aventinus visio Nr. 4 [07.11.2012]: Gegen die „Gegen-Legenden“ Eine Neubewertung der Entstehungsgeschichte von ‘Das Cabinet des Dr. Caligari’
Informationen des Medienzentrums der Technischen Universität München zu E-Learning
Wie Bilddatenbanken nach Schlagworten jagen
Die Verschlagwortung von Bilddatenbanken ist besonders effektiv, wenn möglichst viele Personen daran mitarbeiten. Wichtig ist, dass nicht nur Fachleute, sondern jeder mitmachen kann, das nennt sich dann Crowdsourcing und die Eingabe von Schlagworten nennt man taggen.
Auf den vier folgenden Websites kann man Bilder taggen. Durch die jeweils in unterschiedlichem Maß vorhandenen Zusatzinformationen zum jeweiligen Bild, erhält der Spieler in ebenfalls unterschiedlichem Maß Hinweisreize (Schlüsselreize), die zur Eingabe von Schlagworten animieren sollen. In welcher Art diese Hinweisreize gegeben werden, wird in den folgenden Abschnitten kurz dargestellt:
- Bei Your Paintings werden Informationen zu Titel, Datierung, Technik, Maßen und Ort angezeigt. Um die Eingabe von Tags zu bewirken, werden sehr spezifische Schlüsselreize in Form folgender Fragen gestellt: What things or ideas can you see in this painting? Can you name any people in this painting? What places are shown in the painting? Does this painting relate to any event? Is there a clue in the title? What type of paining is it? What subjects do you see in this painting?
Außerdem gibt ein Thesaurus bei der Eingabe der Tags Hilfestellung. Diese Site stellt dem Anwender die am meisten thematisch fokussierten Hinweisreize zur Verfügung.
Bild 1: Screenshot Your Painings
- explorARTorium zeigt neben dem zu indizierenden Bild bereits vorhandene Tags an und der Spieler wird aufgefordert, neue (andere) Tags einzugeben. Außerdem kann sich der Tagger Zusatzinformationen wie Titel, Künstler, Region, Genre und Datierung anzeigen lassen.
Bild 2: Screenshot explorARTorium
- Das Brooklyn Museum zeigt unterhalb des Bildes eine kurze Beschreibung, die z.B. den Titel, Datierung und Maße nennt. Aus diesem Text kann der Spieler häufig einige Schlagworte entnehmen.
Bild 3: Screenshot Brooklyn Museum
- Bei ARTigo erhält der Spieler während des Taggens keinerlei Information zum Bild. Die Zusatzinformationen, wie Titel, Künstler etc. werden erst nach einer Spielrunde von 5 Bildern dargeboten. Bei diesem Spiel vergibt der Spieler in sehr freier Art Schlagworte, denn seine Assoziationen werden nicht von Informationen wie dem Titel oder der Entstehungszeit des Bildes gebahnt.
Die vorhandene Rechtschreibhilfe korrigiert eingegebene Begriffe, bietet aber nicht wie bei Your Paintings, Begriffe in Form eines Thesaurus an.
Bild 4: Screenshot ARTigo
Wie man bei den vier genannten Beispielen sehen kann, erfolgen die angezeigten Hinweisreize in unterschiedlicher Art und Menge. Werden bei ARTigo keine Schlüsselreize außer dem Bild angezeigt, so werden bei Your Paintings spezifische Fragen und ein umfangreicher Thesaurus eingesetzt. Es ist zu vermuten, dass die eingegebenen Schlagworte dies reflektieren. Daraus ergeben sich eine Menge Fragen:
- Bei welcher Methode ist die Bandbreite der Schlagworte am größten?
- Bei welcher Methode werden die meisten kunstgeschichtlichen Fachbegriffe eingegeben?
- Wie wirken sich die angezeigten Zusatzdaten auf die Tags z.B. hinsichtlich Qualität und Quantität aus?
- Welche Elemente machen die Methoden als Spiele attraktiv, bzw. auf welcher Site geben die Tagger während einer Session die meisten Schlagworte ein?
