Der Hansetag von 1628 – ein Kölner Reisebericht, II

Was den politischen Kontext des Hansetags betrifft, haben wir bereits ausgeführt. Im Folgenden soll es nun um den Bericht der Kölner Gesandten selbst gehen. Auf das Thema Reisen in dieser Epoche sind wir schon einige Male gestoßen und haben die Risiken solcher Unternehmungen herausgestellt, etwa was die Reisen in die Niederlande betraf. Dies war Anfang 1628 nicht anders, und der Bericht atmet durchweg das Bewußtsein für die Gefährlichkeit der Mission. Gleich zu Beginn hält er fest, daß, „weil die Zeiten so gar unselig und gefährlich“, die beiden Gesandten von anderen Herren und Soldaten begleitet wurden. Von einer eigenen (schriftlichen) Salvaguardia ist hier nicht die Rede, doch kann man davon ausgehen, daß die Gesandten vom Kaiserhof, der auf die Kölner Teilnahme am Hansetag gedrängt hatte, auch entsprechende Dokumente erhalten hatten, die man im Falle eines Überfalls hätte vorzeigen können. Doch verließ man sich nicht darauf und brach selbst mit einem Gefolge, das eben auch Bewaffnete umfaßte, auf.

Wie angespannt die Lage war, zeigte sich dann im Münsterland, als die Kölner Reisegruppe zunächst nicht in ein Dorf gelassen wurde – die Bauernschaft schlug die Glocken an, offenbar in der Annahme, es handele sich um einen Trupp Militärs (was potentiell stets Unheil bedeutete). Einige Tage später erhielten die Kölner „ein neue Convoy“, wie es im Bericht hieß: Sie befanden sich nun in der Region, die von Truppen der Katholischen Liga kontrolliert wurde. Entsprechend wurde ihnen hier eine eigene (militärische) Begleitung mitgegeben. Dies verhinderte nicht, daß die Reisegruppe nur zwei Tage später auf „ziemlich trotzige Reiter“ traf. Es blieb aber wohl nur bei einer brenzligen Situation, die ohne Schaden vorüberging. Bei Bremervörde hielten die Reisenden dann an – die begleitenden „Convoyer“ waren übermüdet, und ohne sie trauten sich die Kölner nicht weiter „auch wegen starker Streiferei“ auf den Straßen.

Hier sahen die Reisenden allenthalben auch die Verwüstungen des Kriegs. Diese stellten nicht nur eine bedrückende Erfahrung dar, sondern machte auch das Fortkommen schwierig. Am Ende des Berichts verwiesen Wissius und Lyskirchen auf die Schwierigkeiten, Unterkunft zu finden, „weil fast alles abgebrannt“, sowie auf die „anderen vielen Ungelegenheiten“, mit denen man sich hatte arrangieren müssen.

Immerhin war den Kölnern nichts passiert. Die Gesandtschaft aus Wesel, die 1645 auch an der Nordseeküste unterwegs war, wurde damals von schwedischen Reitern aufgehalten, die Geld erpreßten. Auffällig ist allerdings die unterschiedliche Route: Die Weseler vermieden damals den Landweg nach Norddeutschland und fuhren über niederländisches Gebiet, erst bei Emden kamen sie wieder auf Reichsboden. Die Kölner im Jahr 1628 hielten den direkten Weg offenbar noch für kalkulierbar.

Entsprechend berichteten sie von all ihren Stationen. Dabei ging es nicht allein darum, die Route zu rekonstruieren. Vielmehr hielten die Gesandten genau fest, wie sie an bestimmten Orten aufgenommen wurden. Gleich in Dortmund wurde den Kölnern eine ehrenvolle Aufnahme zuteil: Sie erhielten vom Rat der Stadt Fisch und Wein, der Bürgermeister, der Syndicus und ein Secratarius statteten der Gesandtschaft einen Besuch ab. So gehörte sich das, denn auch Dortmund war Reichsstadt wie Köln, ja Dortmund war auch Mitglied der Hanse, in früheren Zeiten mal ein führendes Mitglied der westfälischen Hansestädte, doch irgendwann hatte Köln alle überrundet. Verbunden waren beide Städte auch durch ihre politische Ausrichtung, denn beide verfolgten einen Neutralitätskurs bei möglichst enger Anlehnung an den Kaiser – was Dortmund als lutherischer Reichsstadt schwerer fiel als Köln. Doch darum ging es hier nicht, wichtig war der diplomatische Umgang mit Gleichgestellten, und hier machte Dortmund alles richtig, wenn die Stadt komplementär zu Lyskirchen und Wissius auch ihren Bürgermeister und ihren Syndicus abordnete. (zu Dortmund ganz knapp die Geschichte der Stadt von 1994,hier S. 130 und S. 190-192)

Es ging in diesem Reisebericht vor allem um genau diese Begegnungen. Die Kölner Gesandten referierten, in welcher Art sie wo aufgenommen wurden – all dies zeigte, welches Prestige Köln im Reich besaß, welche Ehre man den Vertretern dieser Stadt zukommen ließ. Es ging also nicht primär um Serviceleistungen für die Gesandten, sondern die Ehre, die Lyskirchen und Wissius zuteil wurde, widerfuhr der Stadt Köln selbst. Genau deswegen verzeichneten sie auch penibel die Aufnahme in Hamburg – auch eine bedeutende Hansestadt, die politisch aber sicher nicht so kaiserfreundlich einzuschätzen war. Bei der Ankunft gab es „das ordinari Präsent und Congratulation“; später, als Ratsvertreter ihren Besuch machten, kamen noch „besondere(.) Wein Präsente(.)“ dazu. Schon zuvor wurde vermerkt, daß man in Bremen „gleich in vorigen Städten das ordentliche Präsent und Congratulation“ erhalten habe: Es ging also immer auch um Ehre, Reputation, Statuswahrung, auf die zu achten war.

Nicht minder bedeutsam war die Aufnahme bei Tilly, dem Kommandeur über die ligistischen Truppen. Er belagerte in diesen Monaten noch Stade (wovon der Bericht nichts sagt) und hatte deswegen sein Hauptquartier in Buxtehude. Tilly empfing die Kölner Gesandtschaft persönlich und hat sie bei der Tafel „honorifice tractieren lassen“. Dazu erklärte er sein Wohlgefallen, daß die Kölner die Mühen dieser Reihe auf sich genommen hätten. Er, Tilly, wolle „sine dolo solchs an gebührendem Ort aufs Beste rühmen“ – den ligistischen Generalleutnant hatten die Kölner also schon einmal für sich gewonnen, ein erster Erfolg der Reise. Allerdings riet Tilly den Gesandten auch stark dazu, „man sollte mit Eifer dasjenige befördern, was zu der Römischen Kaiserlichen Majestät Dienst und anderem allgemeinerem Nutzen vortraglichen sein könnte“. Dies war eine recht deutliche Mahnung an die Stadt Köln, den (aus kaiserlicher Sicht) Schlingerkurs der Neutralität aufzugeben. Hier zeigte sich dann doch, wie problematisch die Mission zum Hansetag immer noch war – und dies lag nicht allein an der Unsicherheit der Straßen.

