Interview: Prof. Dr. Andrea von Hülsen-Esch zu “Materialität und Produktion”

Bleistifte_3

© Miriam Leopold, Düsseldorf

In den nächsten Monaten werden hier in regelmäßiger Folge Interviews veröffentlicht, in denen die Mitglieder des GRK1678 Einblicke in ihr wissenschaftliches Schaffen geben. Den Auftakt bildet das Interview mit der Sprecherin des Graduiertenkollegs und Professorin für Kunstgeschichte an der HHU Düsseldorf, Prof. Dr. Andrea von Hülsen-Esch, die über die Geschichte des GRK 1678, ihren eigenen wissenschaftliche Zugang zu Materialität und Produktion sowie die länderübergreifende anthropologie historique berichtet.

 

Frau Professorin von Hülsen-Esch, Sie sind Sprecherin des Graduiertenkollegs und gehören zu den AntragstellerInnen der ersten Stunde. Können Sie uns von der Vorgeschichte des GRK 1678 erzählen? Wie entstand die Idee eines Graduiertenkollegs zu Materialität und Produktion?

Ein Großteil der Antragsteller arbeitet seit langen Jahren im Forschungsverbund FiMuR (Forschungsinstitut für Mittelalter und Renaissance) zusammen, dessen jährliche Ringvorlesungen immer wieder im Vorfeld zu Diskussionen über relevante Themen geführt haben. Aus diesem “Kern”, der bereits einige Antragsteller in einem vorhergehenden Graduiertenkolleg (“Europäische Geschichtsdarstellungen”) vereint hatte, ist auch die Diskussion über “Materialität und Produktion” hervorgegangen, zwei Begriffe, denen sich einige von uns immer wieder durch eigene Forschungen von verschiedenen Seiten angenähert haben. Vorlesungen und Kolloquien zu diesem Themenfeld, aber auch die sehr positive Erfahrung der intensiven Zusammenarbeit mit Promovierenden aus dem ersten Graduiertenkolleg haben dann dazu geführt, ein Graduiertenkolleg zum Themenfeld “Materialität und Produktion” zu konzipieren.

Mit “Materialität” und “Produktion” beschäftigen sich im GRK 1678 verschiedene kultur- und geisteswissenschaftliche Disziplinen, die jeweils unterschiedliche Zugänge zum Thema haben. Können Sie die Relevanz der Leitkonzepte für Ihre eigene Forschung, die sich oft zwischen Kunstgeschichte und Geschichte ansiedelt, in einigen Sätzen schildern?

Mein sehr persönlicher Zugang zu diesem Themenfeld setzt bereits einige Zeit vor meiner Berufung an die Heinrich-Heine-Universität an. Während meiner Tätigkeit als wissenschaftliche Referentin am Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen in den 1990er Jahren hat einer meiner Kollegen, Bernhard Jussen, eine Diskussionsreihe mit Künstlern initiiert, die er “Von der künstlerischen Produktion der Geschichte” nannte und mit der er den Umgang mit Geschichte – die Konstruktion und damit auch die Produktion – thematisierte. Künstler wie Anne und Patrick Poirier, Hanne Darboven, Jochen Gerz etc. reflektierten mit und in ihrer Kunst auf eine Weise den gesellschaftlichen Umgang mit Geschichte, bei der viele unserer kollegrelevanten Leitbegriffe und Forschungsthemen bereits aufscheinen: ästhetische Forschung, Konstruktion eines kollektiven, zeitspezifischen Gedächtnisses, Materialisierung von Erinnerung, aber auch das Verschwinden, Vergessen, Verschweigen von Ereignissen, womit die Prozesshaftigkeit des Entstehens ebenso benannt ist wie diejenige des De-Materialisierens, aber auch die Eigendynamik des Ereignisses. Mit meinen ersten Seminaren an der Universität habe ich zunächst diesen Gedanken aufgegriffen und weiter verfolgt, bin dann aber durch die Lehre und die Konzentration auf genuin kunsthistorische Themen in den ersten Jahren an der Universität vermehrt auf die Beschäftigung mit dem Material und die ihm eigene oder zugeschriebene Materialität gekommen. Zugleich stieß ich über meine Beschäftigung mit dem frühen Bühnenbild auf das anscheinende Paradox des immateriellen Raumes, der durch architektonische Versatzstücke im Betrachter zu einem bespielbaren Raum wird und auch in der Dynamik des Stückes weitergedacht wird.

Einer Ihrer Forschungsschwerpunkte ist das mittelalterliche Kunstwerk. “Materialität” und “Produktion” sind aber zwei neuzeitliche Begriffe. Mit welchen Begriffen wurde über das Material und die Herstellungsprozesse von Objekten und Bildern im Mittelalter reflektiert? Existierten diese Konzepte überhaupt zu jener Zeit?

Die gerade beschriebenen Beobachtungen zum frühen Bühnenbild sind bereits in der spätmittelalterlichen Malerei zu finden, ohne dass wir in zeitgenössischen Texten Begriffen wie “Materialität” oder “Produktion” begegnen würden. Konzepte sind Deutungsschemata, mit denen ich grundlegenden Phänomenen auch im Mittelalter näher kommen möchte: Fragen der Materie, des Materials und der Materialität werden beispielsweise in den frühen Etymologien reflektiert, wenn einem Material aufgrund seiner vermeintlichen etymologischen Genese eine bestimmte Wertigkeit zugeschrieben wird, oder wenn in der Liturgie bestimmte Materialien für bestimmte liturgische Geräte vorgeschrieben werden. Zugleich werden immaterielle Prozesse, ein Weg zur Transzendenz beim Betrachten von Kunstwerken ausgelöst, wie Bernhard von Angers oder Suger von Saint-Denis es anschaulich beschreiben. Die chronologisch unterschiedliche Beliebtheit von Materialien, das Phänomen der Imitation von Materialien in anderen Kunstwerken (z.B. von Elfenbein durch Marmorskulpturen und in der Malerei) und der Materialkombinationen lässt mich auch die Frage nach der Produktion von Werten und den dafür verantwortlichen Faktoren stellen, und schließlich gibt es bereits im Mittelalter arbeitsteilige Produktion und Massenproduktion, auch wenn es damals nicht mit diesen griffigen Ausdrücken bezeichnet wurde. Mit “Materialität” und “Produktion” als Leitbegriffen lassen sich sowohl die Erforschung des Verhältnisses von Handwerker und Künstler (im Sinne des Schöpfers von Kunstwerken) wie auch der ästhetischen und materiellen Wertigkeit von Kunstwerken aus einer Perspektive betrachten, die Beschreibung, Kontextualisierung und Historisierung gleichermaßen erlaubt.

Das GRK 1678 ist auf thematischer, personeller sowie institutioneller Ebene international. Was macht “Materialität” und “Produktion” zum länder-, ja kulturübergreifenden Forschungsfeld?

Manche Forschungsthemen scheinen zwar “in der Luft” zu liegen, doch muss es bei Geisteswissenschaftlern auch nicht verwundern, dass Themen, die aktuell diskutiert werden, sich auch länderübergreifend schnell verbreiten. Hier sind ganz sicherlich die akademischen Verbindungen mit entscheidend dafür, dass bestimmte Ansätze sich über Workshops, gemeinsame Forschungsprojekte und große Tagungen verbreiten und in je anderen Ländern bzw. anderen Disziplinen mit der ihnen eigenen Methodik weiterentwickeln. Unsere französischen Partner etwa haben mit der anthropologie historique stets kulturübergreifende Phänomene im Blick; zugleich ist, wenn man etwa an die Materialität von Schrift denkt, ein Grundphänomen einer jeden Gesellschaft, die eine Schriftkultur besitzt, aufgerufen, so dass man gar nicht an Länder (und Disziplin-)grenzen haltmachen kann. Auch der Produktionsbegriff lässt sich auf alle Gesellschaften beziehen, nicht nur, wenn man eine dinghafte Produktion betrachtet, sondern insbesondere, wenn man die spezifischen Bedingungen einer Produktion von Werten erforscht. Insbesondere im kulturellen Vergleich sind die Dynamiken des Entstehens, die Emergenz, interessante Forschungsfelder, aber auch Fragen der Materialgerechtigkeit oder der Materialpräferenz – wobei bereits innerhalb Europas große kulturelle Unterschiede bestehen können.

Quelle: http://grk1678.hypotheses.org/194

Weiterlesen

Ausstellungsbericht: Wunderwelt. Der Pommersche Kunstschrank

Ausstellung im Maximilianmuseum Augsburg, 28. März bis 29. Juni 2014

Von Sarah Babin (Trier) und Thomas Dorfner (Aachen/Münster)

 

[D]er schreibtisch vnd maӱrhof […] sein wol .2. solche werk, der gleichen kain Künig vnd kain Fürst Im Reich diser Zeit hat, vnd wer die kunst versteht und liebt, ihe mehr erß ansihet, ihe mehr er admiration daran finden würdt.1

Die eingangs zitierten Worte entstammen einem Brief Philipp Hainhofers an Herzog August von Braunschweig-Lüneburg aus dem März 1618. Der Augsburger (Kunst-)Agent berichtet darin von einem „schreibtisch“, der sich seit wenigen Mona­ten in der Kunstkammer Herzog Philipps II. von Pommern befinde. Gemäß Hainhofer genüge dieser selbst königlichen Ansprüchen und suche im ge­samten Reich seinesgleichen. Kunstliebhaber wür­den diesen „schreibtisch“ bewundern – und zwar umso mehr, je eingehender sie ihn betrachteten. Es dürfte an dieser Stelle bereits deutlich geworden sein, dass es sich nicht um einen Schreibtisch im modernen Sinne, sondern um einen Kunstschrank des frühen 17. Jahrhunderts handelt – genauer gesagt um den berühmten Pommerschen Kunst­schrank.2 Dieser wurde in den Jahren 1610 bis 1617 in der Reichsstadt Augsburg von zahlreichen nam­haften Künstlern gefertigt. Die Federführung oblag dabei Philipp Hainhofer, der den Kunstschrank nach der Fertigstellung im August 1617 persönlich nach Stettin brachte und dort an Herzog Philipp übergab.

Das Maximilianmuseum Augsburg widmete dem Pommerschen Kunstschrank von 28. März bis 29. Juni 2014 die überaus sehenswerte Ausstellung Wunderwelt. Begleitend zur Ausstellung erschien ein stattlicher, 560 Seiten umfassender Katalog, der u. a. zwölf Aufsätze enthält.3 Im folgenden Bei­trag werden sowohl die Ausstellung als auch der Katalog besprochen. Abschließend soll knapp auf Desiderate in der Forschung zum Pommerschen Kunstschrank bzw. den (Kunst-)Agenten hinge­wiesen werden.

Die Ausstellung

Der Kurator, Dr. Christoph Emmendörffer, war mit der schwierigen Aufgabe konfrontiert, in der Ausstellung ein Objekt, das nicht mehr existiert, in aller Fülle wiederzubeleben, zu interpretieren und dabei die BesucherInnen zu faszinieren. Diese Herausforderung – so viel vorweg – meisterte die Augsburger Ausstel­lung Wunderwelt vorzüglich.

Der erste Ausstellungsraum bot die Möglichkeit, den 1934 gedrehten, 18-minütigen Dokumentarfilm Eine Welt im Schrank anzusehen. Auf diese Weise wurde den BesucherInnen gleich zu Beginn die einstige Pracht des Pommerschen Kunstschranks eindrucks­voll vor Augen geführt. Zugleich erleichterte die Do­kumentation wesentlich das Verständnis der folgen­den Präsentation des Inhalts. Es empfahl sich daher, den Rundgang mit dem Dokumentarfilm zu beginnen und erst anschließend in den ersten Raum mit Expo­naten zu gehen. Der Dokumentarfilm war faktisch der Schlüssel zum Verständnis der Ausstellung.

Die Ausstellung selbst gliederte sich in drei Themen­bereiche: Im ersten Bereich wurden die Vita Philipp Hainhofers und seine Tätigkeit als (Kunst-)Agent für diverse europäische Höfe beleuchtet. Neben zahlrei­chen kunsthandwerklichen Schöpfungen Augsburger Künstler sind hier vor allem die prachtvollen Stamm­bücher Hainhofers herauszustellen, die in der Ausstel­lung präsentiert wurden und sein soziales Netzwerk eindrucksvoll aufzeigten. So enthält das so genannte Kleine Pommersche Reisebüchlein (Kat. Nr. 16) zahl­reiche Eintragungen hochrangiger Mitglieder der Fürstengesellschaft des Alten Reichs. Das so genannte Große Stammbuch (Kat. Nr. 25) hingegen beeindruckt besonders durch die Miniaturen namhafter Künstler wie beispielsweise Johann Matthias Kager.

Die folgenden drei Räume waren dem Pommerschen Kunstschrank und damit dem zweiten Themenbereich gewidmet. Die Ausstellung demonstrierte auf ebenso anschauliche wie imposante Weise, wie viele Objekte der Kunstschrank einst beherbergte. Hervorzuheben ist besonders die große Vitrine im Felicitassaal, die u. a. ein vielteiliges Reisegeschirr, kostbare Leuchter sowie einige astronomische Gerätschaften enthielt (Kat. Nr. 46.6 u. 46.7). Als hilfreich erwies sich die nochmalige Vorführung des Dokumentarfilms in den Ausstellungsräumen, wodurch den BesucherInnen immer wieder der Zusammenhang von Objekten und verlorenem Schrank vor Augen geführt und der Ge­brauch der ausgestellten Gegenstände demonstriert wurde. In denselben Räumen fanden sich außerdem weitere Wunderwerke der Augsburger Künstler wie ein Hausaltar-Kabinettschrank mit Goldschmiede­arbeiten von Matthias Walbaum und Malereien von Anton Mozart (Kat. Nr. 82). Durch diesen dritten Themenbereich gewannen die BesucherInnen ein eindrucksvolles Bild von Glanz und Vielfältigkeit der Augsburger Kunstschränke. Kritik lässt sich einzig an der Beschriftung der Exponate in manchen Vitrinen äußern, da sich die Stücke nicht immer auf Anhieb den ausgewiesenen Beschreibungen zuordnen ließen. Dieser kleine Wermutstropfen ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass es sich bei Wunderwelt um eine aus­nehmend gelungene Ausstellung handelte.