- Wie wirkt sich die Anzeige bereits vorhandener Tags auf die Assoziationsfreude der Tagger aus?
- Zu welchem Ergebnis führt ein umfangreicher Thesaurus beim Taggen?
- …
Durch einen Vergleich der Tagging-Methoden wäre herauszufinden, welche Hinweisreize in welcher Kombination den Tagger animieren, qualitätsvolle Tags einzugeben und welche möglicherweise seine Assoziationen einschränken. Jede Darstellung von Zusatzinformation bedeutet schließlich einen entsprechenden Arbeitsaufwand. Deshalb wäre auch zu klären, wie viel Einsatz nötig ist, um ein Maximum an qualitativ hochwertigen Schlagworten zu erhalten. Es wäre schade, mit viel Aufwand das Gegenteil von dem zu erreichen, das man gerne hätte – qualitätshaltige Schlagworte.
Quelle: http://games.hypotheses.org/718
In die Bibliothek: Plutarchs Moralia in alt-neuer Gestalt
Archivreport extra: Stadtarchiv Stralsund
In die Bibliothek: Plutarchs Moralia in alt-neuer Gestalt
Nach zuletzt viel Politik hier wieder eher Schöngeistiges. Der in Wiesbaden ansässige marixverlag hat sich vor einiger Zeit darangemacht, ältere Übersetzungen umfangreicher antiker Werke zu fairen Preisen neu herauszubringen; er steht damit in der Nachfolge nicht mehr existierender Häuser wie Phaidon, Fourier oder Magnus. Erschienen sind zuletzt Gesamtausgaben, die aktuell entweder gar nicht oder nur (in anderer, neuerer Gestalt) wesentlich teurer zu haben sind, zuvörderst Livius, die Geographika Strabons und die Enzyklopädie des Älteren Plinius sowie Cassius Dios Römische Geschichte.
Aktuell erschienen sind zwei Bände mit Plutarchs Moralia, einer Sammlung sehr verschiedener Schriften zur Moralphilosophie, Lebensführung, Religion, Geschichte und vielen anderen Gegenständen. Da gibt es Tischreden, ein Gespräch über die Liebe, einen Traktat über das Fleischessen, eine lokalpatriotische Polemik des aus Boiotien stammenden Autors gegen Herodot („Pindar, Epaminondas und Plutarch, drei Männer, die der Kartoffeln-Luft von Böotien, in der sie geboren waren, Ehre machen”, so Lichtenberg). Oder die Abhandlung, „ob ein Greis noch Staatsgeschäfte treiben soll”.
„Verschieden wie die Form”, so bilanziert Rudolf Hirzel in seinem vor genau einhundert Jahren erschienen, immer noch sehr lesenswerten Plutarch-Buch, „ist der Inhalt der Schriften, ja er ist der denkbar mannigfaltigste. Er (…) übertrifft durch diese Buntheit weit die Schriften von Plutarchs älterem Zeitgenossen Seneca. Überall wird den Problemen nachgespürt, die sich in Wissenschaft und Leben darbieten, nicht bloß alten Problemen, sondern auch neuen, die der Augenblick, auch wohl nur der gesellige Scherz erfindet. In alle Winkel der Theorie und der Praxis wird hineingeleuchtet und trotzdem keine systematische Vollständigkeit bezweckt, vielmehr ist der Inhalt so, wie er den mannigfachen persönlichen Beziehungen Plutarchs entspricht und wie ihn die größte der Musen, die Gelegenheit, denen gewährt, die ihren Wink verstehen. Allerlei Anlässe, oft nur einzelne Vorfälle des Lebens, ergreift Plutarch, um als Berater und Lehrer seiner Familie und seiner Freunde sich hören zu lassen, sei es in eigner Person oder durch den Mund anderer, ermahnend oder erzählend, bisweilen, doch viel seltener, und – so scheint es – in einem gewissen Jugendübermut, auch nur um seinen Witz – wie er so ergötzlich sich bekundet im philosophierenden Schwein, das den klugen Odysseus belehrt – oder seine rhetorische Schulung in der Durchführung mehr oder minder paradoxer Behauptungen zu zeigen.”
