griechenlands und hatte seine größte Blüte im 5. Jahrhundert v. Chr. Da nur die Grundmauern der Tempelanlagen erhalten waren, wurde uns auch hier die Spurensuche nicht einfach gemacht. Dennoch durchforsteten wir mit offenem und mittlerweile geschultem Auge die Überreste des Heiligtums. Gegen Mittag machten wir in Argos Rast, wo wir das hellenistische Theater, welches knapp 20.000 Zuschauer fasste, erklommen. Unsere letzte Spur an diesem Tag führte uns zu dem Grabungsgelände der Burg von Tiryns. Diese antike Stadt erlebte ihre Hochphase im 3. Jahrtausend v. Chr. Trotz guter Ausrüstung konnten wir dem aufkommenden Regenschauer nicht Stand halten, sodass ein Teil die Besichtigung leider relativ schnell abbrechen musste.

Montag, 06.10.2014: Heute stand Epidauros auf unserem Plan. Dort fanden wir das imposante und beeindruckende Theater aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. vor, welches am Hang gebaut wurde und bis zu 14.000 Personen Platz bot. Wir konnten es uns nicht verkneifen, die einzigartige Akustik im Theater zu testen und genossen den weitläufigen Ausblick auf die Landschaft. Danach erkundeten wir das Asklepios-Heiligtum von Epidauros, welches in seiner Bedeutung keinesfalls im Schatten des berühmten Theaters stehen sollte. Hier wurde seit dem Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. ein umfassender Kult- und Heilbetrieb im Zeichen des Halbgottes und Wunderheilers Asklepios und seiner Tochter Hygieia praktiziert. Auf dem teilweise nur mäßig gut erschlossenen Grabungsgelände begaben wir uns auf Spurensuche von Asklepios.
Der Nachmittag stand zur freien Verfügung. Viele Exkursionsteilnehmer, die von der teils anstrengenden Spurensuche etwas mitgenommen waren, nutzten die Zeit zur Erholung. Einige andere erkundeten die idyllische Gegend rund um Tolo auf dem Wasser. Da unser Boot eher antiken Standards glich und mit der rauen See zu kämpfen hatte, machte so manch ein Grieche auf unsrer kleinen Bootstour schlapp. Dennoch konnten wir alle wieder gut erholt den Tag in geselliger Runde ausklingen lassen.

Dienstag, 07.10.2014: Am nächsten Tag verließen wir Tolo und brachen in Richtung Sparta auf. Nach einem spontanen Zwischenstopp in der prähistorischen Siedlung von Lerna hielten wir bei dem Kloster Moni Loukous aus dem 12. Jahrhundert an. Die kleine Zentralbasilika, in dessen Mauern so manche antike Spolien verbaut sind, befand sich inmitten eines zauberhaften Klostergartens. Nach höflichem Anklopfen durften wir eintreten und wurden von gastfreundlichen Nonnen anschließend mit leckerem griechischen Kaffee versorgt. Danach begaben wir uns einige Meter weiter auf Erkundungstour durchs Gebüsch, um die Villa des römischen Redners und Politikers Herodes Atticus zu erkunden.Unser weiterer Weg führte nach Tegea. Da uns auch hier wieder ein starker Regenschauer heimsuchte, konnten wir den Athena-Tempel nur vom Bus aus bestaunen und unsere Phantasie im kleinen, aber gut ausgestatteten Museum anregen lassen. Gegen Abend kamen wir schließlich in Sparta an. Nachdem wir erkannten, dass unsere Hotelzimmer dem entsprachen, was man im Volksmund mit ‚spartanischen Verhältnisse’ umschreibt, beendeten wir den Tag gemeinsam in einem Restaurant vis-à-vis des modernen Leonidas-Denkmals.

Mittwoch, 08.10.2014: Da Historiker stets nicht nur einer Spur folgen sollten, besuchten wir an diesem Tag die Klosterkirchen der byzantinischen Stadt Mystra aus dem 15. Jahrhundert. Auch an diesem Tag regnete es leider, was uns aber nicht davon abhielt, den Klosterberg zu erklimmen und die Geheimnisse der zahlreichen Kirchen und Kloster zu erkunden.
Da jeder der Exkursionsteilnehmer den Film ‚300’ gesehen hatte, hatte die Mehrheit hohe Ansprüche an Sparta. In der Stadt Sparta – heute eher eine Kleinstadt – besichtigten wir das Museum.
Dabei stach die Statue eines spartanischen Kriegers aus dem Jahre 490 v. Chr. ins Auge. Der Krieger – manche denken, es sei Leonidas persönlich – trägt einen Helm mit großem Kamm und schweren Wangenpanzern. Was genau auf den Wangenpanzern zu sehen ist, führte zu hitzigen Diskussionen in der Gruppe. Doch letztlich konnten wir klären, dass es sich um Widderhörner handelte. Als wir das Museum in Sparta verließen, merkte einer der Detektive, dass der Eingang des Museums dem Nike-Tempel ähnelt. Ein Tourist, der neben unserer Gruppe stand, hörte dies und rief ihm auf deutsch ,,Streber“ zu, was zu Gelächter führte. Insgesamt wurde uns erklärt, dass es nur wenige Zeugnisse aus der Vergangenheit Spartas gibt. Die Ausgrabungsstätten in Sparta waren auch nicht gerade ansehnlich und die hohen Erwartungen wurden nicht erfüllt. Unvergesslich wird dennoch das Taygetos-Gebirge rund um Sparta bleiben, das nicht nur bei den Feinden des antiken Spartas einen mächtigen Eindruck hinterlassen hat.

Donnerstag, 09.10.2014: Von Sparta fuhren wir nach Messene, wo wir das weitläufige Grabungsgelände erkunden konnten. Die beeindruckende Stadtmauer verführte manch einen, an ihr hochzuklettern, was manchen unserer Dozenten gelegentlich das Herz stehenbleiben ließ.
Das Stadion war sehr gut erhalten, sodass auch die brühende Hitze die Detektive nicht davon abschreckte, Beweisfotos zu schießen. Als kleine Entschädigung für das schlechte Wetter in Sparta fuhren wir ins sonnige Pylos, wo wir in einem netten Hotel an einem kleinen Hafen übernachteten. Die Schlacht von Pylos (425 v. Chr.) Krieg und die Schlacht von Navarino (1827 n. Chr.) waren zwei wichtige Ereignisse der Region, jedoch mit gravierendem Einfluss auf die gesamte griechische Geschichte. Und neben allem Schlachtenruhm bot Pylos dann auch die ersehnte Möglichkeit, schwimmen zu gehen und sich ein wenig zu erholen. Den Abend verbrachte die Gruppe gemeinsam direkt am wunderschönen Hafen, wo gelacht, getrunken und gespielt wurde. Man lernte sich untereinander besser kennen und auch unsere Dozenten waren stets Teil unserer gemütlichen Runden, die während dieser Exkursion häufig zusammenfanden.

Freitag, 10.10.2014: Eine lange und schwierige Fahrt war die zum Apollon-Tempel in Bassae, der sich auf 1150 Meter Höhe befindet. Unser Busfahrer Georgos (von uns liebevoll ,,Schosch“ genannt) meisterte die kurvenreiche Straße auf den Berg souverän. Als der Bus plötzlich vor einem großen Straßenkrater stehen blieb, dachten wir schon, dass wir umkehren müssten, doch Georgos füllte den Krater mit zwei Felsbrocken, was dazu führte, dass die eine oder andere Exkursionsteilnehmerin bei diesem Anblick dahinschmolz. Iktinos, der Architekt des Parthenon, wurde auch für den Bauherr des Apollon-Tempels gehalten, dieser verwendete korinthische und ionische Elemente und kombinierte diese mit sechs Meter hohen dorischen Säulen. Die korinthische Ordnung findet sich in diesem Tempel zum ersten Mal. Solche Fakten und die Tatsache, einen derart hervorragend erhaltenen Tempel (zugleich auch UNESCO-Weltkulturerbe) sehen zu können, erstaunten viele.

Samstag, 11.10.2014: Am vorletzten Tag der Exkursion besuchten wir Olympia. Sowohl das Grabungsgelände als auch das Museum waren beeindruckend. Dieses Heiligtum des Zeus war der Austragungsort der Olympischen Spiele. Obwohl der Zeus-Tempel heute rekonstruiert werden muss, wurde uns allen klar, dass der etwa 64 Meter lange, 28 Meter breite und 20 Meter hohe Tempel zu den bedeutendsten Bauwerken der frühklassischen Architektur zählt und wir konnten uns damit auch erklären, warum die Athleten während der Olympischen Spiele in Richtung des Zeus-Tempels starteten. Der plastische Schmuck, d.h. die Giebelskulpturen und die Metopen sind im Museum in Olympia zu bestaunen. Die Giebelfelder waren mit Skulpturen aus parsischem Marmor ausgestattet, die Geschichten aus der Mythologie erzählten. Auf den Metopen wurden die zwölf Taten Herakles' dargestellt. Im Zeus-Tempel befand sich auch eines der Sieben Weltwunder der Antike: die Zeus-Statue des Phidias, die leider nicht mehr erhalten ist. Erhalten dagegen sind aber etwa das Philippeion, ein Teil der Schatzhäuser, der Eingang zum Stadion, das Stadion selbst sowie Teile der Palästra. Die Länge der Laufbahn betrug – und beträgt heute noch – 192,28 Meter. Als die Exkursionsteilnehmer in das Stadion eintraten, überfiel sie der olympische Geist und es kam spontan zu einem Wettlauf unter den Männern (da Frauen am antiken Wettlauf in Olympia nicht teilnehmen durften und die Gruppe dieses Gesetz respektierte). Nach diesen tollen Eindrücken in Olympia fuhren wir zurück nach Athen, wo wir unsere Spurensuche gemeinsam mit Pita Gyros abschlossen.

Sonntag, 12.10.2014: Am nächsten Tag traten wir die Rückreise nach Frankfurt an. Am Flughafen gab es letzte, unangekündigte ‚Tests’, aber da die Exkursionsteilnehmer die gefragten Fachbegriffe für die ‚Rillen’ in den Säulen (Kanneluren) natürlich kannten, konnten unsere Dozenten fröhlich gestimmt werden und sich dann sogar mehreren Zaubertricks der Exkursionsteilnehmer widmen.
Insgesamt hat die Exkursionsgruppe zahlreiche Spuren der Götter auffinden, analysieren und deuten können. Ihr Anliegen, sich auf dem Gebiet der griechischen Antike und Archäologie praxisnah weiterzubilden und auf den Spuren der Götter zu wandeln, konnte mit viel Begeisterung, Freude und (Tat-) Kraft gelingen.

Den Exkursionsbericht mit Bildern finden Sie auch auf der Homepage der Alten Geschichte.

 

Quelle: http://mgtud.hypotheses.org/207

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Exkursionsbericht Griechenland 2014 Alte Geschichte

Griechenland – Auf den Spuren der Götter (Bericht von Theresa Dorsam und Dimitros Adamopoulos)

Unter diesem Motto stand die Exkursion der Alten Geschichte vom 01. bis 12. Oktober 2014 nach Athen und auf die Peloponnes. Nach einer intensiven Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Quellentexten – von Aischylos bis Platon – aus und über diese Regionen im vorausgegangenen Sommersemester 2014 freuten wir uns auf die Reise und waren bereit für die Spurensuche.