Quelle: http://dkblog.hypotheses.org/649

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Von Menschen und Monstern in der Rechtgeschichte

Zu den Missverständnissen, die einer “langen Geschichte” uneindeutiger Körper im Weg stehen, gehört die Vorstellung, dass Menschen mit untypischen Genitalien lange Zeit, wenn nicht gar immer, als “Monster” wahrgenommen worden seien. In der neueren Literatur gehen diese Vorstellungen oft auf Foucault zurück. Eine durchaus typische Formulierung dieser Position lautet z.B. so: Since ancient times intersexed bodies were literally constructed as mythical monsters and have been seen as such in the medical discourse until today. The enduring influence of the mythical and religious literary imagery […]

Quelle: http://intersex.hypotheses.org/255

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Die “Military Revolution” und der Festungsbau 1/2

Aus Anlass einer kommenden Seminarsitzung mit diesem Thema und einer darauf folgenden Diskussion soll hier zunächst das Konzept der “Military Revolution” (kurz Revolution oder M.R. genannt) zusammengefasst werden. Gemeint ist damit die Existenz einer Zeit, in der es grundlegende militärische … Weiterlesen

Quelle: http://fortifica.hypotheses.org/315

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Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte (Jacobus de Vitriaco: Historia Occidentalis, deutsch), 9

[Fortsetzung des Übersetzungsprojekts]

Neuntes Kapitel

Über den Magister Johannes von Nivelles und andere Prediger

Nachdem der genannte Kämpfer Christi1also gestorben war, der es auf sich genommen hatte, in heiligem Streit die Welt zu bewachen, und der die teilweise dunklen Gegenden durch das Licht der Wahrheit erleuchtet hatte, begannen viele, durch den Eifer der Liebe entzündet und durch sein Beispiel angetrieben, zu predigen und zu lehren. Sie erzogen viele zur Gerechtigkeit und entrissen durch heilige Aufmunterungen die Seelen der Sünder aus dem Rachen des Leviathans. Die wichtigsten der Namen unter diesen waren, Sternen am Himmel gleich: der verehrungswürdige Pater und Magister Stephanus, Erzbischof von Canterbury,2der Magister Galterus von London,3 der Magister Robertus von Chorcon, der später Kardinal wurde,4 (Adam,) der Zisterzienserabt von Perseigne,5 der Magister Albericus von Laon,6 der später Erzbischof von Reims wurde und sich von einem Fluss in ein Bächlein verwandelte.7 Weiterhin der Magister Johannes von Liro und sein Gefährte, der Magister Johannes von Nivelles, ein demütiger und ehrfurchtsvoller Mann und geschmückt mit den Perlen aller Tugenden.8Dazu noch viele weitere, deren Namen eingeschrieben sind ins Buch des Lebens,9und die, indem sie auf dem Acker des Herrn treu und besonnen arbeiteten, die Bestien aus den Felshöhlen und Bergen jagten, und die Fische aus dem See des Schmutzes und den Stricken und Netzen des Elends herauszogen.

D O W N L O A D

(PDF/A-Version)

Empfohlene Zitierweise: Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte 9, übers. von Christina Franke, mit Anmerkungen von Björn Gebert, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 27. April 2015, http://mittelalter.hypotheses.org/5735 (ISSN 2197-6120).