Der Katalog

Im zweiten Teil dieses Beitrags soll der Ausstellungs­katalog ausführlich rezensiert werden, wobei das Hauptaugenmerk auf die Aufsätze gerichtet wird.

Paul von Stettens (1731–1808) Lebensbeschreibung des Philipp Hainhofer eröffnet den Aufsatzteil. Die Beschreibung ist zwar unkommentiert, wurde aber mit einzelnen Katalognummern versehen und weist so bereits auf die Bandbreite der Ausstellung bzw. die schillernde Persönlichkeit des Augsburger (Kunst-) Agenten hin.

Barbara Mundt gibt mit ihrem Aufsatz, wie sie selbst betont, eine Zusammenfassung ihrer 2009 erschiene­nen, ausführlichen Monographie zum Pommerschen Kunstschrank.4 Mundt führt den LeserInnen kurz und prägnant die Entstehungsgeschichte des Kunst­schranks vor Augen. Ebenso verfährt sie bei der Be­schreibung des Bildes, das die (fiktive) Übergabe des Schranks an den Herzog dokumentiert und alle be­teiligten Künstler zeigt. Dies nimmt sie zum Anlass, kurz über die Künstler selbst zu referieren. Im Weite­ren widmet sie sich der Systematik des Schrankinhalts. Nach ihrer Ansicht war dieser auf die Bedürfnisse des Herzogs ausgerichtet und sollte seine Gelehrsamkeit hervorheben. Dabei vergleicht Mundt knapp und fundiert den Schrank mit späteren Kunstschränken Hainhofers. Bei aller Klarheit der Ausführungen wäre es jedoch wünschenswert gewesen, wenn der Aufsatz über die bereits in der Monographie veröffentlichten Erkenntnisse hinausgegangen wäre.

Den ohne Zweifel wichtigsten Beitrag liefert Christoph Emmendörffer, dem es gelungen ist, den so genannten „Hainhofer Code“ zu entschlüsseln. Diese Bezeich­nung führt Emmendörffer für das umfassende, uni­versell ausgerichtete Programm der Ausstattung ein. Weist Barbara Mundt noch darauf hin, dass der In­halt „weder auf enzyklopädische Vollständigkeit noch auf eine Kunstkammer im Kleinen“5 zielte, sondern lediglich auf die Interessen des Käufers zugeschnitten gewesen sei, kann Emmendörffer schlüssig nachwei­sen, dass es sowohl ein Bildprogramm innerhalb der Ausstattung gibt, als auch dass der Schrankinhalt einer Systematik folgt, deren Grundgedanke der universelle göttliche Plan ist. Zudem schließt Mundt noch eine Be­teiligung Hainhofers an der Entwicklung des Konzepts aus. Emmendörffer dagegen sieht eindeutig eine Be­teiligung von Philipp Hainhofer neben dem Stadtpfle­ger Markus Welser und dem Maler Matthias Kager. Offen bleibt allerdings die Frage, wie maßgeblich seine Beteiligung war. Die enge Beziehung zu Welser und Kager sowie seine Verbindungen zum Münchner Hof boten Hainhofer jedenfalls eine Vielzahl von Inspira­tionsquellen. „Der Schlüssel zum Inhalt des Pommer­schen Kunstschrankes“ ist Orlando di Lassos Buß­psalmwerk, das als Hauptquelle für Bildprogramm und Konzeption des Schrankinhalts gelten kann.6 So hat das Übergabebildnis des Kunstschranks sein Vor­bild in Hans Mielichs Darstellung der bayerischen Hofkapelle im St. Georgssaal im Bußpsalmwerk. Eine weitere Quelle findet sich in dem Grundlagenwerk Samuel von Quicchebergs zur Ordnung einer Kunst­kammer, den Inscriptiones. Darin wird ein komplexes Ordnungssystem aufgebaut, das – vereinfacht gesagt – eine Kunstkammer in zehn Klassen mit jeweils meh­reren Unterordnungen unterteilt. Der Schrank „um­fasste die gesamte vierte Klasse […] also ausschließlich Artificialia und Scientifica“.7 Erschien bisher die Zu­sammenstellung der Gegenstände im Schrank willkür­lich, so erweist sich nun, dass sie einem konsequenten Schema folgte und sich sinnvoll aufeinander bezog. So entstammt die indianische Seidenbinde aus China der 10. Unterabteilung der Quiccheberg’schen Systematik Vestitus peregrini et Indiani.

Bildprogramm und Schrankinhalt bilden nach Em­mendörffer zwei in sich geschlossene Systeme. Ein Element verbindet sie jedoch, das Schreibpult. Auch dieses ist entsprechend Quicchebergs Ausführungen ikonographisch gestaltet. Es versinnbildlicht die vier Temperamente, „deren Ausübung dem Menschen die im Schrank vereinigten instrumenta […] ermöglich­ten.“8 Emmendörffer schließt so eine bedeutende For­schungslücke. Sein Aufsatz gibt zudem Anlass zur Un­tersuchung, ob auch weitere Kunstschränke ein derart umfassendes System und Programm aufweisen.

Guido Hinterkeuser widmet seinen umfangreichen und gut recherchierten Beitrag dem wechselvollen Weg des Pommerschen Kunstschranks vom Hofe Phi­lipps II. von Pommern nach Berlin in die Sammlung des Kunstgewerbemuseums. Der Tisch wechselte in den ersten 67 Jahren nach seiner Herstellung mehr­fach den Besitzer bzw. die Besitzerin. Nachdem das Geschlecht des Herzogs ausgestorben war, gelangte der Schrank über die weiblichen Nachkommen und mehrere Umwege schließlich in die Sammlung der Kurfürstin Dorothea von Holstein-Glücksburg, der zweiten Gemahlin des Großen Kurfürsten Wilhelm von Brandenburg. Das Kurfürstenpaar integrierte den Schrank in seine Kunstkammer im Berliner Schloss. Hinterkeuser versucht, die Geschichte der Kunst­kammer des Berliner Schlosses im Laufe der folgen­den Jahrzehnte und den Platz des Kunstschranks zu rekonstruieren. Weiter berichtet er lückenlos von den folgenden Stationen des Schranks nach der Auflösung der Kunstkammer. Die letzte Station bildete seit 1920 wieder das Berliner Schloss, wo er als wichtigstes Ex­ponat des Kunstgewerbemuseums seinen Platz fand. Hinterkeuser schließt mit dem traurigen Bericht der Zerstörung des Pommerschen Kunstschranks im Zweiten Weltkrieg.

Der kürzeste der zwölf Aufsätze ist dem bereits er­wähnten Dokumentarfilm Eine Welt im Schrank aus dem Jahr 1934 gewidmet. Bénédicte Savoy gibt darin einen knappen Einblick in ihre Forschungen zur Film­propaganda für die Berliner Museen im Dritten Reich.

Sandra-Kristin Diefenthaler bietet anschließend in ihrem Literaturbericht einen konzisen Überblick über die kunsthistorische Forschung zum Pommerschen Kunstschrank. Den Ausgangspunkt bilden dabei die Veröffentlichungen Friedrich Nicolais (1733–1811), der darin die bis heute gebräuchliche Bezeichnung Pom­merscher Kunstschrank prägte. Der Literaturbericht arbeitet außerdem den allmählichen Wandel der Zu­schreibungen an den Kunstschrank heraus, nämlich „von einer merkwürdigen Sehenswürdigkeit hin zu einer universellen Kunstkammer im Kleinen“.9

Lorenz Seelig analysiert kenntnisreich Hainhofers Kontakte zum Münchner Hof. Im Juli 1603 besichtigte Hainhofer erstmals eingehend die 1200 Quadratmeter große herzogliche Kunstkammer im Marstallgebäu­de. 1606 würdigte Wilhelm V. Hainhofers „Khunst-stüblin“ mit einem Besuch.10 Der Herzog blieb dar­aufhin – ungeachtet des Konfessionsunterschieds – bis 1623 mit Hainhofer in engem Kontakt. Seelig legt anschaulich dar, wie bedeutsam die Kontak­te zum Münchner Hof für Hainhofers Aufstieg zum (Kunst-)Agenten waren: Durch die Besichtigungen der Münchner Kunstkammer und die Korrespondenz mit Wilhelm V. konnte er einerseits seine Kenntnisse auf dem Gebiet des Sammelwesens entscheidend ver­tiefen. Andererseits waren es die Protektion und Für­sprache Herzog Wilhelms, die Hainhofer in Kontakt mit anderen Fürsten brachte.

Annette Schommers wendet sich in ihrem Aufsatz einem weiteren Kunstschrank aus Augsburger Werk­stätten zu, nämlich dem Kunstschrank, den Maxi­milian I. jesuitischen Missionaren überantwortete, damit diese ihn dem chinesischen Kaiser Wanli zum Geschenk machten. Im Kontext der indirekten Missi­onsmethoden der Jesuiten kam derartigen Geschen­ken zentrale Bedeutung zu: Jesuitische Missionare versuchten mit Hilfe von Kunstgegenständen sowie wissenschaftlichen Geräten die Eliten im chinesi­schen Reich für sich und so letztlich für den katholi­schen Glauben zu gewinnen.11 Aussehen und Inhalt des Schranks, dieses heute ebenfalls nicht mehr er­haltenen Möbelstücks, lassen sich anhand einer latei­nischen Beschreibung rekonstruieren, die am Ende des Beitrags erstmalig vollständig veröffentlicht wird.

Immer wieder zeigt Schommers die Ähnlichkeiten des Schranks zu anderen Augsburger Kabinettschränken auf, wie auch dem Pommerschen Kunstschrank. So kann der Inhalt beider Schränke den Kunstkammer­kategorien der Artificialia und Scientifica zugeordnet werden. Auch wurden die meisten der Ausstattungs­objekte in Augsburg gefertigt und es scheint, dass das Möbelstück selbst ebenfalls einer Augsburger Werk­statt entstammt, wie eine Rechnung an den Augsbur­ger Juwelier und Händler Bartholomäus von Stassen andeutet, der „3200 fl. für einen schreibtisch mit aller­ley Silber geziert“ erhielt.12 Somit liegt die Vermutung nahe, Hainhofer könnte auch an der Konzeption die­ses Schranks beteiligt gewesen sein. Zumindest stand er in engem Kontakt mit Maximilian I. Aber es fehlt an Quellen, die die Beteiligung Hainhofers belegen, wie Schommers betont. Auch wenn der Schrank somit leider keinen eindeutigen Beitrag zur Hainhofer-For­schung liefert, kann Schommers zumindest deutliche Verbindungen zwischen den beiden Kunstschränken aufzeigen.

Christine Cornet befasst sich in ihrem Beitrag mit der Spielesammlung, die der Augsburger Kistler Ulrich Baumgartner in den Jahren 1614 bis 1616 für Herzog August von Braunschweig-Lüneburg fertigte. Das Prunkstück der Sammlung bildet ein aufwendig ge­fertigtes Schachspiel samt filigran gearbeiteten Spiel­figuren aus Elfenbein. Darüber hinaus umfasst die Sammlung ein Karten-, ein so genanntes Gänse- sowie ein Damespiel, wobei letzteres aus Ebenholz, Perlmutt und graviertem Silber gefertigt wurde. Cornets Beitrag ist vor allem aus zwei Gründen lesenswert: Erstens analysiert sie mit Hilfe der Augsburger Handwerker­akten präzise das sozialgeschichtliche Umfeld Baum­gartners. Sowohl die von ihm bekleideten Ämter als auch die Zahl seiner Lehrjungen bzw. Gesellen lassen dabei den Schluss zu, dass Baumgartner eine herausge­hobene Position in der Kistlerzunft einnahm. Zweitens kann Cornet anhand der Entstehung der Spielesamm­lung Aspekte der Agententätigkeit Hainhofers be­leuchten: 1614 übersandte er Herzog August zunächst zwei „Probefiguren“ aus Elfenbein sowie Vorschläge für die Gestaltung der Spielesammlung. Nachdem der Herzog den Auftrag zur Anfertigung erteilt hatte, fungierte Hainhofer kontinuierlich als Vermittler zwi­schen diesem und Ulrich Baumgartner bzw. den übri­gen beteiligten Handwerkern. Ein direkter Austausch fand hingegen offenbar nicht statt – eine Tatsache, die Cornet leider nicht als erklärungsbedürftig erachtet. Am Ende des gelungenen Beitrags bleibt somit eine Frage unbeantwortet: Handelt es sich hierbei – was zu vermuten ist – um die im 17. Jahrhundert übliche Pra­xis, nämlich bei Aufträgen, an denen mehrere Künst­ler beteiligt waren, einem Mittler die Korrespondenz sowie die Koordination zu übertragen?13 Oder ist das Fehlen einer direkten Korrespondenz doch auf ande­re Ursachen zurückzuführen, beispielsweise eine zu große soziale Distanz zwischen Herzog August und Ulrich Baumgartner?14