Mittwoch, 01.10.2014: Unsere erste Spur führte uns von Frankfurt/Main über den Flughafen Wien nach Athen, wo wir von der griechischen Sonne empfangen wurden. Weitere griechische Besonderheiten wie der Ouzo und die berühmte Landesküche sollten am selbigen Abend noch folgen. Nach der Ankunft im Hotel fuhren wir nämlich zum Einstieg gemeinsam in den Athener Stadtteil ,,Plaka“, wo wir unter der Akropolis dinierten. Der Anblick des beleuchteten Parthenons ließ schon erahnen, was uns am nächsten Tag erwarten sollte.

Donnerstag, 02.10.2014: Voller Tatendrang erreichten wir am frühen Vormittag des ersten wirklichen Exkursionstages das Wahrzeichen der griechischen Landeshauptstadt: die Akropolis. Nachdem uns die beeindruckenden aber mit Menschenmassen überfüllten Propyläen näher erläutert worden waren, liefen wir am berühmten Nike-Tempel vorbei in Richtung Erechteion. Dann endlich fanden wir eine wichtige und langersehnte Spur unserer Exkursion: den Parthenon. An Ort und Stelle spürten wir die 2500 Jahre alte Geschichte dieses architektonischen Meisterwerkes – und diese Geschichte ist noch lange nicht beendet, denn wir konnten live miterleben, wie der Tempel der Göttin Athene, der nach dem Sieg über die Perser errichtet und Ende des 17. Jahrhunderts schwer beschädigt wurde, in mühevoller Kleinstarbeit wieder aufgebaut wird. Im neuen, modernen Akropolis-Museum konnten wir viele archäologische Schätze wie z. B. die Koren des Erechteions bewundern. Danach ging es über die Überreste des Dionysos-Theaters und über das Odeon des Perikles zur Agora. Manch einer bekam eine Gänsehaut, als er erfuhr, dass genau an diesem Platz die Wurzeln der Demokratie liegen. Etwas enttäuschend war freilich der schlechte Erhaltungszustand der Agora. Dennoch halfen uns Rekonstruktionszeichnungen, Stück für Stück die Spuren auf der Agora zusammenzufügen.

Freitag, 03.10.2014: Nach einem langen Weg durch zahlreiche von der Wirtschaftskrise sichtlich getroffene Stadtteile trafen wir im griechischen Nationalmuseum in Athen ein. Dort wurden wir von der goldenen ‚Maske des Agamemnon’, die von Heinrich Schliemann 1876 in Mykene gefunden wurde, begrüßt. Wir haben diese, wie auch zahlreiche andere Ausstellungsstücke des Museums, kritisch betrachtet und hinterfragt. Tatsächlich ist es umstritten, ob es sich wirklich um die Maske des Agamemnon handelt. Insgesamt gingen wir mit vielen neuen Eindrücken – auch aus der archaischen Zeit – aus dem Museum. Der Tag hatte damit aber nur angefangen, denn unsere Reise führte uns weiter in das Theater von Thorikos, welches zu den ältesten Theater Griechenlands zählt. Hier suchten wir gemeinsam mit unseren Dozenten nach den Überresten von Silber und Blei, die hier bereits in der Archaik abgebaut wurden. Danach hatten wir uns einer besonderen Herausforderung zu stellen: dem windigen Poseidon-Tempel in Sunion. Hier mussten wir alle gegen Poseidons Winde kämpfen. Scheinbar war der Meeresgott uns gegenüber mürrisch gestimmt, denn er machte uns die Spurensuche nicht einfach. Die atemberaubende Aussicht an der südlichen Küste Attikas ließ uns den anstrengenden Aufstieg dann allerdings vergessen.

Samstag, 04.10.2014: Nach einem dreitägigen Aufenthalt in Athen brachen wir in Richtung Tolo auf der Peloponnes auf. Die 25 Kilometer lange heilige Straße führte uns zunächst zum Grabungsgelände in Eleusis. Nach einem kurzen Aufenthalt und der Besichtigung des Telesterions ging es über den Isthmus von Korinth. In der antiken Ausgrabungsstätte von Korinth begegneten wir schließlich dem nächsten Gott, Apollon, und dessen beeindruckenden Tempel. Nach einem anschaulichen Gang durch die Stadtanlage Korinths machten wir einen Zwischenstopp in Nemea. Die Besichtigung hier stellte sich als schwierig heraus, da das Grabungsgelände aufgrund der Winteröffnungszeiten geschlossen war und wir die Größe des Zeus-Tempels nur vom Zaun aus erahnen konnten. Danach fuhren wir nach Tolo, wo wir in einem kleinen Hotel, das von einer netten griechischen Familie geleitet wurde, direkt am Meer untergebracht waren.

Sonntag, 05.10.2014: Am nächsten Morgen begaben wir uns auf eine weitere wichtige Spurensuche in Mykene. Beim Erblicken der riesigen Felsblöcke in den mykenischen Mauern und des Löwentors, kamen wir ins Staunen und konnten Aischylos‘ Tragödie Agamemnon, welche wir im Vorbereitungsseminar gelesen und nachgespielt hatten, vor Ort nachempfinden. Das Megaron und die Gräber auf dem Grabungsgelände von Mykene ließen uns die prächtige mykenische Kultur, welche ca. vom 16. bis ins 12. Jahrhundert v. Chr. bestand, erahnen. Nach einem kurzen Zwischenstopp am ‚Schatzhaus des Atreus’, einem Tholosbau aus dem 13. Jahrhundert v. Chr., fuhren wir weiter zum Heraion von Argos. Dieses Hera-Heiligtum zählte seit früharchaischer Zeit zu den ehrwürdigsten Heiligtümern Griechenlands und hatte seine größte Blüte im 5. Jahrhundert v. Chr. Da nur die Grundmauern der Tempelanlagen erhalten waren, wurde uns auch hier die Spurensuche nicht einfach gemacht. Dennoch durchforsteten wir mit offenem und mittlerweile geschultem Auge die Überreste des Heiligtums. Gegen Mittag machten wir in Argos Rast, wo wir das hellenistische Theater, welches knapp 20.000 Zuschauer fasste, erklommen. Unsere letzte Spur an diesem Tag führte uns zu dem Grabungsgelände der Burg von Tiryns. Diese antike Stadt erlebte ihre Hochphase im 3. Jahrtausend v. Chr. Trotz guter Ausrüstung konnten wir dem aufkommenden Regenschauer nicht Stand halten, sodass ein Teil die Besichtigung leider relativ schnell abbrechen musste.

Montag, 06.10.2014: Heute stand Epidauros auf unserem Plan. Dort fanden wir das imposante und beeindruckende Theater aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. vor, welches am Hang gebaut wurde und bis zu 14.000 Personen Platz bot. Wir konnten es uns nicht verkneifen, die einzigartige Akustik im Theater zu testen und genossen den weitläufigen Ausblick auf die Landschaft. Danach erkundeten wir das Asklepios-Heiligtum von Epidauros, welches in seiner Bedeutung keinesfalls im Schatten des berühmten Theaters stehen sollte. Hier wurde seit dem Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. ein umfassender Kult- und Heilbetrieb im Zeichen des Halbgottes und Wunderheilers Asklepios und seiner Tochter Hygieia praktiziert. Auf dem teilweise nur mäßig gut erschlossenen Grabungsgelände begaben wir uns auf Spurensuche von Asklepios.
Der Nachmittag stand zur freien Verfügung. Viele Exkursionsteilnehmer, die von der teils anstrengenden Spurensuche etwas mitgenommen waren, nutzten die Zeit zur Erholung. Einige andere erkundeten die idyllische Gegend rund um Tolo auf dem Wasser. Da unser Boot eher antiken Standards glich und mit der rauen See zu kämpfen hatte, machte so manch ein Grieche auf unsrer kleinen Bootstour schlapp. Dennoch konnten wir alle wieder gut erholt den Tag in geselliger Runde ausklingen lassen.

Dienstag, 07.10.2014: Am nächsten Tag verließen wir Tolo und brachen in Richtung Sparta auf. Nach einem spontanen Zwischenstopp in der prähistorischen Siedlung von Lerna hielten wir bei dem Kloster Moni Loukous aus dem 12. Jahrhundert an. Die kleine Zentralbasilika, in dessen Mauern so manche antike Spolien verbaut sind, befand sich inmitten eines zauberhaften Klostergartens. Nach höflichem Anklopfen durften wir eintreten und wurden von gastfreundlichen Nonnen anschließend mit leckerem griechischen Kaffee versorgt. Danach begaben wir uns einige Meter weiter auf Erkundungstour durchs Gebüsch, um die Villa des römischen Redners und Politikers Herodes Atticus zu erkunden.Unser weiterer Weg führte nach Tegea. Da uns auch hier wieder ein starker Regenschauer heimsuchte, konnten wir den Athena-Tempel nur vom Bus aus bestaunen und unsere Phantasie im kleinen, aber gut ausgestatteten Museum anregen lassen. Gegen Abend kamen wir schließlich in Sparta an. Nachdem wir erkannten, dass unsere Hotelzimmer dem entsprachen, was man im Volksmund mit ‚spartanischen Verhältnisse’ umschreibt, beendeten wir den Tag gemeinsam in einem Restaurant vis-à-vis des modernen Leonidas-Denkmals.

Mittwoch, 08.10.2014: Da Historiker stets nicht nur einer Spur folgen sollten, besuchten wir an diesem Tag die Klosterkirchen der byzantinischen Stadt Mystra aus dem 15. Jahrhundert. Auch an diesem Tag regnete es leider, was uns aber nicht davon abhielt, den Klosterberg zu erklimmen und die Geheimnisse der zahlreichen Kirchen und Kloster zu erkunden.
Da jeder der Exkursionsteilnehmer den Film ‚300’ gesehen hatte, hatte die Mehrheit hohe Ansprüche an Sparta. In der Stadt Sparta – heute eher eine Kleinstadt – besichtigten wir das Museum.
Dabei stach die Statue eines spartanischen Kriegers aus dem Jahre 490 v. Chr. ins Auge. Der Krieger – manche denken, es sei Leonidas persönlich – trägt einen Helm mit großem Kamm und schweren Wangenpanzern. Was genau auf den Wangenpanzern zu sehen ist, führte zu hitzigen Diskussionen in der Gruppe. Doch letztlich konnten wir klären, dass es sich um Widderhörner handelte. Als wir das Museum in Sparta verließen, merkte einer der Detektive, dass der Eingang des Museums dem Nike-Tempel ähnelt. Ein Tourist, der neben unserer Gruppe stand, hörte dies und rief ihm auf deutsch ,,Streber“ zu, was zu Gelächter führte. Insgesamt wurde uns erklärt, dass es nur wenige Zeugnisse aus der Vergangenheit Spartas gibt. Die Ausgrabungsstätten in Sparta waren auch nicht gerade ansehnlich und die hohen Erwartungen wurden nicht erfüllt. Unvergesslich wird dennoch das Taygetos-Gebirge rund um Sparta bleiben, das nicht nur bei den Feinden des antiken Spartas einen mächtigen Eindruck hinterlassen hat.