  1. Gemeint ist Fulko von Neuilly (†1202), vgl. Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte 6, übers. von Christina Franke, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 8. Juni 2014, http://mittelalter.hypotheses.org/3879 (ISSN 2197-6120) sowie Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte 8, übers. von Christina Franke, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 16. November 2014, http://mittelalter.hypotheses.org/4687 (ISSN 2197-6120).
  2. Stephen Langton (†1228): Studium in Paris in den 1180er Jahren, Schüler von Petrus Cantor, später Lehrer in Paris; bedeutender Theologe, Verfasser zahlreicher Werke; päpstlicher delegierter Richter 1205/6, Kardinalpresbyter von S. Crisogono 1206; Wahl zum Erzbischof von Canterbury auf Betreiben von Papst Innocenz III. 1206 in Rom, Konsekration 1207 gegen den Widerstand des englischen Königs, daraufhin Exil bis 1213 in Frankreich, v.a. in der Zisterzienserabtei Pontigny; Mitwirkung bei der Entstehung der Magna Carta Libertatum 1215; Suspendierung durch den Papst 1215; Zwangsaufenthalt an der Kurie 1215-1218; Translation von Reliquien Thomas Beckets nach Canterbury 1220. Lit.: Folkestone Williams: Lives of the English Cardinals. Including historical notices of the papal court, from Nicholas Breakspear (Pope Adrian IV.) to Thomas Wolsey, Cardinal Legate, 1, London 1868, S. 205-48; Klaus Ganzer: Die Entwicklung des auswärtigen Kardinalats im hohen Mittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte des Kardinalkollegiums vom 11. bis 13. Jahrhundert, Tübingen 1963 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 26), S. 153-9; John W. Baldwin: Masters, Princes and Merchants. The social views of Peter the Chanter and his circle, Bd. 1: Text, Princeton, NJ 1970, S. 25-31; Werner Maleczek: Papst und Kardinalskolleg von 1191 bis 1216, Wien 1984 (Publikationen des Historischen Instituts beim Österreichischen Kulturinstitut in Rom, Abhandlungen 6), S. 164-6; Daniel Baumann: Stephen Langton. Erzbischof von Canterbury im England der Magna Carta (1207-1228), Leiden [u.a.] 2009 (Studies in Medieval and Reformation Traditions 144).
  3. Walter, Archidiakon von London: als solcher nachweisbar 1212-1214; von Papst Innocenz III. 1213 zur Kreuzzugspredigt in England beauftragt. Quellen und Lit.: August Potthast: Regesta Pontificum Romanorum. Inde ab a. post Christum natum MCXCVIII ad a. MCCCIV, Bd. 1, Berlin 1874, Nr. 4727 (S. 410f.); Early Charters of the Cathedral Church of Saint Paul, London, ed. Marion Gibbs, London 1939 (Camden Series 3,58), Nr. 255, 263, 307; Alfred John Andrea: Walter, archdeacon of London, and the Historia occidentalis of Jacques de Vitry, in: Church History 50 (1981), S. 141-51.
  4. Robert de Corson († 1219): Studium in Paris in den 1190er Jahren, Schüler von Petrus Cantor, ab 1200 Lehrer in Paris; verfasste einige theologische Werke; häufig päpstlicher delegierter Richter bis 1212; Kardinalpresbyter von S. Stefano in Monte Celio ab 1212; Legat in Frankreich 1213-1215; Prediger beim Albigenserkreuzzug und beim 5. Kreuzzug; Tod vor Damiette. Lit.: Marcel Dickson et Christiane Dickson: Le cardinal Robert de Courson. Sa vie, in: Archives d’histoire doctrinale et littéraire du moyen âge Bd. 9 (1934), S. 53-142; Baldwin: Masters (wie Anm. 2), S. 19-25; Maleczek: Papst und Kardinalskolleg (wie Anm. 2), S. 175-9; Jörg Oberste: Zwischen Heiligkeit und Häresie. Bd. 1: Städtische Eliten in der Kirche des hohen Mittelalters, Köln [u.a.] 2003 (Norm und Struktur 17), S. 193-7.
  5. Adam von Perseigne (†1221): erst Regularkanoniker, dann Benediktiner, schließlich Zisterzienser und Abt von Perseigne (1188-1221); 1195 Disputation mit Joachim von Fiore in Rom; 1198 Beichtvater des engl. Königs Richard Löwenherz; predigte den 4. Kreuzzug; wurde besonders von Papst Innocenz III. mit wichtigen Aufträgen betraut, etwa 1208 mit der Vermittlung zwischen den Königen von England und Frankreich; verfasste Predigten, Briefe und einen Liber de mutuo amore ad sacras virgines. Quellen und Lit.: Radulphi de Coggeshall chronicon Anglicanum, in: Radulphi de Coggeshall chronicon Anglicanum, de expugnatione Terrae Sanctae libellus. Thomas Agnellus de morte et sepultura Henrici regis Angliae junioris. Gesta Fulconis filii Warini. Excerpta ex otiis imperialibus Gervasii Tileburiensis, ed. Joseph Stevenson, Joseph, New York, NY [u.a.] 1875 (Rerum Britannicarum medii aevi scriptores 66), S. 1-208, hier 130; Statuta Capitulorum Generalium Ordinis Cisterciensis. Ab anno 1116 ad annum 1786, ed. Joseph Maria Canivez, Bd. 1: Ab anno 1116 ad annum 1220, Louvain 1934 (Bibliothèque de la Revue Ecclésiastique 10), 1201.37 (S. 270); Louis Calendini: Art. “Adam de Perseigne”, in: Dictionnaire d’histoire et de géographie ecclésiastiques (künftig: DHGE), 1, Paris 1912, Sp. 488-90; Adam de Perseigne: Lettres, Texte latin, introd., trad. et notes par Jean Bouvet, Bd. 1, Paris 1960 (Sources chrétiennes 66 / Sources chrétiennes. Série des textes monastiques d’Occident 4), S. 7-29; The Historia Occidentalis of Jacques de Vitry. A critical edition, ed. John Frederick Hinnebusch, Fribourg 1972 (Spicilegium Friburgense 17), Appendix C, S. 254f. mit weiterer Literatur; Laurent Maillet: Les missions d’Adam de Perseigne, émissaire de Rome et de Cîteaux (1190-1221), in: Annales de Bretagne 120,3 (2013), S. 99-116; Klaus Graf: Der Zisterzienser Adam von Perseigne und das Speculum virginum, in: Ordensgeschichte. Ein interdisziplinäres Gemeinschaftsblog, 8. September 2013, http://ordensgeschichte.hypotheses.org/5570 (ISSN 2198-8315).
  6. Alberich von Laon bzw. von Humbert bzw. von Hautvilliers (†1218): Archidiakon von Paris; Erzbischof von Reims ab 1206/07; initiierte den gotischen Neubau der Kathedrale von Reims; nahm 1212 am Albigenserkreuzzug teil; brach auch zum 5. Kreuzzug auf; Tod in Pavia auf dem Rückweg vom Heiligen Land. Quellen und Lit.: Albrici monachi Triumfontium Chronicon, ed. P. Scheffer-Boichorst, in: MGH SS 23, 631-950, hier S. 887 (Ernennung zum Erzbischof von Reims), 889 (Teilnahme am Albigenserkreuzzug), 905 (Aufbruch ins Heilige Land), 907 (Tod in Pavia); Gallia Christiana, in provincias ecclesiasticas distributa, qua series et historiae archiepiscoporum, episcoporum et abbatum… / opera et studio Dionysii Sammarthani,… [deinde] monachorum Congregationis S. Mauri Ordinis S. Benedicti [deinde] condidit, 9: De provincia Remensi, ejusque metropoli ac suffraganeis Suessionensi, Laudunensi, Bellovacensi, Catalaunensi ac Noviomensi ecclesiis, Paris 1751, Sp. 104-107; Pierre-François Fournier: Art. “Albéric de Humbert”, in: DHGE 1, Paris 1912, Sp. 1409; The Historia Occidentalis, ed. Hinnebusch (wie Anm. 5), Appendix C, S. 257.
  7. Diese Formulierung Jakobs von Vitry spielt laut César Egasse du Boulay: Historia Universitatis Parisiensis, 2: Ab An. 1110 Ad Ann. 1200, Paris 1665, S. 724 und The Historia Occidentalis, ed. Hinnebusch (wie Anm. 5), Appendix C, S. 257 darauf an, dass er zuvor Armut gepredigt, nun aber kirchliche Würden angenommen hatte.
  8. Johannes von Liro († nicht vor 1220) und Johannes von Nivelles (†1233): Kanoniker im Bistum Lüttich (Liège) im engeren Umfeld (letzterer war zeitweise Dekan) des Lütticher Bischofs Hugues de Pierrepont (1200-1229); unterstützten gemeinsam mit Jakob von Vitry das frühe Beginentum im Bistum Lüttich sowie Regularkanonissen- und Zisterzienserinnenkonvente. J. von Nivelles wurde 1215/19 Regularkanoniker in Oignies; Papst Innocenz III. beauftragte ihn mit der Kreuzzugspredigt (1216), Honorius III. mit der Kreuzzugskollekte (1219). Quellen und Lit.: Thomae Cantipratani Bonum Vniversale De Apibus, ed. Georges Colvener, Douai 1627, S. 362, 529; Acta Sanctorum, quotquot toto orbe coluntur vel a catholicis scriptoribus celebrantur, quae ex Latinis et Graecis aliarumque gentium antiquis monumentis coll., digessit, notis illustr. Joannes Bollandus servata primigenia scriptorum phrasi, ed. Godefridus Henschenius et al. Junii, Bd. 4: Sanctos a die XVI ad XX colendos complexus, Editio novissima, curante Joanne Carnandet, Paris [u.a.] 1867, S. 195-7; Quellen zur Geschichte der Stadt Köln, ed. . von Leonard Ennen und Gottfried Eckertz, Bd. 2, Köln 1863, Nr. 50 (S. 60); Lettres de Jacques de Vitry (1160/1170-1240). Évêque de Saint-Jean-d’Acre, ed. Robert Burchard Constantijn Huygens, Leiden 1960, Nr. VI und VII, S. 123-53; Regesta Honorii Papae III, ex Vaticanis archetypis aliusque fontibus, ed. Petrus Pressutti, Bd. 1, Nr. 1972 (S. 326); Christine Renardy: Les Maîtres universitaires dans le diocèse de Liège. Répertoire biographique. 1140-1350, Paris 1981 (Bibliothèque de la Faculté de Philosophie et Lettres de l’Université de Liège 232), S. 355-7, 361-3; William McDonnell: The Beguines and Beghards in Medieval Culture with Special Emphasis on the Belgian Scene, New York, NY 1954, S. 40-7; The Historia Occidentalis, ed. Hinnebusch (wie Anm. 5), Appendix C, S. 285f.; Jacques de Vitry: Histoire Occidentale / Historia Occidentalis (tableau de l’Occident au XIIIe siècle), trad. par Gaston Duchet-Suchaux; introd. et notes par Jean Longère, Paris 1997, S. 100, Anm. 1f.; Jörg Voigt: Beginen im Spätmittelalter. Frauenfrömmigkeit in Thüringen und im Reich, Köln [u.a.] 2012 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission in Thüringen. Kleine Reihe 32), S. 34-40.
  9. Ausführlich zum himmlischen liber vitae sowie den irdischen libri, ihren Schreibern und den eingeschriebenen Namen vgl. jetzt “Eure Namen sind im Buch des Lebens eingeschrieben”. Antike und mittelalterliche Quellen als Grundlage moderner prosopographischer Forschung, hrsg. von Rainer Berndt, Münster i.W. 2014 (Erudiri Sapientia 11).

