Erfahrungsbericht zur RMA Konferenz 2014

In diesem Post möchte ich von der Annual Conference der Royal Musical Association (RMA) berichten, die vom 4. bis 6. September 2014 in Leeds stattfand. Auch wenn dies thematisch nur bedingt zu meinem Blog passt, mag mein kurzer Erfahrungsbericht dennoch für den ein oder anderen interessant sein. Die RMA ist das britische Pendant der Gesellschaft für Musikforschung (GfM). In diesem Jahr feierte sie nicht nur ihr 140-jähriges Bestehen (Gründung: 1874), sondern auch das 50. Jubiläum der Jahrestagung und die 70. Wiederkehr der Verleihung des Titels „Royal“.

 

 

 

 

 

 

Zunächst zum Ablauf: Ähnlich wie bei den Jahrestagungen der GfM waren die insgesamt etwa 70 Vorträge zu 24 „Sessions“ thematisch gebündelt. Jede Session enthielt meist drei kurze Vorträge von etwa 20 Minuten, danach gab es Möglichkeit zur Diskussion. Neben eher traditionellen Themen wie Notation im Mittelalter oder „The Exotic and the Sublime in French Opera“ waren zwei Blöcke explizit auf die britische Musikgeschichte ausgerichtet, zudem gab es Ausflüge in die finnische und südamerikanische Musik. Die Panels zu „Street Music in the Late Nineteenth Century“, zu „Popular Music and Gender“ sowie zur aktuellen Thematik des elektronischen Publizierens trugen zur Breite der thematischen Aufstellung bei. Prozentual gesehen beschäftigten sich die meisten Vorträge mit einer „Kernzeit“ der Musikgeschichte von etwa 1700 bis 1910. Positiv aufgefallen ist mir, dass schon an zweiter Stelle die Vorträge zur Neuen Musik folgten, einer Zeitspanne, die ich hier grob fasse von Arnold Schönberg bis heute. Eine Session war allein dem Schaffen von Thomas Adès gewidmet, eine weitere der (De-)Konstruktion der Geschichte(n) von Elektronischer Musik. Es gab es nur einen Vortrag, der sich explizit mit der Musikwissenschaft selbst auseinandersetzte (wohlbemerkt mit der finnischen).

Hier ein kurzer Einblick in einige ausgewählte Präsentationen: David Hunter (University of Texas at Austin) wies Händels Verbindungen zur Royal Africa Company nach und zeigte, dass im 18. Jahrhundert Instrumente und Opernaufführungen zum Teil mit Geld aus Sklavenhandel finanziert wurden. Es liege in der Verantwortung der Musikwissenschaft, so Hunters Appell, diese Zusammenhänge aufzudecken. Besonders gefallen hat mir die Video-Präsentation (wegen Abwesenheit) von Joshua B. Mailman (Columbia University): Die Rede von der „Struktur“ der Musik sei metaphorisch, so seine Aussage, und impliziere etwas Statisches und sei deshalb nicht geeignet für dynamische Formen. Er schlug stattdessen die Metapher des „Vessel“ vor in Bezug auf musikalische Form: In der doppelten Bedeutung von Blutgefäß (durch das etwas fließt) und Schiff (das auf dem Fluss steuert) sei die Dualität der Zeit besser abgebildet. Diese Dualität spiegle sich wider in der Musik als Partitur (das Subjekt kann vor und zurück gehen in der Zeit) und als Klang (das Subjekt erlebt, wie die Zeit vergeht). Inwieweit man nun bei der musikalischen Analyse von Vessel statt von Struktur reden sollten, sei dahingestellt. Mailmans Überlegungen regen jedoch dazu an, fachübliche Begrifflichkeiten und ihre Implikationen zu reflektieren.

Gascia Ouzounian (Queen’s University Belfast) bot in ihrem Vortrag eine kleine Geschichte des binauralen Hörens (des Hörens mit zwei Ohren), mit dem ich mich zuvor noch nie beschäftigt hatte. Ebenso interessant war die Vorstellung des Forschungsprojekts TaCEM (Technology and Creativity in Electroacoustic Music) von Wissenschaftlern aus den Universitäten von Huddersfield und Durham. Das Projekt verfolgt das Ziel, besser zu verstehen, wie Komponisten von Elektronischer Musik arbeiten. Zu diesem Zweck wurden einige Komponisten beauftragt, mit der gleichen Technologie (zur Klangverarbeitung) ein Werk zu schreiben. Anhand von Komposition und Technologie soll dann der Entstehungsprozess des Werkes nachvollzogen werden. Ob es sich bei diesem Versuch um eine moderne Form von Quellenarbeit handelt? Kontext des Projekts ist die Problematik, dass bei Werken Elektronischer Musik nicht immer klar ist, welche Technologien dem Komponisten zur Verfügung standen. Angesicht der – für Experimente typischen – unnatürlichen Ausgangssituation ist allerdings zu fragen, wie weit die Aussagekraft der Ergebnisse reicht.

Bei der Tagung gab es auch zwei besonders exponierte Vorträge, darunter die „Peter Le Huray Lecture“, gehalten von Alexander Rehding (Harvard University). In seiner Präsentation stellte Rehding (der übrigens gebürtig aus Deutschland stammt) die These auf, dass musikalische Instrumente auch theoretische (für die Musiktheorie nutzbare) Informationen enthalten können. Dieser Vortrag ist mir besonders gut im Gedächtnis geblieben: Mit einer technisch sehr guten Powerpoint-Präsentation und einem mitreißenden Vortragsstil konnte man Rehdings Ausführungen mit Freude folgen. Die Traditionalisten unter den Musikwissenschaftler mögen nun sagen, dass es auf den Inhalt und nicht auf die Rhetorik ankomme, und dass eine (amerikanisch geprägte) Entertainment-Mentalität womöglich das Inhaltliche überblende. Ich sehe das so: Ein sehr guter Vortrag, gepaart mit einer mitreißenden Rhetorik und technisch wohlgesetztem Bildmaterial könnte die Musikwissenschaft auch für weitere nicht-akademische Kreise interessant machen …

Die „Eward J. Dent Medal“ wurde Elizabeth Eva Leach (University of Oxford) verliehen, die zahlreiche Publikationen vorzuweisen und der Alten Musik-Forschung ein neues Gesicht gegeben hat (so hieß es in der Erklärung). In ihrem Vortrag beleuchtete sie den Aspekt des Trostes in der Musik von Guillaume Machaut und verband dafür kulturgeschichtliche und psychoanalytische Ansätze mit musikwissenschaftlicher Quellenarbeit.