Donnerstag, 09.10.2014: Von Sparta fuhren wir nach Messene, wo wir das weitläufige Grabungsgelände erkunden konnten. Die beeindruckende Stadtmauer verführte manch einen, an ihr hochzuklettern, was manchen unserer Dozenten gelegentlich das Herz stehenbleiben ließ.
Das Stadion war sehr gut erhalten, sodass auch die brühende Hitze die Detektive nicht davon abschreckte, Beweisfotos zu schießen. Als kleine Entschädigung für das schlechte Wetter in Sparta fuhren wir ins sonnige Pylos, wo wir in einem netten Hotel an einem kleinen Hafen übernachteten. Die Schlacht von Pylos (425 v. Chr.) Krieg und die Schlacht von Navarino (1827 n. Chr.) waren zwei wichtige Ereignisse der Region, jedoch mit gravierendem Einfluss auf die gesamte griechische Geschichte. Und neben allem Schlachtenruhm bot Pylos dann auch die ersehnte Möglichkeit, schwimmen zu gehen und sich ein wenig zu erholen. Den Abend verbrachte die Gruppe gemeinsam direkt am wunderschönen Hafen, wo gelacht, getrunken und gespielt wurde. Man lernte sich untereinander besser kennen und auch unsere Dozenten waren stets Teil unserer gemütlichen Runden, die während dieser Exkursion häufig zusammenfanden.

Freitag, 10.10.2014: Eine lange und schwierige Fahrt war die zum Apollon-Tempel in Bassae, der sich auf 1150 Meter Höhe befindet. Unser Busfahrer Georgos (von uns liebevoll ,,Schosch“ genannt) meisterte die kurvenreiche Straße auf den Berg souverän. Als der Bus plötzlich vor einem großen Straßenkrater stehen blieb, dachten wir schon, dass wir umkehren müssten, doch Georgos füllte den Krater mit zwei Felsbrocken, was dazu führte, dass die eine oder andere Exkursionsteilnehmerin bei diesem Anblick dahinschmolz. Iktinos, der Architekt des Parthenon, wurde auch für den Bauherr des Apollon-Tempels gehalten, dieser verwendete korinthische und ionische Elemente und kombinierte diese mit sechs Meter hohen dorischen Säulen. Die korinthische Ordnung findet sich in diesem Tempel zum ersten Mal. Solche Fakten und die Tatsache, einen derart hervorragend erhaltenen Tempel (zugleich auch UNESCO-Weltkulturerbe) sehen zu können, erstaunten viele.

Samstag, 11.10.2014: Am vorletzten Tag der Exkursion besuchten wir Olympia. Sowohl das Grabungsgelände als auch das Museum waren beeindruckend. Dieses Heiligtum des Zeus war der Austragungsort der Olympischen Spiele. Obwohl der Zeus-Tempel heute rekonstruiert werden muss, wurde uns allen klar, dass der etwa 64 Meter lange, 28 Meter breite und 20 Meter hohe Tempel zu den bedeutendsten Bauwerken der frühklassischen Architektur zählt und wir konnten uns damit auch erklären, warum die Athleten während der Olympischen Spiele in Richtung des Zeus-Tempels starteten. Der plastische Schmuck, d.h. die Giebelskulpturen und die Metopen sind im Museum in Olympia zu bestaunen. Die Giebelfelder waren mit Skulpturen aus parsischem Marmor ausgestattet, die Geschichten aus der Mythologie erzählten. Auf den Metopen wurden die zwölf Taten Herakles’ dargestellt. Im Zeus-Tempel befand sich auch eines der Sieben Weltwunder der Antike: die Zeus-Statue des Phidias, die leider nicht mehr erhalten ist. Erhalten dagegen sind aber etwa das Philippeion, ein Teil der Schatzhäuser, der Eingang zum Stadion, das Stadion selbst sowie Teile der Palästra. Die Länge der Laufbahn betrug – und beträgt heute noch – 192,28 Meter. Als die Exkursionsteilnehmer in das Stadion eintraten, überfiel sie der olympische Geist und es kam spontan zu einem Wettlauf unter den Männern (da Frauen am antiken Wettlauf in Olympia nicht teilnehmen durften und die Gruppe dieses Gesetz respektierte). Nach diesen tollen Eindrücken in Olympia fuhren wir zurück nach Athen, wo wir unsere Spurensuche gemeinsam mit Pita Gyros abschlossen.

Sonntag, 12.10.2014: Am nächsten Tag traten wir die Rückreise nach Frankfurt an. Am Flughafen gab es letzte, unangekündigte ‚Tests’, aber da die Exkursionsteilnehmer die gefragten Fachbegriffe für die ‚Rillen’ in den Säulen (Kanneluren) natürlich kannten, konnten unsere Dozenten fröhlich gestimmt werden und sich dann sogar mehreren Zaubertricks der Exkursionsteilnehmer widmen.
Insgesamt hat die Exkursionsgruppe zahlreiche Spuren der Götter auffinden, analysieren und deuten können. Ihr Anliegen, sich auf dem Gebiet der griechischen Antike und Archäologie praxisnah weiterzubilden und auf den Spuren der Götter zu wandeln, konnte mit viel Begeisterung, Freude und (Tat-) Kraft gelingen.

Den Exkursionsbericht mit Bildern finden Sie auch auf der Homepage der Alten Geschichte.

 

Quelle: http://mgtud.hypotheses.org/207

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Stalag X B – ein Ort für das Gedenken

Michele Montagano
Baracke

Baracke der russischen Krieggefangenen © Sarah Mayr (mit freundlicher Genehmigung)

Dieses Jahr wird, nach 2014, einem weiteren Krieg gedacht. 2015 jährt sich zum siebzigsten Mal das Ende des Zweiten Weltkriegs. Aus diesem Grund stellt sich Zeitgeschichte-online einen Monat lang mit einem Themenschwerpunkt vor. Das Thema behandelt einen bisher oftmals vernachlässigten Gegenstand der Geschichte – die Kriegsgefangenen in deutschen Arbeitslagern. Dazu werden die Arbeiten von Sarah Mayr vorgestellt. Die Fotografin beendete 2014 ihr Studium an der Ostkreuzschule für Fotografie (Berlin) in der Abschlussklasse von Ludwig Rauch. Sie beschäftigt sich in ihrer Abschlussarbeit mit dem ehemaligen Arbeitslager für Kriegsgefangene in Sandbostel im Zweiten Weltkrieg. Die ungewöhnliche Bezeichnung „Stalag X B“ steht für ein ehemaliges Kriegsgefangenenlager. Damals bezeichnete es das Mannschafts-Stammlager B im Wehrkreis X in Sandbostel. Dort wurden gefangene Soldaten und Widerstandskämpfer aus den verschiedensten Ländern untergebracht und zur Arbeit gezwungen.

Die junge Fotografin ist aus Zufall auf das Lager nordöstlich von Bremen aufmerksam geworden. „Meine Mutter war in die Nähe gezogen. Als ich sie besuchte, zeigte sie mir die verfallenen Barracken, und ich begann, sie zu fotografieren. Damals gab es noch keine Gedenkstätte.“ Sie wollte Öffentlichkeit für den Ort herstellen und beließ es nicht nur bei den Schwarz-Weiß-Aufnahmen, sondern suchte nach Zeitzeugen, die den Lageralltag miterlebt hatten und die Ereignisse schildern konnten. Entstanden sind Porträts und Interviews von acht Männern aus sieben verschiedenen Ländern, die von ihrer Festnahme, über ihre Lagerhaft und die Befreiung sprechen.

Raymond Gourlin

Porträt von Raymond Gourlin © Sarah Mayr (mit freundlicher Genehmigung)

Einer von ihnen ist der ehemalige französische Widerstandskämpfer Raymond Gourlin, der mit 19 Jahren zusammen mit seinem Bruder in das Arbeitslager kam, nachdem er von SS-Männern als Partisan verhaftet worden war. Seine erste Reaktion war lautes Lachen, so beschreibt er seine damalige Situation. Er konnte die Zustände an diesem Ort nicht fassen und lachte über diese abstruse Situation. Später sei ihm das Lachen schnell vergangen. Er erzählt von den Ermordungen, deren genaue Opferzahl unbekannt ist, da alle SS-Dokumente verschwunden seien. So berichtet er: „Ein Russe war auf seinem Arbeitstisch eingeschlafen, und seine Bohrmaschine hatte dabei ein Loch in den Tisch gemacht, er wurde dafür wegen Sabotage verhaftet, in Neuengamme zum Tode verurteilt und in der Fabrik, vor den Augen aller, gehängt. Das Zivilpersonal der Fabrik wurde evakuiert, es blieben nur noch die SS und die Gefangenen. Der Russe stand auf einem Hocker, die Hände hinter dem Rücken gebunden und den Hals in der Schlinge. Ein deutscher Gefangener stieß den Hocker um. Ich stand vier oder fünf Reihen entfernt davon, ich habe alles mit angesehen … alles …“

Dass diese Zeit eine traumatische gewesen sein muss, bestätigen Gourlins Beschreibungen. Am Beispiel von Harry Callan zeigt sich, dass es für die Opfer noch heute schwierig oder sogar unmöglich ist, über das Erlebte zu sprechen. Der Nordire war zwar bereit, sich von Sarah Mayr fotografieren zu lassen, jedoch wollte er nicht über Sandbostel sprechen. Man erfährt nur, dass er Mitglied der Handelsmarine und von 1941 bis 1945 in verschiedenen Arbeitslagern interniert war.

„Willst du mit uns kollaborieren oder bist du gegen uns?“ Der größte Teil hat geantwortet: „Nein, wir wollen nicht kollaborieren, wir sind das italienische Heer und haben mit euch nichts gemein.“ Diese Frage wurde Michele Montagano zuerst von den Deutschen gestellt. Er verneinte sie und wurde in einem Viehwaggon nach Deutschland verfrachtet. Auch er erlebte am eigenen Leib Schikane und Unterdrückung im Gefangenenlager Sandbostel. Trotz allem denkt er nicht kollektiv schlecht über Deutschland. Auf die Frage, welches Verhältnis er heute zu Deutschland habe, antwortet er: „Sehr gut, ich schätze die Deutschen enorm, ich bewundere sie. Alle Deutschen, die ich getroffen habe, nach dem Krieg, waren gute Menschen. Sie waren in Ordnung, ernsthafte Menschen.“ Er warnt aber auch, dass die Deutschen zu angepasst waren und es noch sind – und dass dies gefährlich sei.

Michele Montagano

Porträt von Michele Montagano © Sarah Mayr (mit freundlicher Genehmigung)

Die Interviews sind sehr persönlich. Die Männer reden offen über ihre Erlebnisse und haben auch ihre ganz individuellen Meinungen. So wirkt die Antwort des Polen Wiktor Listopadzki auf die Frage, ob er den Generationen, die keinen Krieg erlebt haben, etwas zu sagen hätte, sehr verletzt und zornig zugleich. „Der Krieg ist das Schlimmste, was der Menschheit passieren kann. Es sterben sehr viele junge, alte, kranke und gesunde Menschen dabei. Es ist eine menschliche Tragödie. So etwas sollte niemals passieren. Alle sollten sich vereinigen und Freunde sein. Es sollte nie dazu kommen, dass jemand einem anderen etwas wegnehmen möchte. Die Menschheit sollte Widerstand gegen jene leisten, die Krieg führen wollen. Mein Leben im Krieg war sehr schlimm. Die ganze Jugend habe ich im Kampf verbracht und wurde ohne Respekt behandelt. Getreten von den Deutschen und den Russen. Sie haben meine Mutter ausgeraubt und … Ich will mich hier nicht weiter aufregen. Danke.“

Wiktor Listopadzki

Porträt von Wiktor Listopadzki © Sarah Mayr (mit freundlicher Genehmigung)

Zu Recht widmet sich Zeitgeschichte-online mit den mutigen Männern aus Sandbostel diesem weitgehend unbekannten Lager der SS. Zu lange wurde diesem Ort nicht die nötige Beachtung geschenkt. Erst 2013 eröffnete auf dem alten Lager-Gelände eine Gedenkstätte. Die Jahre zuvor wollte man sich nicht mit seiner Geschichte auseinandersetzen, und die Gebäude wurden zeitweise als Ferienwohnungen genutzt. Unglaublich erscheint die Verdrängung der unangenehmen Vergangenheit.

