Zahlreich und höchst unterschiedlich sind die Online-, Digitalisierungs- und Soziale Medienprojekte, mit denen derzeit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren gedacht wird. Neben den großen Initiativen wie Europeana 1914-1918, das Portal des Bundesarchivs und weiteren, teilweise hier und anderswo vorgestellten Online-Projekten1, fallen Soziale Medienvorhaben bei Twitter, Facebook und Blogs auf, die sich eine subjektive Nacherzählung der Geschehnisse “in Echtzeit” vornehmen.
So konnte man bereits im letzten Jahr auf Facebook dem Leben des fiktiven französischen Gefreiten Léon Vivien folgen, der nach seinem konstruierten Lebenslauf 1914 einberufen und 1915 im Krieg ums Leben kam. Die Person des jungen Lehrers war erfunden, sein Foto aus Abbildungen der Zeit erstellt, aber die Texte und Dokumente der Facebook-Einträge waren “echt” und stammten aus den Dokumenten des Musée de la Grande Guerre du Pays de Meaux. Sie reichten vom 28. Juni 1914, dem Tag des Attentats in Sarajewo, bis zum 17. Mai 1915, dem Tag an dem er an der Front fiel und wurden täglich “in Echtzeit” doch um 99 Jahre verschoben auf Facebook publiziert. Das Projekt war äußerst erfolgreich: Über 66.000 “Fans” oder “Freunde” hatte die Facebook-Seite des erfundenen Léon Vivien, die seit November 2013 nach 220 Einträgen und dem inszenierten Tod Viviens nicht mehr aktualisiert wird. Das Vorhaben vier Jahre durchzustehen, schien den Projektbetreibern bei der Dichte der Einträge zu ambitioniert2. Dass bei diesem Projekt Fact und Fiction gehörig gemischt wurde, schien niemanden zu stören. Die Kritik war quasi einhellig positiv: ein gelungenes Projekt, so hieß es, mit dem ein historisches Ereignis auf attraktive Weise einem breiten Publikum nahe gebracht wurde3.
Während den Verantwortlichen zufolge bei diesem Projekt der “menschliche Aspekt” des Kriegserlebnisses im Vordergrund stand, wählen die meisten (seriösen) Twitter-Projekte einen möglichst neutralen Standpunkt bei der Nacherzählung von Geschehnissen. Der Twitter-Account “Tweets from 1914-18” @RealTimeWW1 mit über 7.000 Followern beispielsweise wird vom Masterstudiengang European History an der Universität Luxemburg betreut und möchte „die Kette kleiner und großer Ereignisse, aus denen ein Weltkrieg besteht, Tag für Tag, Stunde für Stunde”4 nachzeichnen. Getwittert wird in verschiedenen Sprachen, da auch die beteiligten Studierenden aus verschiedenen Ländern kommen, überwiegend sind die Tweets jedoch in Englisch5. Die Texte sind neutral formuliert, fast immer wird auf eine Abbildung oder auf ein digitalisiertes Archivdokument verwiesen. Ein seriöses Projekt mit wissenschaftlichem Anspruch, das sich in eine Liste ganz unterschiedlicher Twitter-Vorhaben zum Ersten Weltkrieg einreiht, deren Bandbreite von satirisch über gut gemeint bis ernsthaft reicht6.
Eine Mischung aus beiden Ansätzen versucht das gerade an den Start gegangene europäische Projekt 3p1w-3 pilots-1 war oder 3 Piloten-1 Krieg bzw. 3 pilotes-1 guerre, das gemeinsam initiiert ist vom Militärhistorischen Museum der Bundeswehr – Flugplatz Berlin Gatow, dem Royal Air Force Museum, London und dem Musée de l’air et de l’espace, Paris – Le Bourget. In diesem gemeinsamen Dreier-Online-Tagebuch werden anhand von Feldpostbriefen und Dokumenten die Lebensläufe eines deutschen, eines britischen und eines französischen Piloten in den Jahren 1914-1918 “in Echtzeit” nacherzählt. Doch anders als bei Léon Vivien handelt es sich bei Peter Falkenstein, Jean Chaput und Bernard Curtis Rice um reale Personen, die tatsächlich existiert haben.
Bewusst wurden keine bekannten Fliegerasse, sondern einfache Soldaten ausgewählt. Die Dokumente werden jeweils in drei Sprachen transkribiert und erläutert, sicherlich eine Fundgrube für Lehrende und alle diejenigen, die vergleichend arbeiten wollen. DieErlebnisse der drei Piloten findet man bei Facebook, getwittert wird von den drei Institutionen unter dem hashtag #3p1w. Über die sehr wünschenswerte Lizenzierung der publizierten Dokument mit einer Creative Commons-Lizenz wird von den Verantwortlichen derzeit nachgedacht7.
Bei L.I.S.A – dem Wissenschaftsportal der Gerda Henkel Stiftung kann man derzeit in unregelmäßiger Abfolge die Tagebucheinträge des deutschen Schriftstellers und Diplomaten Harry Graf Kessler nachlesen. Den Texten zugrunde liegt die wissenschaftliche Edition der Tagebücher von Kessler durch Roland S. Kamzelak. Die Tagebucheinträge, die zumeist mit einem Foto versehen sind, werden im L.I.S.A.Dossier „1914-2014 – Hundert Jahre Erster Weltkrieg“ gesammelt.