Auch Ludwig Kallweit stellt, wie zuvor Annette Schom­mers, einen weiteren bedeutenden Augsburger Kunst­schrank in den Fokus der Forschung, das so genannte Hainhofer’sche Werkzeugkabinett. Er referiert dabei aus den laufenden Forschungen des Dresdner Kunst­gewerbemuseums. Das Möbelstück galt lange Zeit auf­grund der beigefügten Tischplatte als Werkzeugtisch. Es handelt sich jedoch um einen Kabinettschrank, zu dessen Inhalt u. a. Jagdutensilien und verschiedene Werkzeuge gehören. Die dazugehörige Platte konnte neuesten Forschungen zufolge in ihre Einzelteile zer­legt im heute verlorenen Deckel des Schranks unterge­bracht werden. Bis heute ist unbekannt, wer der Käu­fer dieses Möbels war und wie es in die Kunstkammer des sächsischen Kurfürsten Johann Georg I. (reg. 1611– 1656) in Dresden gelangte. Die Dresdner Kunstkam­mer war eine wissenschaftlich-technisch orientierte Sammlung, sodass ein Kabinettstück wie dieses sich dort gut einfügte. Kallweit weist überzeugend nach, dass der Schrank trotz der „kompakte[n] Bauart“ kein Reisemöbel war, wovon ältere Forschungen noch aus­gingen.15 Sein Hauptargument hierfür ist der Inhalt des Kabinetts, der vor allem Sammlungscharakter besitzt. Im Folgenden legt er ausführlich und klar formuliert dar, warum der Schrank Philipp Hainhofer zugespro­chen werden sollte. Zudem zeigt er mit seinem Beitrag, wie Hainhofer die jeweiligen Vorlieben der fürstlichen Auftraggeber zum Anlass nahm, die Kunstschränke unterschiedlich zu gestalten. Das Dresdner Werk­zeugkabinett fügte es sich gut in das Ziel der Kammer ein, die hauptsächlich der Repräsentation der Dynastie und des Territoriums diente und zudem als technisch-wissenschaftliche Institution eingerichtet worden war. So war es vielleicht wirklich von vorneherein für die Dresdner Kunstkammer konzipiert. Letztlich jedoch fehlen auch hier schriftliche Quellen.

Die vier Stammbücher Hainhofers mit ihren insge­samt rund 600 Einträgen stehen im Mittelpunkt des Beitrags von Gerhard Seibold. Hainhofer sammelte über einen Zeitraum von mehr als fünf Jahrzehnten (1593–1646) Einträge für seine Stammbücher. Das Spektrum der InskribentInnen ist ausnehmend breit und erstreckt sich von hochrangigen Mitgliedern der europäischen „societé des princes“ bis zu Angehöri­gen der Hainhofer’schen Familie.16 Die Einträge selbst bestehen aus Unterschriften, Widmungen oder Sinn­sprüchen. Drei der vier Stammbücher enthalten Wap­pen oder Zeichnungen, die teilweise von namhaften Künstlern wie Jeremias Günther, Hans von Aachen oder Georg Beham gefertigt wurden. Insgesamt hält sich der Erkenntnisgewinn des Aufsatzes leider in Grenzen: Zu monieren ist zunächst die ungenügende Kontextualisierung. Hainhofers Stammbücher werden weitgehend isoliert betrachtet, ohne die um 1600 stark ausgeprägte Stammbuchpraxis des Adels oder akade­mischer Kreise einzubeziehen. Damit korrespondiert, dass Seibold die einschlägigen neueren Forschungen zu Stammbüchern nicht rezipiert.17 Zuletzt muss auch hinter einige Detailergebnisse ein Fragezeichen gesetzt werden: So erörtert Seibold auf den Seiten 149 und 150 ausführlich, mit welchen Personen Hainhofer mög­licherweise über die künstlerische Gestaltung seiner Stammbücher gesprochen haben könnte. Da entspre­chende Quellen allerdings fehlen, handelt es sich hier­bei – genau besehen – um Mutmaßungen.

Michael Wenzel analysiert in seinem sehr lesenswer­ten Aufsatz die Beziehung zwischen August d. J. von Braunschweig-Wolfenbüttel und Hainhofer. Es han­delt sich dabei um erste Ergebnisse des DFG-Projekts „Philipp Hainhofer – Kunstunternehmer und diplo­matischer Akteur der Frühen Neuzeit“, dessen Bear­beiter Wenzel seit 2011 ist.18 Herzog August ernannte Hainhofer 1613 zu seinem Agenten und gewährte ihm mit 600 Reichstalern ein ausnehmend hohes Jahresge­halt. Beide unterhielten von 1613 bis zu Hainhofers Tod im Juli 1647 eine intensive Korrespondenz. Die Stärke des Beitrags liegt darin, dass Wenzel anhand der Be­ziehung zwischen Herzog und Agent zu allgemeineren Erkenntnissen – vor allem über die Fürstengesellschaft des frühen 17. Jahrhunderts – gelangt: Herzog August verfügte als nachgeborener Sohn zunächst nur über eine unstandesgemäße Residenz sowie ein Kleinstter­ritorium. Entsprechend intensiv bemühte er sich um die Akzeptanz seiner fürstlichen Standesgenossen und wurde hierbei maßgeblich von seinem Agenten unter­stützt: Hainhofer versorgte Herzog August mit zahl­reichen (Luxus-)Gütern, die für eine standesgemäße Lebensführung unerlässlich waren. Zweitens erwarb er Bücher und Schriften für die Wissenschaftsprojek­te des Herzogs. Diese Projekte – allen voran Augusts Schachbuch – sollten ebenfalls in erster Linie die so­ziale Schätzung der fürstlichen Standesgenossen si­chern. Drittens übernahm Hainhofer diplomatische Aufgaben bzw. Reisen für den im „kaiserfernen“ Nor­den residierenden Herzog. In Anbetracht des konzi­sen Beitrags von Michael Wenzel darf man auf die im Rahmen des DFG-Projekts geplante Monographie zu Philipp Hainhofer zweifelsohne gespannt sein.

Auf den Aufsatzteil folgt der 300-seitige Katalogteil, in dem die über 100 Exponate der Ausstellung erläu­tert werden. Auffällig am Katalogteil ist vor allem die unterschiedliche Länge der Texte: Während AutorIn­nen wie Gode Krämer oder Virginie Spenlé die ein­zelnen Exponate ausführlich beschreiben, hält Barbara Mundt ihre Ausführungen zum Inhalt des Pommer­schen Kunstschranks bedauerlicherweise recht knapp. In ihrer 2009 erschienen Monographie hatte sie diese einzelnen Gegenstände dagegen gründlich beleuch­tet.19 Zum besseren Verständnis der von ihr beschrie­benen Exponate müsste man also ihre Monographie hinzuziehen.

Abgerundet wird der Katalog durch die 75 Seiten um­fassende Edition von Philipp Hainhofers Diarium der schwedischen Besatzung Augsburgs. Die Aufzeichnun­gen setzen im April 1632 ein, als sich der schwedische König Gustav Adolf mit seinem Heer der Reichsstadt näherte, und enden im April 1635. Die Edition des Diariums ist überaus verdienstvoll – vor allem, weil Hainhofer darin die Geschichte eines weiteren Kunst­schranks schildert, der unter seiner Federführung ent­stand: Im April 1632 erwarben die evangelischen Rats­herren Augsburgs von Hainhofer einen Kunstschrank aus Ebenholz, der „mit rarissimis naturalibus, und ar­tificialibus verwunderlich“ eingerichtet sei.20 Er dien­te als Verehrung für König Gustav Adolf und wurde im Rahmen einer festlichen Tafel überreicht. Dieser Kunstschrank ist – anders als der Pommersche Kunst­schrank – bis heute erhalten geblieben und kann im Museum der Universität Uppsala besichtigt werden.

Insgesamt überzeugt der Katalog durch seine wissen­schaftliche Präzision, seine Informationsfülle sowie durch die hohe Qualität der zahlreichen Abbildungen. Ausstellung und Katalog schließen so wesentliche For­schungslücken und erweitern den Blick auf das hohe Niveau der Augsburger Künstler.

Forschungsdesiderate

Trotz der Fülle an neuen Erkenntnissen, die der Ka­talog liefert, sind noch keinesfalls alle Fragen beant­wortet. So obliegt es zukünftigen Forschungen, „die Organisation der beteiligten Gewerbe“ zu analysieren und vor allem die zahlreichen am Kunstschrank betei­ligten Künstler sowie ihre Werke zu erforschen und damit eine weitere Lücke in der Augsburger Kunst­geschichtsforschung zu schließen.21 Zu nennen wäre etwa das noch immer unbearbeitete OEuvre der Malers Johann König,22 aber auch der zahlreichen Kunsthand­werker der Stadt.23 Eben diese beiden Forschungsdesi­derate sieht auch Sandra-Kristin Diefenthaler in ihrem Literaturbericht zum Pommerschen Kunstschrank. Aus kunsthistorischer Sicht bleibt dem nur zuzustim­men.

Und noch ein weiteres, ebenso lohnenswertes wie kaum bearbeitetes Forschungsfeld wird durch die Ausstellung bzw. den Katalog in den Fokus gerückt: die heterogene Gruppe der Agenten, die an frühneu­zeitlichen Höfen, in Stadtrepubliken wie Genua oder Venedig sowie in Reichsstädten tätig waren. Es muss an dieser Stelle nicht ausführlich dargelegt werden, dass Philipp Hainhofer lediglich ein Agent unter vielen war – wenn auch ein ausnehmend erfolgreicher. Die bedeutendsten Erkenntnisse erbrachte bisher das For­schungsprojekt „Double Agents: Cultural and Political Brokerage in Early Modern Europe“, das von 2002 bis 2007 an der Universität Leiden angesiedelt war. Die beteiligten ForscherInnen richteten ihr Erkenntnisin­teresse dabei besonders auf zwei Agenten-Typen: Ei­nerseits Diplomaten, die für ihren Prinzipal zugleich Kunstgegenstände und Exotica erwarben bzw. Künst­ler und Musiker rekrutierten; andererseits Künstler, die im Auftrag ihres Prinzipals auch an Verhandlun­gen teilnahmen oder als Nachrichtenkolporteure tätig waren. Charakteristisch für beide Agenten-Typen – so Marika Keblusek – sei besonders „[the] flexibility in role-switching“ sowie die Nutzung ein und desselben Netzwerks für unterschiedliche Zwecke.24 Die For­schungsergebnisse des Leidener Agenten-Projekts lie­gen in Gestalt von zwei Sammelbänden vor.25 Bei auf­merksamer Lektüre wird jedoch rasch offenbar, dass die Forschungen zu frühneuzeitlichen Agenten de facto noch am Anfang stehen: Erstens behandeln die Fallstudien ausschließlich Agenten aus Italien, Spani­en sowie dem west- und nordeuropäischen Raum, d. h. den Niederlanden, Frankreich und Skandinavien. Mit anderen Worten: Die im frühneuzeitlichen Reich tä­tigen Agenten wurden nicht in den Blick genommen. Zweitens ist der Untersuchungszeitraum faktisch auf die Jahre von 1550 bis 1650 beschränkt. Wer sich hin­gegen über die (Kunst-)Agenten der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts informieren möchte, ist vor allem auf die luziden Publikationen von Robert Felfe ange­wiesen.26

Es bleibt somit zu hoffen, dass die überaus sehens­werte Ausstellung sowie der gelungene Katalog auch dazu beitragen, die (kunst-)historische Forschung auf die zahlreichen Agenten aufmerksam zu machen, die im Schatten Philipp Hainhofers noch auf ihre Erfor­schung harren.

Printversion: Frühneuzeit-Info 25, 2014, S. 297–303.