Recht hat Michele Montagano damit, wenn er sagt: „An uns muss sich erinnert werden, weil wir Mut hatten, nicht in Italien, sondern in Deutschland, Nein zu sagen. Wir haben Nein gesagt in Deutschland, und das ist es, was sie über uns erzählen sollen. Das bedeutet moralische Integrität.“

Alle acht porträtierten Männer sitzen vor einer grauen Wand und schauen den Betrachter frontal an. Durch ihre Haltung und ihre Kleidung jedoch unterscheiden sie sich. Raymond Gourlin zum Beispiel sitzt gerade auf dem Stuhl und schaut ohne jegliche Emotionen in die Kamera. Er trägt ein Jackett und dazu eine Krawatte, seine Hände ruhen übereinandergelegt auf seinen Beinen. Man vermutet bei einer solchen Darstellung keinen ehemaligen Widerstandskämpfer – umso mehr beeindrucken seine Worte. Anders als der Franzose lässt sich Harry Callan porträtieren. Auch er hat zwar seine Hände auf den Beinen liegen, jedoch posiert er in seiner ehemaligen Uniform, inklusive seiner Auszeichnungen. Wie oben erwähnt, wollte er nicht von seinen Erfahrungen erzählen. Trotzdem lässt sich ein gewisser Stolz über das eigene Leben und Überleben erahnen.

Schaut man sich die Schwarz-Weiß-Aufnahmen an, die Sarah Mayr zu Anfang ihres Projekts machte, wird erkennbar, welche Details in den Abbildungen stecken. Die Bilder zeigen verfallene Gebäude, die nicht mehr an die Grausamkeiten der Nationalsozialisten erinnern, sondern auch Überreste eines Bauernhofs sein könnten. Hier wird wieder einmal klar, dass die Betrachtung von Fotografien ohne Bildunterschrift gänzlich in die Irre führen kann. Am Anfang war Sarah Mayr nämlich nicht klar, was genau sie dort fotografierte, bis sie sich mit der Geschichte des Ortes auseinandersetzte. Sie will die Geschichte öffentlich machen und den Umgang mit dem Nationalsozialismus zeigen und auf ihre Weise darstellen. 2013 besuchte sie die Gedenkfeier in Sandbostel und knüpfte Kontakte zu Zeitzeugen. Sie lediglich zu fotografieren, reichte ihr aber nicht, sie wollte die Geschichte hinter den Menschen erfahren und vermitteln. Sarah Mayr betont: „Das Wissen und die Erinnerungen der Zeitzeugen sind wertvoll, sie bezeugen, was geschehen ist. Ihre Worte stehen gegen die Lüge, die sich in großen Teilen der Gesellschaft wieder breit macht, die alles verharmlost und die die Deutschen als Opfer verklärt.”

Harry Callan

Porträt von Harry Callan © Sarah Mayr (mit freundlicher Genehmigung)

Die Ergebnisse der Interviews und die Porträts können vom 1. April bis 30. April 2015 in der Gedenkstätte Sandbostel angeschaut werden.

 

Sarah Mayr, Letzte Erinnerungen. Porträts ehemaliger Häftlinge des Kriegsgefangenenlagers Sandbostel, in: Zeitgeschichte-online, Dezember 2014, URL: http://www.zeitgeschichte-online.de/thema/letzte-erinnerungen

Quelle: http://www.visual-history.de/2015/02/02/stalag-x-b-ein-ort-fuer-das-gedenken/

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Interview: Prof. Alain Schnapp über die Vergangenheit und Zukunft der Archäologie

HdU-Herbst-2014

"Dans nous-mêmes, la meilleure manière fidèle est de se servir sucessivement des tous nos sens pour considérer un objet ; et c'est faute de cet usage combiné des sens, que l'homme oublie plus de choses qu'il n'en retient." (Georg Luis Leclerc Buffon, Oeuvres choisies de Buffon, Bd. 2, Paris 1859, S. 293)

Seit 2006 verleiht die Meyer-Struckmann-Stiftung jährlich einen Wissenschaftspreis für geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung in Zusammenarbeit mit der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und dem Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen. 2014 erhielt der Archäologe und Kunsthistoriker Prof. Alain Schnapp, Kooperationspartner und Unterstützer des Graduiertenkollegs GRK 1678 seit der ersten Stunde, die mit 20.000 Euro dotierte Auszeichnung für seine über die Grenzen des Faches der klassischen Archäologie hinausgehende Forschungsarbeit. Im folgenden Interview nähert er sich den zwei Schwerpunktbegriffen des Graduiertenkollegs aus Sicht der Archäologie.

 

Gibt es in der Klassischen Archäologie einen Produktionsbegriff?

Es gibt einen Produktionsbegriff in der Klassischen Archäologie. Er entstammt der Zeit der Wiener Schule der Kunstgeschichte Ende des 19. Jahrhunderts. Alois Riegl verwendete ihn erstmals in seinem Buch „Die spätrömische Kunstindustrie“. Seit diesem Werk gibt es überhaupt erst ein Bewusstsein für den technischen Produktionsprozess z.B. griechischer oder römischer antiker Monumente – sei es in der Architektur, der Skulptur oder der Keramik. Ranuccio Bianchi-Bandinelli und seine Schüler entwickeln Riegls Herangehensweise in Anlehnung an den Marxismus für die Archäologie weiter. Von der Beschäftigung mit dem Produktionsbegriff in Bezug auf die griechische Kunst zeugen vor allem die Arbeiten von Wolf-Dieter Heilmeyer und Francis Croissant, die die Produktionstätigkeit der Bildhauer in den Mittelpunkt der Forschung stellen. Luca Giuliani, Dyfri Williams und François Lissarrague haben insbesondere die Produktion von Bildern auf griechischen Vasen für die Archäologie fassbar gemacht.

In Ihrer Forschung gehen Sie über die Klassische Archäologie hinaus und setzen Ausgegrabenes, Bilder und Objekte mit zeitgenössischen Schriftquellen und Texten in Verbindung. Entsteht durch diese Methode eine spezielle Materialität bzw. Immaterialität der Archäologie?

Die Erforschung der Beziehungen der Menschen zu ihrer Vergangenheit versucht stets zwei Aspekte des Vergangenheitsinteresses zusammenzubringen: An erster Stelle steht die materielle Spur der Geschichte;  Ruinen und antike Fragmente bspw. beweisen die Materialität der Vergangenheit. An zweiter Stelle steht der immaterielle Prozess der Erinnerung, der die Vergangenheit miterzeugt. Die Poetik ist sein Werkzeug. Die Dichter behaupten, dass ihre Kunst – weil sie immateriell ist – ein sichereres Mittel als das der Monumente sei, um Erinnerungen zu bewahren. Ein Gedicht ist resistenter als ein Stein oder eine Pyramide: „libelli vincunt marmora monumenta (elegiae in maecenatem).“ Die Dialektik zwischen Schriftlichem und Nichtschriftlichem/Materiellem und Immateriellem ist ein Problem der Archäologie und beeinflusst sie enorm, aber macht sie auch aus.

Schreiben Sie eine Archäologie der Archäologie, wie es Dekan Bruno Bleckmann bei der Meyer-Struckmann-Preisverleihung formulierte?

Meine Forschung gehört zur Archäologie der Archäologie, doch nicht im Sinn von Michel Foucault, nämlich Archäologie als etwas, das in seiner Struktur die verschiedensten Reliquien der Vergangenheit darbietet. Ich versuche, den Diskurs unterschiedlicher Gesellschaften über die Vergangenheit zu erforschen.

Denken Sie, dass ein Wissenschaftsblog/die Plattform hypotheses.org im Sinne Buffons zu einem Archiv der geisteswissenschaftlichen Welt werden könnte? Was wäre dann die Aufgabe der Archäologie der Zukunft?

Sicher bietet das Internet zahlreiche, neue Möglichkeiten, an Dokumente und Texte zu kommen, aber die Struktur der humanistischen Forschung bleibt dieselbe. Jede neue Technik eröffnet eine neue Forschungslandschaft. Die Aufgabe zukünftiger Archäologen könnte sein, sich darin zu orientieren. Von der Archäologie der Zukunft wissen wir nicht viel mehr, als dass z.B. durch das Internet viel mehr Material vorhanden sein wird. Allerdings wird auch in der Zukunft das Equilibrium zwischen Erinnerung und Vergessen bestehen. Mit Charles de Montalembert gesprochen: „La mémoire du passé ne devient importune que lorsque la conscience du présent est honteuse.

Quelle: http://grk1678.hypotheses.org/327

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Neue Rezensionen: H-Soz-Kult

Magdalena Roeseler, Reading, New York 26.3.2013

 

In den letzten Wochen sind interessante Bücher aus dem Bereich der historischen Bildforschung auf H-Soz-Kult rezensiert worden. Wir stellen einige davon auf Visual History vor.

 

Franz X. Eder/Oliver Kühschelm/Christina Linsboth (Hrsg.), Bilder in historischen Diskursen
Springer VS,  Wiesbaden 2014
rezensiert von Lucia Halder, redaktionell betreut von Jan-Holger Kirsch

Eder, Bilder

Bilder haben einen wichtigen Anteil an den Möglichkeitsbedingungen des Sag- und Denkbaren, zugleich unterliegen sie aber auch den Grenzen des Zeigbaren. Auf dieser Annahme basiert der Sammelband über „Bilder in historischen Diskursen“. Die Herausgeber – allesamt Lehrende am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien – versammeln darin ausgewählte Beiträge der „3. Tagung zur internationalen Diskursforschung“. Das Buch ist in zwei Großkapitel gegliedert. Das erste Segment über „Bilder in Diskursen – Theorie und Methode“ legt mit einer Einleitung und drei Beiträgen das methodische Fundament für die im zweiten Abschnitt des Bandes folgenden Beispielanalysen. Acht Beiträge konkretisieren „Bild-Diskursanalysen“ in historischer Perspektive, wobei der Fokus überwiegend auf Materialien aus dem 19. und 20. Jahrhundert gerichtet ist.