Zu den Vorträgen, die ich gehört habe (etwa ein Drittel aller Vorträge), kann ich folgende Einschätzung äußern: Wie überall gab es gute und weniger gute Vorträge, insbesondere in Bezug auf den Vortragsstil, aber auch bezüglich der Forschungsdesigns, deren Relevanz und Kohärenz unterschiedlich ausfielen. Positiv ist mir aufgefallen, dass jeder Vortragende gleich im ersten Satz seine Hauptthese auf den Punkt brachte, die er dann im Folgenden erläuterte und elaborierte. Das macht das Nachvollziehen von Vorträgen mit weniger gelungener Dramaturgie leichter. Allerdings hat dies in einigen Fällen auch folgendes Problem mit sich gezogen: Erst wird eine starke These geäußert, dann werden zahlreiche Fakten gesammelt und interpretiert, und schließlich wird im letzten Satz die Anfangsthese wieder aufgegriffen, ohne jedoch mehr als nur oberflächlich von den herangezogenen Quellen und Fakten untermauert zu sein. So wurde das, was zu Anfang in großen Worten versprochen wurde, nicht immer eingelöst.

Abschließend noch ein paar Bemerkungen zur allgemeinen Atmosphäre: Ein großer Aufenthaltsraum bot die Möglichkeit sich in den Kaffeepausen auszutauschen. Dabei war die  Kommunikation wenig von Formalitäten geprägt: So kam man recht schnell ins Gespräch mit anderen und hielt gerne ein wenig Smalltalk mit seinen Sitznachbarn. Das Kennenlernen und Knüpfen von Bekanntschaften wurde vielleicht auch dadurch erleichtert, dass grundsätzlich keine Titel auf den Namensschildern standen. Insgesamt herrschte eine freundliche Atmosphäre, mit kleinen Witzeleien hier und da – selbst bei der sonst so trockenen Mitgliederversammlung. Fazit: Eine gute Gelegenheit, um die englische Musikwissenschaft kennenzulernen, mit dem ein oder anderen Vorurteil aufzuräumen und die Gepflogenheiten und das Selbstverständnis der Musikwissenschaft in Deutschland und England zu vergleichen.

Quelle: http://avantmusic.hypotheses.org/222

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Kriegsgreuel in Bayern

Nachdem Gustav Adolf Mitte April 1632 den Übergang über den Lech bei Rain erzwungen hatte, war einfach kein Halten mehr. Kurfürst Maximilian flüchtete mit einigen Truppen in die Landesfestung Ingolstadt, das Land stand den Schweden offen. Doch auch wenn die Ligaarmee geschlagen war, bedeutete dies nicht, daß sich die Landbevölkerung gegenüber den Eindringlingen zurückhielt. Die Bauern wehrten sich, so gut sie konnten. Und darüber hinaus nahmen sie grausame Rache an den schwedischen Söldnern, von denen sie umgekehrt ebensowenig Schonung erwarten konnten. Wieder einmal eskalierte die Gewalt, wie schon so oft in diesen Kriegsläuften.

Eigentlich war dies kein Grund, sich darüber zu wundern, man hatte oft genug davon gehört, vielleicht sogar selbst Erfahrungen gemacht. Gleichwohl haben die Berichte, die man damals aus dem Süden des Reiches bekam, ihre Wirkung nicht verfehlt. Dies läßt sich jedenfalls an den Korrespondenzen des kurkölnischen Agent Johann van der Veecken ablesen (für das Folgende: Veecken an Kurfürst Ferdinand von Köln, Den Haag 28.5.1632, LA NRW, Abt. Rheinland, Kurköln VII 51/2 fol. 73‘ Ausf.). In seinen Briefen an Kurfürst Ferdinand wird allerdings auch der Zwiespalt deutlich, in dem er sich befand. In Den Haag nahm er in der Bevölkerung eine deutliche pro-schwedische Haltung wahr, und im Frühjahr 1632 fieberte man eindeutig mit Gustav Adolf mit: „De rebus Germaniae hic magna pro rege Swetiae apud plebem spes est“ – was Veecken als Katholik und Agent des Kurfürsten von Köln sicherlich nicht immer mit Gleichmut hat aufnehmen können.

Die Nachrichten aus Bayern berichteten von den ungeheuren Verwüstungen, die die Schweden anrichteten. Fast 400 Dörfern seien bereits in Schutt und Asche gelegt. Der Agent lieferte auch gleich eine Erklärung für die Zerstörungswut der Invasoren: Die bayerischen Soldaten hätten die schwedischen Söldner verstümmelt und ihnen Ohren und Nasen abgeschnitten („ob mutilatos a milite Bauarico milites Swecos et auribus nasisque truncatos“). Veecken war sich schon im Klaren darüber, daß Übertreibungen in Berichten über Kriegsereignisse an der Tagesordnung waren – gerade wenn es um Kriegsgreuel ging. Entsprechend schob er ganz vorsichtig nach: „an verum nescio“. Doch die Kautele war in diesem Fall gar nicht nötig. Die Berichte, die in Den Haag ankamen, übertrieben kaum. Und sie wurden bestätigt durch Zeugnisse der Gegenseite. Auch wenn er seine Erlebnisse erst einige Jahre später veröffentlichte, entspricht der Befund dem Bild, das der Schotte Robert Monro über seine Kriegserfahrungen zeichnete.

Monro befand sich 1632 in der schwedischen Armee, die damals in Bayern operierte. Der Schotte referierte durchaus im Detail von einzelnen Ereignissen, die er offenbar selbst erlebt hatte. Bei ihm ist auch von den Verstümmelungen die Rede, die die schwedischen Söldner erlitten, wenn sie in die Hände des Feindes fielen. Im Gegenzug brannten die Schweden viele Dörfer nieder [Monro, His expedition with the worthy Scots regiment (called Mac-Keyes-regiment) levied in August 1626 : P. 1.2. , London 1637, hier II, 122].

In der Forschung wird durchaus darauf verwiesen, daß diese Verwüstungen durchaus dem Kalkül des schwedischen Königs entsprachen. Gustav Adolf verfolgte hier eine Kriegführung der verbrannten Erde, die Maximilian von Bayern seine Ressourcen entziehen sollte (siehe Albrecht, Maximilian, S. 827). Weder Monro noch Veecken gingen auf diesen Aspekt ein. Beim Agenten wundert dies noch am wenigsten, er hatte sich in diesen Wochen um andere Probleme zu kümmern, die die Kriegsereignisse in seiner direkten Umgebung betrafen. Die Ereignisse im Reich und zumal in Bayern waren für ihn nur ein fernes Wetterleuchten.