  1. Philipp Hainhofer an Herzog August d. J. von Braun­schweig-Lüneburg, 5./15.03.1618, in: Der Briefwechsel zwischen Philipp Hainhofer und Herzog August d. J. von Braunschweig-Lüneburg (= Bayerisches National­museum, Forschungshefte 8), bearb. v. Ronald Gobiet, München: Deutscher Kunstverlag 1984, S. 230.
  2. Die heute geläufige Bezeichnung Pommerscher Kunst­schrank lässt sich erstmals in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nachweisen.
  3. Christoph Emmendörffer/Christof Trepesch (Hg.): Wunderwelt. Der Pommersche Kunstschrank, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2014.
  4. Siehe Barbara Mundt: Der Pommersche Kunstschrank des Augsburger Unternehmers Philipp Hainhofer für den gelehrten Herzog Philipp II. von Pommern, Mün­chen: Hirmer 2009.
  5. Barbara Mundt: Der Pommersche Kunstschrank, in: Christoph Emmendörffer/Christof Trepesch (Hg.): Wunderwelt. Der Pommersche Kunstschrank, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2014, S. 20–31, hier S. 30.
  6. Christoph Emmendörffer: Wunderwelt. Der Pommer­sche Kunstschrank und sein „Hainhofer-Code“, in: Ders./Christof Trepesch (Hg.): Wunderwelt. Der Pom­mersche Kunstschrank, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2014, S. 32–57, hier S. 35.
  7. Ebd., S. 55.
  8. Ebd., S. 57.
  9. Sandra-Kristin Diefenthaler: „vil zu speculieren und zu sehen“. Ein Literaturbericht zum Pommerschen Kunstschrank, in: Christoph Emmendörffer/Christof Trepesch (Hg.): Wunderwelt. Der Pommersche Kunst­schrank, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2014, S. 79–85, hier S. 79.
  10. Zitiert nach Lorenz Seelig: Philipp Hainhofer und der Münchner Hof, in: Christoph Emmendörffer/Chri­stof Trepesch (Hg.): Wunderwelt. Der Pommersche Kunstschrank, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2014, S. 87–95, hier S. 89.
  11. Zuletzt hierzu Claudia von Collani: Von Jesuiten, Kai­sern und Kanonen. Europa und China – eine wechsel­volle Geschichte, Darmstadt: WBG 2012, bes. S. 42–59.
  12. Anette Schommers: Der Kunstschrank Herzog Ma­ximilians I. von Bayern für den Kaiser von China, in: Christoph Emmendörffer/Christof Trepesch (Hg.): Wunderwelt. Der Pommersche Kunstschrank, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2014, S. 96–115, hier S. 103.
  13. Vgl. die Aufträge Graf Lambergs an Augsburger Künst­ler in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Friedrich Polleroß: Die Kunst der Diplomatie. Auf den Spuren des kaiserlichen Botschafters Leopold Joseph Graf von Lamberg (1653–1706), Petersberg: Imhof 2010, bes. S. 280.
  14. Siehe grundlegend Heiko Droste: Briefe als Medium symbolischer Kommunikation, in: Marian Füssel/Tho­mas Weller (Hg.): Ordnung und Distinktion. Praktiken sozialer Repräsentation in der ständischen Gesellschaft (= Symbolische Kommunikation und Gesellschaftliche Wertesysteme 8), Münster: Rhema 2005, S. 239–256, hier S. 247.
  15. Ludwig Kallweit: Vom fürstlichen Jagd- und Reise­tisch zum Hainhoferschen Werkzeugkabinett. Über die Umbewertung eines Augsburger Kunstmöbels, in: Christoph Emmendörffer/Christof Trepesch (Hg.): Wunderwelt. Der Pommersche Kunstschrank, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2014, S. 128–139, hier S. 132.
  16. In Anlehnung an Lucien Bely: La société des princes. XVIe – XVIIIe siécle, Paris: Fayard 1999.
  17. Exemplarisch Werner Wilhelm Schnabel: Das Stamm­buch. Konstitution und Geschichte einer textsorten­bezogenen Sammelform bis ins erste Drittel des 18. Jahrhunderts (= Frühe Neuzeit 78), Tübingen: Max Niemeyer 2003.
  18. Der vollständige Titel des DFG-Projekts lautet „Handeln mit Kunst und Politik: Philipp Hainhofer – Kunstunter­nehmer und diplomatischer Akteur der Frühen Neuzeit“.
  19. Siehe Mundt: Der Pommersche Kunstschrank (wie Anm. 3), S. 171–389.
  20. Wunde Welt. Hainhofers Diarium der schwedischen Besatzung Augsburgs, in: Christoph Emmendörffer/ Christof Trepesch (Hg.): Wunderwelt. Der Pommer­sche Kunstschrank, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2014, S. 466–536, hier S. 487.
  21. Diefenthaler: „vil zu speculieren und zu sehen“ (wie Anm. 9), S. 85.
  22. Zuletzt Gode Krämer: Ein neu aufgefundenes Haupt­werk von Johann König, in: Bärbel Hamacher/Christl Karnehm (Hg.): Pinxit, sculpsit, fecit. Kunsthistori­sche Studien. Festschrift für Bruno Bushart, München: Deutscher Kunstverlag 1994, S. 130–137.
  23. Eine grundlegende Arbeit hierzu entsteht mit der im Trierer Projekt Artifex (Leitung: Andreas Tacke) ange­siedelten Dissertation von Danica Brenner, die sich mit der „Künstlersozialgeschichte der Augsburger Renais­sance. Ausbildung und Werkstattpraxis, Demographie, Netzwerke und soziale Topographie der Augsburger Malerzunft“ beschäftigt.
  24. Marika Keblusek: Introduction, in: Dies./Badeloch Vera Noldus (Hg.): Double Agents. Cultural and Politi­cal Brokerage in Early Modern Europe, Leiden/Boston: Brill 2011, S. 1–9, hier S. 6.
  25. Hans Cools/Marika Keblusek/Badeloch Vera Noldus (Hg.): Your Humble Servant. Agents in Early Modern Europe, Hilversum: Verloren 2006; sowie Keblusek/ Noldus (Hg.): Double Agents (wie Anm. 24).
  26. Z. B. Robert Felfe: Dynamiken der Sammlungskultur im 17. Jahrhundert. Instabile Ensembles, fürstliches Mäzenatentum und die Ambitionen der Experten, in: Gudrun Swoboda (Hg.): Die Kaiserliche Gemäldegale­rie in Wien und die Anfänge des öffentlichen Kunstmu­seums, Bd. 2: Europäische Museumskulturen um 1800, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2013, S. 337–357.

Quelle: http://fnzinfo.hypotheses.org/159

Weiterlesen

Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte (Jacobus de Vitriaco: Historia Occidentalis, deutsch), 8

[Fortsetzung des Übersetzungsprojekts]

Achtes Kapitel

Über den Magister Petrus Cantor von Paris

Einer von ihnen war damals, gleich der „Lilie unter den Dornen“[1] und der Rose unter den Nesseln, gleichsam auch dem Engel von Pergamon, wo der Thron Satans steht, Weihrauchdüfte ausströmend in diesen Tagen, wie ein festes Gefäß aus Gold, das mit allen kostbaren Steinen geschmückt ist, wie die anschwellende Olive und die Zypresse, die sich in die Höhe erhebt, gleichsam die Trompete des Himmels und der Lautenschläger des Herrn, der Magister Petrus, verehrungswürdiger Cantor von Paris.[2] Er war ein Mann, mächtig in Taten und Predigt, der sein Gold und Silber zusammenschmolz und aus seinen Worten eine Waage machte, auf die er die Ehrbarkeit seiner Sitten und das Gewicht und die Bedeutung seiner Lehre legte. Er nahm es an zu handeln und zu lehren wie die „Lampe, die brennt und leuchtet“,[3] und wie die Stadt, die auf dem Berg liegt, und der goldene Kerzenhalter im Haus des Herrn.

Von der Predigt des Fulk

Aus dessen reinster Quelle wollte der besagte Priester Fulk trinken, als er mit Tafel und Schreibgriffel demütig seine Schule betrat, um gewisse moralische und gewöhnliche Worte, die er gemäß dem Fassungsvermögen seines Geistes aus dem Mund seines Lehrers aufnehmen und sammeln konnte, häufig wiederzukäuen und so dem Gedächtnis fest einzuprägen. An Festtagen jedoch kehrte er zu seiner Kirche zurück und verteilte das, was er während der ganzen Woche eifrig gesammelt hatte, gewissenhaft an seine Schäfchen. Und weil er sich über wenigen als treu erwies, setzte der Herr ihn über viele ein.

Wenn er aber vor allem von den benachbarten Priestern gerufen und eingeladen wurde, weil er versuchte, mit Furcht und Scheu den einfachen Laien auf schlichte und volkstümliche Weise das zu predigen, was er gehört hatte, dann war er wie ein Hirte, „der Maulbeerfeigen züchtet.“[4] Sein verehrungswürdiger und kluger Lehrer, der den Eifer und die Glut seines Schülers, des armen und ungebildeten Priesters, bemerkte und dessen Glauben und Hingabe an die Liebe mit Fleisch umkleiden wollte, drängte ihn, in seinem Beisein vor den vielen gebildeten Gelehrten von Paris zu predigen. Der Herr gab seinem neuen Streiter jedoch soviel Gnade und Tüchtigkeit, dass sein Lehrer und andere, die zuhörten, voller Bewunderung bestätigten, dass der Heilige Geist „in ihm und durch ihn“[5] sprach. Hierauf liefen dann auch weitere, sowohl Doktoren als auch Schüler, zu seiner ungeschliffenen und schlichten Predigt zusammen. Der eine lud den anderen ein und die Zuhörerschaft zog weitere Zuhörer an, wobei man sprach: „Kommt und hört den Priester Fulk, der wie ein zweiter Paulus ist.“ Er selbst jedoch, gestärkt durch den Herrn und angetan mit der Kraft aus der Höhe, wie Samson mit dem Kieferknochen des Esels, nahm es auf sich, gegen die Bestien von Ephesus zu kämpfen und die Ungeheuer der Sünden kraftvoll niederzuwerfen, wobei der Herr ihn stützte.

Als er eines Tages auf einem großen Platz der Stadt Paris, der  im Volksmund Champel genannt wird, den Samen der göttlichen Predigt auf den Acker des Herrn ausstreute, während sich eine große Menge von Klerikern und Volk vor ihm versammelt hatte, da öffnete sich sein Gesicht und der Herr erfüllte es, wie geschrieben steht: „Der Mensch, der austeilt, dem wird zuteil werden, und wer erquickt, wird erquickt werden.“[6] Der Herr öffnete ihm den Sinn, damit er die Schriften erkenne, und er fügte seinen Worten soviel Gnade hinzu, dass viele, die gestochen und gequält zur Buße hin drängten, mit abgelegten Kleidern und unbeschuhten Füßen, Ruten und Riemen in den Händen tragend, sich zu seinen Füßen niederwarfen. Sie bekannten ihre Sünden vor allen Leuten und übergaben aufseufzend sich selbst und das ihre seinem Willen und Befehl. Er jedoch dankte dem Herr, der die Macht hat, aus Steinen Kinder Abrahams zu errichten, und nahm alle mit dem Kuss des Friedens an. Die Soldaten verpflichtete er, niemanden zu bedrängen, sondern mit ihrem Sold zufrieden zu sein, die Wucherer und Räuber aber, alles nach ihrem Vermögen zurück zu erstatten. Die Huren rauften sich die Haare und schworen der gewohnten Schlechtigkeit ab, aber auch andere Sünder widersagten unter Tränen dem Satan und seinem Pomp und erbaten Gnade von ihm. Nicht nur entzündete er sie durch die feurige Redegewandtheit des Herrn zur Reue, sondern der Herr stellte durch ihn auch viele Elende und durch zahlreiche Erschlaffungen Niedergedrückte wieder in Gesundheit her, wie es die bestätigen, die versichern, dass sie dies mit eigenen Augen gesehen hätten.

Von den Taten und Werken des Fulk

Fulk jedoch, der die Gnade Gottes nicht einfach so annahm, sondern sich eilte, das ihm anvertraute Talent klug und fleißig zu vermehren, ertrug auch Hunger, wie ein Hund, der durch die Stadt streunt. Nachdem er sogar das ganze Königreich Frankreich und weite Teile des Reiches „im Verlangen seines Geistes“[7] durcheilt hatte, zerschmetterte er mit leidenschaftlichem Sinn die Schiffe von Tharsus. Gegenwärtig bequem, aber unbequem in der Vergangenheit, und nun von der Nachwelt vergessen, mühte er sich ab. Er bewahrte sein Schwert nicht vor Blut, sondern gürtete es über seine Hüfte und ging von Tür zu Tür und mitten durch die Städte, ohne Ansehen der Person. „Mit den Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken“[8] kämpfte er die Gefechte des Herrn. Und weil der lebende Hund besser als der tote Löwe ist, hörte er nicht auf, mit ständigem Gebell die Wölfe von den Schafen des Herrn fernzuhalten, wobei er den Ungelehrten das Wort der Lehre zur Speise gab und mit dem Wort des Trostes die Untröstlichen stärkte. Die Zweifelnden belehrte und unterrichtete er mit dem Wort des Rates, die Widerstrebenden bedachte er mit Scheltworten, die Irrenden mit Tadel, die Trägen mit Ermunterung und die sich Aufmachenden mit Ermahnung. Und weil er so ungeheuer brannte, entzündete er ganze Völker mit schlichten und einfachen Worten, und zwar nicht nur die Geringen, sondern auch Könige und Fürsten, weil keiner es wagte oder vermochte, ihm zu widerstehen. Vielmehr strömten und liefen sie herbei aus weit entfernten Landstrichen, um ihn zu hören und zu sehen, welche Wunder der Herr durch ihn bewirkte.

Viele der Kranken wurden jedoch auf Betten getragen, und man setzte sie auf den Straßen und Plätzen ab, durch die er gehen würde, damit sie, wenn er käme, den Saum seines Gewandes berühren könnten und geheilt würden von ihren Gebrechen. Wann immer er sie aber berührte, wenn er nicht durch die Menge dringen konnte, segnete er sie oder er reichte ihnen gesegnetes Wasser aus seiner Hand zu trinken. So groß war der Glaube und die Hingabe der Kranken und derer, die diese herbeibrachten, dass nicht nur durch die Verdienste des Dieners Gottes, sondern auch durch die Glut des Geistes und die Größe des nicht schwankenden Glaubens viele es sich verdienten geheilt zu werden.

Glücklich schätzten sich jedoch die, die es vermochten, von seinen Kleidern ein Stück abzureißen und für sich zu behalten. Weil seine Kleider auf diese Weise gekürzt und von der Menge des Volkes zerstückelt wurden, brauchte er innerhalb weniger Tage eine neue Kutte. Und weil die Volksmenge ihn oft unerträglich bedrängte, hielt er ungehörige Menschen mit einem Stock, den er in der Hand führte, durch festes Zuschlagen von sich fern, damit er nicht von denen, die ihn zu berühren wünschten, erstickt würde. Wenn er auch manchmal die Geschlagenen verwundete, waren diese nicht beleidigt oder murrten, sondern aus übergroßer Hingabe und Festigkeit des Glaubens küssten sie ihr Blut, gleichsam als etwas, das Gott von einem Menschen dargebracht wird. Als aber eines Tages einer auf dreiste Weise zu sehr an seiner Kutte riss, da sprach er zur Menge und sagte: „Zerreißt nicht meine Kleider, die nicht gesegnet sind. Ich werde jedoch die Kutte dieses Menschen segnen.“ Sobald er aber das Zeichen des Kreuzes gemacht hatte, zerrissen sie die Kutte jenes Mannes, um die Teile als Reliquien aufzubewahren.