 

Konrad Dussel, Pressebilder in der Weimarer Republik. Entgrenzung der Information
LIT Verlag, Münster 2012
rezensiert von Malte Zierenberg, redaktionell betreut von Christoph Classen

Dussel. Pressebilder

In einer Ausgabe von Carl Dietzes Ratgeber für Pressefotografen konnten Interessierte 1931 folgende Aufstellung von Motiven lesen, die es sich angeblich zu fotografieren lohnte, wollte man als Fotograf erfolgreich sein: „Für die Presse-Illustrationsphotographie überhaupt kommen aber in Betracht: Aufnahmen aller Ereignisse und Vorgänge des öffentlichen Lebens, aktuelle Begebenheiten, […] Katastrophen, Unglücksfälle, Enthüllungen, Einweihungen, Ausstellungen, Interessantes aus fremden Erdteilen, […] Beachtliches aus dem gesamten Leben in der Natur […], Bildnisse von Persönlichkeiten, die das jeweilige öffentliche Interesse in Anspruch nehmen, ferner Abnormitäten, Kuriositäten, Merkwürdigkeiten, aus politischen Bewegungen, […] kurz alles, was viel Interesse erweckt, den Leser belehrt und ihm beachtlich erscheint“. Nach der Lektüre von Konrad Dussels Buch zu den „Pressebildern in der Weimarer Republik“ kann man schließen, dass sich eine ganze Reihe von Fotografen in der Zwischenkriegszeit an Dietzes Tipps gehalten haben. Aber sollte das das einzige Ergebnis einer gut 400 Seiten umfassenden Studie sein? Dussel überträgt die Methoden der kommunikationswissenschaftlichen Inhaltsanalyse auf die Weimarer Pressebilder. Darin liegen zugleich der wichtigste Vorzug als auch das Hauptproblem seiner Analyse.

 

Hentrich und Hentrich, Berlin 2013
rezensiert von Sandra Starke, redaktionell betreut von Ulrich Prehn

 

Kulturprojekte Berlin GmbH, Berlin 2013
rezensiert von Sandra Starke, redaktionell betreut von Ulrich Prehn

 

Kreutzmüller, Pogrom

 

Das Unvermögen der Fotografie, insbesondere unter den Bedingungen der NS-Diktatur authentische Bilder von der Gewalt des frühen nationalsozialistischen Terrors herzustellen, ist schon häufig ein Thema der Fotogeschichte gewesen. Die wenigen Bilder, die wir kennen, zeigen nur einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit. Trotzdem prägen sie unsere Erinnerung an die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung bis heute. Noch nie hat die Diskussion dazu geführt, diese Bilder nicht mehr zu zeigen, vermutlich aus einem Mangel an Alternativen. Den Autoren zweier Bände mit Fotos der Pogrome im Jahr 1938 gelingt es auf überzeugende Weise und eng am Bild, die Themen Entstehung, Darstellung der historischen Ereignisse, Gebrauch und historischer Kontext der überlieferten Fotografien zu erarbeiten.

 

 

Jaworski, Alltagsperspektiven

 

Die Geschichte dieser Foto-Dokumentation beginnt in einer Kieler Eckkneipe. Dort traf Rudolf Jaworski, bis 2009 Professor für die Geschichte Ostmitteleuropas an der Universität Kiel, auf Johannes Beyerlein, der ihm vom fotografischen Nachlass seines Vaters, des Leiters der Deutschen Post Osten in Warschau, berichtete. Gemeinsam mit Florian Peters machte sich Jaworski an die Erschließung dieses Fundes. Mit Unterstützung des Hamburger Generalkonsuls der Republik Polen ist daraus nun eine „Alltagsperspektiven im besetzten Warschau“ betitelte Publikation geworden, in der die beiden Autoren, ausgehend von der fotografischen Überlieferung, den Versuch einer biographischen Mikrostudie unternommen haben. Dies soll – so die Autoren – ein Schlaglicht werfen auf die „in der Forschung bislang verhältnismäßig wenig beachtete Grauzone der Lebens- und der Wahrnehmungsweisen deutscher Zivilbeamter im besetzten Polen“.

 

Picturing Empires: Photography and Social Change in 19th-Century Multi-Ethnic Environments
Tagung des Forschungsprojekts „Russlands Aufbruch in die Moderne. Technische Innovation und die Neuordnung sozialer Räume im 19. Jahrhundert“, 27.-29.8.2014, Augst
Tagungsbericht von Alexis Hofmeister

Die internationale Tagung „Picturing Empires: Photography and Social Change in 19th-Century Multi-Ethnic Environments“ fand im Rahmen des von der Volkswagen-Stiftung geförderten Forschungsprojekts “Russlands Aufbruch in die Moderne. Technische Innovation und die Neuordnung sozialer Räume im 19. Jahrhundert” vom 27. bis 29. August 2014 auf dem Landgut Castelen in Augst bei Basel statt. Die Beziehung zwischen dem sozialen und technologischen Wandel im „Zeitalter der Imperien“ einerseits und der Rolle der Fotografie als Nutznießer und Spiegel dieser Entwicklung andererseits sowie die Nutzbarmachung der Fotografie für imperiale bzw. koloniale Politik standen im Mittelpunkt der Tagung.

Magdalena Roeseler, Reading, New York 26.3.2013

Magdalena Roeseler, Reading, New York 26.3.2013,
Flickr/Roeseler / CC BY-2.0

Quelle: http://www.visual-history.de/2015/01/19/neue-rezensionen-h-soz-kult/

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Neuburg 1912 – Städtisches Leben zwischen Tradition und Moderne

     Wohl kein Datum in der jüngeren Geschichte Europas zeitigte gravierendere Auswirkungen auf das Schicksal des Kontinents als der 28. Juni 1914. Das Attentat von Sarajevo, die Ermordung des österreichischen Thronfolgerpaares durch einen serbischen Nationalisten, sollte die politischen, die militärischen, die sozialen und die kulturellen Koordinaten der „Alten Welt“ für immer verschieben.

     Nur anderthalb Monate nach den Schüssen in der bosnischen Hauptstadt gingen, wie der damalige britische Außenminister Grey bereits am 3. August 1914 prophezeit hatte, in Europa die Lichter aus: Ein Kontinent, in dem mit Ausnahme einiger Balkankriege im Gefolge des Niedergangs des Osmanischen Reiches mehr als vierzig Jahren Frieden geherrscht hatte, versank in einem vierjährigen Völkermorden, das sich bis heute ins kollektive Gedächtnis der daran beteiligten Nationen eingebrannt hat: Die grauenhaften Materialschlachten in Flandern; das einjährige Blutvergießen bei Verdun mit knapp einer Million Toten; die Zustände an der Front in Russland; die völlig sinnlosen Waffengänge in den Hochalpen; Gallipoli an den Dardanellen; schließlich die Verbrechen gegen die Menschlichkeit an den Armeniern – für viele, nicht nur europäische Völker bilden die Geschehnisse zwischen 1914 und 1918 einen zentralen Bestandteil ihrer nationalen Narrative.[1]

     Doch der Erste Weltkrieg stellte nicht nur aus der Perspektive der Humanität einen Epocheneinschnitt, einen Zivilisationsbruch dar. Im Gefolge all der Grausamkeiten, die an den Fronten begangen wurden, gerieten vielmehr ganze gesellschaftliche Ordnungen ins Wanken. Das Jahr 1914 markiert auch den Beginn eines Zeitalters der Revolutionen und der soziokulturellen Umwälzungen. Eine Dekade nach dem Anschlag auf das österreichische Thronfolgerpaar war in Deutschland und Europa nichts mehr wie zuvor: Monarchien waren gestürzt, die traditionelle Gesellschaft befand sich in Auflösung, die industrielle Moderne hielt endgültig, die kulturelle Moderne hielt auf breiter Front Einzug in die Lebenswelten.[2]

     Dabei finden sich erste Anzeichen für das Herannahen einer neuen Zeit bereits vor 1914. In Deutschland wies die Art und Weise der politischen Auseinandersetzung zunehmend in Richtung Demokratie; die Gesellschaft wurde mobiler und durchlässiger; die künstlerische Avantgarde setzte, zögerlich noch, mit expressionistischen Ausdrucksformen erste Akzente; Technikbegeisterung griff im Zuge der Hochindustrialisierung und einer ganzen Welle an neuen, wegweisenden Erfindungen um sich; moderne Formen der Freizeitgestaltung schließlich begannen sich durchzusetzen: das Kino, das sich bereits vor 1914 mit Lichtspielhäusern selbst in Kleinstädten zu einem Volksvergnügen entwickelte; die Tanzveranstaltungen, die Varietés, die auf die Sensationsgier der Zeitgenossen abzielten; und auch der Sport – Schwimmen, Radfahren, Fußball – avancierte noch vor jener „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (George F. Kennan) zu einer bevorzugten Freizeitbeschäftigung.[3]

     Anderseits freilich hatten die Entwicklungen, die der modernen Massengesellschaft den Weg wiesen, noch nicht jenen Schwung, den ihnen der Epochenbruch des Weltkrieges verleihen sollte. Noch dominierte das Traditionelle, noch dominierte die herkömmliche gesellschaftliche Schichtung, wurden öffentliches Leben sowie öffentliche Diskurse von Bildungsbürgern, meist konservativer Provenienz, bestimmt[4] – und dies in umso stärkerem Maße, je weiter man sich von den urbanen Zentren entfernte. Noch wiesen das Theater, wiesen klassische Konzerte nicht jenen elitären Charakter auf, der diesen beiden Kunstformen nach dem endgültigen Siegeszug der populären Unterhaltungsindustrie zugeschrieben wurde. Noch wurde das Bild der Leibesübung von Turnvereinen geprägt und nicht von modernen, aus England stammenden Sportarten.[5] Noch hatten neueste Techniken der Fortbewegung nicht den Alltag der Menschen erobert. Noch diente die Presse mehrheitlich der Aufrechterhaltung der überkommenen Ordnung. Noch stand die Revolution  nicht einmal als „Drohung“ im Raum.

     Anhand einer Kleinstadt, anhand des Beispiels Neuburg an der Donau, sei im Folgenden die Lebenswelt der Menschen kurz vor dem Ersten Weltkrieg beschrieben – eine Lebenswelt, die noch bestimmt war von Tradition und die dennoch bereits vom Anbruch einer neuen Zeit kündet.

 

Politisches – Ökonomisches - Demographisches

     Bevor das Alltagsleben Neuburgs kurz vor Ausbruch Ersten Weltkrieges ins Zentrum rückt, ist es angebracht, einige allgemeine Anmerkungen voranzustellen. Wie stellte sich die Stadt vor 1914 auf der politischen und demographischen Landkarte Bayerns dar, wie nehmen sich deren struktur- und kommunalgeschichtlichen Daten aus?

     Im Jahr 1505 entstand das Herzogtum Pfalz-Neuburg mit Neuburg als Residenzstadt. Knapp vier Dekaden später wurde Neuburg unter Pfalzgraf Ottheinrich protestantisch. Wiederum gut sieben Jahrzehnte nach der Hinwendung des Landesherrn zum Protestantismus erfolgte 1616/17 die Gegenreformation. 1742 starb die Hauptlinie der Neuburger Pfalzgrafen aus, wodurch der Zweig Sulzbach in der Nachfolge zum Zuge kam. 1777 wurden auch die bayerischen Wittelsbacher beerbt, so dass nun die Länder Pfalz und Bayern vereinigt waren. Nach dem Ende der Linie Sulzbach 1799 fielen deren Territorien an Pfalz-Birkenfeld-Bischweiler-Zweibrücken. Als Folge der Mediatisierung, jener großangelegten Flurbereinigung des ehemaligen Kaiserreiches zu Beginn des 19. Jahrhunderts, wurde 1808 das Herzogtum Pfalz-Neuburg/Sulzbach endgültig aufgehoben und dem neu geschaffenen Königreich Bayern einverleibt. Einen weiteren Einschnitt brachte das Jahr 1837, als im Zuge der Landesteilung Bayerns der Zusammenschluss der Donaustadt mit Schwaben zu einem Regierungsbezirk erfolgte.