Quelle: http://dkblog.hypotheses.org/529

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Webressourcen aus Nordeuropa – Fundstücke August 2014

Auch im August stehen neben einigen Neuigkeiten zu 1814 neue Digitalisierungsprojekte und Portale mit digitalisiertem Inhalt im Zentrum der Fundstücke.

Dänemark

  • Neuigkeiten aus den Staatlichen Archiven (DK)ugänglich.

Die Staatlichen Archive haben ca. 1, 3 Millionen Grundbuch-Dokumente online zugänglich gemacht: Neben nordjütischen Hypotheken- und Auflassungsurkundenprotokollen (1870-1927) stehen Real- und Namensregister von Grundbucheintragungen aus Seeland, Bornholm, Lolland-Falster und Møn im Archivalieninformationssystem Daisy zur Verfügung. In den nächsten beiden Jahren sollen weitere Dokumente eingescannt werden.

In Daisy sind auch die gesamten digitalisierten “Markbøgerne” zum Kataster Christian V. (Christian 5.’s matrikel), die Informationen über Grundbesitzverhältnisse und Bodenqualitäten enthalten, online zugänglich.

Ein weiteres, auf mehrere Jahre angelegtes, Projekt ist die Digitalisierung der Journale, Register u.ä. der dänischen Amtsarchive. Die Journale der Ämter Holbæk und Frederiksborg wie auch Teile des Amtes Hjørring in Nordjütland sind bereits digitalisiert und in Daisy recherchierbar.

Die Dansk Demografisk Database ist um zwei neue Datenbanken erweitert worden:

Weiter weisen die Staatlichen Archive darauf hin, dass ca. 7000 Kirchenbücher aus der Zeit vor 1892 in einer verbesserten Ausgabe im Laufe des Jahres 2014 in Arkivalieronline  eingestellt werden.

  • Thema: 1864

Die Schleswigsche Sammlung der Dansk Centralbibliotek for Sydslesvig hat eine Bibliografie mit neuerer Literatur zum Thema veröffentlicht.

Das von der Universität Århus betreute Portal danmarkshistorien.dk hat eine Übersicht mit Lexikonartikeln und Quellen, die sich auf den Krieg beziehen, ins Netz gestellt.

Auch Dänemarks größte Onlinesammlung militärhistorischer Karten, Zeichnungen und Fotos Forsvarets Biblioteks Digitale Fotoarkiv präsentiert seine Sammlung zum Thema.

  •  Thema: 1. Weltkrieg

Die dänischen Staatlichen Archive stellen auf Aargang 0 die Erlebnisse von Nordschleswigern während des 1. Weltkriegs vor. Die mit Quellen belegten Lebensläufe der Personen, die 1900 geboren wurden, sind als Unterrichtsmaterial aufbereitet und dienen in diesem Jahr als Grundlage für einen Schulwettbewerb.

  • Weitere Web-News aus Dänemark

Das Stadtarchiv Aarhus verwahrt jetzt das Archiv über die Rettung des kulturhistorisch bedeutenden Bahnhofs  Østbanegård, der 1877 als Hauptbahnhof für die neu gegründete Aarhus-Ryomgård-Bahn diente und 1984 vom Abriss bedroht war.
Ausblick: Das Stadtarchiv Aarhus digitalisiert derzeit das umfangreichen Bildarchiv Århus Stiftstidendes arkiv, das Ereignisse und das Alltagleben in Aarhus seit den 1930er Jahren dokumentiert und im Herbst 2014 online gestellt werden soll.

Das dänische Nationalmuseum hat zum jetzigen Zeitpunkt bereits 50.000 Fotos und Bilder aus ihrer umfangreichen Sammlung in der Datenbank Samlinger Online ins Netz gestellt. Im Lauf des nächsten Jahres soll die Sammlung auf 500.000 Bilder anwachsen. Die Fotos erhalten die Creative Commons-Lizenz BY-SA.

Die Königliche Bibliothek hat in ihre Datenbank Varehuse, die bisher nur die digitalisierten Kataloge des inzwischen geschlossenen Daells Varehus enthielt, Kataloge weiterer Warenhäuser aufgenommen.
Auch die von Oscar Preisler ausgearbeitete medizinhistorische Bibliografie Bibliotheca Medica Danica steht nun überarbeitet als Dansk medicinhistorisk bibliografi 1479-1913 online zur Verfügung.

Das Archiv in Slagelse hat begonnen, Steuerlisten (Mandtalslister) zu digitalisieren. Online sind bisher die Listen von 1882-86 und 1895 einsehbar.

Zur Schulgeschichte hat das Stadtarchiv Esbjerg vier Filme online gestellt, die u. a. den Unterricht von Kindern auf dem Land vor 1814 dokumentieren.

Schweden/ Norwegen

  • Thema: 1814

Nachdem der norwegische König Christian Frederik bereits aus seinem digitalisierten Tagebuch über den Zeitraum 1813-1814 twitterte (siehe dazu den Post vom Januar 2014), kann man nun auch seinen Tweets zu den Ereignissen des Jahres 1814 folgen: Statsraad1814.

  • Schweden/ Norwegen

Auf Flickr wurden weitere Fotos des schwedischen Ingenieurs Fredrik Daniel Bruno (1882–1971), der in den 1940er und -50er Jahren auf seinen Reisen durch Norwegen und Schweden Städte und Landschaften fotografierte, hochgeladen.

  • Norwegen

Das norwegische Reichsarchiv hat digitalisierte Dokumente zum Passzwang, der zwischen 1661-1814 in Norwegen obligatorisch war, in einem Register zur Verfügung gestellt.

Quelle: http://nordichistoryblog.hypotheses.org/2493

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Warum wählen wir? Funktionen und Bedeutungen von Wahlen im 19. Jahrhundert (Gastbeitrag Hedwig Richter)

Hedwig Richter ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Allgemeine Geschichte der Neuesten Zeit an der Universität Greifswald. Der nachstehende Beitrag skizziert und illustriert ihr laufendes Habilitationsvorhaben „Kulturgeschichte der Wahlen. Funktionen und Bedeutungen von politischen Wahlen in Deutschland und den USA im 19. Jahrhundert“. Über die von ihr und Hubertus Buchstein zu demselben Themenbereich organisierte Tagung „Culture and Practice of Elections“ im Mai 2014 wurde auf diesem Blog bereits mehrfach berichtet. Für die Bereitstellung des hier veröffentlichten Textes sei Frau Richter herzlichst gedankt. Warum geht alle […]

Quelle: http://achtundvierzig.hypotheses.org/740

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Linkdossier 2: „Im Gedenkjahr nichts Neues?“ Der Erste Weltkrieg und die Zukunft Europas

Aus der Vielzahl der Beiträge zum Gedenkjahr haben wir hier erneut eine Auswahl getroffen um Ihnen einige Denkanstöße für unsere Veranstalltung “Im Gedenkjahr nichts Neues?” Der Erste Weltkrieg und die Zukunft Europas zu geben.