Er jedoch war der Hammer der Gierigen und schlug nicht nur auf die Wucherer hernieder, sondern auch auf jene, die durch ihre Habgier viel zusammenrafften, und ganz besonders in jenen Tagen, in denen die Lebensmittelteuerung groß war. Er jedoch rief häufig aus: „Gib dem vor Hunger Umkommenden zu essen, denn wenn du nicht gezittert haben wirst, bist du gefallen.“ Als er aber an einem gewissen Tag in seiner Predigt sagte, dass die Menschen verflucht seien, die Getreide versteckten, anstatt es für einen maßvollen Preis vor der kommenden Ernte zu verkaufen, und dass die Zeit der Teuerung bald ein Ende haben würde, da stellten alle aufgrund seiner Worte, wie wenn der Herr gesprochen hätte, den Jahresertrag, den sie versteckt hatten, eiligst als Ware zu Verfügung und zeigten so [ihren] Glauben. Und seitdem gemäß seiner Worte gehandelt wurde, waren überall Lebensmittel zu einem gemäßigten Preis verfügbar.

Er jedoch wurde gegen die verstockten Sünder und diejenigen, die davon abstanden, zum Herrn bekehrt zu werden, mit solchem Zorn bewegt, da er die Abweichler sah und sich grämte, dass er diese oft verfluchte, oder vorgab, sie zu verfluchen. Weil sie sich aber entsetzten vor seinem schmähenden Donner und Blitz, pflichteten alle seinen Anordnungen bei, besonders als einige bezeugten, dass welche der von ihm Verfluchten von einem Dämon zerrissen worden waren und andere plötzlich zu Boden gefallen waren und dabei Schaum vor dem Mund hatten, so dass sie denen ähnlich wurden, die an einer tödlichen Krankheit leiden. Aber durch die Härte der Buße, weil er immer angetan war mit einem schweren Bußgewand und meistens mit einem Panzerhemd, wie man sagt, und durch die übergroße Plage ermüdet war, wurde er häufig zum Zorn bewegt. Wenn er dann stehenden Fußes die verfluchte, die ihn bedrängten, oder jene, die seine Predigten durch Gerede unterbrachen, dann entstand plötzlich eine große Stille, während alle zu Boden fielen.

Die unkeuschen Priester und ihre Konkubinen, die er Gespann des Teufels nannte, verfolgte er mit soviel Schelten und Fluchen, dass diese von einer übergroßen Ehrfurcht geschlagen wurden, während alle auf jene, die derart waren, mit dem Finger zeigten und hinter denselben herschrien. So ergab es sich auch, dass fast alle Köchinnen (Dirnen) deswegen ihre Priester verließen.

Eine edle Dame aber ermahnte in ihrer Villa häufig einen Priester, dass er seine Konkubine verlassen möge, er jedoch lehnte ab und antwortete: „Was gehen Euch die Priester an?“ Dieselbe entgegnete: „Ich vermag gegen Euch keine Gerechtigkeit zu erwirken, aber dennoch schauen in dieser Stadt die, die keine Kleriker sind, auf meinen rechtlichen Rat.“ Sie befahl, dass die Konkubine des Priesters zu ihr geführt werde, und machte ihr eine prächtige Krone, wobei sie zu ihr sagte: „Weil du den Priester nicht verlassen willst, will ich dich zur Priesterin weihen.“

Einem anderen Priester schlug sein Bischof vor, dass er entweder die Köchin (Dirne) oder die Pfarrei verlassen solle. Jener jedoch, weinend und klagend, meinte, dass er lieber die Kirche verlassen wolle als die Konkubine. Als er jedoch die Kirche aufgegeben hatte, sah die Hure, dass ihr Priester nun arm war, weil er keine Einkünfte mehr hatte. Und da er verachtet wurde, verließ sie ihn. So verlor der Elende die Kirche und ebenso die Konkubine.

Fast alle öffentlichen Huren, an welchen Ort auch immer dieser Streiter Christi kam, verließen die Bordelle und strömten zu ihm, der sie größtenteils in eine Ehe vermittelte. Andere jedoch schloss er in Klöster ein, damit sie reguliert lebten. Deshalb wurde außerhalb der Stadt Paris, nicht weit von ihr, das Kloster des heiligen Antonius vom Orden der Zisterzienser von der Weihe an eingerichtet, damit solche Frauen in ihm Aufnahme fänden.

Aber auch an anderen Orten und Städten, wo dieser heilige Mann Quellen und Brunnen segnete, während eine Menge an Kranken zusammenströmte, wurden Kapellen errichtet und Hospitäler erbaut.

Soviel Macht und Gnade verlieh aber der Herr seinen Worten, dass die Magister und Gelehrten von Paris ihrerseits, während sie Tafeln und Blätter zu seiner Predigt mitbrachten und die Worte aus seinem Mund sammelten, niederschrieben, was aber dennoch im Mund eines anderen nicht so schmeckte. Noch brachte das von anderen Gepredigte eine ähnlich reiche Frucht. Der Schall seiner Predigt aber weckte die gesamte christliche Welt auf, und das Gerücht um seine Heiligkeit wurde überall bekannt.

Seine Schüler aber, die er wie die Jünger Christi überallhin zum Predigen schickte, wurden von allen mit höchster Ehre und Achtung empfangen. Einer von ihnen jedoch, der unter ihnen hervorstach, sehr beredsam war und die meiste Frucht zu tragen schien, genannt Magister Petrus von Roissy, befleckte seinen Ruhm. Er nämlich, der den Weg der Vollkommenheit angenommen hatte und Armut predigte, wurde bei einer Predigt mit Reichtum und Gaben überschüttet und zum Kanonikus und Vorsteher der Kirche von Chartres gemacht. Und der aus Rauch Licht hervorbringen sollte, machte nun aus Licht Rauch. Durch diese Sache machte er nicht nur seine eigene Lehre verächtlich, sondern auch den anderen Schülern des Predigers Fulk wurde viel (Vertrauen) diesbezüglich entzogen.

Der heilige Mann aber, während er dem Herrn an jedem einzelnen Tag viele Seelen gewann, dabei aber zuletzt das Zeichen des Kreuzes auf seinen Schultern trug, nahm es auf sich, durch Beispiel und Wort Fürsten, Soldaten und Menschen jedweder Art zur Hilfe für das Heilige Land einzuladen, anzufeuern und zu ermahnen. Aber er nahm es auch auf sich, von den Gläubigen viel Geld an Spenden zu sammeln, das er den mit dem Kreuz bezeichneten Armen, sowohl den Soldaten als auch den anderen, zur Verwendung stellen wollte. Obgleich er diese Kollekte nicht aus Gier oder einer anderen bösartigen Absicht heraus veranstaltete, nahmen seine Autorität und sein Ruhm dennoch durch den verborgenen Ratschluss Gottes ab da großen Schaden bei den Menschen. Und während das Geld sich vermehrte, nahmen Ehrfurcht und Respekt ab.

Er selbst jedoch ging wenige Zeit später, nachdem er von einem heftigen Fieber erfasst worden war, in einem Ort namens Neuilly den Weg allen Fleisches und wurde dort in der Pfarrkirche, der er vorstand, begraben. Als dann viele aus weit entfernten und nahen Gegenden zu seinem Grab zusammenliefen, wurde sein Werk, das er begonnen hatte, mit den Spenden der zusammenströmenden Pilger ganz und gar vollendet. Er hatte nämlich zu Beginn seiner Bekehrung gegen den Willen aller Laien seinen Pfarrkindern versprochen, bevor er die Kirche abrisse,[9] würde er das gesamte Werk, obschon es sehr kostspielig war, vollenden, ohne sie zu belasten.

[1]    Hld 2,2

[2]     Petrus Cantor († 1197), Kanoniker in Notre-Dame de Paris, Magister an der dortigen Domschule, Lehrer des Fulk Neuilly, vgl. den nächsten Absatz und Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte 6, übers. von Christina Franke, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 8. Juni 2014, http://mittelalter.hypotheses.org/3879 (ISSN 2197-6120).

[3]    Joh 5,35

[4]    Am 7,14

[5]    Röm 11,36

[6]    Spr 11,25

[7]    Dan 14,35

[8]    2 Kor 6,7

[9]     Gemeint ist vermutlich der Abriss vor dem Neubau, dem kostspieligen “Werk” Fulks, das sich erst durch die Spenden der Pilger vollenden ließ.

D O W N L O A D

(pdf-Version)

Empfohlene Zitierweise: Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte 8, übers. von Christina Franke, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 16. November 2014, http://mittelalter.hypotheses.org/4687 (ISSN 2197-6120).

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/4687

Weiterlesen

Orchideenfach im Nebenamt: Hilft Bloggen der Aktenkunde aus ihrer Nische?

Hier dokumentiere ich mein Referat auf dem Workshop „Bloggen in Geschichtswissenschaft und Archivwesen“, der am 10. November 2014 in Wien stattfand. Der Workshop hat gezeigt, dass geisteswissenschaftliches Bloggen erwachsen geworden ist. Den Organisatoren, Maria Rottler und Thomas Stockinger samt ihrem Team, gilt der Dank der Community!

Mein Blog Aktenkunde ist seit Mai 2013 online. Seitdem habe ich es auf 30 Beiträge gebracht. Das ist nicht viel. Ursprünglich hatte ich einen Zwei-Wochen-Rhythmus für neue Beiträge angepeilt. Das war nicht zu halten. Zu den Gründen komme ich noch.

Aktenkunde is of Blog now!

Die Aktenkunde ist die Historische Hilfswissenschaft von den formalen Merkmalen neuzeitlicher Verwaltungsunterlagen. Sie bietet das Rüstzeug zur Quellenkritik des größten Teils der Überlieferung in den Archiven. Sie sollte ein Grundlagenfach sein. De facto ist sie aber ein Orchideenfach. Die Gründe dafür können hier nicht diskutiert werden.

Ein Grund scheint mir jedenfalls zu sein, dass es kaum einen Fachdiskurs gibt. Aktenkunde wird in der Regel von Archivaren betrieben, die in ihrer Berufspraxis große Sachkenntnis erwerben, aber nicht dazu kommen, ihr Wissen neben dem Beruf zu systematisieren und in den konventionellen Formaten des Aufsatzes oder gar der Monographie und in gedruckten Organen zu veröffentlichen. Das Problem der Forschung im “Nebenamt” wurde von meinen Vorrednern schon angesprochen.

Einer dieser Archivare bin ich. Ich habe das Glück, in einem Archiv zu arbeiten, zu dessen Aufgaben auch noch die intensive inhaltliche Beschäftigung mit den Akten zählt (anstatt dieses anhand von Kennzahlen nur noch zu verwalten). So entsteht Erfahrungswissen.

Meine persönliche Lage ist gegenüber vielen Kollegen durch dem Umstand, dass ich Fernpendler bin, aber wohl noch verschärft. Die Zeit, die ich auf meine wissenschaftlichen Interessen verwenden kann, konzentriert sich auf werktäglich gute zwei Stunden im Zug – das bedeutet nicht nur zeitlich, sondern auch physisch eine erhebliche Einschränkung. Diese Zeit muss sich die Wissenschaft auch noch mit Verpflichtungen zu anderem Schreibwerk teilen. Meine eigentliche Freizeit gehört der Familie.

Da begab es sich, dass mir vor fast zwei Jahren durch einen renommierten Wissenschaftsverlag das Projekt eines aktenkundlichen Lehrbuchs angetragen wurde. – Auch über das Buch als Anstoß zum Blog haben wir heute schon einiges gehört. Bereits rein zeitlich war dieses Projekt eine Herausforderung. Besonders schwierig fand ich die Aufgabe aber wegen des Fehlens eines wissenschaftlichen Diskurses. Der Arbeitskreis Aktenkunde des 20. und 21. Jahrhunderts des VdA, in dem ich mitarbeitete, und die engagierte Berliner “Fachgruppe Historische Hilfswissenschaften” können dieses Manko allein nicht heilen.

So reifte der Gedanke, ein Blog als persönliches SETI-Projekt aufzusetzen. Wie die “Search for Extra-Terrestrial Intelligence” – wer will, kann bei SETI@home mitmachen – wollte ich eine Frage “Ist da draußen noch jemand”, bezogen auf mein Interesse an der Aktenkunde. Luft wollte ich mir verschaffen beim Brüten über einer ständig wachsenden Materialsammlungen, Befunde und Hypothesen zur Diskussion stellen, aber auch einen Attraktor für einen aktenkundlichen Diskurs aufbauen.

Technische Berührungsängste hatte ich nicht. Ich bin mit Computern aufgewachsen. In meiner Sicht ist der Computer und sind elektronische Medien allerdings kein Selbstzweck und keine kulturelle Strömung, sondern potentielle Werkzeuge zur Lösung gegebener Sachprobleme. Mit der Kultur des Ausprobierens, die zur Erschließung des “Web 2.0″ propagiert wird, kann ich mich weniger anfreunden. “Act now, think later – nobody will die”, diesen Satz von der Speyerer Tagung 2012 halte ich für problematisch, denn etwas kann sterben: das eigene Anliegen, wenn nämlich ein schlecht konzipiertes Blog wegen mangelnder Resonanz verstaubt oder weil dem Betreiber der Stoff ausgeht. Für Einzelblogger wiegt diese Gefahr schwerer als für Institutionen, und besonders bei der Verteidigung eines Orchideenfachs, dessen akademischer Belanglosigkeit dann auch noch ein virtuelles Denkmal gesetzt wird.