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/5735

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Das Georgsbändchen: Was es verbindet, was es trennt

Wie kein anderes Symbol zeugt das „Georgsbändchen“ (georgievskaja lentočka) von der hohen Brisanz des Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg im post-sowjetischen Raum und dient als populäre Vermittlungstechnik der eigenen Positionierung zu einem bestimmten Geschichtsbild. Doch mittlerweile kann das Anstecken dieser schwarz-orangenen Schleife viel mehr bedeuten, als ein Bekenntnis zum ehrenden Andenken an den Sieg der Sowjetunion im Großen Vaterländischen Krieg.

Seit mehr als einem Jahr kann man dieses Symbol an den Demonstranten und Aufständischen in der Ostukraine sehen – getragen sowohl von den Bewaffneten als auch von Bürgern in Zivil. Die Parolen “Lasst uns den Sieg verteidigen” und “Russland mit uns!” stehen hier nebeneinander – das Bändchen dient als Kennzeichen der pro-russischen Haltung und der Ablehnung der Kiewer Politik. Das Bändchen ist dadurch für viele Ukrainer zum roten Tuch geworden, und nicht selten werden auch jene, die es außerhalb der Ukraine am 9. Mai tragen, als „koloradskie žuki“ (dt.: „Coloradokäfer“) bezeichnet. Diese negative, herabwürdigende Haltung des einen Teils der Bevölkerung hat diesem Symbol allerdings offenbar noch mehr Popularität eingebracht.

In Russland verleitet die aktuelle  Allgegenwärtigkeit des Bändchens zum Verdacht einer sich ausbreitenden symbolischen Obsession: Angefangen bei dem Projekt, ein 1418 Meter langes Band (ein Meter – für jeden Kriegstag 1941-1945) am 8. Mai in Moskau zu entrollen bis zu raffinierten Kochrezepten für Salate in den Farbtönen des Bandes. Die öffentlichen Plätze und virtuellen Räume Russlands sind überladen mit schwarz-orangenen Streifen.

Noch vor den bewaffneten Kämpfen im Donezker Gebiet  – diese Bilder  machten das Bändchen weltweit bekannt – wohnte dem Georgsbändchen ein politisches und soziales Konfliktpotential inne. Zuerst und vor allem in den neuen EU-Mitgliedstaaten des Baltikums galt dieser schwarz-orangene Streifen seit seiner Popularisierung 2010 als Kennzeichen der „Opposition“ – ein symbolisch überfrachtetes Bekenntnis zum Anders-Sein, zur Erinnerungs-Dissidenz. Durch das Tragen des Georgsbändchens vermittelt man eine situative Distanz zum eigenen Staat und dessen vermeintlichen geschichtspolitischen Positionen  sowie die Nähe zu Russland und dessen herrschendem Geschichtsbild. Im Jahr 2015 kann das Zeichen sehr vieles bedeuten: Es kann eine schlichte Kriegserinnerung sein, es kann die Solidarisierung mit der russischen Erinnerungskultur oder Sympathien für die Politik Vladimir Putins ausdrücken. Es kann aber auch einen extrem rechten russischen Nationalismus und antiwestliche, antiliberale Haltungen ausdrücken.

Die Geschichte des Symbols

Das Symbol, das im Jahr 2005 im Vorfeld der Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Sieges auf quasi-staatliche (RIA Novosti) und zivilgesellschaftliche (u.a. Studenčeskaja Obščina) Initiative hin etabliert wurde, vereint in sich zwei Ebenen der russischen Geschichte: den Stolz auf den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg und die ruhmreiche imperiale Tradition der russischen Armee im Zarenreich. Ursprünglich von Katharina der Großen als Auszeichnung des „Heiligen Georgs“ eingeführt, um die größten militärischen und zivilen Leistungen zu ehren, wurde es in einer modifizierten Form zum Georgs Kreuz in sämtlichen Gradierungen. Im vorrevolutionären Russland war es der höchste Orden des Militärruhmes. Nach der Oktoberrevolution und der Beseitigung aller Symbole der imperialen Vergangenheit verboten die Bolschewiki auch das Georgsband. 1943 wurde das Symbol wieder eingeführt, nun für die Rahmung am „Orden des Ruhmes“.

In seiner neuen, postsowjetischen Funktionalisierung seit 2005 sollte das Bändchen laut der offiziellen Erklärung seiner Entwickler, „Respekt und Dankbarkeit gegenüber den Veteranen und Frontoviki zum Ausdruck bringen“ und „die Erinnerung an den Sieger bewahren und an die nächsten Generationen weitertragen“. Seine ursprüngliche Funktion bestand somit in der Ehrung der Kriegshelden – ein Aspekt, warum heute eine profanisierende Nutzung des Bändchens – zum Beispiel als Schnürsenkel, an den Haustieren, in der kommerziellen Werbung  – von vielen kritisch gesehen wird.

Das landesweit verbreitete Georgsbändchen fand aber auch lokale Ableger. In St. Petersburg werden seit dem letzten Jahr, dem runden Datum der Befreiung Leningrads von der Belagerung, hellgrüne Bändchen mit dunkelgrünem Streifen verteilt – das „Bändchen des Leningrader Sieges“ („lentočka leningradskoj pobedy“). Die Farbwahl des lokalen Erinnerungssymbols knüpft auch hier an eine Auszeichnung an, die während des Krieges verteilt wurde – den Orden „Für die Verteidigung Leningrads“ (1943). Auch dieses Zeichen des Bekenntnisses zu einer lokalen Kriegserinnerungskultur, von der städtischen Verwaltung initiiert und popularisiert, traf auf Unterstützung seitens der Gesellschaft und verbreitete sich rasch.

Bekenntnis zu einer Erinnerungsgemeinschaft „Ich erinnere mich – ich bin stolz!“

Die Aktualisierung der Kriegserinnerung ist die erste, ursprüngliche Bedeutung des Georgsbändchens. Das Anstecken der Schleife am 9. Mai, dem Tag des Sieges, sollte ursprünglich als Zeichen des „Sich-Erinnerns“ fungieren. Im Hauptslogan der Aktion wurde die Verknüpfung zwischen dem Erinnern und dem Anstecken des Bändchens explizit gemacht: „Stecke es an, wenn du dich erinnerst“, heißt es auf der offiziellen Webseite. Binnen kurzer Zeit wurde das Bändchen zum unabdingbaren Symbol der Gedenkfeiern zum 9. Mai und zu einem transnationalen Symbol: es wird von der russischen Diaspora in den USA, Deutschland, Israel usw. getragen und gehört zum populärsten Symbolprodukt aus dem Arsenal des länderübergreifenden geopolitischen Projektes der „Russischen Zivilisation“ Russkij Mir.

Serguei Oushakine hat auf die Instrumentalisierung des Bändchens für das „affektive Management“ der Kreml-konformen Kriegserinnerungskultur hingewiesen: Die Schleife diene als ein Identitätsangebot des Staates zu einer stolzen Wir-Gemeinschaft, zur Gemeinschaft der Erben der Helden („nasledniki pobedy“). In Russland kann es somit als ein Zeichen des emotional geteilten Gedächtnisses gesehen werden.  Am stärksten entfaltet das Bändchen sein identitätsstiftendes Potential jedoch dort, wo es der konventionellen, offiziellen Linie nicht entspricht – so in einigen Staaten des postsowjetischen Raumes.