All Quiet on the French Front: France Remembers World War I

Sylvie Kauffmann, Chefredakteurin und Kollumnistin der Le Monde, vergleicht in ihrem Kommentar in der New York Times das Erinnerungsjahr in Frankreich, Deutschand und Großbritannien:

What is more perplexing is that, for a country so prompt to disagree on almost everything, the surge of interest in the war hasn’t set off any new debate. Even the historians agree: This is a very consensual centennial. We don’t feel like looking beyond our attics and official databanks. While our German and British neighbors have been passionately debating theories about the origins of the war or its utility, all is quiet on the French front.

 

Erster Weltkrieg: Anderes Land, anderer Krieg

Auch in diesem Artikel der Zeit wird die Erinnerung an den Krieg aus transregionaler Perspektive erläutert und dabei Bezug auf die heutige gesellschaftliche und politische Situation genommen: In Frankreich beschweren sich Rechtsextreme, dass die Gegner des Algerienkrieges bei der Militärparade am Nationalfeiertag teilnehmen, in Algerien fordert man derweil eine Entschuldigung für die Verbrechen der Kolonialzeit. Für Indien spielt der Krieg eine vollkommen andere Rolle und wird oft als erster Schritt in Richtung Unabhängigkeit von den Briten gesehen – diese wiederum inszenieren die Kriegserinnerung möglichst emotional und gerne auch in der Popkultur.

 

Der Erste Weltkrieg in bewegten Bildern

In Zusammenarbeit mit dem Guardian präsentiert die Süddeutsche Zeitung eine interaktive Grafik mit Filmmaterial aus dem Ersten Weltkrieg. Historiker aus mehreren Ländern geben dabei Analysen und Hintergrundinformationen zu dem Kriegsgeschehen. Die Beiträge sind in englischer Sprache mit deutschen Untertiteln.

 

1914: What Historians Don’t Know about the Causes of the First World War

Hören Sie sich hier die Aufzeichnung der Diskussion “1914: What Historians Don’t Know about the Causes of the First World War” vom 18. Juni an. Im DHI London diskutieren Margaret MacMillan, Annika Mombauer, Sönke Neitzel und John Röhl unter der Leitung von Mark Hewitson über den Grund des Kriegsausbruchs. Obwohl Andreas Gestrich, Direktor des DHIs, treffend feststellt, dass “jeden Tag ein Buch über den Ersten Weltkrieg erscheint und wahrscheinlich jede Sekunde eine Veranstaltung stattfindet – zumindest in London” geht die Meinung der Historiker bezüglich der Gründe des Krieges, und somit auch der Schuldfrage, stark auseinander.

 

Quelle: http://gid.hypotheses.org/1129

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Tipp: Schlager von 1914 oder Hip-Hop von 2014?

Was auf den ersten Blick aussieht wie zwei Musikrichtungen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, ist gar nicht so leicht auseinander zu halten. Könnte nicht folgender Text aus einem Berliner Lied aus dem 19. Jahrhundert auch von Rapper Bushido sein?

Mutter, der Mann mit dem Koks ist da.
Junge, halts Maul, ich weiß es ja
Hab ich denn Geld? Hast du denn Geld?
Wer hat denn den Mann mit dem Koks bestellt?

 

Machen Sie selbst den Test: Wie gut können Sie Songtexte der Gassenhauer von 1914 von kontemporärem deutschen Hip-Hop unterscheiden?

Quelle: http://wwc.hypotheses.org/397

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Unsterblichkeit (II): Die “Acht Unsterblichen der Weinschale”

Der in der Zeit der Tang-Dynastie lebende Dichter Du Fu 杜甫 (712-770)1 setzte in einem seiner Werke den “acht Unsterblichen der Weinschale” (yin zhong baxian 飲中八仙) – allesamt Dichter und Kalligraphen im China des 8. Jh. n. Chr. – ein literarisches Denkmal.2

Ohne hier weiter auf die Kulturgeschichte alkoholischer Getränke in China einzugehen, soll  lediglich bemerkt werden, dass “das, was traditionell mit Wein übersetzt wird, von der Art der Herstellung her Bier” war.3

Hier nun die Informationen, die sich aus dem Gedicht über die acht Weinliebhaber gewinnen lassen4:

Die Trunkenheit des He Zhizhang  賀知章äußerte sich offensichtlich in sehr unruhigen Bewegungen, wenn er auf seinem Pferd saß, und er lief stets Gefahr, schlafwandelnd in einen Brunnen zu fallen.

Der Prinz von Ruyang [Li Jin, 汝陽王李進] trank drei dou 鬥 (also ca. 30 Liter!) ehe er sich an den Hof begab. Wenn der Wagen eines Weinproduzenten vorbeifuhr, lief ihm das Wasser im Mund zusammen und sein Wunsch war es, zum Herrn der Weinquellen berufen zu werden.

Der Zweite Minister [Li Shizhi 李適之] gab große Summen für (alkoholische Getränke aus, die er verschlang wie ein Wal das Wasser. Dennoch sagte er, dass er das Unvermischte liebe und das Gespaltene vermeide.

Cui Zongzhi 崔宗之war jung, schön und ohne Sorgen. Mit sanftem Blick hob er die Weinschale gen Himmel und stand da wie ein leuchtender Jadebaum im Wind.

Su Jin 蘇晉 war ein strenger Vegetarier, der einen gestickten Buddha verehrte und er erfreute sich an seinen Entgleisungen in alkoholisiertem Zustand.

Für ein dou (also ca. 10 Liter) Wein würde  Li Bai 李白(701-762) hundert Gedichte schreiben und sich in einer Weinschenke der Hauptstadt Chang’an 長安 (dem heutigen Xi’an 西安) zur Ruhe legen. Den kaiserlichen Befehl, mit an Bord eines Schiffes zu gehen, wies er zurück, da er sich als “Unsterblicher der Weinschale” (jiu zhong xian 酒中仙) sah.