     Als Konsequenz der Reorganisation des Königreiches musste sich Neuburg mit einer geminderten politischen Bedeutung abfinden. Der Stadt kam nun lediglich noch die Funktion eines Zentrums für das ländliche Umland zu. Dass Neuburg in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dabei auch ökonomisch und demographisch ins Hintertreffen geriet, war freilich dem Umstand geschuldet, dass die Stadt nicht sofort an die im Zuge der industriellen Moderne neu entstehenden Verkehrswege angeschlossen wurde. Die „Königlich-Bayerischen Staatseisenbahnen“, 1844 gegründet, ließen mit ihren Hauptverbindungen zwischen den drei großen Städten des Landes, ließen mit ihren Verbindungen zwischen Nürnberg, München und Augsburg, die alte Residenzstadt außen vor. Um Franken besser an Altbayern anzubinden, führten zweigleisige Schienenstränge über Ingolstadt und Donauwörth, nicht aber über Neuburg. Die alte Donaustadt fand Anschluss an das Eisenbahnnetz nur mittels einer West-Ostverbindung, eine Linie, die überdies nur eingleisig ausgebaut war.

     Der Standortnachteil, den die bayerische Verkehrspolitik eingebracht hatte, wirkte sich auf die wirtschaftliche Entwicklung Neuburgs aus. Das verarbeitende Gewerbe blieb lange Zeit schwach ausgeprägt, noch in den 1930ern war im Grunde einzig die Erschließung der am nördlichen Stadtrand lagernden Kieselerde-Vorkommen von Bedeutung. Angesichts des Defizits in puncto Industrialisierung darf es somit auch nicht verwundern, dass sich vor 1914 eine organisierte Arbeiterbewegung nur rudimentär ausgebildet hatte. Zwar hatte sich bereits 1903 ein Ortsverein der SPD konstituiert, ihr Nischendasein in Neuburg – 4,6 Prozent bei der Landtagswahl 1907 – konnte die Sozialdemokratie allerdings erst nach dem Weltkrieg überwinden.[6]

     Als Folge der ausbleibenden Industrialisierung stagnierte auch die Einwohnerzahl Neuburgs. Zwischen 1840 und 1900 wuchs die städtische Bevölkerung nur um 26,5 Prozent, von 6350 auf 8030 Personen. Zum Vergleich: Im selben Zeitraum nahm die Einwohnerzahl Ingolstadts um 140 Prozent von gut 9.000 auf mehr als 22.000 Personen zu, stieg die Zahl der Bürger Regensburgs um 130 Prozent von 20.000 auf 46.000. Ein merklicher demographischer Schub war erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu verzeichnen, als 4.000 Heimatvertriebene zuwanderten.[7]

     Belebend auf die lokale Ökonomie wirkte sich hingegen das Militär aus. Seit 1868 war in Neuburg das knapp anderthalb Jahrhunderte zuvor in Donauwörth aufgestellte „Königlich-Bayerische 15. Infanterie-Regiment“ stationiert. Der Umstand, dass die Einheit ihren Friedensstandort in Neuburg hatte, führte unter anderem dazu, dass sich die Stadtbevölkerung zeitweise bis zu einem Drittel aus Militärpersonen zusammensetzte. Der Verlust der Garnison im Gefolge des Versailler Friedens 1919 brachte deshalb enorme wirtschaftliche Nachteile mit sich.[8]

     Was die politischen Verhältnisse anbelangt, so zeigt sich Neuburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts fest in der Hand des konservativen katholischen Bürgertums. Bei der Landtagswahl 1912 etwa erreichte Martin Loibl, der Kandidat des Zentrums 58 Prozent der Stimmen, während die Liberalen mit 28 Prozent bzw. die SPD mit 13,6 Prozent abgeschlagen auf dem 2. Und 3. Platz landeten.[9]

     Seit napoleonischen Zeiten befand sich Neuburg etwas abseits der großen strukturhistorischen Entwicklungen. Die Stadt war Provinz: sehr bürgerlich, sehr konservativ, sehr traditionell. Abgesehen von der Rolle, die das Militär spielte, kann die ehemalige Residenz somit als repräsentativ für das kleinstädtische Bayern des frühen 20. Jahrhunderts betrachtet werden. Für diejenigen jedoch, die die vergangene Größe und Bedeutung Neuburgs verinnerlicht hatten, konnte die urbane Realität ihrer Heimat kurz vor Ausbruch des Weltkrieges nur unbefriedigend sein.

 

Theater – Kino

     Wie wirkten sich die beschriebenen Faktoren im Alltag der Stadt aus? Wie dominant war der katholische Konservatismus, das Bildungsbürgertum in Wirklichkeit? Standen nicht auch die Zeichen auf Fortschritt? Wer waren die Protagonisten einer kulturellen Moderne, von wem gingen entsprechende Impulse aus?

     Zentrale Institution traditioneller Bildung und Gelehrsamkeit in Neuburg war das Stadttheater. Keiner anderen kulturellen Einrichtung wurde in Martin Loibls „Neuburger Anzeigeblatt“ mehr Platz eingeräumt. Sowohl Vorberichte zu neuen Inszenierungen, als auch die Kritiken nach den Premieren gestalteten sich ausführlich. Das Stadttheater war ein Ort, an dem sich das Bürgertum mit Hilfe der Klassiker der Dramenliteratur – mitunter auch mit Hilfe kulturkritisch-reaktionärer Inszenierungen – seiner selbst vergewisserte. Dementsprechend nahmen sich Teile des Spielplans aus. So finden sich im Programm für das Jahr 1912 die Komödie „Was Ihr wollt“ von William Shakespeare ebenso wie das Lustspiel „Frauerl“ des nicht unbedingt als Revolutionär verschrienen Autors Alexander Engel, über das selbst das „Anzeigeblatt“ urteilte, dass es nicht besonders „originell“ sei.[10] Weiter finden sich die Posse „Lumpazi-Vagabundus“ von Nestroy, die Lustspiele „Der Heiratsurlaub“ und „Die Hochzeitsreise“, die Operetten „Guten Morgen, Herr Fischer“ und der Walzerkönig“, die komische Oper „Der Waffenschmied“ von Lortzing, die Tragödie „Ghetto“ des jüdisch-holländischen Dichters Heijermans, deren Neuburger Inszenierung anscheinend nicht ganz frei war von Antisemitismus, sowie das Schauspiel „Die Tochter des Fabrizius“ des ehemaligen Wiener Burgtheaterdirektors Adolf von Wilbrandt, dessen Besprechung im „Anzeigeblatt“ in einen Verriss mündete: „Rührseligkeiten ohne psychologischen Untergrund gibt es (…) in Fülle. Die Taschentücher wurden in Anbetracht dieses Umstandes fleißig in Anwendung gebracht.“[11] Anscheinend war man in Neuburg mit dem herkömmlichen Programm des Stadttheaters nicht recht zufrieden, wobei nicht nur die Sprech-, sondern ebenso Musikstücke herber Kritik ausgesetzt waren. Über die Operette „Guten Morgen, Herr Fischer“ urteilte Loibls Presseorgan gar vernichtend: „(…) Handlung unterdurchschnittlich (…) Ein tolles Durcheinander von Unmöglichkeiten, über die man ernsthaft nicht lachen kann; ein großes Arbeiten mit blöden Effekten.“[12]

     Nachdem offenkundig bereits längere Zeit Klage darüber geführt worden war, dass der Besuch des Stadttheaters zu wünschen übrig lasse,[13] scheint sich noch im Winter 1912 in der Programmgestaltung eine Wende angebahnt zu haben – weg vom klassischen Repertoire eines kleinstädtischen Theaters mit Operetten, antiquierten Lust- und christlichen Trauerspielen hin zu modernen, regelrecht avantgardistisch anmutenden Formen der darstellenden Kunst. Tatsächlich ist der Spielplan des Stadttheaters Neuburg für das Jahr 1912 alles andere als einseitig. Nicht nur die bereits erwähnten Inszenierungen gelangten zur Darbietung, sondern die Leitung des Hauses zeigte sich auch offen für Neues. Mit expressionistischen Ansätzen wurde experimentiert; Emmy Schneider-Hoffmann, eine zeitgenössisch sehr renommierte Balletttänzerin, war mit ihrem pantomimischen Theater zu Gast; ebenso Madame Hanako vom kaiserlichen Hoftheater in Tokio, die allerdings kurz vor ihrem Auftritt erkrankte – und mit dem „Fuhrmann Henschel“ von Gerhart Hauptmann war auch das naturalistische Drama, das aufgrund seiner freimütigen, teils sozialkritischen Darstellungsweise immer für einen Skandal gut war, auf der Neuburger Bühne vertreten.[14]

     Freilich könnte die Vermutung naheliegen, dass die allmähliche Öffnung des Stadttheaters hin zur Avantgarde nicht zuletzt mit dem Aufschwung eines neuen Mediums für darstellende Kunst zusammenhing, mit dem Aufschwung des Kinos – ein Aufschwung, der mit dem „Zentral-Theater“ bereits vor dem Ersten Weltkrieg Neuburg erreicht hatte. Für Kulturpessimisten den Inbegriff einer verachtenswerten neuen Epoche symbolisierend, erwies sich das Kino in der Rosenstraße jedoch alles andere als auf der Höhe der Zeit. Vielmehr verhielt sich die Entwicklung des Zentral-Theater-Programms geradezu gegensätzlich zu jener des Stadttheater-Spielplanes. Wurden in der oberen Stadt, an einem traditionellen Ort der Kunst, zunehmend neue Formen und Inhalte ausprobiert, so wurde im sogenannten „Lichtspielhaus“ unterhalb des Schlosses mit Hilfe moderner Technik der Konservatismus propagiert.

Gewiss wurden anspruchsvolle Filme gezeigt, Melodramen mit der Schauspielerin Asta Nielsen, die während der gesamten Stummfilmzeit zur absoluten Weltspitze in ihrem Fach zählte. Und ebenso gelangten sogenannte „Kunstfilme“ zur Aufführung, die einfach nur die Möglichkeiten des neuen Mediums Kino ausloteten. Aber es wurden in der Rosenstraße eben auch Filme der Öffentlichkeit präsentiert, die eher konservativ-katholischem Kunstverständnis entsprachen – Filme, in die bedenkenlos ebenso jene Zuschauer gehen konnten, die während des Faschingsausklangs dem bunten Treiben in den Straßen und Tanzsälen fernblieben und lieber am 40-stündigen Gebet in der Hofkirche teilnahmen. Religiöse Darstellungen und Heiligenlegenden mit Titeln wie „Das Leben und Leiden Christi“ oder „St. Georg, der Drachentöter“ – es waren derartige Sujets, die für das Kinoprogramm in Neuburg vor 1914 repräsentativ waren.[15]

 

Musik

     Gegensätze, wie sie sich auf der Bühne und auf der Leinwand abzuzeichnen begannen, manifestierten sich ebenso in anderen Bereichen der Kunst, in der Architektur etwa – erwähnt sei die 1901 im Jugendstil erbaute Warmbadeanstalt am Wolfgang-Wilhelm-Platz – oder in ganz besonderer Weise in der Musik. Allerdings kam es in der Konzertsparte nicht zu einer allmählichen Herausforderung der Tradition durch avantgardistische Richtungen, sondern elitärer und volkstümlicher Geschmack standen sich a priori gegenüber.