Zeichen der (Erinnerungs-)Dissidenz

In den Baltischen Staaten, wo das Bändchen durch die diplomatischen Vertretungen Russlands verbreitet wird, dient es als Bekenntnis der Opposition zum herrschenden staatlichen Erinnerungsdiskurs. So zum Beispiel in Litauen, einem postsowjetischen Staat, der sich in seiner historische Identität primär als Opfer der Sowjetmacht definiert. Der Zweite Weltkrieg wird im staatlichen Diskurs als ein symmetrisch ausgetragener Konflikt zweier totalitärer Staaten, als eines von vielen blutigen und gewaltreichen Ereignissen auf litauischem Boden beschrieben. Litauer, die gegen die Nationalsozialisten kämpften, haben in dieser Erinnerung keinen Platz. Es zeigt sich in den letzten Jahren jedoch zunehmend, dass die offizielle Geschichtspolitik gewisse Herausforderungen seitens der sozialen Erinnerung erfährt – was grundsätzlich durch Symbole nach außen getragen wird. So bringen die Teilnahme an den Gedenkfeiern zum 9. Mai und das Tragen des Georgsbändchens diese mnemonic resistance (Lorraine Ryan) zum Ausdruck. An diesen Erinnerungspraktiken partizipieren nicht nur litauischen Veteranen der Roten Armee, Mitglieder der jüdischen Gemeinde und die russischsprachige Minderheit Litauens, sondern auch Litauer, die mit der gegenwärtigen Politik des Landes nicht einverstanden sind. Dazu gehören Litauer des linken politischen Spektrums sowie jene, die sich als „Verlierer“ des Zerfalls der Sowjetunion sehen. Das Georgsbändchen überführt hiermit eine Erinnerungs-Dissidenz in eine reale, politische Dissidenz, was es in seiner Funktion wiederum an das Zeichen des politischen Protests in Russland, die Weiße Schleife, annähert. Bislang nutzten die sozialistischen Kräfte Litauens, die sich in der außerparlamentarischen Opposition zur herrschenden national-konservativen Partei befinden, den 9. Mai und das Georgsbändchen für ihre politischen Botschaften. So wurde die Botschaft „Ich erinnere mich!“ um die Kritik an der aktuellen Regierung ergänzt. Die litauischen Linken und Antifa-Mitglieder positionierten sich ausdrücklich  für eine Sozialpolitik, die an ein positives Bild der sowjetischen Vergangenheit anknüpft und eine Erinnerungspolitik, die eher dem in Russland gültigen Narrativ entspricht.

Zeichen der antiliberalen Position

Es kommt nicht von  ungefähr, dass den Massendemonstrationen der liberalen  Opposition 2011/2012, die sich mit weißen Schleifen schmückte, Kreml-treue, „patriotische“ Gruppen mit dem schwarz-orangenen Bändchen gegenüber standen. Das Georgsbändchen bekam dadurch eine weitere Bedeutung:  Es steht für eine ultrakonservative, rückwärtsgerichtete Haltung, die jeglichen politischen Wandel ablehnt. Am besten illustriert dies der Werbe-Spot „Wir sind Gegen Orangene Revolutionen“, der 2012 im Internet popularisiert wurde. Auch die Bewegung der russischen Patrioten „Anti-Maidan“, die extrem antiwestliche, antiliberale Ansichten vertritt, verwendet das Georgsbändchen in der offiziellen Symbolik.

Alternativen?

Diese politische Umdeutung des Georgsbändchens führte zum offiziellen und inoffiziellen Verbot dieses Zeichens während der Gedenkfeiern am 9. Mai im postsowjetischen Raum: Bereits 2014 wurde in der Ukraine ein alternatives Zeichen entwickelt – als solches gilt nun eine Schleife in nationalen Farben und die rote Mohnblume. Kürzlich ließ auch die politische Führung Weißrusslands von einem alternativen Bekenntnissymbol zur Kriegserinnerung wissen: Ein Bändchen in den nationalen rot-grünen Tönen samt einer Blüte des Apfelbaumes soll ein Gegenprojekt zum Georgsbändchen und den roten Nelken darstellen. Auch die Regierung Kasachstans rief zur Verwendung von roten und türkisfarbenen Schleifen (Farbe des Sieges und Farbe Kasachstans) auf. Offenbar wird im Georgsbändchen nun vor allem ein Bekenntnis zum sowjetnostalgischen Patriotismus, ja eine Sehnsucht nach dem „verlorenen Imperium“ gesehen.  Die schwarz-orangene Schleife wird im postsowjetischen Raum zunehmend nicht nur als ein  erinnerungskultureller, sondern nun auch realer, politischer Separatismus gedeutet.

Quelle: http://erinnerung.hypotheses.org/28

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Die Zeitkrise als Identitätskrise – fünf Fragen an Hartmut Rosa

Hartmut Rosa ist Professor für Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Einer breiten Öffentlichkeit, auch weit über das Fach hinaus, ist er durch seine Gesellschaftskritik “Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne” bekannt geworden. Neben der Zeitsoziologie beschäftigt er sich u.a. mit Subjekt- und Identitätstheorien und arbeitet an einer Soziologie der Weltbeziehungen. Wir haben ihn zum Zusammenspiel von Zeit- und Raumwahrnehmung hinsichtlich der Konstitution von Identitäten befragt. (Foto: © juergen-bauer.com)

Herr Rosa, Sie haben eine Theorie der sozialen Beschleunigung vorgelegt, in der Sie von drei wesentlichen Faktoren der Beschleunigung ausgehen: der technischen Beschleunigung (Bewegung, Kommunikation, Transport), der Dynamisierung der sozialen Verhältnisse und der Beschleunigung des Lebenstempos durch eine Zunahme von Handlungs- und Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit und eine Zunahme eines subjektiven Zeitdrucks, der aus der vermeintlichen Notwendigkeit, aus einer Vielzahl von Optionen zu wählen, entsteht. Diese strukturell in der Moderne angelegten Beschleunigungs- bzw. Steigerungsfaktoren führen zum ‘rasenden Stillstand': die zeitliche Koordinierung von Handlungen nimmt tendenziell mehr Zeit in Anspruch als die Handlungen selbst, wir verschieben Handlungen und tun zunehmend, was wir nicht tun wollen – und auch unsere Identität bestimmt sich daher situativ. Wie kommt es zu dieser Selbstverhältnis- und Resonanzkrise und welche Folgen hat sie für Subjekte und Gesellschaft?

Das Beschleunigungsprogramm der Moderne folgt keiner expliziten Zielsetzung, es verläuft quasi ‚hinter dem Rücken der Akteure‘. Deshalb spielt es auch keine Rolle, wenn wir uns jedes Jahr – zum Beispiel zu Silvester – fest vornehmen, es im nächsten Jahr langsamer angehen zu lassen und uns mehr Zeit zu nehmen, und auch ein paar Slow-Food- oder Slow-Work-Bewegungen helfen da nicht weiter. Die Situation ist analog zu der im Bereich der Ökologie: Dort scheint es auch ganz gleich, wie sehr wir das ökologische Bewusstsein schärfen und wieviel Müll wir trennen: Unser Umwelthandeln wird jedes Jahr schädlich – dafür reichen allein die Flug- und Fernreisen aus. Die Umwelt- und die Zeitkrise haben dieselbe Wurzel, und diese liegt in der strukturellen Steigerungslogik moderner Gesellschaften. Moderne, kapitalistische Gesellschaften können sich in ihrer Struktur nur erhalten, sie können den Status quo ihrer Basisinstitutionen und ihre soziopolitische Ordnung nur aufrechterhalten, wenn sie wachsen, beschleunigen, und innovieren. Ich nenne das den Modus dynamischer Stabilisierung: Stabilität ist nur durch Steigerung zu erreichen – und selbst dann noch prekär. Genau das führt auch bei den Individuen zu einer Situation des ‚rasenden Stillstandes‘: Wir müssen individuell wie kollektiv jedes Jahr schneller laufen, nur um unseren Platz zu halten. Meines Erachtens ist das ein Systemfehler.