Nach dem Genuss von drei Bechern Wein würde Zhang Xu 張旭 selbst vor Würdenträgern seine Mütze hinwerfen und aus seinem Pinsel Wolken auf das Papier fließen lassen.

Jiao Sui 焦遂 braucht mindestens fünf dou (also ca. 50 Liter), um wach zu sein. Dann aber beteiligt er sich mit glänzender Rhetorik an Diskussionen.

Die Gruppe dieser acht Männer wurde auch in der ostasiatischen Malerei wiederholt dargestellt und kann in der Regel leicht durch die diese umgebenden Weinbecher und Weinflaschen identifiziert werden. Eine der berühmtesten Darstellungen stammt von Zhang Wu 張渥 (14. Jh.), der Kopie eines Werkes von Zhao Mengfu 趙孟頫 (1254-1322), das allerdings verloren ist.5 Auch bei japanischen Malern war das Motiv der “acht Unsterblichen der Weinschale” bis ins 19. Jahrhundert verbreitet6

  1. Zur Biographie vgl.  etwa den Eintrag “Du Fu” in Volker Klöpsch, Eva Müller (Hg.): Lexikon der chinesischen Literatur (München 2004) 74-76. Zum dichterischen Werk des Du Fu vgl. Wolfgang Kubin: Die chinesische Dichtkunst. Von den Anfängen bis zum Ende der Kaiserzeit (Geschichte der chinesischen Literatur, Bd. 1, München 2002) 150-170.
  2. Du Fu: “Yin zhong baxian ge 飲中八仙歌”, Zum chinesischen Original vgl. Quan Tangshi 全唐詩 [Vollständige Sammlung der Gedichte aus der Zeit der Tang-Dynastie], Kap. 216 [Online-Version: Chinese Text Project]“; zu deutschsprachigen Übersetzungen in Anthologien mit chinesischen Dichtungen vgl. Gu Zhengxiang: Anthologien mit chinesischen Dichtungen (Übersetzte Literatur in deutschsprachigen Anthologien. Eine Bibliographie, 6. Teilband, hg. von Helga Eßmann und Fritz Paul; Stuttgart 2002) 96.
  3. Vgl. dazu Jochen Kandel (Übers. u. Hg.): Das chinesische Brevier vom weinseligen Leben. Heitere Gedichte, beschwingte Lieder und trunkene Balladen der großen Poeten aus dem Reich der Mitte (Bern 1985) 6.
  4. Der Inhalt des Gedichts wurde neben dem chinesischen Original auch auf der Grundlage folgender Übersetzungen wiedergegeben: Kandel: Das chinesische Brevier vom weinseligen Leben, 91 f. sowie die deutsche Fassung in China und Japan in Buchkunst und Graphik. Vergangenheit und Gegenwart. Stiftung aus der Sammlung Dr. Ulrich von Kritter an das Gutenberg Museum Mainz (Mainz 1985) 40.  Zitiert nach Bruno J. Richtsfeld: “Onorato Martucci und sein ‘chinesisches Museum’.” In:  Claudius C. Müller, et. al. (Hg.): Exotische Welten. Aus den völkerkundlichen Sammlungen der Wittelsbacher 1806-1848 (Dettelbach 2007), 203 f.
  5. Vgl. dazu Patricia Bjaaland Welch: Chinese Art. A Guide to Motifs and Visual Imagery (Singapore 2008) 183 Anm. 19).
  6. Vgl. ebd., 182 Fig. 26. Zum dort abgebildeten Werk des Soga Shōhaku (1730-1781) vgl. The Cleveland Museum of Art: The Eight Immortals of the Wine Cup.  Ein weiteres Beispiel dafür ist ein Werk des Onishi Chinnen (1792-1851). Vgl. dazu British Museum: Inchu hassen (Eight Immortals of the Wine Cup), dort auch eine englische Übersetzung des oben zitierten Gedichts.

Quelle: http://wenhua.hypotheses.org/1366

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Vor 75 Jahren begann der Zweite Weltkrieg

Der Überfall auf Polen aus der Sicht eines deutschen Soldaten von Manuel Schwanse    „Seit einigen Stunden ist Krieg! Wir haben seine ersten Schüsse hier vor uns miterlebt mit Artillerie- und kurzen Mg-Feuerstößen. Etwas unheimlich und ungewiß steht dahinter das Schicksal mit verhülltem Antlitz.“ So begann Joachim Eikenberg (1902-1988) seinen Tagebucheintrag am 1. September 1939, dem ersten Tag des Polenfeldzugs, der den Zweiten Weltkrieg in Europa auslöste. Für die Soldaten der dritten Batterie des I. Flakregiments 36 kam der Überfall auf Polen freilich nicht […]

Quelle: http://amuc.hypotheses.org/222

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Der digitale Superstore der Erinnerungskultur: Vor 20 Jahren wurde Spielbergs Shoah Foundation gegründet

„Steven Spielberg Announces Creation of Survivors of the Shoah Visual History Foundation to document the largest library of Holocaust survivor testimonies ever recorded.“

So heißt es am 31. August 1994 in einer Pressemitteilung. Ein Jahr zuvor war Schindlers Liste in die Kinos gekommen. Mit dem Film über den deutschen Entrepreneur-Industriellen und Lebemann Oskar Schindler, der das Leben von etwa 1.200 jüdischen Zwangsarbeitern rettete, hatte der Regisseur von Der weiße Hai (1975), E.T. (1982), Indiana Jones (1981, 1984, 1989) und zahlreichen weiteren box-office hits eindrucksvoll bewiesen, dass er auch große historische Geschichten erzählen konnte. Im Anschluss an den überaus erfolgreichen Film (sieben Oskars!) gründete Spielberg die Survivors of the Shoah Visual Foundation. Ein eindrücklicher Gründungsmythos umweht die Entstehung der Stiftung. Spielberg berichtete, wie während der Dreharbeiten immer wieder Überlebende, die als Berater am Set waren, auf ihn zugekommen seien, um ihm ihre persönlichen Geschichten zu erzählen: „I kept saying to them, ‚Thank you for telling me, but I wish you say this to a camera because this is important testimony.’ I asked them if they’d be willing to do this and they all said yes.“[1]