     Einerseits wurde der urbanen Bevölkerung ein umfangreiches Angebot an ernsten musikalischen Darbietungen unterbreitet – ein Angebot, das für eine Kommune von der Größenordnung Neuburgs keineswegs als selbstverständlich zu bezeichnen ist. In diesem Punkt dürften die Vergangenheit der Stadt als Residenz und deren Gegenwart als Truppenstandort zum Tragen gekommen sein. Im ersten Halbjahr 1912 beispielsweise finden sich auf dem Veranstaltungskalender – zusätzlich zu den Standkonzerten des Militärs: Gesangsabende des Liederkranzes, das Konzert eines Pariser Orchesters mit Interpretationen US-amerikanischer Komponisten sowie ein Gastspiel der renommierten Violinistin Ernestine Boucher aus Paris, wobei unter anderem Werke von Bruch, Wolff, Saint-Saëns und Paganini zur Aufführung gelangten.[16]

     Freilich war andererseits ebenso das Spektrum an volkstümlicher musikalischer Unterhaltung sehr breit. Mindestens fünf Gaststätten in Neuburg boten regelmäßig Tanzmusiken an – mit zunehmender Tendenz: Wurden 1909 lediglich zwanzig derartige Gesuche eingereicht, so waren es drei Jahre später bereits vierzig.[17] 1912 konnte die erwachsene Bevölkerung Neuburgs somit im Durchschnitt jedes Wochenende, die Advents- und die Fastenzeit ausgenommen, eine Tanzveranstaltung besuchen.

 

Varieté

     Zweifellos war in Neuburg in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg das Bedürfnis nach Amüsement sehr groß, eine Tatsache, die sich nicht zuletzt durch eine Vielzahl von Varieté- Veranstaltungen belegen lässt. Die für die Wende vom 19. Zum 20. Jahrhundert so typische Sensationsgier nach dem Fremden und Exotischen konnte auch in einer Kleinstadt wie Neuburg gestillt werden. Dabei reichte das Angebot vom herkömmlichen Zirkus bis hin zu völlig neuartigen, recht obskur anmutenden Veranstaltungen, aus dem Bereich der Parapsychologie. So traten etwa bis zum Juli des vorletzten Friedensjahres in Neuburg unter anderem auf: Schuhplattler vom Schliersee; ein Okkultist, der angeblich über telepathische Fähigkeiten verfügte; ein Varieté, dessen Hauptattraktion ein indischer „Serpentintanz“ war; sowie ein mobiles Museum für „Anatomie, Ethologie und Naturwissenschaft“, das angeblich Folgendes zur Schau stellte: „geöffnete Körper, asiatische Beulenpest, Cholera, Lepra, Knochenresektionen, Amputationen, [Folgen von] Blitzschlag, Durchschlagskraft eines Stahlmantel-Geschosses, (…) Armbrüche, Beinbrüche“ etc.[18] 

     Unter all den sensationsheischenden Veranstaltungen, die 1912 beworben wurden, muss ein Spektakel gesondert erwähnt werden: die erste Luftlandung eines Motorflugzeugs bei Neuburg im Juli jenen Jahres. Die Aktion war ein Tribut an die Technikbegeisterung der Zeit – und in der Art und Weise ihrer Rezeption war sie ein Beleg dafür, dass sich Tradition und Moderne, Reaktion und Fortschritt keineswegs ausschließen mussten. Tatsächlich waren es vor allem bürgerlich-konservative Kreise, die den Fortschritt zur Luft in überschwänglichen, von Pathos geradezu strotzenden Worten feierten. Zitat aus dem „Anzeigeblatt“ Martin Loibls, auf dessen Initiative hin die Landung zustande gekommen war:[19]

     „Durch die Münchener Straße, durch die Feldkirchener Durchfahrt strömte Neuburg auf den morgendlichen Plan. Fußvolk und Stahlreiter. Zur Vervollständigung der sportlichen Stimmung Wagen und Automobile. (…) Längs der Straße standen sie und harrten. Nicht sehr lange. Ein surrendes Geräusch, erst in weiter Ferne, ähnlich dem der Automobile, dann schärferes und grelles Knattern eines Flugzeugmotors. Wer’s einmal gehört hat, den durchzuckts. Hoch oben die Straße entlang, kam es sausend aus dem Nebel heran, eine elegante Biegung, ein steiler Abstieg – noch sahen die Insassen wie Puppen, das Ganze wie Spielzeug aus – mitten in der Wiese, ruhig, leicht, fast zart steht ein moderner Aeroplan (…)

Neuburg hat erlebt, wovon die Menschheit seit Jahrtausenden geträumt. Der große Atem der neuen Zeit brauste über uns[,] der Zeit, die das Gold und Silber blasser Mythen in Stahl der Wirklichkeit wandelt. Und wir können beinahe (…) in Variation eines uralten Wortes enthusiastisch ausrufen: Volare necesse est – vivere non necesse! (Fliegen müssen wir, aber Leben ist uns keine Notwendigkeit).“[20]

 

Vereinswesen

     Ein Aspekt des Freizeitgeschehens, der insbesondere in den letzten Dekaden vor Ausbruch des Weltkrieges gesellschaftlich von Bedeutung war, wurde bisher nicht thematisiert: das Vereinswesen. Im Neuburg des frühen 20. Jahrhunderts gab es vielfältige Möglichkeiten, sich in einem Verein zu engagieren. Es gab „Urformen“, die dieser Ausprägung der Bürgerlichkeit ihre Gestalt gegeben hatten, mit anderen Worten: Gesangs- und Turnvereine.[21] Daneben aber existierten ebenso ausgesprochen reaktionäre Vereine, die katholische Jugend etwa, die regelrechte Kulturkämpfe gegen Emanzipationsbestrebungen der Frau und gegen die Sozialdemokratie führte,[22] sowie nationalistische Organisationen, die auf dem äußersten rechten Rand des politischen und kulturellen Spektrums anzusiedeln waren.

     Zwei Ableger jener reichsweit agierenden Verbände – Ortsgruppen des Wehrkraftvereins (gegründet 1911) und des Deutschen Flottenvereins – entfalteten in der ehemaligen Residenzstadt rege Aktivitäten. Ihre Zielsetzung sahen beide Gruppierungen darin, konservative Kreise, auch die bürgerliche Jugend, auf einen neuen, in ihren Augen unvermeidlichen Krieg einzuschwören. Zu diesem Zweck veranstaltete der Wehrkraftverein im Gymnasium Vortragsabende, auf welchen in glorifizierender Weise über den Krieg gegen Frankreich 1870/71 oder über Kriege in den Kolonien referiert wurde, und hielt der Flottenverein Lichtbildervorträge zu dem etwas weit hergeholten Thema „Heldentaten der deutschen Marine“ ab.[23] Wohlwollend begleitet wiederum wurden derartige Veranstaltungen von der Berichterstattung des „Anzeigeblattes“, dessen Herausgeber Martin Loibl aufgrund seiner Offiziersausbildung bei den „Fünfzehnern“ wohl selbst zum Kreis der Nationalisten und Militaristen zu zählen war.

     Abgesehen von den traditionellen Organisationen und vaterländischen Gruppierungen, taten sich in den letzten Jahren vor dem Krieg auch Vereine hervor, die auf neuartige Weise versuchten, Freizeit zu organisieren – Vereine, deren Existenz durch die zunehmende Mobilisierung der Bevölkerung möglich wurde, oder die in Konkurrenz zu den Turnern entstanden waren. Es gab in Neuburg auch eine Sektion des Deutschen Alpenvereins, die seit 1906 eine Hütte in den Stubaier Alpen unterhielt, einen Ring- und Stemm-Club und einen Schwimmverein.[24] Letzterer veranstaltete Ende Juni 1912 ein sogenanntes „Propaganda-Schwimmen“, das sämtliche damals in der Sportart gängigen Wettbewerbe aufwies.[25] Ob mit dieser Veranstaltung auch ein Kontrapunkt zum Gau-Fest der eher konservativ ausgerichteten Turner gesetzt werden sollte, das im Mai des gleichen Jahres aus Anlass des 50. Gründungsjubiläums des Turnvereins von 1862 in Neuburg stattfand,[26] mag dahingestellt sein. 

 

Kriminalität

     Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wies Neuburg den Charakter einer beschaulichen Kleinstadt auf. Dementsprechend sicher konnten sich die Bürger in den Straßen und in der Öffentlichkeit bewegen. Dennoch sind für den Untersuchungszeitraum einige spektakuläre Kriminalfälle dokumentiert, die Fragen aufwerfen:

     Noch in den Dezember 1911 fiel eine Messerstecherei mit Todesfolge, die sich in der Nähe des Schlosses ereignet hatte. Der Täter wurde wenige Monate später zu vierzehn Jahren Haft verurteilt. Gleich zu Beginn des Jahres 1912 musste ein Flickschneider wegen an einem Kind verübten Sittlichkeitsverbrechen für sieben Monate ins Gefängnis. Es handelte sich um einen Wiederholungstäter. Zu einer weiteren Messerstecherei kam es am Faschingsdienstag 1912 vor einer Gaststätte. Mitte März schoss in einem Joshofener Wirtshaus ein betrunkener Dienstknecht um sich und verletzte einen der Gäste schwer, wobei laut dem „Anzeigenblatt“ die übrigen Zecher noch an Ort und Stelle Selbstjustiz übten: „Der allgemeinen Empörung über die rohe Tat wurde dadurch Ausdruck gegeben, daß man [den Dienstknecht] weidlich durchprügelte, so daß er sich in das Krankenhaus der [Barmherzigen] Brüder begeben musste.“ Vom Juni 1912 datiert erneut eine Messerstecherei, auch diese Tat trug sich in Kreisen der Dienstknechtschaft zu. Noch im gleichen Monat wurde in der Nähe von Neuburg ein Schreinermeister von einem Jugendlichen erstochen und Anfang Juli schließlich kam es in einem Waldstück bei Neuburg zu einer versuchten Vergewaltigung einer „Tagelöhnersfrau“.[27]

     Die Berufsgruppen, denen die meisten Täter, aber auch zahlreiche Opfer zuzurechnen waren, scheinen die Vermutung nahezulegen, dass in den unteren Bereichen der gesellschaftlichen Schichtung Neuburgs ein hohes Aggressionspotenzial vorhanden war. Ausgehend von dieser Annahme, könnte die Schlussfolgerung zutreffen, dass es nicht zuletzt die Zwänge der bürgerlichen Lebenswirklichkeit der Vorkriegsjahre waren, die von Zeit zu Zeit zu einem unkontrollierten Gewaltausbruch führten. Dabei war in Neuburg gewiss nicht nur gesellschaftliche Repression verantwortlich zu machen waren, sondern ebenso die Tatsache, dass weniger wohlhabenden Schichten oftmals, auch sehr unverblümt, mit Verachtung begegnet wurde. Der Männer-Turnverein beispielsweise veranstaltete jedes Jahr im Fasching einen sogenannten „Dienstbotenball“, in dem man sich über diese Berufsgruppe lustig machte.[28] Ausgehend von einer derartigen Einstellung war es meist nur ein Schritt hin bis zur offenen Diskriminierung – in Neuburg besonders ausgeprägt durch die hervorgehobene Rolle des Militärs. In Offizierskreis etwa galten Dienstmädchen lediglich als „Prostituierte“, die stationierte Soldaten mit Geschlechtskrankheiten anstecken würden.[29]

 

Gesundheitsfürsorge

     Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts wies in vielen deutschen Städten die öffentliche Gesundheitsfürsorge eklatante Defizite auf. Darunter zu leiden hatte vor allem die weniger gut situierte Bevölkerung, auch in Neuburg. Wenn in den Krankenhäusern der Stadt junge Frauen an Knochenentzündungen starben, wenn dort 25-jährige Dienstknechte an den Folgen einer Entzündung im Rachenbereich dahinsiechten und wenn im Jahre 1912 die Einführung einer Müllabfuhr deshalb scheiterte, weil die Bürger alles selbst hätten bezahlen müssen und sich darum nur 30 Haushalte beteiligen wollten,[30] dann wirft dies kein gutes Licht auf die Gesundheitspolitik und auf die Fürsorgepflicht der Kommune. Unter denjenigen jedenfalls, die von diesen Zuständen zunächst betroffen waren, dürfte sich, verstärkt durch ihre soziale Deklassierung, ein erhebliches Frustrationspotential ausbildet haben.