Die Geisteswissenschaften und vor allem auch die Geschichtswissenschaft sind spätestens seit den 1990er Jahren maßgeblich durch den spatial turn geprägt, in dem die Räumlichkeit des Sozialen und die soziale Konstruktion von Räumen im Mittelpunkt stehen. Demgegenüber arbeiten Sie zentral mit der Kategorie Zeit. Ist das ein Widerspruch – oder wie verwoben sind Zeit- und Raumwahrnehmung und welche Rolle spielen sie bei der Konstitution der Identität sozialer Akteure?

Ich will nicht Zeit gegen Raum ausspielen oder umgekehrt – aber ich denke schon, dass die Sozialwissenschaften mehr Aufmerksamkeit auf unsere raum-zeitliche Daseinsweise richten sollten. Raum- und Zeitverhältnisse sind stets eng miteinander verwoben; ändert sich das eine, ändert sich in aller Regel auch das andere, so dass mir der Begriff der Raum-Zeit-Regime als Analysekategorie angemessen erscheint. Was ich allerdings im Beschleunigungsbuch festgestellt habe, scheint mir auch weiterhin richtig zu sein, dass nämlich die Dynamik in der Veränderung unserer raumzeitlichen Lebensweise von der Zeitdimension auszugehen scheint. Das was wir beispielsweise als Globalisierung erfahren, hat zwar viel mit einer Veränderung des Raumbewusstseins, der Raumerfahrung und des Raumhandelns zu tun, aber ausgelöst werden diese Veränderung durch Beschleunigungsprozesse: Beschleunigung in der Datenübertragung, im Transport, in der Kapitalzirkulation etc. In diesem Sinne betrachte ich Zeitverhältnisse als die ‚Antreiber‘, oder als das Einfallstor, für die Veränderung von Raumzeitverhältnissen.

Der Begriff der ‘Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen’, der von Ernst Bloch eingeführt wurde, in Luhmanns Systemtheorie wiederkehrt und von Koselleck auch für die Geschichtswissenschaft adaptiert wurde, beschreibt räumliche und temporale Asynchronität als gesellschaftliches Phänomen. Ist der Begriff noch aktuell – und kann er als analytische Kategorie helfen, (auch historische) Gesellschaften zu verstehen? Steht er vielleicht sogar sinnbildlich für die Pathologien der modernen Steigerungsgesellschaft?

Meines Erachtens ist der Begriff der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen (oder umgekehrt: Beide Varianten besagen im Prinzip dasselbe) völlig ungeeignet, wenn man von radikaler geschichtlicher Kontingenz ausgeht. Er macht nur Sinn, wenn man im Sinne einer Geschichtsphilosophie oder Fortschrittskonzeption feste sequentielle Folgen annimmt. Das kann sich auf individuelle Leben wie auf gesellschaftliche Entwicklungen beziehen. Beispielsweise kann jemand noch zur Schule gehen, aber schon Kinder haben: Das wäre die ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘, weil gleichzeitig Elemente des Kindseins (zur Schule gehen) und des Erwachsenseins (Kinder haben) präsent sind. Das gilt aber nur, solange man meint, Schule und Kinder müssten einen festen Platz in der sequentiellen Ordnung eines Lebens haben. Sobald wir akzeptieren, dass man auch mit 50 oder 60 Jahren zur Schule gehen kann, können wir nur noch die Präsenz von Differenzen feststellen: EIN Schüler hat Kinder, ein anderer ist ein Kind, ein Dritter hat schon Enkel. Das gilt auch für Gesellschaften und Funktionssphären: Wenn ich meine, Demokratie, Marktwirtschaft, Industrialisierung und Rechtsstaat gehören zusammen, dann beobachte ich in einem Staat, der ein demokratischer Rechtsstaat ist, aber noch ‚steinzeitlich‘ produziert, Ungleichzeitigkeit, und dasselbe gilt für einen hoch technologisierten Staat, der weder Rechtsstaat noch Demokratie kennt. Wenn ich jedoch davon ausgehe, dass historische (Teilordnungen) kontingent sind, dann habe ich nur noch Differenz: Ein Staat ist demokratisch und kapitalistisch, einer demokratisch und sozialistisch, einer kapitalistisch mit traditionalistischen Herrschaftsstrukturen usw. Nur wenn ich von festen Sequenzen ausgehe, also etwa: Schule-Ausbildung-Beruf-Kinderkriegen-Ruhestand oder: Feudalismus-Kapitalismus oder Monarchie-Demokratie, kann ich Ungleichzeitigkeiten konstatieren. Der Glaube an die empirische und normative Validität solcher Muster ist in der Spätmoderne aber grundsätzlich erschüttert.

Sie haben immer wieder betont, dass es nicht per se um Verlangsamung gehe, schon gar nicht um Entschleunigung, wenn wir der sozialen Beschleunigung begegnen wollen, sondern darum, dass sich die gesellschaftliche Grundform ändern müsse. Wir müssten uns selbst aufklären, uns darüber verständigen, wie wir leben wollen. Wenn aber alles fremdbestimmt scheint, wie kann es gelingen, dass die Subjekte ihr Handeln wieder als selbstwirksam erleben? Welche Anreize müssen geboten werden, damit wir das (vermeintliche) Risiko des Zeit- und Optionenverlustes eingehen?

Ich weiß nicht, ob dafür Anreize geboten werden müssen. Ich arbeite derzeit am Entwurf einer ‚Resonanztheorie‘. Sie zielt im Kern darauf ab, uns zu überzeugen, dass das Leben nicht durch die Vergrößerung der ‚Weltreichweite‘ (durch Technik, ökonomische Ressourcen, aber soziales und kulturelles Kapital etc.) besser wird, sondern durch die Überwindung von Entfremdung: Durch die Etablierung einer anderen Form der Beziehung zur Welt, das heißt: Zu den Menschen, zur Natur, zu den Dingen und zu uns selbst. Das scheint mir die Stelle zu sein, an der die Steigerungslogik der Moderne sich durchbrechen lässt. Denn indem wir denken, unser Leben werde besser, wenn wir mehr Welt in Reichweite bringen – wenn ich mehr Geld hätte, könnte ich eine Yacht kaufen oder zum Mond fliegen, wenn ich das schnellere Smartphone hätte, könnte ich darauf Skype installieren, wenn ich in der Stadt wohnen würde, hätte ich Kinos und Theater in Reichweite, wenn ich zu der tollen Party eingeladen würde, hätte ich Zugang zu ganz neuen sozialen Kreisen – erzeugen wir die subjektiven Motivationsenergien, das Steigerungsspiel auf allen Ebenen voranzutreiben. Wir alle machen aber die Erfahrung, dass unser Leben dann und dort wirklich gelingt, wo wir in einen Resonanzmodus der Weltbeziehung geraten: Dort geht es nicht um Steigerung, denn das sind die Momente, in denen uns etwas wirklich berührt und in denen wir umgekehrt etwas oder jemanden wirklich zu erreichen vermögen. Transformative Weltanverwandlung nenne ich das, denn dabei verändern wir uns auch selbst. Alle Menschen kennen diesen Erfahrungsmodus, und sei es auch aus noch so flüchtigen und weit zurückliegenden Momenten. Das sind die Andockpunkte, an denen wir ansetzen können, ich glaube, hier sind wir als Subjekte eben doch nicht vollständig entfremdet.