Der daraus resultierende Entschluss, weltweit 50.000 Holocaust-Überlebende zu interviewen, bedeutete ein – im Vergleich zu anderen, nicht nur den Holocaust betreffenden Oral History-Archiven – gigantisches Unterfangen. Zunächst wurden Interviews in Los Angeles und Umgebung aufgenommen, anschließend in Florida und New York. Anfang 1995 wurde die Stiftung auch im Ausland tätig. Es wurden insgesamt 39 Regionalbüros auf fünf Kontinenten errichtet. Binnen dreier Jahre, so der Plan, sollten die Interviewaufnahmen abgeschlossen sein. Es dauerte dann doch einige Jahre länger, was jedoch nicht daran lag, dass die Ziele nicht früher hätten erreicht werden können, sondern dass die Produktion der Interviews nicht von einem Tag auf den anderen gestoppt werden konnte. Das beispiellose Projekt wäre ohne die Erfahrungen in der Logistik großer Filmproduktionen wohl nicht zum Erfolg gebracht worden. Die Nähe zu Hollywood ließ sich auch in anderen Bereichen nicht leugnen: Die Direktoren der Shoah Foundation waren die Regisseure und Produzenten James Moll und June Beallor. In den ersten elf Jahren ihrer Existenz hatte die Stiftung ihre Geschäftsräume zudem in einem trailer park auf dem Gelände der Universal Studios und war somit „the only Holocaust-studies center, it seems safe to say, ever situated on a Hollywood studio lot“.[2] 2006 wurde die Stiftung schließlich an die University of Southern California (USC) in Los Angeles angegliedert und durch diesen Umzug akademisch aufgewertet.

Die Shoah Foundation war jedoch keinesfalls die erste Initiative, die Interviews mit Holocaust-Überlebenden führte und diese auf Ton- oder Videoband aufnahm. Bereits unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurden vereinzelt Interviews geführt. In den späten 1970er und 1980er Jahren lässt sich dann ein regelrechter Boom verzeichnen. Eine Reihe sozio-kultureller und sozio-politischer Prozesse und Ereignisse (hierzu zählen beispielsweise der Jom-Kippur-Krieg, aber auch der Vietnamkrieg oder die amerikanische Bürgerrechtsbewegung) hatten den Holocaust allmählich in das Zentrum der Erinnerungskultur gerückt und mit der allgemeinen Hinwendung zur Alltags- und Kulturgeschichte fanden letztendlich auch die Überlebenden das Interesse einer breiteren Öffentlichkeit. Die Ära der Zeitzeugen begann, wie es von Annette Wieviorka und anderen apostrophiert wurde.[3] Mehr als 125 Archive, Museen, Stiftungen, Graswurzelbewegungen, historical societies, Vereine, survivors organizations oder Universitäten hatten allein in den Vereinigten Staaten vor 1994 die Erinnerungen von Überlebenden und anderen Zeitzeugen des Holocaust technisch konserviert.[4]

Diese Initiativen sahen ihre Bemühungen durch das $100 million project[5] von Steven Spielberg gefährdet und standen der Shoah Foundation dementsprechend kritisch gegenüber. Als geniuses at organizations, die ansonsten keine Vorstellung von der inhaltlichen Bedeutung von oral history hätten, wurde die Stiftung beispielsweise in einem internen Memorandum des U.S. Holocaust Memorial Museums, selbst ein Schwergewicht der Erinnerungskultur, bezeichnet. Wieviorka, die für ein anderes amerikanisches Oral History-Archiv Interviews mit Holocaust-Überlebenden in Frankreich aufgenommen hatte, verglich die Shoah Foundation mit einem superstore, der die Existenz der kleinen Krämer bedrohte, die zuvor das Feld der Zeitzeugeninterviews dominiert hätten.[6] Es ist durchaus nachvollziehbar, dass etablierte Oral History-Archive die Shoah Foundation als Wal-Mart der Erinnerungskultur erlebten. Wo sie antrat, war nicht mehr viel Platz für andere. Zuvor hatten lokale Initiativen das Feld dominiert – beziehungsweise Einrichtungen wie das Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies oder das U.S. Holocaust Memorial Museum, die oft mit lokalen Projekten kooperierten. Etablierte Organisationen konnten sich zwar noch halten, es wurden jedoch keine neuen mehr gegründet. Die dynamische Ausdifferenzierung, die die 1980er und frühen 1990er Jahre gekennzeichnet hatte, war zu einem Ende gekommen. Den verbliebenen Oral History-Archiven wurde schnell klar, dass es sich bei den Aktivitäten der Shoah Foundation nicht um ein Strohfeuer handelte, sondern dass diese für Jahrzehnte die Erinnerungskultur prägen würde. So erklärten sich die etablierten Archive zögerlich bereit, Kooperationen einzugehen, die jedoch nicht die Aufnahme von Interviews zum Ziel hatten, sondern vielmehr deren Konservierung und Verbreitung.

Bei der Aufnahme der Interviews orientierte sich die Shoah Foundation (abgesehen von der außerordentlichen Logistik) an bewährten Methoden der Oral History. Innovativ war die Stiftung vor allem bei der Verbreitung und Bearbeitung der Interviews. Ein übergeordnetes Ziel war es stets, die Interviews einer möglichst breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, um so den Handlungsrahmen einer ritualisierten Erinnerung zu erweitern. Bevor ein überall verbreitetes Internet es erlaubte, die Interviews von zuhause aus anzuschauen, gab es eine kurze Zwischenphase, in der der Austausch an das besonders leistungsfähige Internet2 gebunden war, das Universitäten in den USA und später auch in Europa miteinander verband. Inzwischen wurde ein Netzwerk von 48 Universitäten in Nordamerika, Europa, Israel und Australien errichtet, von denen die Interviews abrufbar sind. Sie müssen einige Stunden im Voraus bestellt werden, um sie auf das Campusnetzwerk zu laden und an stationären Computern anzusehen. Mittlerweile sind jedoch über 1.200 Interviews der Shoah Foundation auch online von jedem Ort zugänglich und es werden stetig mehr.