Um die Erlebnisse einer realen Person geht es ebenfalls im Online-Kriegstagebuch des katholischen Seelsorgers Fridolin Mayer, eine Quelle, die im Erzbischöflichen Archiv Freiburg aufbewahrt und jetzt online zugänglich gemacht wird. Gepostet werden in diesem Quellenblog jeweils taggenau die Einträge des katholischen Feldgeistlichen, der vier Jahre lang überwiegend an der Front zu Frankreich freiwillig im Einsatz war. “Und Mayers Erinnerungen über provisorische Altäre, Kanonenschüsse beim Beichthören oder Massengräber mit Gefallenen der badischen Regimente 113 und 114, gewähren wahrlich packende Einblicke in das wenig erforschte Feld der damals noch jungen Feldseelsorge.”, so das Lob in der Badischen Zeitung vom 5.8.2014.8 Fridolin Mayer hat einen eigenen Twitteraccount, dem man unter @Feldgeistlicher folgen kann.
Im Quellenblog 1914-1918: Ein rheinisches Tagebuch werden nicht die Erlebnisse einer realen oder fiktiven Person nachgezeichnet, sondern Dokumente aus mehreren rheinischen Archiven als Gemeinschaftsprojekt publiziert. Zu den Dokumenten gehören Zeitungsausschnitte, Briefe, Postkarten, Fotos, Tagebücher, behördliche Texte etc., die ebenfalls taggenau und um 100 Jahre versetzt sowie mit einer kleinen Erläuterung versehen publiziert werden. Die unterschiedlichen historischen Zeugnisse sollen ein “Kaleidoskop zeitgenössischer persönlicher Wahrnehmungen und öffentlicher bzw. veröffentlichter Meinung” entstehen lassen und sich “im Sinne der ursprünglichen Wortschöpfung „Weblog“ zu einem „Tagebuch“” zusammenfügen9. Lobenswert ist, dass die publizieren Dokumente unter eine CC-Lizenz gestellt werden (CC-BY-NC 3.0 DE).
Die Liste der “Echtzeit-Tagebücher” ließe sich mühelos fortsetzen. Neben den hier genannten Projekten mit wissenschaftlichem Anspruch – oder zumindest von wissenschaftlichen Einrichtungen initiiert – gibt es private Initiativen wie das Quellenblog von Julian Finn, der die Tagebücher seines Urgroßvaters Ernst Pauleit Tag für Tag um 100 Jahre versetzt publiziert, doch ohne Anmerkungen oder kritischen Apparat.
Was bedeutet dieser Trend zu Quellenblogs – so unterschiedlich sie auch sein mögen - in denen direkt und “in Echtzeit” Zeitzeugen zu Wort kommen, ob mit oder ohne Kommentar? Begrüßenswert und in vielerlei Hinsicht neu ist, dass Museen und Archive derzeit überhaupt versuchen, ihre Bestände einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren und dabei den Weg über die Sozialen Medien nicht scheuen. Gleichzeitig scheint es in unserer Gesellschaft einen Bedarf nach (vermeintlicher) Authentizität zu geben, nach direkter Erzählung und subjektivem Nacherleben von Geschichte anhand von Tagebucheinträgen, eben “in Echtzeit”, ganz nah dran und so, als ob man es selbst erlebt. Zumindest in Bezug auf das Zeitempfinden kann Authentizität durch die “Echtzeit” erreicht werden. Denn vier Jahre schrumpfen nicht auf 10, 100 oder 400 Buchseiten zusammen, sondern bleiben vier Jahre, wobei im besten Fall auch die zeitlichen Abstände der Einträge zueinander stimmen.
Inhaltlich könnte dem Ganzen jedoch ein Missverständnis zu Grunde liegen. Die Online-Tagebücher versprechen einen ungefilterten, ungeschönten Zugang zur Geschichte, ein “So war es wirklich”-Erlebnis aus der Sicht von alltäglichen Menschen. Dass über die Auswahl der Quellen, über die Auswahl der Personen, deren Tagebücher ediert werden, ebenso Geschichte “gemacht” wird, könnte dabei ebenso vergessen werden, wie die Tatsache, dass es “so” gar nicht war, sondern allenfalls von einer oder mehreren Personen so wahrgenommen wurde. Das schmälert natürlich nicht die Berechtigung der Publikation, aber dieser Umstand sollte deutlich gemacht werden. Die Präsentation von Quellen auf diese Weise und in Echtzeit verlangt nach methodischer Transparenz, nach editorischer Klärung, zumindest, wenn man ein solches Vorhaben seriös betreibt.
Der Erfolg der Echtzeit-Tagebücher enthält allerdings auch eine Kritik an der Art und Weise, wie wir Geschichte schreiben: anscheinend nämlich an den Bedürfnissen der “breiten Öffentlichkeit” vorbei. Es dürfte sich lohnen, den Verlauf dieser Projekte zu verfolgen und die Diskussion über unsere gegenwärtige Geschichtsschreibung und neue Formate der Vermittlung zu führen.
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Quelle: http://grandeguerre.hypotheses.org/1629