Das Phänomen Kontingenz wird in den Geisteswissenschaften als endgültige Abkehr vom Historismus zunehmend stark gemacht (Paradigma des historischen Wandels). Die postfundamentalistische Hegemonietheorie nach Ernesto Laclau und Chantal Mouffe arbeitet schon seit den 1980er Jahren mit den Kategorien der radikalen Kontingenz und des Dissenses und betont die Notwendigkeit der Mobilisierung konfliktueller, emotionaler Leidenschaften in Demokratien. Müssen wir mehr streiten? Bietet vielleicht die Betonung radikaler Kontingenz (nichts ist vorherbestimmt und alles kann immer auch anders sein), die Betonung der “demokratischen Ethik” (Oliver Marchart), also der institutionalisierten Selbstentfremdung in unserer demokratischen Gesellschaft, einen Ansatzpunkt für einen Bewusstseinswandel? Ist eine gesamtgesellschaftliche Politisierung die Antwort auf die Resonanzkrise, die wir in zunehmendem Maße erleben?

Ich weiß nicht, ich glaube nicht. Meine Wunschformel heißt nicht Konflikt oder Streit, sondern Resonanz. Ich glaube allerdings in der Tat, dass Demokratie, auch und gerade die demokratische Auseinandersetzung, ein zentrales Instrument für die ‚Anverwandlung‘ von Welt ist: Mit den Mitteln der Demokratie bringen wir die Institutionen der öffentlichen Sphären dazu, auf uns zu reagieren, uns zu antworten. Das setzt Selbstwirksamkeitserfahrungen in Gang, die unerlässlich sind für Resonanzbeziehungen: Bürgerinnen und Bürger müssen die Erfahrung machen können, dass ihr Handeln und Streiten Welt verändert. Resonanz meint dabei nicht Echo und nicht Harmonie: Wenn alle das Gleiche wollen und sagen, entsteht keine Resonanz, sondern ein leeres Echo. Resonanz impliziert schon Widerspruch und Auseinandersetzung, aber auf einer anderen Ebene als die Feindschaft: Feindschaft ist Repulsion, ist Resonanzvernichtung, ist gegenseitige Verletzung. Das kennt jeder aus der privaten Sphäre: Mit meinem besten Freund streite ich fast unablässig – aber auf der Basis einer Resonanzbeziehung, wir sind offen für einander und lassen uns durch den Streit berühren und verändern. Bei meinen Feinden ist es anders: Die wollen mich fertig machen, und ich sie. Ich habe das Gefühl, dass in den neueren Ansätzen, die Konflikt und Kontingenz betonen, diese Voraussetzungen unterbelichtet bleiben. Bei Rancière jedenfalls klingt es bisweilen so, als stifte der Streit selbst ein soziales Band. Das finde ich unplausibel.

 Vielen Dank.

 

Hartmut Rosa zum Nachhören

Quelle: http://zeitraeume.hypotheses.org/160

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Von weißen Flecken in der Erinnerungslandschaft und neuen Chancen für die Forschung – GeoBib: Eine annotierte und georeferenzierte Onlinebibliographie der Texte der frühen deutsch- und polnischsprachigen Holocaust- und Lagerliteratur (1933-1949)

In der Zeit zwischen 1933 und 1949 wurde eine große Zahl an Texten von durch die Nationalsozialisten verfolgten Menschen geschrieben und veröffentlicht. Die Berichte, Romane, Gedichte u.a.m. zeugen so unmittelbar von der Verfolgung und Vernichtung der Menschen wie kaum ein späteres Dokument. Diese Texte sind heute nicht mehr im kollektiven Gedächtnis verankert oder gar nicht erst in dieses eingegangen. In einem vom BMBF in der eHumanities-Förderlinie finanzierten interdisziplinären Projekt am „Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung“ (Marburg) gemeinsam mit Partnern an der „Justus-Liebig-Universität“ (Gießen) sollen die deutsch- und polnischsprachigen Texte nun bibliographisch erschlossen werden. Als Endprodukt soll dabei im Juni 2015 eine annotierte und georeferenzierte Onlinebibliographie der frühen Texte vorgelegt werden.

Neben den bibliographischen Daten werden Zusammenfassungen der Texte, Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren sowie Hintergrundinformationen zur Werkgeschichte zu finden sein. Damit werden diese frühen Zeugnisse für die geschichts- und literaturwissenschaftliche Forschung, aber auch für die historische und politische Bildungsarbeit, erschlossen und die Informationen über diese Texte allen Interessierten zugänglich gemacht. Das Projekt bleibt aber nicht bei einer klassischen Onlinebibliographie mit einem textbasierten Suchzugriff stehen. Vielmehr wurden alle in den Texten erwähnten Städte, Orte, Ghettos, Lager usw. gesammelt und ebenso alle bekannten geographischen Angaben zu den Autorinnen und Autoren sowie den Werken – wie Publikations- und Druckorte – erfasst. Damit können über eine geographische Suche Entwicklungen in den Texten der Holocaust- und Lagerliteratur und deren Publikationsumgebungen auf Karten sichtbar gemacht werden. Neben heutigen Karten, müssen bestimmte Entwicklungen auch in den historischen Grenzen von 1900 bis 2000 angezeigt werden können, damit beispielsweise Ghettos oder Lager nicht in den Grenzen des heutigen Polens, sondern in den Grenzen der durch das Deutsche Reiche annektierten und besetzten Gebieten sichtbar gemacht werden, damit gerade beim Einsatz in der Bildungsarbeit kein falsches Bild von den so oft in den Medien genannten „polnischen Lagern“ entsteht.

Die Anzeige- und Suchmodi können von den Nutzerinnen und Nutzern selbst gesteuert werden, sodass man sich ganz gezielt entsprechende Suchanfragen auf der Karte anzeigen lassen kann – etwa: Alle Texte, die von Frauen zwischen 1939 und 1941 veröffentlicht wurden. Hier kann dann gewählt werden, ob die Ergebnisse in den heutigen oder in zeitgenössischen Grenzen gezeigt werden sollen. In dem Beitrag soll das im Projekt untersuchte und in der Online-Bibliographie dargestellte Material kurz dargestellt werden und auf seine Wichtigkeit für die zukünftige Forschung über den Holocaust und die jüdische Geschichte verwiesen werden. Den Schwerpunkt des Beitrages stellt die Darstellung des Online-Portals dar: Nach einer kurzen Einführung zu den technischen Hintergründen, soll der Fokus auf die beiden Hauptsuchfunktionen – die textbasierte und die kartenbasierte – gelegt werden und die sich dadurch ergebenden Chancen für Forschung zur jüdischen Geschichte und zum Holocaust gelegt werden.

Weitere Informationen zu dem Projekt findet man unter: http://www.geobib.info/

 

Zur Person:

Annalena Schmidt studierte u.a. Geschichtswissenschaft an der JLU Gießen. Seit 2012 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am “Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung” in den Projekten GeoBib und DAPRO/Geoimaginaries sowie Doktorandin und Lehrbeauftragte an der JLU Gießen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Holocaust Studies, der digitalen Geschichtswissenschaft und der Hochschulgeschichte.