Nun wäre es viel zu aufwendig und langwierig, den gesamten Textbestand der Moralia neu übersetzen zu lassen, und neuere vorliegende Übertragungen bieten immer nur einige Schriften. Der Verlag ist daher pragmatisch verfahren: Neu gedruckt wurde die zwischen 1828 und 1861 in 26 Lieferungen als Teil der von Osiander und Schwab veranstalteten Reihe Griechische und römsiche Dichter und Prosaiker in neuen Uebersetzungen vorgelegte Version der Moralischen Werke aus der Feder von vier Gelehrten. Durch die Bemühungen der Herausgeber, v.a. von Christian Weise, ist ein etwas zwitterhaftes Wesen entstanden, wurden doch die erklärenden Fußnoten des Originals um zahlreiche neue Anmerkungen und Literaturhinweise ergänzt, so daß „die Beigaben an den Stand der modernen Plutarch-Philologie heranreichen, der Text dagegen unverändert eine Übersetzung des vorletzten Jahrhunderts wiedergibt” (S. 9). Geboten wird also ein „Lesetext”, der es erlaubt, die Fülle und den Reiz dieser Schriften wiederzuentdecken. „Wer darüber hinaus eine wissenschaftlich zitierfähige Übersetzung benötigt, wird die einschlägigen kritischen Ausgaben konsultieren.” Nun sind eine Übersetzung und eine kritische Ausgabe zwei sehr verschiedene Paar Schuhe, und man kann sich fragen, an wen sich die Mühen, den Anmerkungsapparat mit zahlreichen Verweisen auf andere Quellen und Anspielungen Plutarchs zu vervollständigen und zu aktualisieren, eigentlich richten, wenn der fachlich orientierte Leser auf andere Ausgaben verwiesen wird und der interessierte Laie hier nur einen Lesetext finden soll. Vielleicht wäre es besser gewesen, keine Ergänzungen vorzunehmen, sondern den Zeitaufwand in eine behutsame Modernisierung der Übersetzung – und sei es nur in der Orthographie – zu investieren.
Machen wir die Probe. Die erste Schrift nach dem Editorischen Vorwort handelt von der Kindererziehung. Weil davon hier schon zweimal die Rede war: Von der Prügelstrafe hält auch der kultivierte Plutarch nichts; die Kinder sollten „stets durch Ermahnungen und Vorstellungen, keineswegs aber durch Schläge und Mißhandelungen” zu rühmlichen Bestrebungen angehalten werden; rüde Erziehungsmethoden seien allenfalls für Sklaven angemessen; generell machen solche Mittel „stumpf und schrecken von jeder Anstrengung ab” (8f). Das hohe Lied auf Bildung als einzig beständiges Gut in allen Wechselfällen des Lebens liest sich hier so (5c-d):
„Ich betone), daß tüchtige Erziehung und ein ordnungsgemäßiger Unterricht hier die Hauptsache, Anfang, Mitte und Ende ist; daß Dieß besonders förderlich und wirksam zur Tugend wie zur Glückseligkeit ist. Die übrigen Güter sind irdisch und gering, sie können nicht ein würdiger Gegenstand unserer Bestrebungen werden. Edle Geburt ist allerdings etwas Auszeichnendes; aber es ist ein Gut der Vorfahren. Reichthum ist schätzenswerth; aber er ist eine Gabe des Glücks, das ihn bekanntlich oft Denen entzieht, die ihn besitzen und Andern wider Erwarten zuführt; auch ist großer Reichthum das Ziel Aller, die auf Beutelschneiderei ausgehen, aller boshaften Sclaven und Verläumder, überdem, was das Aergste, es besitzen ihn auch die Verworfensten. Ruhm ist fürwahr etwas Hohes, aber er ist unsicher; Schönheit ist ein theures Gut, aber sie währt nur kurze Zeit. Gesundheit ist etwas Köstliches; aber sie ist leicht veränderlich. Stärke ist wohl etwas Wünschenswerthes, aber sie kann durch Krankheit und Alter leicht entrissen werden; wie denn überhaupt Derjenige, der auf seine Körperstärke sich viel einbildet, überzeugt seyn darf, daß er gewaltig irrt. Denn was ist des Menschen Kraft im Vergleich mit der Kraft anderer Geschöpfe, z. B. eines Elephanten, eines Stiers oder eines Löwen. Unter Allem, was wir besitzen, ist Geistesbildung allein ein unsterbliches, göttliches Gut.”