Für das eben skizzierte Ziel erschien mir ein Blog aber als geeignetes Werkzeug, insbesondere seitdem mit hypotheses.org eine nachhaltige Plattform und eine “managed community” zur Verfügung stand. – Mein herzlicher Dank geht an dieser Stelle an Frau König und ihr Pariser Team. Natürlich ist ein Blog wegen der Eigendynamik des Netzes nicht stringent planbar. Eine grobe Marschrichtung ist aber unverzichtbar, getreu dem Eisenhower zugeschriebenen Aphorismus: “Fertige Pläne sind unnütz, aber der Prozess des Planens ist unverzichtbar.”

Ich habe seit Mai 2013 viele Erfahrungen mit dem Blog gesammelt. Menschlich berührt hat mich die Resonanz auf meine persönlichen Erinnerungen an den verstorbenen Lorenz Beck, die ein kleines virtuelles Kondolenzbuch hervorgebracht hat. Mein Text wurde in der Vierteljahrsschrift des “Herold” nachgedruckt.

Insgesamt können meine Beiträge drei Richtungen zugeordnet werden. Ich wollte

  1. Fragmente aus der Arbeit am Buch publizieren,
  2. mit Fundstücken aus den Medien die Aktualität der Aktenkunde belegen und
  3. zur didaktischen Verbreitung aktenkundlicher Methoden beitragen.

Fragmente: Zunächst ging es dabei um Wissenschaftsgeschichte, um die – regelmäßig vergessenen – Klassiker des Fachs wie Gerhard Schmid, aber auch um Einzelprobleme wie das Vorlagewesen in der modernen Ministerialverwaltung. Im Blog angerissen, wurde daraus ein Vortrag, dem Sie morgen lauschen können, und 2015 hoffentlich ein konventionell veröffentlichter Aufsatz von etwa 20 Manuskriptseiten.

Insgesamt musste ich aber feststellen, dass sich die Rhythmen der Arbeit am Buch und am Blog schwer synchronisieren lassen.

Fundstücke: Die Resonanz in den Kommentaren lässt sich auf den Nenner “Staunen” bringen. So penibel kann man in Medienberichte zur Euro-Hawk-Beschaffung eindringen? Es ist mir damit gelungen, Interesse für mein Anliegen zu wecken – aber auch Verständnis? Der Höhepunkt war in dieser Richtung die “Kanzlerakte“, eine bizarre Aktenfälschung, die ich mit eindeutigem Ergebnis seziert habe. Sie markiert aber auch in einen Endpunkt. Das Unternehmen darf nicht zu einer Popcorn-Aktenkunde werden, die primär durch Kuriosität auffällt.

Didaktik und Verbreitung: Besser ist es, anhand historisch aussagekräftiger Dokumente, die im Gegensatz zu gängigen Lehrbeispielen auch inhaltlich interessant sind, einen vertieften Einstieg in die Methodologie zu suchen.
Mit der Emser Depesche habe ich unter diesem Gesichtspunkt zum ersten Mal eine Serie versucht. Der Aufwand entsprach dabei dem für eine konventionelle Miszelle. Gegenüber dem “Popcorn” blieb die Resonanz gleich und damit über meinen Erwartungen. Es gibt also auch ein Publikum für “Nuts and bolts”-Aktenkunde. Ich weiß auch, dass Material aus dem Blog schon für eine Seminarübung benutzt wurde – nur zu, dafür ist es da und unter CC-BY-SA lizenziert. Über Rückmeldungen zum Nutzwert würde ich mich freuen.

Das Feedback hat meine Erwartungen übertroffen. Es äußert sich in einer ordentlichen Zahl von Likes und Pingbacks von anderen Blogs. Hinweise in viel gelesenen Blogs wie Archivalia und die Aufnahme in Planet History haben zur Reichweite beigetragen – Danke dafür. Der “Outreach” über die kleine archivarische und hilfswissenschaftliche Community hinaus macht für mich den eigentlichen Wert des Blogs aus.

Für mich zählt vor allem das qualitative Feedback in den Kommentaren. Es ist interessant, wo überall aktenkundliche Interessierte sitzen. Damit verknüpft ist “Serendipity“: der unwahrscheinliche, glückliche Zufall, dessen Wahrscheinlichkeit durch weltweite Abrufbarkeit wesentlich erhöht wird. Mit anderen Medien wäre ich nie in Kontakt zu einem Registrator gekommen, der sich mit der Sammlung und methodischen Reflexion seiner Arbeitserfahrungen beschäftigt, meinem eigenen Vorhaben ähnlich – ein sehr interessanter Kontakt.

Schließlich hat es die  “Aktenkunde” als Beispiel des Werts von Blogs für die Vermittlung von Spezialthemen auch schon zur Ehre einer Erwähnung im “Archivar” 3/2014 (S. 301, Anm. 6), dem Zentralorgan des deutschen Archivwesens, gebracht.
Darf man sich als Blogger nun als kleiner, dicker, wichtiger Relefant fühlen? Gerade Blogger müssen sich vor Selbstermächtigungsphantasien hüten.
Alle Interessenten sind mir willkommen. Ich beantworte jeden ernsthaften Kommentar, und es kommen erfreulicherweise nur ernsthafte. Das bin ich meinem Fach und meinen Lesern schuldig. Aber der angestrebte Diskurs kam bis jetzt nicht wirklich zustande.

Der Unterschied zwischen dem Internet und konventionellen Medien wird gern in das Paradigma “Kathedrale und Basar” (citation needed :-) ) gefasst: In der Kathedrale zelebriert – in diesem Modell – der Priester sein Arkanwissen vor der staunenden Gemeinde. Auf dem Basar entstehen Ordnung und Wissen durch Aushandeln aus vielen dissonanten Stimmen. Das Blog “Aktenkunde” ist noch zu wenig Basar. So gern ich Dinge vermittele: Mehr Kritik, Ergänzungen, Scholien, eben mehr Fachdiskurs wären schön.

Dass der nicht zustande kommt, liegt natürlich auch am speziellen Thema. Ich bemerke jedoch, dass das Feedback aus Archivarskreisen zwar kommt, doch auf anderen Kanälen: per Mail, per Telefon, per Schulterklopfen auf dem Archivtag. Archivare haben eben hervorragende analoge Netzwerke. Bloß sind die im digitalen Medium nicht sichtbar, was der Ent-Marginalisierung archivarischer Anliegen – nicht nur der Aktenkunde! – nicht dient.

Als Attraktor für einen Fachdiskurs ist das Blog nur bedingt ein Erfolg. Aber die Wende ist vielleicht in Sicht: Mit Jürgen Finger von der LMU München hatte ich ein instruktives Kommentar-Gespräch, unter anderem über eine aktenkundlich fundierter Zitierweise neuzeitlicher Archivquellen. Dazu werde ich als Nächstes bloggen.
Und jetzt kommt es: Der Verlag hat die Reihe, in der mein Buch erscheinen sollte, eingestellt. Meine erste Reaktion kann man sich denken, die zweite war: Endlich mehr Zeit für’s Blog, das gegenüber dem Buch immer zurückstehen musste. Diesen Zustand habe ich immer mehr als unbefriedigend empfunden.

Das Blog als Medium ist meinen diskontinuierlichen Arbeitsmöglichkeiten wesentlich besser angepasst als ein Buch. Es wird für mich künftig ein Hauptkanal meiner wissenschaftlichen Tätigkeit sein, in dem ich auch für das Buch gesammeltes Material verwerten kann.

Wie könnte ein Fazit aussehen?

  1. Bloggen bedeutet für nebenberufliche Vertreter von Spezialfächern, aus der Not eine Tugend zu machen. Historiker, die aus dem akademischen Betrieb in die “Produktion” gewechselt sind, scheitern oft am großen Wurf. Das Blog akzeptiert dankbar auch die kleine Münze wissenschaftlicher Arbeit, das Fragmentarische, solange es nur anschlussfähig ist.
  2. Bloggen im Nebenamt kann als absichtsloses Handeln betrieben werden. Ich entlehne hier einen Kernbegriff aus dem Tai Chi: Ohne Anstrengung, im Rahmen des möglichen, kann der Forscher im Nebenamt eine erhebliche wissenschaftliche Kraft entfalten – während er oder sie sich nur schwer zum Kung Fu des Bücherschreibens aufraffen kann.
  3. Bloggen ist deshalb eine Graswurzel-Strategie der Wissensproduktion: Aus Einzelbausteinen kann mit der Zeit, durch Vernetzung exponentiell beschleunigt, eine veritable Forschungslandschaft entstehen. Hypotheses.org macht es vor. Verlinkt euch – ich warte auf mehr hilfswissenschaftliche Spezial-Blogs.
  4. Rein metaphorisch gesagt meine ich schließlich: Bloggen ist außeruniversitäres Fracking. Es löst aus den Köpfen der Praktiker kleinste Wissensbausteine, die im Netz der gesamten wissenschaftlichen Welt zur Verfügung stehen, um darauf aufzubauen. In konventionellen Kanälen wären diese Mikro-Partikel unsichtbar und verloren.

Ich sehe Bloggen unideologisch und betrachte mich nicht als Teil einer Revolution. Ich habe aber auch keine Probleme, Argumente zu finden, um der akademischen Reaktion, die Bloggen für wissenschaftsuntauglich hält, das Gegenteil zu beweisen. Für größere inhaltliche Zusammenhänge sind konventionelle Organe immer noch unverzichtbar. Für vieles Andere ist ein Blog das perfekte Medium.

Wissenschaftliches Bloggen führt das WWW zu seinen Ursprüngen als akademisches Hypertext-System zurück.

Gute Selbstorganisation – die Dropbox-Synchronisation am Wochenende vergisst man einmal und nie wieder – und flexible Software  – bei mir: Emacs, Zotero und Zettelkasten – vorausgesetzt, ist das Blog für mich das Mittel der Wahl, um wissenschaftliche Interessen und knappe Zeit neben dem Beruf miteinander in Einklang zu bringen.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/273

Weiterlesen

Abraham und die Sterne am Himmel

Undank ist der Welten Lohn! Da ruft die GEO in einem Sonderheft die 100 größten Forscher aller Zeiten aus und übergeht dabei den größten, weil ersten, Forscher. Die Rede ist natürlich vom Begründer der Astronomie: von Abraham.

“Moment”, wird jetzt sicher der eine oder andere denken, “Abraham?” Als Stammvater der Israeliten kennt man ihn aus der Bibel, aber nun auch Stammvater der Astronomen, das scheint doch arg weit hergeholt.

Abraham als Vater der drei Weltreligionen. Moulins, bibliothèque municipale classée, Manuscrit 1, f. 256r. 12. Jahrhundert.

Abraham als Vater der drei Weltreligionen. Moulins, bibliothèque municipale classée, Manuscrit 1, f. 256r. 12. Jahrhundert.

Ist es auch, und zwar aus der jüdischen Antike, genauer den Antiquitates Judaicae, den Jüdischen Altertümern des Flavius Josephus.1 Dieser schrieb über Abraham, der zunächst in Chaldäa lebte, folgende Zeilen:

(158) Eine Erwähnung unseres Vaters Abraham findet sich bei Berosos, nicht namentlich, aber mit folgenden Worten: Nach der Sintflut, in der zehnten Generation, gab es bei den Chaldäern einen gerechten und bedeutenden Mann, erfahren auch in Himmelskunde.“ ((Flavius Josephus: Antiquitates Judaicae, 1,1-2,200. Vorveröffentlichung der Übersetzung des Institutum Judaicum Delitzschianum, 1,154-157, S. 21.))

Und weiter:

(154) Abraham […] gewann ungeheuer leicht Einsicht in alle Dinge und wirkte überzeugend auf alle, die ihm zuhörten und ging in seinen Einschätzungen nie fehl. (155) Daher begann er mehr als die anderen über Tugend nachzudenken und beschloss daraufhin, das allgemein übliche Gottesverständnis neu und anders zu fassen. So wagte er als erster, zu lehren, dass Gott Schöpfer des Alls sei, einer; und wenn von den übrigen (Mächten) eine etwas zum Lebensglück beitrage, tue dies jede nach seiner Anordnung und nicht aus eigener Kraft. (156) Er schloss das aus den wechselnden Vorgängen auf Erde und Meer und all dem, was sich mit Sonne, Mond und allen Himmelskörpern abspielt: Hätten sie (eigene) Kraft, würden sie ihre eigene Ordnung selbst regeln (so lehrte er); doch dass sie über keine solche verfügten, sei offensichtlich, und gar nichts zu unserem Nutzen beitragen könnten aus eigener Vollmacht, sondern dass sie entsprechend der Stärke des (ihnen) Befehlenden Dienst leisten müssten, dem gebührenderweise allein die Ehre und der Dank zu erweisen seien. (157) Als deswegen die Chaldäer und die übrigen Mesopotamier sich gegen ihn erhoben, hielt er es für gut umzusiedeln und bekam nach dem Willen und mit der Hilfe Gottes das kanaanäische Land; dort ansässig geworden, errichtete er einen Altar und brachte Gott ein Opfer dar.2

Abraham war nach Flavius Josephus nicht nur ein Experte in der Astronomie, mit Hilfe seiner Sternkunde erfand er nebenbei auch noch den Monotheismus (man beachte die Reihenfolge!). Daneben war Abraham exzellent in der Lehre, wovon vor allem die Ägypter profitierten.

