Das Bild ist 11,2 cm breit und 8 cm hoch. Die Sepiafarben der Aufnahme sind von den letzten hundert Jahren stark ausgebleicht, beinahe schon ausradiert worden. Nur das kalte Auge eines hochwertigen Scanners vermag noch letzte Bruchstücke zu erkennen. Teure Software berechnet Verluste und versucht auszugleichen, bemüht sich um eine ungefähre Rekonstruktion des bereits Verschwundenen. Besser erhalten als die Braun- und Grautöne der Kamera ist die Handschrift der vormaligen Besitzerin, selbst längst verstorben, die jene Aufnahme vor Jahrzehnten einmal mit dem Vermerk „nicht wegschmeißen“ dem Amberger Stadtmuseum schenkte, von wo aus sie in die Fotosammlung des Stadtarchivs gelangte.
Nur die wenigsten Betrachter des 21. Jahrhunderts stutzen nicht bei einem flüchtigen ersten Blick. Zu vertraut ist der oft selbst genutzte Kreisverkehr am Nabburger Tor, das unverkennbar in der rechten Ecke aus dem erahnten Grün der mächtigen Bäume lugt. Sein Nicht-Vorhandensein irritiert, ebenso wie der reiche Baumbestand, der zur Linken nur einen vagen Blick hinein in eine uns unbekannte Straße zulässt. Die überall gut zu erkennenden Jägerzäune mögen seinerzeit ausgereicht haben, um einem der vier Radfahrer Einhalt zu gebieten, die der Szenerie zumindest einen Hauch Betriebsamkeit verleihen. Doch bleibt es dabei – Hektik ist dieser Szene so fern wie die französische Front des Ersten Weltkrieges, während dem diese Aufnahme entstand.
Keines der vier „Automobilfuhrwerke“, die das Adressbuch des Jahres 1914 für die Stadt ausweist ist zu sehen, auch keines der natürlich noch von Pferden bewegten Frachtfuhrwerke ist zu entdecken. Erst recht kein Automobil – kaum verwunderlich, bewegte sich anno dazumal sogar der rechtskundige Bürgermeister Dr. Eduard Klug eher auf Schusters Rappen durch die Stadt.
Ein Kreisverkehr ist jenen nicht nur fremd, sie haben schlicht keinen Bedarf für derlei Dinge. Zur Rechten führt die Straße nach Regensburg (sie tut es heute noch). Weiter oben ahnt der Betrachter eher die Straße, die dort zum Werksgelände der Baumannschen Emaillfabrik und zum Bahnhof führen muss und der nicht einer der stummen Geister zuzustreben scheint. Das Nabburger Tor entlässt eine größere Menge Volks aus dem sicheren Schutz der ehrwürdigen Stadt und einige wenige kommen aus der zur Linken Richtung Wingershofer Tor abzweigenden und reich mit Bäumen bestandenen Chaussee, die gute vierhundert Meter weiter einen Knick stadtauswärts vollführen wird, um etwa auf der Höhe des heutigen Kneippbeckens die Vils zu überqueren. Die Kurfürstenbrücke ist noch nicht erdacht und späteren Zeiten vorbehalten.
Bleibt die Frage, was der linke Bildrand vor unserem neugierig gewordenen Auge verbirgt, dem die längst Entschlafenen sämtlich zuzustreben scheinen. Einige wenige weiße Hemdkragen sind zu sehen, doch die zweckmäßige Kleidung zielstrebiger Arbeiter dominiert das Bild und am linken unteren Rand ist gar ein Uniformierter zu erkennen. Sie alle haben das gleiche Ziel: Den Eingang der königlichen Gewehrfabrik, in jenen Jahren der noch ungeahnten Weltwende des Ersten Weltkrieges die größte Waffenschmiede des Bayerischen Königreiches. In deren produktivster Zeit finden dort gut 4.000 Menschen (1916) ein knappes Auskommen – geprägt durch schmale Lebensmittelzuteilungen und viele Arbeitsstunden. Viele von ihnen waren treue Kunden der unsichtbaren Gaststätte Velhorn, deren Standort gleich beim Werkstor uns dieselbe aufmerksame Hand bezeichnet hat, die schon wohlwollend auf die Präsenz des Nabburger Tores hinwies.
Schon bald wird sich der Krieg auch hier als der „große Beschleuniger“ erweisen – die Niederlage wird die Schließung der Fabrik erzwingen. Schon ein Jahr nach Ende des Krieges wird sich der Magistrat der Stadt mit der Beschaffung eines Lastkraftwagens inklusive Anhänger für das städtische Gaswerk (ein direkter Nachbar der todgeweihten Gewehrfabrik) beschäftigen, da die Zahl der verfügbaren Pferde verschwindend gering geworden ist.
Ohne es zu wissen hat der unbekannte Fotograf nicht nur die anonymen Akteure einer alltäglichen Szene festgehalten, die Straßen und Orte konserviert – er hat auch die Beschaulichkeit einer Zeit eingefroren, deren Ende bereits unmittelbar bevorstand.