Auf Dauer ist das etwas anstrengend. Aber man kann die Lektüre ja kürzer oder ausgedehnter halten. Und unter viel Skurrilem leuchten die zeitlosen Sätze umso heller. Oder mit Goethe: „Hab immer den Plutarch gelesen. / »Was hast du denn dabei gelernt?« / Sind eben alles Menschen gewesen.”
Plutarch, Moralia. Herausgegeben von Christian Weise und Manuel Vogel.2 Bde., ca. 1920 S., geb., € 39,95
von Uwe Walter erschienen in Antike und Abendland ein Blog von FAZ.NET.
Quelle: http://blogs.faz.net/antike/2012/11/10/in-die-bibliothek-plutarchs-moralia-in-alt-neuer-gestalt-404/
Das Elend mit dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz – jetzt auch für studentische Hilfskräfte?
Was für ein Wortmonster! Alle, die “Wissenschaftszeitvertragsgesetz” flüssig aussprechen können, sollten eine Auszeichnung dafür bekommen. Aber halt, da bleibt doch so manchem schon das Wort im Hals stecken. War da nicht etwas mit dem WissZeitVG? Richtig! Man könnte es auch den Tod der Privatdozent_innen nennen oder den Fluch der wissenschaftlichen Mitarbeiter_innen. Neuerdings fallen nach Auffassung der 15. Kammer des Landesarbeitsgerichts Berlin auch studentische Hilfskräfte unter die Fristenregelungen des Gesetzes. Sprich: wer als HiWi für die Wissenschaft rackert, bekommt diese Zeit auf die maximal sechs Jahre bis zur Promotion angerechnet. So sieht man es jedenfalls in Berlin – mit einer Rechtsauffassung, die meiner Meinung nach auf keinen Fall Schule machen darf.
Was ist hier im Urteil vom 8. August 2012 mit Aktenzeichen 15 Sa 1002/12 passiert? Offenbar erfolgt zunächst eine folgenschwere Gleichsetzung der studentischen Hilfskraftstellen mit Positionen von wissenschaftlichen Mitarbeitern. Ganz klar: Ohne Hilfskräfte geht in der Wissenschaft gar nichts; viel reale Arbeit und manche wissenschaftshistorische Entdeckung wäre ohne sie nicht denkbar. Trotzdem setzt die Tätigkeit auf Mitarbeiterstellen den Magister, Master- oder Diplomabschluss voraus. Dann beginnt die Uhr zu ticken und wird sechs Jahre lang lauter. Das Berliner Landesarbeitsgericht aber hält — gegen den gesunden Menschenverstand und die bisherige Auslegung des Gesetzes über befristete Arbeitsverträge in der Wissenschaft — fest:
“1. Nach § 2 Abs. 3 Satz 1 WissZeitVG sind alle befristeten Arbeitsverhältnisse auf die Beschäftigungshöchstdauer von sechs Jahren anzurechnen. Dies betrifft somit auch Arbeitsverträge als studentische Hilfskraft.”