Einen weiteren Schwerpunkt bilden pädagogische Programme, die auf dem Internet basieren. So zum Beispiel das Projekt IWitness, das Schüler und Studenten auffordert, die Videointerviews nicht nur anzuschauen, sondern am Computer zu bearbeiten. Die Interviews können zusammengeschnitten und mit eigenen Filmaufnahmen, Musik, Bildern oder Begleitkommentaren versehen werden. So lassen sich eigene kurze Dokumentarfilme erstellen. Hinter den multimedialen Möglichkeiten verschwindet jedoch zunehmend die Geschichte. IWitness wird nicht in erster Linie als Angebot beworben, den Zugang zur Geschichte und zu den schwierig zu rezipierenden Zeitzeugenberichten zu ermöglichen, sondern als Werkzeug zum Aufbau wichtiger digitaler, medialer und informationstechnologischer Fähigkeiten, die im 21. Jahrhundert notwendig seien.[7]

Die jüngste technologische Entwicklung ist ein Hologramm, das durch modernste Spracherkennungssoftware und holografische Projektionstechnologie eine möglichst unmittelbare Gesprächssituation imitieren soll.[8] Das Bild beziehungsweise Hologramm von Überlebenden kann in einen Raum projiziert werden und simuliert so eine „natürliche“ Gesprächssituation, die möglichst auch diejenigen mitnimmt und berührt, die zu den „talking heads“ der videographierten Interviews keinen Zugang finden. Hier muss sich jedoch noch herausstellen, ob es sich tatsächlich um eine Zukunftstechnologie handelt, die eine authentische Begegnung mit zwischenzeitlich verstorbenen Überlebenden ermöglicht (wie seltsam das auch klingen mag), oder ob es als Marketing-Gag der Shoah Foundation verpufft, die unvoreingenommen verschiedene technologische Innovationen testet.

Bereits vor 15 Jahren, als das Ausmaß und die Pläne der Shoah Foundation gerade absehbar geworden waren, wurde bereits vorausgesagt, dass die Digitalisierung und allgegenwärtige Verfügbarkeit der Interviews im Internet einer historiographischen Revolution gleichkomme.[9] Diese Prophezeiung kann heute mit Einschränkungen bestätigt werden. Die Geschichtswissenschaft wie auch die Erinnerungskultur wurden vom digital turn erfasst. Die Shoah Foundation spielt(e) hier eine Vorreiterrolle. Es bleibt abzuwarten, ob Neuerungen wie IWitness oder das Hologramm den Zugriff auf die Oral History Interviews und die dahinter stehende Geschichte weiter transformieren. Bereits der „simple“ digitale Zugriff auf abertausende Stunden Ton- und Videozeugnisse hat viel bewirkt. Das Internet ist die Technologie, die den Zeitzeugeninterviews einen zentralen Platz in der Erinnerungskultur einräumt und trotzdem deren Komplexität und Sperrigkeit bewahrt. Gleichzeitig fordern die interaktiven Möglichkeiten möglicherweise die Vorherrschaft eines linearen Narrativs heraus, das mit dem Akt des Zeugnisablegens verbunden ist. Nicht zuletzt aufgrund der Tätigkeit der Shoah Foundation bilden Interviews mit Überlebenden und die digitale Entwicklung einen zentralen Verbindungspunkt, an dem auch in Zukunft Raum und Zeit der Holocaust-Erinnerung ausgehandelt werden.

Die Shoah Foundation hat somit ihr Versprechen eingelöst (wenn auch auf Kosten anderer Initiativen), das sie bereits im August 1994 mit erstaunlicher Genauigkeit prognostiziert hatte: „The Foundation’s plans include the design of a breakthrough multi-media database system to archive, manage and navigate through what will be an unprecedented mass of historical material.“

[1] Jeanette Friedman, „Steven Spielberg. Partner in History“, Lifestyles 5757 (1997): 22.

[2] Stephen J. Dubner, „Steven the Good“, in: Lester D. Friedman und Brent Notbohm (Hg.), Steven Spielberg. Interviews (Jackson: University Press of Mississippi, 2000), 234.

[3] Annette Wieviorka, The Era of the Witness, übersetzt von Jared Stark (Ithaca: Cornell University Press, 2006 [franz. 1998]).

[4] Die Zahlen ergeben sich aus eigenen Berechnungen und aus U.S. Holocaust Memorial Museum, International Database of Oral History Testimonies (Washington, D.C.), http://www.ushmm.org/online/oral-history/.

[5] Peter Novick, The Holocaust in American Life (New York: Houghton Mifflin, 1999), 275.

[6] Wieviorka, Era, 125.

[7] USC Shoah Foundation: The Institute for Visual History and Education, IWitness Overview (Los Angeles 2014), http://sfi.usc.edu/content/iwitness-overview.

[8] Bernd Körte-Braun, Erinnern in der Zukunft. Frag das Hologramm (Die Internationale Schule für Holocaust-Studien (ISHS), 2014), http://www.yadvashem.org/yv/de/education/newsletter/10/article_korte.asp.

[9] Wieviorka, Era, 116f.

Quelle: http://fyg.hypotheses.org/208

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Aus der “Fluchtkiste” ins WWW: Einblicke in die rheinischen Adelsarchive auf Schloss Ehreshoven

Gängige Archivklischees von schmucklosen Archivräumen und einer eher amtsstubenmäßigen Atmosphäre werden auf Schloss Ehreshoven in Engelskirchen im bergischen Land nicht bedient. Und auch die hier archivfachlich professionell durch den Landschaftsverband Rheinland verwahrten Bestände der Vereinigten Adelsarchive im Rheinland e.V. können als durchaus außergewöhnliche „Fundgrube“ für Historiker bezeichnet werden. Grund genug, sie im Ansschluss an die Online-Stellung der Netzbiographie zum Fürsten und Altgrafen Joseph zu Salm-Reifferscheidt-Dyck in einem Blogbeitrag vorzustellen…

Zugegeben: Es gibt tristere Orte, die ein Historiker auf der Suche nach den entscheidenden Quellen für seine Arbeit mitunter aufsuchen muss. Vor den vom Wassergraben gespiegelten Mauern des Schlosses Ehreshoven waiden im Sommer auf sattgrünen Wiesen zottelige Hochlandrinder. Nicht selten kommt es vor, dass der sich unerschrocken dem beeindruckenden Steintor nähernde Besucher Kamerateams ausweichen muss, die hektisch gestikulierend darum bemüht sind, Schauspieler ins rechte Licht zu rücken.

Schloss Ehreshoven, Außentor

Außentor des Schlosses Ehreshoven in Engelskirchen bei Overath mit Blick auf das Schloss (Foto/Rechte: Hans-Werner Langbrandtner).