(166) Die Ägypter hatten (damals) an anderen Sitten Gefallen (als andere) und machten die Lebensregeln anderer schlecht, wurden deswegen (sogar) unter sich feindselig; da besprach er sich mit ihrer jedem, spottete über die Begründungen, die sie für ihre eigenen (Ansichten) vorbrachten, und wies nach, dass sie gehaltslos waren und nichts Wahres an sich hatten. (167) Er wurde folglich von ihnen bewundert in diesen Zusammenkünften als überaus verständig und als ein Mann mit enormer Begabung nicht nur nachzudenken, sondern auch mit seinen Worten zu überzeugen in allem, was er zu lehren sich vornahm; so schenkte er ihnen die Arithmetik und vermittelte ihnen die gesamte Astronomie. (168) Denn vor dem Kommen Abrahams nach Ägypten waren die Ägypter in diesen Dingen unwissend; von den Chaldäern kamen sie nach Ägypten, von wo sie auch zu den Griechen gelangten.3

Das astronomische Wissen der Antike, der Ägypter und Griechen sei also weniger deren eigener Verdienst, sondern ginge in Wahrheit auf Abraham zurück. Damit ist es letztlich gar nicht heidnischen Ursprungs, sondern wurzelt im monotheistischen Judentum und dient auch als Möglichkeit der Gotteserkenntnis.

Ab dem 11. Jahrhundert tritt Abraham übrigens vermehrt als Nutzer eines astronomischen Instruments auf, von dem hier schon vermehrt die Rede war, dem Astrolab.4 Und das wohl nicht ohne Grund. Während Astronomie gerade im frühen Mittelalter vor allem auf tradiertem Buchwissen basierte (nicht nur, aber vor allem), begannen Gelehrte wie Hermann von der Reichenau und Wilhelm von Hirsau mit der Beobachtung und Messung des Sternenlaufes, unter anderem anhand des Astrolabs.5

Abraham mit Astrolab. Ausschnitt aus Paris, BNF Lat. 12117, f. 106r. 11. Jahrhundert.

Abraham mit Astrolab. Ausschnitt aus Paris, BNF Lat. 12117, f. 106r. 11. Jahrhundert.

Diese wissenschaftliche Tätigkeit stieß nicht überall auf Gegenliebe. Das lag wohl weniger an der Wissenschaftfeindlichkeit des Mittelalters, sondern an der Erwartung, dass Mönche sich eigentlich auf das Gebet konzentrieren sollten. Verdächtig war darüber hinaus auch die Herkunft des Wissens bzw. des Instrumentes, dem sich die Forscher bedienten: dem muslimischen Orient.6

Durch die Verbindung ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit mit Abraham konnten monastische Wissenschaftler gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Sie entkräfteten zum einen den Vorwurf, einer heidnischen Tätigkeit nachzugehen; zum anderen stellten sie ihre wissenschaftliche Tätigkeit dem täglichen Gebet zumindest ein bisschen gleich. Wenn schon Abraham die Sternenkunde als Weg zur Gotteserkenntnis diente, konnte sie für den einfachen Mönch so falsch nicht sein.

Auch der alte Abraham hatte dadurch – Dank der Vermittlung des Flavius Josephus – seinen Anteil an der Entwicklung der modernen Naturwissenschaft. Ob das einen Platz unter den wichtigsten 100 Forschern in der GEO rechtfertigt, das sei anderen überlassen.

  1. Zu den Gründen, die Flavius Josephus zu dieser Verknüpfung von Abraham und Astronomie bewogen haben vgl. Reed, Annette Yoshiko: Abraham as Chaldean scientist and father oft he Jews. Josephus ant. 1.154-168 and the Greco-Roman discourse about astronomy/astrology. In: Journal for the Study of Judaism 35,2 (2004), S. 119-158.
  2. Ebd.
  3. Ebd., S. 22.
  4. Vgl. Borrelli, Arianna: Aspects of the astrolabe: architectonia ratio in tenth- and eleventh-century Europe. 2008, S. 170 und 212f.
  5. Vgl. Wiesenbach, Joachim: Wilhelm von Hirsau: Astrolab und Astronomie im 11. Jahrhundert. In: Schreiber, Klaus (Hg.): Hirsau St. Peter und Paul 1091-1991, Bd. 2. Stuttgart 1991, S. 109-154.
  6. Vgl. ebd., 145/146.

Quelle: http://quadrivium.hypotheses.org/355

Weiterlesen

Gern gelesen: Das Konzept der „Moderne“ – L. Raphael

„Die europäische Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert bietet vielfaches Anschauungsmaterial für den unerwarteten, funktionsgerechten Einbau älterer Institutionen, Gewohnheiten oder Statusgruppen in die Dynamik der Moderne. […] Gerade die Geschichtsträchtigkeit der europäischen Gesellschaften […] hat die Kombination von Ordnungsmustern ganz unterschiedlicher zeitlicher Provenienz mit den neuen Elementen Bürokratie, Markt, Nation, Rechtsgleichheit nahegelegt. Die Umcodierung dieser Sozialgebilde hat dazu geführt, dass man ein großes Repertoire nationaltypischer Anpassungen und Aggiornamentos von Institutionen und Traditionen im Europa des 20. Jahrhundert [sic] findet. Die Gesellschaften und Kulturen der europäischen Moderne sind nicht aus einem ‚Guss‘, sondern das Ergebnis paradoxer Koexistenz unterschiedlicher Institutionen und Handlungslogiken.“ (Raphael, Konzept, 2014, S. 104)

Ein weiterer Aufsatz von Lutz Raphael zur historiographischen Brauchbarkeit des Begriffs der Moderne ist vor einigen Monaten in einem Sammelband erschienen. Ich habe ihn gerne gelesen, und ich könnte noch viel mehr zu diesem Text und den darin vertretenen Argumenten sagen. Denn der Begriff der Moderne, wie Raphael (und Christof Dipper) ihn für die geschichtswissenschaftliche Analysearbeit operationalisieren, ist auch für mein Projekt sehr wichtig. Hier aber nur ein paar Gedanken zu der oben zitierten Passage.

Schon die beiden Aufsätze von Achim Landwehr, die sich kritisch mit der Denkfigur der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ auseinandergesetzt haben, habe ich mit großem Interesse gelesen und als sehr anregend empfunden (auch sie empfehle ich ausdrücklich zur Lektüre!). In den Texten geht es vor allem um die Vorstellungen von historischer Zeit(en), die dem Reden von Anachronismen bzw. der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zugrunde liegen, und darum, dass damit explizite und implizite Wertungen verknüpft sind, die häufig der Analyse von „Gleichzeitigkeiten“, die Landwehr ins Zentrum stellen will, eher im Wege stehen.

Raphael bezieht nun die Kritik, die auch Landwehr äußert, eher auf die Frage nach gesellschaftlicher Verfasstheit, also darauf, ob es sich um letztlich soziale/politische Pathologien handelt, wenn solche Koexistenzen vorliegen. Die Antwort ist – das kann man im obigen Textausschnitt klar erkennen – natürlich: nein, keine Pathologie, im Gegenteil. Koexistenzen unterschiedlicher Institutionen und Handlungslogiken mit verschieden langer Geschichte sind in europäischen Gesellschaften eher die Regel als die Ausnahme. Meine Frage ist jetzt nur: Ist die Koexistenz denn tatsächlich „paradox“, wie Raphael schreibt? Oder erscheint sie nur als paradox, wenn man mit der modernisierungstheoretischen Brille auf sie blickt?

Interessant ist es also nicht so sehr sich anzusehen, wo es solche Koexistenzen gibt. Stattdessen könnte man untersuchen, wie die oben angesprochenen „Umcodierungen“ vonstattengehen. Also: Wie funktioniert diese Koexistenz? Welche Anpassungen finden statt? Wie finden sie statt? Werden sie von den ZeitgenossInnen reflektiert und bewertet? Dieser Fragenkatalog lässt sich wohl noch lange weiterführen. Für die ländlichen Übergangsgesellschaften ist der Hinweis auf die Koexistenzen wichtig und hilfreich – nicht nur, um in Gesprächssituationen wie dieser (schon häufiger vorgekommenen) klug antworten zu können:

Und, worüber forschst Du so?

Ländliche Gesellschaften um 1900.

Ach so, ja, klar: Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.

Hach ja.

Literaturhinweise:

Dipper, Christof: Die deutsche Geschichtswissenschaft und die Moderne, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 37 (2012), S. 37—62.

Landwehr, Achim: Von der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, in: Historische Zeitschrift 295 (2012), S. 1—34.

Ders.: Über den Anachronismus, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 61 (2013), S. 5—29.

Raphael, Lutz: Das Konzept der „Moderne“. Neue Vergleichsperspektiven für die deutsch-italienische Zeitgeschichte?, in: Großbölting, Thomas/Livi, Massimiliano/Spagnolo, Carlo (Hg.), Jenseits der Moderne? Die Siebziger Jahre als Gegenstand der deutschen und der italienischen Geschichtswissenschaft, Berlin 2014, S. 97—109.

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/275

Weiterlesen

DASISH workshop on trust and certification – summary

This post is co-written with Astrid Recker, GESIS, and Claudia Engelhardt, Göttingen State and University Library. It is also published on the CESSDA Training Blog.

On 16-17 October 2014, a workshop on the topic of trusted digital repositories took place in The Hague. The workshop was organised by DASISH, a project striving to increase the overall quality of services for data management, curation and dissemination offered in the five Social Science and Humanities (SSH) Research Infrastructures that have been on the ESFRI Roadmap: CLARIN, CESSDA, DARIAH, ESS, and SHARE.

The workshop’s focus was on the tools and standards for audit and certification comprised in the European Framework for Audit and Certification of Digital Repositories: the Data Seal of Approval (DSA), DIN 31644/nestor Seal, and ISO 16363. Workshop presentations (available on the DASISH webpage) and discussions dealt with getting to know the standards, the conditions for their implementation as well as their current use in the Social Sciences and Humanities.

The European Framework for Audit and Certification was established in 2010 with the objective of better coordinating and structuring the emerging landscape of audit and certification procedures. It defines three levels of certification:

  • basic certification: equivalent to the Data Seal of Approval;
  • extended certification: granted to archives / repositories which have obtained the DSA and successfully underwent an external peer-review based on DIN 31644 or ISO 16363;
  • formal certification: granted to archives / repositories which have obtained the DSA and successfully completed a full external audit based on DIN 31644 or ISO 16363.

In the first part of the workshop, representatives of three European SSH infrastructures – Vigdis Kvalheim from CESSDA, Pavel Straňák from CLARIN and Henk Harmsen from DARIAH-EU – talked about the importance and use of certification standards in the respective infrastructures. In all of them, certification of member data archives and repositories plays a role, with the Data Seal of Approval being the instrument most commonly employed. In CLARIN, one of the requirements for becoming an infrastructure centre or a service providing centre is to undergo certification through the DSA or the MOIMS-RAC approach. CESSDA AS also works towards integrating the DSA into the set of obligations of service providers. In DARIAH-EU certification is one of five short-term goals. One concrete aim in this context is that the repositories that form the backbone of the DARIAH infrastructure have obtained the DSA by 2016.

The ensuing discussion focused on drivers behind the decision to undergo audit and certification:

  • There was consensus in the group that audit and certification are becoming increasingly important to satisfy funder requirements. This is specifically the case for publicly funded institutions, which to receive funding are expected to prove that they are capable of offering high-quality preservation / curation services in accordance with international standards. From this perspective, acquiring certification is equivalent to creating a competitive advantage.
  • However, “self-assurance” was an equally important aspect pointed out by representatives from archives that already underwent an audit / certification procedure, or are planning to do so in the near future. Thus, audits were regarded as an important instrument in determining whether the preservation / curation procedures and workflows of the archive are adequate. Accordingly, audit procedures were used to support the detection of gaps and potential risks.
  • At the same time, there seemed to be consensus that in the SSH community demands from users are currently not a considerable driving force behind the decision to undergo external audit / certification. This could change in the future, especially if the different seals or “badges” are recognized as an indicator of high-quality services by users.

The workshop continued with presentations of the DSA (Paul Trilsbeek) and the nestor Seal (Dr. Christian Keitel) audit standards as well as several case studies from the different ESFRI projects (specifically, LINDAT, DANS, and GESIS). Finally, Barbara Sierman presented the current state of ISO 16363.

The subsequent discussion dealt with the question whether every data service has to be certified, ways of lowering the threshold for entrance into audit and certification, and alternative ways of creating trust – specifically with an eye to smaller data archives or repositories with very limited resources.

  • There was consensus that not every data service needs to be certified. But the decision on whether certification should be pursued or not should not only depend on the available resources of a data service, but also on its nature. As an example, participants referred to the front office-back office model employed in the Netherlands. In this approach, the responsibility for the long-term preservation and availability of research outputs lies with the “back office” organisations (centres with a national scope such as DANS or 3TU.Datacentrum), whereas the “front office” institutions (located at higher education institutions, research institutes etc.) concentrate on communication with and support of data producers and users on a local level. In line with this division of responsibilities, certification is deemed necessary only for the “back office” organisations.
  • In terms of the effort required, the DSA was seen as a suitable “entrance point” to certification even for smaller institutions. Among the data archives that already obtained the DSA are also one person archives, which shows that the DSA audit procedure is doable even with limited human and financial resources. It was also noted that to a certain extent the necessary time and resources are a question of scale. While bigger archives have more resources, their size also makes the process of documenting procedures and of creating required policies more time-consuming.
  • The group also discussed measures for creating trust that can be undertaken independently from certification. It was deemed very important to enable users to do their own “trust checks” on object level and thereby evaluate themselves if a digital object is authentic or not. To make this possible, archives have to engage in transparent communication with their designated community. Another important point in this context is the careful consideration of the significant properties of the information objects to be preserved and their adequacy to the needs of the user community.