Dies beißt sich mit dem Wortlaut von § 2, Abs. 3, Satz des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes:
“Zeiten eines befristeten Arbeitsverhältnisses, die vor dem Abschluss des Studiums liegen, sind auf die [...] zulässige Befristungsdauer nicht anzurechnen.” [1]
Trotz dieser sehr eindeutigen Formulierung hat das Landesarbeitsgericht die Berufung des Klägers zurück gewiesen (siehe den Langtext). Gilt von nun an in Berlin, dass eine Arbeit als wissenschaftliche Hilfskraft die wissenschaftliche Karriere verhindert? Man stelle sich das einmal auf der Verwaltungsebene vor: Mühselig wird geprüft, ob der einzustellende Mitarbeiter sich schon des Hilfskraftswesens schuldig gemacht hat… Für die Berliner Hochschulen dürfte die nun geschaffene Rechtsunsicherheit Folgen haben; für aufstrebende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ebenso. “Wir können sie leider nicht einstellen, sie waren ja schon Hilfskraft bei uns.” Na denn man tau.
Sachdienliche Hinweise zur Beendigung dieses Irrwitzes, gerne auch von juristischer Seite, bitte in den Kommentaren oder direkt an blogs /at/ maxweberstiftung.de.
[1] Ob man schon an Bachelor und Master gedacht hat, als dies so paraphiert wurde?
Quelle: http://gab.hypotheses.org/412
White Charity – Repräsentationen von “race” und “whiteness” auf Spendenplakaten von Hilfsorganisationen
Am Dienstag ist mir am Würzburger Bahnhof ein Werbeplakat der protestantischen Hilfsorganisation Diakonie aufgefallen, das an sich typisch ist für die bildliche Präsentation leidender Menschen in der Entwicklungs- und Katastrophenhilfe: als nicht-weiß, nicht-europäisch, als unmündige Kinder und als hilflose Opfer.
Die Website “White Charity” analysiert die Bildstrukturen und Wirkungen von derlei Spendenwerbeplakaten aus Sicht der Postcolonial Studies. In diesem Blog-Eintrag stelle ich diese hervorragende Seite kurz vor. Am Ende will ich an dem Diakonie-Plakat, das stellenweise über bisherige Bildstrategien hinausweist, versuchen, einige kritische Ergänzungen zu den Analysen von White Charity zu machen.
Die multimediale Website “White Chartity” der Berliner Kulturwissenschaftler/innen Carolin Philipp und Timo Kiesel analysiert die fortgesetzte Präsenz von kolonialen und rassisierten Bildstrukturen in Plakatkampagnen deutscher Hilforganisationen. Neben downloadbaren Publikationen von Kiesel und Philipp bietet die Seite eine Bibliografie, externe Links, eine Sammlung von Spendenplakaten und eine Reihe von Adbusts (ironisch-kritische Verfremdungen von Werbeplakaten). Im Zentrum des Projekts steht ein sehr gelungener Dokumentarfilm, produziert von Kiesel und Philipp, in dem eine Reihe von Interview-Partnern zu Spendenplakaten befragt werden, darunter der Politikwissenschaftler Aram Ziai, die Psychoanlytikerin Grada Kilomba und die Literaturwissenschaftlerin Peggy Piesche. Daneben kommen Vertreter/innen von Hilfsorganisationen zu Wort, die Kampagnen erklären. In den Film hineinmontiert wurden Spoken-Word-Performances von Philipp Khabo Köpsell und Animationen von Jana Döll. Die Low-Budget-Produktion erreicht damit nicht nur eine kritische Analyse der Spendenkampagnen, sondern kann den durchaus rafiniert gestalteten Werbebildern auch auf künsterlischer Ebene Paroli bieten.
“White Charity” analysiert auf klare und eindringliche Weise die rassisierte Struktur dieser Werbekampagnen, die auf die historische Narration von europäischer Überlegenheit und auf die Hilflosigkeit, das Opferdasein und die Unterlegenheit der Menschen des Südens rekurrieren. Den Hilfsorganisationen ist meist klar, dass sie damit Stereotype reproduzieren. Zugleich verweisen sie auf die Effektivität ihrer Spendenakquise, nach dem Motto: Werbung muss bestätigen nicht aufklären. Die Bilder sind also eingebettet in einen kolonialen Diskurs, in dem verunsichertes “Weiß-Sein” Selbstbestätigung durch die Viktimisierung des Anderen sucht.