Es besteht also kein Zweifel daran, dass auch das altehrwürdige Ehreshoven, dessen Geschichte bis in das Jahr 1355 zurückverfolgt werden kann, in der Moderne angekommen ist. War das Schloss vom Spätmittelalter bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts im Besitz der rheinischen Grafenfamilie von Nesselrode-Ehreshoven, so beheimatet es heute ein adeliges Damenstift der Rheinischen Ritterschaft. Die Produktion der öffentlich-rechtlichen Vorabendserie “Verbotene Liebe”, die hier in Teilen produziert wird, hat das Schloss auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht (zu diesen und weiteren Informationen siehe Homepage Stift Ehreshoven)

Die langersehnte Auflösung des „Cliff-Hangers“ wartet für (Kunst-)Historiker allerdings in einem Seitenteil der Vorburg. Hier werden die Archivbestände der Vereinigten Adelsarchive im Rheinland e.V. archivfachlich durch das Archivberatungs- und Fortbildungszentrum des Landschaftsverbands Rheinland (AFZ-LVR) betreut und verwahrt. Die Bestände umfassen dabei derzeit allein auf Ehreshoven 21 Familienarchive so bekannter Adelsfamilien des nördlichen Rheinlands, wie der Grafen Wolff Metternich zur Gracht, der Grafen von Hoensbroech, der Freiherren von Fürstenberg, der Freiherren Geyr von Schweppenburg oder der Freiherren von und zu Gymnich. Darüber hinaus sind 29 weitere Adelsarchive am Wohnort der jeweiligen Familien benutzbar. Da es sich um Privatarchive handelt, ist eine vorherige Anmeldung bzw. Benutzungsanfrage über das AFZ erforderlich. Eine Übersicht der Bestände, die auch als pdf-Datei auf den Seiten des AFZ  abrufbar ist, gibt hierüber erste Auskunft.

Die Eingangs des Magazins ausgestellte „Fluchtkiste“ aus dem 17. Jahrhundert, in der einst das Archiv der Grafen Wolff Metternich zu Gracht verwahrt und bei Gefahr zum Stadtpalais in Köln geflüchtet werden konnte, kann nur kurz von den eigentlichen Dimensionen der Archivregale ablenken, deren Inhalt noch auf Jahrzehnte hinaus Material für wissenschaftliche Forschungen bieten dürfte.

Archivkiste Gracht

“Fluchtkiste” des Grachter Archivs aus dem 17. Jahrhundert im Magazin der Vereinigten Adelsarchive im Rheinland e.V. auf Schloss Ehreshoven (Foto/Rechte: Hans-Werner Langbrandnter).

 

Archivregale Ehreshoven Langbrandtner

“Laufende Meter” – Archivregale im Magazin der Vereinigten Adelsarchive im Rheinland e.V. auf Schloss Ehreshoven (Foto/Rechte: Hans-Werner Langrbrandtner).

Was erwartet den Benutzer konkret in den Beständen? Bereits ein Blick in die diversen im AFZ in der Abtei Brauweiler einsehbaren Findbücher der Einzelarchive offenbart ein breites Quellenrepertoire. Neben mittelalterlichen Urkunden, Kataster-, Rechnungs- und Tagebüchern aus der Frühen Neuzeit finden sich durchaus zahlreiche „moderne“ Quellen zur Adelsgeschichte wie Fotografien und Briefwechsel des frühen 20. Jahrhunderts. Die Einblicke, die für Historiker über diese hier nur ansatzweise skizzierten Deposita in die adligen Lebenswelten möglich sind, sind somit zeitlich ausgreifend. Vergleichende Fragestellungen auf Grundlage des hier vorhandenen Archivmaterials sind somit über die in der Netzbiographie vorgestellte schillernde Person des Fürsten und Altgrafen Joseph zu Salm-Reifferscheidt-Dyck hinaus denkbar.

Archiv Dyck Ehreshoven

Front eines Archivregals im Magazin der Vereinigten Adelsarchive im Rheinland e.V. auf Schloss Ehreshoven mit Blick auf Dycker Archivquellen (Foto/Rechte: Hans-Werner Langbrandtner).

Auch abseits rein adelsgeschichtlich ausgerichteter Fragestellungen sind die Bestände auf Schloss Ehreshoven beachtenswert. Durch die mannigfaltige Einbindung des Adels in landesherrliche Herrschafts- und Verwaltungsangelegenheiten über Krisenzeiten wie die der Französischen Revolution von 1789 hinweg und seines hieraus resultierenden, ausgreifenden personalen Netzwerks, lassen sich auch Erkenntnisse zu gänzlich anders gelagerten Fragestellungen generieren. Auch hier können die diversen Beiträge der Netzbiographie als erstes Beispiel dienen, die ausgehend von genuin adelsgeschichtlichen Fragestellungen (Elisabeth Schläwe, Der junge Graf als Reiseliterat auf Kavalierstour), über kunsthistorische (Martin Wolthaus, Die Ahnengalerie der Altgrafen und Fürsten zu Salm-Reifferscheidt-Dyck), gendergeschichtliche (Elisabeth Schläwe, Die Mutter – Augusta Maria von Truchsess Zeil-Wurzach), militärgeschichtliche (Florian Schönfuß, Offizier der preußischen Landwehr), wissenschaftsgeschichtliche (Rita Hombach, Botaniker) sowie netzwerkanalytische (Gudrun Gersmann, Postrevolutionäre Netzwerke) Zugriffe bereits einige mögliche Perspektiven aufzeigen.

Aus Sicht online-affiner Historiker ist zudem zu begrüßen, dass sich neben der Familie der Grafen Wolff Metternich zur Gracht, Eigentümer des im Zuge der Netzbiographie ausgewerteten Archivs Schloss Dyck, auch andere archivbesitzende Familien des rheinischen Adels offen gegenüber einer wissenschaftlichen Aufbereitung von Archivdokumenten im „WWW“ zeigen.

In Ergänzung zu den Befunden der Netzbiographie sollen zukünftig im Blog „Rheinischer Adel – Ein geschichtswissenschaftlicher Forschungsblog“ ausgewählte Dokumente zu verschiedensten Facetten der Adelsarchive in Transkription vorgestellt werden. Ausdrücklich willkommen sind hierbei auch Gastbeiträge, gerne auch zu adelsgeschichtlichen Themen abseits des Rheinlandes.

Ob es abgesehen von Schloss Ehreshoven ebenfalls derartig idyllische und ertragreiche Arbeitsstätten für Adelshistoriker gibt? Hinweise werden mit Spannung erwartet!

Martin Otto Braun

Für die Bereitstellung der Fotografien aus den Archivräumen sowie Informationen zu den Beständen der Vereinigten Adelsarchive im Rheinland e.V. bedanke ich mich recht herzlich bei Dr. Hans-Werner Langbrandtner, Ansprechpartner für die Adelsarchive in Ehreshoven und wissenschaftlicher Archivar des Archivberatungs- und Fortbildungszentrums des Landschaftsverbands Rheinland in der Abtei Brauweiler.

Quelle: http://rhad.hypotheses.org/480

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