Overall, the discussions showed that although the preservation landscape in the SSH domain is moving towards more standardisation and greater homogeneity with regard to audit and certification, it is neither necessary nor desirable to tar all archives with the same brush. Thus tiered or multi-level approaches such as the Dutch front office-back office model or the European Framework for Audit and Certification make it possible to achieve standardisation without losing sight of scale and archive- or discipline-specific requirements.

A report about the workshop from a participant’s point of view is available on the blog “Bits & Pieces. Digital Preservation at Edinburgh University”: report of day 1, report of day 2.

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=4283

Weiterlesen

La France occupée – ein neues Forschungsinstrument zur Geschichte Frankreichs im Zweiten Weltkrieg

france_occupee2Wo befanden sich in Frankreich während der Besatzungszeit deutsche Dienststellen, Behörden, Firmen und Banken, wo war ihr französisches Pendant und wie gestaltete sich deren Zusammenarbeit? Unter dieser Fragestellung hat das DHIP deutsche und französische Archivbestände (Behördenverzeichnisse, Diensttelefonbücher, Bottins administratifs etc.) ausgewertet und die Angaben in einer Datenbank gesammelt. Neben Paris und Vichy wurden daher nicht nur die Adressen der deutschen Militärverwaltung (Militärbefehlshaber in Frankreich bzw. ab 1942 auch der Kommandant im Heeresgebiet Südfrankreich), sondern auch die der französischen Regierungsstellen einschließlich der Präfekturen und Regionalpräfekturen in die Onlinepräsentation mit aufgenommen. Ergänzend wurden auf deutscher Seite auch die Dienststellen des Oberbefehlshabers West in Saint-Germain-en-Laye erfasst.

Unter der Adresse www.adresses-france-occupee.fr stellt das DHIP eine interaktive Karte bereit, die die deutschen und französischen Dienststellen in Frankreich während der Zeit der Besatzung in den Jahren 1940 und 1945 zeigt. Neben der historischen und der heutigen Adresse, der aktuellen Straßenansicht und – sofern vorhanden – einem historischen Foto gibt die Seite Aufschluss über die Aufgaben, Zuständigkeiten und Unterstellungsverhältnisse.

Gesucht werden kann nach Städten, Straßennamen oder der Bezeichnung von Gebäuden sowie nach Behörden, Dienststellen, Banken und Firmen. Je nach Art und Umfang der Abfrage vermittelt die Datenbank einen Eindruck vom Alltag, der Präsenz der deutschen Besatzungsmacht sowie nicht zuletzt auch deren Zusammenarbeit mit den französischen Behörden.

Für Recherche stehen dem Benutzer neben dem Suchefeld, der Wahl des entsprechendes Jahres sowie der Unterscheidung nach Ländern auch eine Suche nach Behörden und deren hierarchischem Aufbau zur Verfügung. Über eine entsprechende Auswahl in der Hierarchie sind kombinierte Suchergebnisse möglich. Die Ergebnisse werden entweder auf der Karte oder aber als Liste angezeigt und können exportiert werden (CVS oder PDF).

Die Angaben basieren auf einer systematischen Erfassung der deutschen Diensttelefonbücher und der französischen Behördenverzeichnisse aus der Zeit des Krieges. Sie wurden ergänzt durch Recherchen in deutschen und französischen Archiven, insbesondere den Archives municipales sowie der Auswertung der einschlägigen Nachschlagewerke und der Fachliteratur.

Die Datenbank wird kontinuierlich mit neuen Angaben angereichert, die sich aus den weiteren Forschungen ergeben. Sie erlaubt sowohl die einfache Visualisierung der Suchergebnisse auf einer Karte oder als Liste, als auch kombinierte Recherchen bis hin zum Export der Angaben als PDF-Datei oder in Form eines CSV und erfüllt so alle Anforderungen an ein modernes Forschungsinstrument.

Quelle: http://dhdhi.hypotheses.org/2324

Weiterlesen

La France occupée – ein neues Forschungsinstrument zur Geschichte Frankreichs im Zweiten Weltkrieg

france_occupee2Wo befanden sich in Frankreich während der Besatzungszeit deutsche Dienststellen, Behörden, Firmen und Banken, wo war ihr französisches Pendant und wie gestaltete sich deren Zusammenarbeit? Unter dieser Fragestellung hat das DHIP deutsche und französische Archivbestände (Behördenverzeichnisse, Diensttelefonbücher, Bottins administratifs etc.) ausgewertet und die Angaben in einer Datenbank gesammelt. Neben Paris und Vichy wurden daher nicht nur die Adressen der deutschen Militärverwaltung (Militärbefehlshaber in Frankreich bzw. ab 1942 auch der Kommandant im Heeresgebiet Südfrankreich), sondern auch die der französischen Regierungsstellen einschließlich der Präfekturen und Regionalpräfekturen in die Onlinepräsentation mit aufgenommen. Ergänzend wurden auf deutscher Seite auch die Dienststellen des Oberbefehlshabers West in Saint-Germain-en-Laye erfasst.

Unter der Adresse www.adresses-france-occupee.fr stellt das DHIP eine interaktive Karte bereit, die die deutschen und französischen Dienststellen in Frankreich während der Zeit der Besatzung in den Jahren 1940 und 1945 zeigt. Neben der historischen und der heutigen Adresse, der aktuellen Straßenansicht und – sofern vorhanden – einem historischen Foto gibt die Seite Aufschluss über die Aufgaben, Zuständigkeiten und Unterstellungsverhältnisse.

Gesucht werden kann nach Städten, Straßennamen oder der Bezeichnung von Gebäuden sowie nach Behörden, Dienststellen, Banken und Firmen. Je nach Art und Umfang der Abfrage vermittelt die Datenbank einen Eindruck vom Alltag, der Präsenz der deutschen Besatzungsmacht sowie nicht zuletzt auch deren Zusammenarbeit mit den französischen Behörden.

Für Recherche stehen dem Benutzer neben dem Suchefeld, der Wahl des entsprechendes Jahres sowie der Unterscheidung nach Ländern auch eine Suche nach Behörden und deren hierarchischem Aufbau zur Verfügung. Über eine entsprechende Auswahl in der Hierarchie sind kombinierte Suchergebnisse möglich. Die Ergebnisse werden entweder auf der Karte oder aber als Liste angezeigt und können exportiert werden (CVS oder PDF).

Die Angaben basieren auf einer systematischen Erfassung der deutschen Diensttelefonbücher und der französischen Behördenverzeichnisse aus der Zeit des Krieges. Sie wurden ergänzt durch Recherchen in deutschen und französischen Archiven, insbesondere den Archives municipales sowie der Auswertung der einschlägigen Nachschlagewerke und der Fachliteratur.

Die Datenbank wird kontinuierlich mit neuen Angaben angereichert, die sich aus den weiteren Forschungen ergeben. Sie erlaubt sowohl die einfache Visualisierung der Suchergebnisse auf einer Karte oder als Liste, als auch kombinierte Recherchen bis hin zum Export der Angaben als PDF-Datei oder in Form eines CSV und erfüllt so alle Anforderungen an ein modernes Forschungsinstrument.

Quelle: http://dhdhi.hypotheses.org/2324

Weiterlesen

Mobile Apps zur deutsch-jüdischen Geschichte

smartphone-rabbinerhaus-essenUnterwegs auf Informationsangebote zugreifen zu können, die in Handhabung und Darstellung für das mobile Gerät optimiert sind, vielleicht auf den aktuellen Standort Bezug nehmen, womöglich noch die eigenen Forschungsarbeit aktiv unterstützen — die Perspektiven mobiler Anwendungen sind faszinierend.

Ein living document zum Thema »Mobile Apps zur deutsch-jüdischen Geschichte« ist das Ziel unseres Blogbeitrags. Das ist zwar reichlich unscharf formuliert,1 aber die Auswahl ist ja noch überschaubar — oder etwa nicht ?

Es folgt also eine kleine Übersicht als Startpunkt (nicht sortiert und einstweilen mit den Selbstbeschreibungen seitens der Anbieter), sie soll fortlaufend aktualisiert und ergänzt werden. Kommentare, Hinweise auf weitere Apps, Erfahrungsberichte (einfach mal installieren und ausprobieren), Reviews, gern als Gastbeiträge, sind natürlich herzlich willkommen — im Grunde unverzichtbar für das Gelingen.

Das Interesse hängt auch mit Fragen der weiteren Gestaltung der Web-App Orte jüdischer Geschichte zusammen, die sich ebenfalls hier wiederfindet.

Jüdische Orte in Bayern | »Ziel des Projektes Jüdische Orte in Bayern ist ein innovatives virtuelles Jüdisches Museum Bayern. Mit Hilfe der App können vor Ort jüdische Erinnerungsstätten erarbeitet und erfahrbar gemacht werden …Dabei reicht der Blick vom Mittelalter bis in die Gegenwart und den heutigen Umgang mit jüdischen Kulturgütern.« → iOS

JüdischesWien | »Applikation, die BesucherInnen des Jüdischen Museums an Adressen Wiener jüdischer Geschichte führt. Diese Route verbindet die beiden Standorte des Museums in der Dorotheergasse und am Judenplatz.« → Android

Kölns jüdische Geschichte | »Dieser akustische Stadtspaziergang zur jüdischen Geschichte in Köln nimmt Sie anhand von fünf Etappen mit auf eine informationsreiche und bedeutsame Stadttour. Der Ausflug beginnt am historischen Rathaus in der Altstadt und endet auf dem jüdischen Friedhof in Köln-Bocklemünd. Entlang einer akustischen Spurensuche veranschaulicht die App das Schicksal und die Regionalgeschichte der Juden in Köln.« → iOS

Erinnerungsorte für die Opfer des Nationalsozialismus | »Die App ermöglicht eine neue Form des Erinnerns an die Opfer des Nationalsozialismus. Sie finden mehr als 200 Erinnerungsorte mit Informationen über Gedenkstätten, Museen, Dokumentationszentren, Mahnmale und Initiativen, die an Menschen erinnern, die unter der NS-Gewaltherrschaft ermordet wurden. Die Orte werden mit einem Kurztext und Hinweisen zum pädagogischen Angebot vorgestellt, außerdem finden Sie Informationen zu Ansprechpartnern, Anfahrt und Öffnungszeiten.« → Android | iOS

Zwangsarbeit. Die Zeitzeugen-App der Berliner Geschichtswerkstatt | »Berlin war ein Zentrum der Zwangsarbeit: Zwischen 1938 und 1945 musste eine halbe Million Zwangsarbeiter – Männer, Frauen und Kinder – in Berliner Fabriken, Dienststellen und Haushalten arbeiten, so viele wie in keiner anderen Stadt Europas. Aus der „Volksgemeinschaft“ ausgegrenzt, lebten sie in über 3000 Lagern, direkt vor der Haustür der Berliner.« → Android | iOS

Berühmte Grabstätten auf historischen Friedhöfen in Deutschland | Die App zu »1.000 kulturhistorisch bedeutenden Grabmalen« und »37 national bedeutsamen historischen Friedhöfen in Deutschland« thematisiert auch die jüdischen Friedhöfe »Schönhauser Allee« sowie »Weißensee« (beide Berlin), »Langenfelde« und »Altona« (beide Hamburg) sowie den »Heiligen Sand« in Worms. Sie »navigiert den Nutzer zu den einzelnen Grabmalen und vor Ort können die Informationen als Audio-Datei abgespielt werden.« → Web-App

Orte jüdischen Lebens Berlin | »Diese App bietet Informationen zu Orten jüdischen Lebens in Berlin von 1933 bis 1945 … Über eine historische und eine aktuelle Karte sind Orte oder ganze Touren im Stadtgebiet zu finden. Zu jedem dieser Plätze existieren Informationen, Bilder, zum Teil auch Tonaufnahmen oder Filme. Zusätzliche Informationen können über Personenportraits, ein Glossar oder eine Zeitleiste gewonnen werden.« → Android

Visit USHMM (United States Holocaust Memorial Museum): The Museum’s Mobile App | Unter anderem: »My Visit: Create your own itinerary from exhibitions and events specific to the day of your visit. — Personal Stories: Explore the stories of individuals who experienced the Holocaust and refer to them throughout your visit. Discover more through items in our collections, including family photographs, personal artifacts, and videos of Holocaust survivors recounting their stories …« → Android | iOS

Orte jüdischer Geschichte | Die App führt zu ortsbezogenen Online-Artikeln (ca. 2.500, Wikipedia, epidat und weitere) zur deutsch-jüdischen Geschichte im Umkreis des aktuellen Standortes oder eines frei wählbaren Ausgangspunktes in Deutschland (und darüber hinaus). → Web-App

  1. Auf einen Aspekt, die Frage nach der Zielgruppe, weist der Untertitel des empfehlenswerten Beitrags Mobile History von Kristin Oswald hin: »Apps für Geschichtsinteressierte, Apps für Historiker«? Dann der Fokus: auf Inhalt oder auch methodische Hilfsmittel? Dann die Technik: nativ, hybrid, Web-App oder auch eine für mobil geeignete Webseite ? Und deutsch-jüdische Geschichte schließlich ist ohnehin ein mehr als weites Feld …

Quelle: http://djgd.hypotheses.org/444

Weiterlesen