Dieser Analyse kann man nur zustimmen. Der ein oder andere Punkt sollte allerdings kritisch hinterfragt werden und gibt Anlaß zur Erweiterung der Fragestellung:
1) Historischer Wandel: Die kulturwissenschaftlichen Analysen zeigen sich wenig sensibel für den historischen Wandel bildlicher Narration. Was diesen betrifft, lassen sich durchaus Hypothesen aufstellen. Zum Beispiel vermeiden Hilfsorganisationen seit einigen Jahren, “weiße” und “schwarze” Akteure zusammen abzubilden – lange Zeit und aufbauend auf den Fotografien der klassischen kolonialen Phase um 1900 wurden diese Kombinationen genutzt, um vermeintliche europäische Überlegenheit relativ explizit abzubilden. Die Kritik an solchen Bildstrukturen hat zu einer Anpassung der Werbebilder geführt, allerdings nicht in Richtung kritischer Aufklärung oder Dekonstruktion von rassistischen Stereotypen.
2) Bildliche Ebenen von Plakaten: Wie ist der Erfolg und die fortgesetzte Wirkung von Werbeplakaten zu erklären. Medienkritiker wie Susan Sontag (Regarding the Pain of Others, 2003), Luc Boltanski (Distant Suffering. Morality, Media and Politics, 1999) oder Judith Butler (Frames of War. When is Life Grievable, 2009), diagnostizieren seit Jahren eine Müdigkeit der Betrachter/innen gegenüber Bildern vom Leiden Anderer. Die ständige Gegenwart von abgebildetem Leid in Medien habe zur Abstumpfung der Betrachter/innen geführt. Warum ist das bei den Werbeplakaten der Hilfsorganisationen nicht der Fall? Diese Frage adressieren die Macher/innen von White Charity nicht. Die Antwort ist einerseits in der sich ständig verändernden Gestaltung und Anpassung der Plakate an die Sehgewohnheiten zu finden, während die stereotypen Botschaften kaum verändert werden. Gleichzeitig hebelt die Plakatwerbung zwei Aspekte aus, die Susan Sontag für die Abstumpfung der Betrachter/innen von Fotografien über das Leiden Anderer verantwortlich macht – die statische Situation des Abgebildeten (Fotografien erzählen keine Geschichten) und die fehlenden Möglichkeiten auf das Leiden zu reagieren. Ganz offensichtlich sind die Plakate und die auf ihnen präsentierten Bilder in dynamische Erzählungen mit einem Plot von der Not hin zur Errettung eingebunden. Über die Möglichkeit zu spenden werden die Betrachter zu aktiven Teilhaber/innen dieser Erzählung.
In dem Spendenplakat der Diakonie (Selbstdarstellung der Kampagne) wird dieser Wirkungszusammenhang auf ganz besondere gestalterische Weise hervorgehoben. Nicht nur wird über die Titelzeile “Die größte Katastrophe ist das Vergessen. Hunger, Gewalt, Vertreibung” eine übergeordnete Erzählung von Not und Hilfe aufgerufen. Das Plakat ist in Bild und Text in höchstem Maße referentiell – die Betonung des “Vergessens” (farblich hervorgehoben) nimmt die Kritik an dem medialen Overload und der scheinbar immer kürzer werdenden Aufmerksamkeitsfenster für die Not Anderer auf. Im nächsten Textstück erfolgt das Angebot aktiv zu werden: das Spendenkonto. Im dritten Textstück wird erneut auf Kritik reagiert: Es werden öffentliche Vorwürfe der mangelnden Effizienz von Hilfsmaßnahmen widersprochen: “Schnell. Engagiert. Wirksam”. Das Plakat selbst führt eine Debatte mit seinen Kritikern. Es repräsentiert nicht nur ein statisches Stereotyp, sondern einen ganzen Diskurs über Entwicklungshilfe, inklusive ihrer Kritiker. Förmlich dominiert wird das Plakat durch die Gestaltung der Fotografie. Sie