     Freilich richtete sich der Unmut nie gegen die lokale Obrigkeit. Als im November 1918 auch an der Donau für die progressiven Kräfte der Zeitpunkt gekommen wäre, die Machtfrage zu stellen, erwies sich Neuburg als ein Musterbeispiel an Ruhe und Ordnung. Bürgermeister und Magistrat blieben im Amt, während sich die örtliche Sozialdemokratie für den Schutz des Privateigentums aussprach und sich gegen jede Form des Radikalismus wandte.[31] Das lange Verharren in überkommenen gesellschaftlichen Verhältnissen schien zunächst auch in Neuburg über den Epochenbruch Erster Weltkrieg hinauszuwirken.

 

Ausblick

     Neuburg im Jahr 1912 – eine Kleinstadt zwischen Tradition und Moderne, wobei die Zeichen einer neuen Zeit noch eher schwach zu vernehmen waren. Aber sie waren gleichwohl unübersehbar, vor allem im kulturellen Leben der Stadt. Noch einige Jahre sollten diesem relativ beschaulichen Dasein vergönnt sein, bevor die Folgen des Weltkrieges letztlich doch für einschneidende Veränderungen sorgten. Schien es im Frühjahr 1919 nach Waffenstillstand und Revolution zunächst, als seien die Umwälzungen, die die Metropolen Mitteleuropas erfasst hatten, an der Kleinstadt Neuburg fast spurlos vorübergegangen, so machte spätestens der Vertrag von Versailles deutlich, dass dies nicht der Fall war. Der Einschnitt kam mit der erzwungenen Abrüstung, die der Friedensschluss vorsah und dem der Garnisonsstandort Neuburg zum Opfer fiel.

     Die Auswirkungen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges veränderten den Alltag der Stadt gänzlich. Die gesellschaftliche Neuformierung, die die deutsche Terrorherrschaft über Europa mit sich brachte, machte auch an der Donau nicht halt. Die Ankunft von Evakuierten, Flüchtlingen und Vertriebenen setzte einen Bevölkerungsanstieg in Gang, führte zu bis dahin ungeahnten Aktivitäten im Wohnungsbau und resultierte seit den fünfziger Jahren in einer planmäßigen Ansiedlung von Industriebetrieben. Allmählich entstand das heutige Bild Neuburgs.

     [1] Unter den Neuerscheinungen zum Ersten Weltkrieg am ausführlichsten: Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014.

     [2] Exemplarisch dazu: Martin H. Geyer: Verkehrte Welt Revolution, Inflation und Moderne, München 1914-1924, Göttingen 1998.

     [3] Vgl. Rudolf Oswald, „Fußball-Volksgemeinschaft“. Ideologie, Politik und Fanatismus im deutschen Fußball 1919-1964, Frankfurt a.M., New York 2008, 94ff.; Matthias Marschik, Topographie der freien Zeit, in: SWS-Rundschau 33 (1993), H. 3, 353-363.

     [4] Vgl. etwa: Justus H. Ulbricht, „Wege nach Weimar“ und „deutsche Wiedergeburt“: Visionen kultureller Hegemonie im völkischen Netzwerk Thüringens zwischen Jahrhundertwende und „Drittem Reich“, in: Wolfgang Bialas und Burkhard Stenzel (Hg.), Die Weimarer Republik zwischen Metropole und Provinz, Weimar, Köln, Wien 1996, 23-35.

     [5] Vgl. Oswald, „Fußball-Volksgemeinschaft“, 51f.

     [6] Vgl. Wolfgang Wollny, Die Neuburger Arbeiterbewegung zwischen 1918 und 1945, in: Barbara Zeitelhack u.a. (Hg.), Umbrüche. Leben in Neuburg und Umgebung 1918-1948. Ausstellung des Stadtmuseums Neuburg an der Donau vom 28. März bis 5. Oktober 2008, Neuburg a.d. Donau 2008, 97f.

 

     [7] Dazu die einschlägigen online-zugänglichen Statistiken.

     [8] Thomas Menzel: Neuburg an der Donau als Militärstandort, in: Zeitelhack, Umbrüche (wie Anm. 6), 49f.

     [9] Vgl. Neuburger Anzeigeblatt, 7.2.1912.

     [10] Vgl. Neuburger Anzeigeblatt, 18.1.1912, 24.1.1912 und 28.1.1912.

     [11] Zu den einzelnen Inszenierungen und Besprechungen: Neuburger Anzeigeblatt, 30.1.1912, 8.2.1912, 22.2.1912, 2.3.1912, 10.3.1912, 16.3.1912, 21.3.1912, 28.3.1912 und 31.3.1912. Über die männliche Hauptfigur von Heijermans Tragödie „Ghetto“ war im „Anzeigeblatt“ vom 19.3.1912 zu lesen: „Ihn ekelt das Treiben seiner jüdischen Stammesbrüder an.“

     [12] Neuburger Anzeigeblatt, 28.3.1912.

     [13] Vgl. etwa: Neuburger Anzeigeblatt, 3.3.1912.

     [14] Zu den genannten Veranstaltungen: Neuburger Anzeigeblatt, 22.2.1912, 12.3.1912, 17.3.1912 und 25.4.1912.

     [15] Vgl. etwa: Neuburger Anzeigeblatt, 4.1.1912, 5.1.1912, 17.2.1912, 2.3.1912, 30.3.1912, 6.4.1912, 14.4.1912, 20.4.1912, 27.4.1912, 4.5.1912, 12.5.1912, 1.6.1912, 8.6.1912, 15.6.1912, 22.6. 1912 und 21.7.1912.

     [16] Vgl. Neuburger Anzeigeblatt, 6.1.1912, 18.1.1912, 21.1.1912 und 13.4.1912.

     [17] Vgl. Tanzmusik-Bewilligungen 1906-1920, Stadtarchiv Neuburg a.d. Donau, XX 02 (1561 I).

     [18] Vgl. Neuburger Anzeigeblatt, 17.1.1912, 25.1.1912, 6.4.1912, 7.7.1912 [Zit. ebd.] und 18.7.1912.

     [19] Vgl. Neuburger Anzeigeblatt, 12.7.1912.

     [20] Vgl. Zeitungsartikel o. Dat., Stadtarchiv Neuburg a.d. Donau, XX 02 (669).

     [21] Vgl. Stadtarchiv Neuburg a.d. Donau, XX 02 (3036 und 3014) sowie die einschlägigen Artikel des „Neuburger Anzeigeblattes“ zur Gesangsvereinigung „Liederkranz“.

     [22] Vgl. Neuburger Anzeigeblatt, 25.4.1912, 2.6.1912, 4.6.1912 und 15.6.1912.

     [23] Vgl. Neuburger Anzeigeblatt, 17.1.1912, 4.4.1912, 12.4.1912 und 15.5.1912.

     [24] Vgl. Stadtarchiv Neuburg a.d. Donau, XX 02 (1563, 3030 und 3039).

     [25] Vgl. Programm zum „Propaganda-Schwimmfest“ am 30.6.1912, Stadtarchiv Neuburg a.d. Donau, XX 02 (1563).

     [26] Vgl. Turnverein Neuburg a.D. an den hohen Stadtmagistrat der Stadt Neuburg a.D., 10.3. 1912 und 21.3.1912; Festprogramm zum 50 jährigen Jubiläum, Stadtarchiv Neuburg a.d. Donau, XX 02 (3014).

     [27] Zu den einzelnen Delikten: Neuburger Anzeigeblatt, 3.1.1912, 22.2.1912, 5.3.1912, 24.3.1912 [Zit. ebd.], 9.6.1912, 26.1.1912 und 3.7.1912.

     [28] Vgl. Neuburger Anzeigeblatt, 2.2.1912.

     [29] Vgl. dazu etwa: Stadtarchiv Neuburg a.d. Donau, XX 02 (2943).

     [30] Zu den einzelnen Missständen vgl. die entsprechenden amts- und bezirksärztlichen Gutachten, Stadtarchiv Neuburg a.d. Donau, XX 02 (3884). Zur Müllproblematik in Neuburg vor dem Ersten Weltkrieg vgl. Bekanntmachung des Stadtmagistrats vom 9.4.1912 und Beschluss vom 6.5.1912, Stadtarchiv Neuburg a.d. Donau, XX 02 (1009).

     [31] Vgl. Wollny, Arbeiterbewegung (wie Anm. 6), 99f.

Quelle: http://neuburg.hypotheses.org/236

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Historische Netzwerke Stuttgart. Das zweite Twitterinterview #hnSTR #2

Ein Gastbeitrag von Anne Baillot

Interviewpartner dieses Mal ist Marten Düring. Er arbeitet als Forscher im Digital Humanities Lab am Centre virtuel de la connaissance sur l’Europe in Luxembourg. 2012 promovierte er an der Universität Mainz zu verdeckten sozialen Netzwerken im Nationalsozialismus. Zudem ist er mit Linda von Keyserlingk, Ulrich Eumann und Martin Stark Mitbegründer der Workshop-Serie "Historical Network Research", für deren Webseite er auch verantwortlich ist.

Vom 10.-12. April findet an der Ruhr-Universität Bochum der Historische Netzwerkforschung zum Thema "Vom Schürfen und Knüpfen - Text Mining und Netzwerkanalyse für Historiker_innen" statt. Es ist bereits der neunte Workshop der Reihe. Weitere Informationen erhalten Sie hier.


Siehe auch
: Anne Baillot, Historische Netzwerke Stuttgart. Ein Twitterinterview #hnSTR, in: Digitale Geschichtswissenschaft.Das Blog der AG Digitale Geschichtswissenschaft im VHD, 22.12.2014, http://digigw.hypotheses.org/1153.

Quelle: http://digigw.hypotheses.org/1190

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