Quelle: http://dhtg.hypotheses.org/258

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Mehr Gegenwart in die Gedenkstätten

Von Harald Schmid »(…) manchmal kostet es mehr Anstrengung, dem Neuen, das im Verborgenen wächst, auf die Spur zu kommen, als die Katastrophen, die selbst Blinde sehen, zu beschreiben.« Karl Schlögel In genereller Hinsicht ist die Diskussion um Erinnerungskulturen und Gedenkstätten eine Art Dauerbrenner der öffentlichen Wahrnehmung von Geschichte, genauer der Geschichte des Nationalsozialismus und dessen Verbrechen. In dieser Perspektive sind Gedenkstätten gleichsam ein Indikator für den Stand der Dinge in der Auseinandersetzung mit der Hitler-Zeit und deren Repräsentation – an keinem anderen Ort … Mehr Gegenwart in die Gedenkstätten weiterlesen

Quelle: http://erinnern.hypotheses.org/200

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Über den Dingen: Eine Historikerin als Türmerin

Je nach Perspektive hat sie den „Job mit dem besten Ausblick der Welt“ (KarriereSPIEGEL) oder „Europas älteste Arbeitsstelle“ (BILD): Martje Saljé ist Türmerin von St. Lamberti in Münster. Die studierte Historikerin und Musikwissenschaftlerin ist dafür zuständig, allabendlich vom Kirchturm nach Bränden Ausschau zu halten und jede halbe Stunde ein Signal zu „tuten“. Zusätzlich füllt sie ihre geschichtsträchtige Position über Social Media und einen Blog mit neuem Leben. Martje Saljés Arbeitsalltag als Türmerin ist klar strukturiert: Jeden Abend (außer dienstags) macht sie sich an den … Über den Dingen: Eine Historikerin als Türmerin weiterlesen

Quelle: http://beruf.hypotheses.org/206

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Digital Publizieren: Wie schreibt man im digitalen Zeitalter?

Die Anwendung von verschiedener Software und semantischen Technologien hat sich in den letzten Jahren – hierbei sind sich die meisten Fachexperten einig – etwa in der Linguistik, Kunst-, Kultur- und Sozialwissenschaften, aber auch in der Archäologie, Medienwissenschaft, langsamer und mühsamer jedoch in den Geschichtswissenschaften etabliert. Auch in der fachübergreifenden Debatte über Digitale Humanities wird den Geschichtswissenschaften immer noch eine Rolle des Außenseiters nachgesagt. Dabei ist nicht nur die Nutzung der im Web vorhandenen Informationen für die Geschichtswissenschaften essenziell, auch die Herstellung wissenschaftlicher Inhalte ohne die Nutzung aktueller digitaler Werkzeuge scheint beinahe undenkbar. Das Web fungiert dabei nicht nur als Ort der schnellen Findung und Verbreitung notwendiger Fachinformationen, wobei nach Wörterbüchern, Nachschlagewerken, Enzyklopädien, ja gar Rezensionen heute eher im Internet recherchiert wird. Es stellt auch Werkzeuge zur Erstellung und weltweiten Verbreitung eigener Forschungsergebnisse bzw. -informationen bereit, die durch vereinfachte Nutzung selbst für Laien leicht verständlich und zugänglich sind. Internationalisierung der Forschung und der Lehre, die letztere durch die von den Universitäten angebotenen Online-Kurse, erreicht somit eine nie zuvor vorhandene Dimension.

Die Nutzung des Internets hat also nicht nur ein qualitativ neues Verständnis der wissenschaftlichen Kommunikation geschaffen, die Fachgemeinschaft sieht sich mit neuen Textformaten konfrontiert, bei denen es sich allerdings noch herausstellen wird, inwiefern diese zum wissenschaftlichen Kulturgut gezählt werden können.

Wie verändern sich dabei aber der Schreibprozess und das Format der Texte, die wir verfassen?

Die Praxis zeigt auf der transnationalen Ebene in dieser Hinsicht zahlreiche kulturelle Unterschiede: Die Diskussion prägen beispielsweise Fragen, wie der wissenschaftliche Schreibprozess sich international im Hinblick auf Digital Humanities verändert. In der elektronischen Publikationskultur lässt sich die Diskrepanz sowohl im Vergleich zum osteuropäischen, als auch im englischsprachigen Raum feststellen. Die Praxis beispielsweise, sofort und direkt auf elektronische Publikationen einzugehen, diese zu kommentieren bzw. zu diskutieren, was bei englischsprachigen Veröffentlichungen ausgiebig genutzt wird, ist in Deutschland zumindest in diesem Ausmaß noch nicht zu beobachten. Auch solchen Formaten wie Preprints, die im englischsprachigen Raum große Akzeptanz finden, steht die Fachgemeinschaft in Deutschland mehr als kritisch gegenüber.

Aus dieser Perspektive soll gefragt werden, wie die neuen Technologien für die moderne elektronische Publikationskultur effektiver eingesetzt werden können? Was würde es für die gegenwärtige Publikationskultur bedeuten, wenn wir uns beim Schreibprozess nicht mehr für bestimmte Datentypen und Formate entscheiden bzw. uns von wertvollem Material trennen müssten, weil diese auf dem „traditionellen“ Wege nicht publiziert werden können? Wie sollen die elektronischen Veröffentlichungen technisch ausgestattet werden, damit eine internationale Kommunikation mit der betroffenen Fachgemeinschaft möglich ist? Welche Werkzeuge wären für eine international ausgerichtete kollaborative Arbeitsweise erforderlich? Wie sollten sich die Historiker auf diese Arbeitsweise vorbereiten? Welche technischen Kenntnisse sollten vorausgestellt werden? Wie wird schließlich so eine Praxis unsere gegenwärtige Publikationswelt verändern?

Die formulierten Fragen werden am Beispiel eines webbasierten digitalen Redaktionssystems, das gerade im Rahmen des Projekts OstDok erprobt wird, kritisch hinterfragt sowie die technischen Möglichkeiten im Hinblick auf die landesweite bzw. internationale digitale Zusammenarbeit geprüft. Das Feld osteuropäische Geschichte eignet sich für dieses Beispiel besonders gut, denn sowohl die rechtlichen, als auch die kulturellen Unterschiede sowie das abweichende Verständnis der Digital Humanities insgesamt eine vielseitige Betrachtung des Themas ermöglichen.

Zur Person:

Arpine Maniero, Studium der Geschichte und Pädagogik an der Staatlichen Pädagogischen Universität in Yerewan, Armenien. Seit September 2001 war sie im Rahmen eines DAAD-Stipendiums an der Ludwig-Maximilians-Universität München, wo sie anschließend von 2002 bis 2006 als Promotionsstudentin im Fach Geschichte Ost- und Südosteuropas eingeschrieben war. In diesem Zeitraum war sie Mitarbeiterin des Osteuropa-Instituts München im Rahmen des Projekts Virtuelle Fachbibliothek Osteuropa (ViFaOst). Seit 2009 ist sie stellvertretende Bibliotheksreferentin und Koordinatorin des Projekts Osteuropa-Dokumente online (OstDok) im Collegium Carolinum München.

Quelle: http://dhtg.hypotheses.org/238

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