zeigt eine Frau, die ein Kind auf dem Arm trägt. Beide wirken leidend, fast apathisch, und richten ihren Blick auf unterschiedliche Punkte hinter und neben der/m Betrachter/in. Die Frau und der Bildhintergrund sind in Grautönen und unscharf, das Kind aber in starken Farben, bunt und fokussiert, dargestellt. Das Blau der Kinderkleidung resonniert im Logo der Diakonie und im Slogan “Schnell. Engagiert. Wirksam”. Die Differenz in der Farbgestaltung und der Fokussierung bewirkt eine Dynamisierung der abgebildeten Szene im Sinne einer Verzeitlichung. Die Frau repräsentiert die Vergangenheit, das Kind die Zukunft: Ihr kann nicht mehr geholfen werden, die Hilfe muss sich auf das Kind konzentrieren. Sein Schicksal kann durch das Eingreifen des Betrachters verändert werden – die Ermächtigungsfunktion, die auch von White Charity betont wird, ist klar. Durch das farblich hervorgehobene Wort “Vergessen” im Titel des Bild wird die wahrzunehmende Verzeitlichung zudem unterstrichen.
Spendenplakate und im erweiterten Sinne die Präsentation des Leidens Anderer sind keineswegs immer gleich stereotyp, sondern unterliegen einem historischen Wandel, der – so meine Hypothese – in der Zeit nach 1900 beginnt und sehr fein an die jeweilige Diskurskonstellation gekoppelt ist. Nur so ist die Wirkmächtigkeit des Dispositivs des “Helfens” zu erklären und der dauernde Erfolg in der Stereotypisierung der Bilder von Anderen. Diese historische Dimension der “Entwicklungshilfe” ist keineswegs bereits rekonstruiert und interpretiert.
3) Differenz und Empathie: Ich arbeite gerade an einem Text, in dem ich die Struktur und die Rezeption von 100.000fach verbreiteten Werbetexte und -bildernn der katholischen Mission aus den Jahren 1880 bis 1940 für Kinder untersuche. Dahinter steht eine These: die Alterisierung, die Konstruktion des leidenden Anderen in den Texten, Bildern und Werbegegenständen der Mission, ist weit komplexer als bisher gedacht – sie produziert nicht nur Abwehr und Differenz, sondern auch Verlangen nach Nähe, und Identifikation seitens der europäischen Betrachter/innen – auf lange Sicht kann so das Entstehen neuer, globalisierter Emotionen erklärt werden: Empathie über große räumliche und kulturelle Distanz hinweg, die weit über Face-to-Face-Communities und nationale Gemeinschaften hinausgeht. Empathie und Überlegenheitsgefühl, Identifikation und Abgrenzung sind der Januskopf, der abwechselnd und zugleich mit zwei Gesichtern auf das Leiden Anderer blickt. Ohne diese Ambivalenz, die in den Postcolonial Studies noch zu oft übersehen wird, kann m.E. die Tragik einer weitgehend gescheiterten Kommunikation über die globale Nord-Süd-Beziehungen nicht erfasst werden.
Einsortiert unter:Globalgeschichte, Kolonialismus, Medien, Website

Die Register des Büros (PDF)
Tantner, Anton: Die Register des Büros. Anonymisierung und Medialisierung sozialer Beziehungen im Bureau d'adresse, Paris 1630-1643, in: Becker, Irmgard Christa (Hg.): Die Stadt als Kommunikationsraum. Reden, Schreiben und Schauen in Großstädten des Mittelalters und der Neuzeit. (=Stadt in der Geschichte. Veröffentlichungen des Südwestdeutschen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung; 36). Ostfildern: Thorbecke, 2011, S. 147-158. (PDF)
http://tantner.net/publikationen/Tantner_RegisterdesBueros_BeckerHg_2011.pdf
Institutional Repository/Phaidra: http://phaidra.univie.ac.at/o:208621