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Einleitung: Forscher suchen nach Inhalten
Als ich vor ein paar Jahren begann, eine virtuelle provenienzmäßige Beständebereinigung in einem nach Pertinenzen geordneten Archiv vorzunehmen und es dabei tiefer zu erschließen, gab mir das Forschungsdepartment des Hauses den Hinweis, dass Historiker nach thematischen Inhalten, nicht nach Herkunftsstellen suchten. Rückblickend war für mich damit der Startschuss gefallen, konventionelle Methoden archivischer Erschließung zu hinterfragen. Es wäre zu einfach, das Ansinnen nach themenbezogenen Suchmöglichkeiten auf beigegebene Indizes und Thesauri zu verweisen, selbst aber an der hierarchischen Erschließung auf der Grundlage des Fonds- oder des Registraturprinzips als unbedingter Krönung der Archivgutbeschreibung, vermeintlich gar nicht unreflektiert, zu beharren.
Was wäre damit gewonnen? Das zentrale Anliegen des Archivars, Archivbestände in ihren Kontexten darzustellen und zu beschreiben, verlöre seinen Wert, wenn seine Erschließungsprodukte von den Nutzern weder mehr akzeptiert noch gar verstanden würden. Am Ende könnte man verführt sein, den Archivaren die Erstellung ihrer monohierarchischen, kontextorientierten Provenienzfindbücher als Steckenpferd in ihrem Elfenbeintürmchen zuzugestehen, während zur intensiven Nutzung das käme, was in den Augen der Archivare eher die Ergänzung, das Bonbon für die Googlegeneration sein könnte: Die Schlagwortsuche, der Index, die Freitextsuche und ähnlich aufwändige Findsysteme für den amateurhaften Nutzer von der anderen Seite des tiefen Grabens, des so genannten „Archival Divide“.
Nein, das wäre kein Gewinn. Leider kann man die Probleme, die Historikerinnen und Historiker und erst recht andere Nutzergruppen mit unseren nach klassischen Methoden erstellten Findmitteln haben, nicht hinwegreden. Wir alle kennen sie aus eigener Erfahrung mit unseren Kunden. Und selbst wenn wir auf die erfahrensten Nutzer sehen: Wie viele unserer Findbücher wurden als Repräsentanten ihres Genre, also in allen ihren Teilen, studiert, wer liest die Verwaltungs- und Bestandsgeschichten oder gar die Erläuterungen zum Erschließungsprozess und die Erschließungsrichtlinien, bevor er sich an die Titelliste macht? Ist die Stufenerschließung nach ISAD(G) eine Anleitung, treffsicher Einschlaflektüre zu generieren, die nie gelesen wird? Wir kommen also nicht umhin, uns mit den veränderten Nutzeranforderungen eingehend auseinanderzusetzen und unsere Methoden ergebnisoffen zu hinterfragen.
Kontextstiftende Ordnung und konzeptuelle Einheiten
In der archivischen Erschließung wird meist zwischen den Prozessen der Ordnung und der Beschreibung unterschieden. In der deutschen Erschließungstradition ebenso wie in den Ausprägungen der nationalen Traditionen in den bekannteren internationalen Standards wie dem ISAD(G) oder dem DACS wird Erschließung auf der Grundlage eines Bestands, eines Fonds, vorgenommen und ist eine vom Allgemeinen zum Besonderen hinabsteigende mehrstufige hierarchische Repräsentation von Verzeichnungseinheiten als einer größeren Einheit. Wichtig ist es, die Bedeutung des Bestands oder Fonds als die maßgebende kontextstiftende Einheit in einem Archiv zu begreifen. Ich sage bewusst „kontextstiftend“ und nicht „kontextwahrend“, weil in den meisten Fällen Bestände nicht konzeptuell, sondern pragmatisch als physisch abgegrenzte Einheiten innerhalb eines Archivs, also eher als Schellenberg’sche Record Group denn als Fonds, verstanden werden. Dann aber sind sie vom methodischen Ansatz her bereits ein Stückweit dekontextualisiert, so dass die Erhellung der in ihnen bewahrten Kontexte bereits, ebenfalls ein Stückweit, zu einer Rekontextualisierung durch den Archivar werden kann.
Geoffrey Yeo nennt solche Bestände daher generell Collections.[1] Jennifer Meehan umschreibt die Wirkung der Fonds-Bezogenheit der Erschließung in ihrem 2014 erschienenen Aufsatz „Arrangement and Description: Between Theory and Practice“ und damit die Wirkung der traditionellen Standards geradezu entlarvend mit den folgenden Worten:
„[…] the fonds has served to codify archival description as a singular, fixed representation of a whole and its parts and as a linear, top-down process, which doesn’t adequately reflect or address the complex realities of recordkeeping.“[2]
Der Fonds steht demnach Modell für ein fixiertes Abbild, das in seiner Akkuranz den Anspruch der Singularität erhebt.
Der Abschnitt 3.5.3 des ISAD(G) zu den Related Units of Description im eigenen und in auswärtigen Archiven weicht diese Starre zwar auf, verharrt aber ebenfalls in der Vorstellung des Bestands als abgeschlossener Einheit in der Struktur der Tektonik eines Archivs. Dass der Fonds aber vielmehr eine konzeptuelle Einheit ist, ergibt sich bereits aus der Definition des Committee on Descriptive Standards des ICA im terminologischen Abschnitt des ISAD(G):
“The whole of the records, regardless of form or medium, organically created and/or accumulated and used by a particular person, family, or corporate body in the course of that creator’s activities and functions.”
In der Praxis weichen wir von der Theorie insofern ab, als wir eher selten dazu neigen, unsere Bestände nur als Teilbestände umfassenderer relationaler Korpora zu begreifen oder gar darzustellen. Vielmehr sehen wir zu ihrer Abgrenzung auf die physische Aggregation von Archivalieneinheiten in unseren jeweiligen Archiven. In Wirklichkeit aber ist es durchaus nicht selbstverständlich, dass das, was wir als Archivbestand ansehen, mit der Gesamtheit des Materials übereinstimmt, das vom selben Registraturbildner stammt. Wir alle kennen die Zerstreuung von Archivgut amtlicher Provenienzen auf staatliche Archive und Nachlässe in den Stiftungsarchiven der Parteien oder die weit verstreute historische Überlieferung des Reichssicherheitshauptamts, des Generalbauinspektors für die Reichshauptstadt sowie der Kolonial- und Besatzungsbehörden, um nur eine kleine Auswahl zu nennen. Die aufkeimenden Archivportale geben geeignete Instrumente, um dieser Verstreuung von Archivgut durch einen Rechercheverbund zu begegnen.
Wir verharren an dieser Stelle unserer Betrachtungen immer noch in der Betonung der institutionellen Herkunft als bestandsbildendem Kriterium, haben uns aber mit der Akzeptanz des Fonds als einer konzeptuellen Größe in der Frage der „kodifizierten archivischen Erschließung als singuläre und fixe Repräsentation“ desselben insoweit bewegt, als sich diese Repräsentation über die physische Archivgutaggregation in unseren Magazinen hinaus auf ein durch die gemeinsame Relation zum Bestandsabgrenzungskriterium „institutionelle Provenienz“ definiertes Rekonstrukt ausgeweitet hat.
Das eingangs erwähnte Forschungsdepartment wird auch an dieser Stelle noch einwerfen können, dass unsere Erschließung in diesem Stadium des Ordnungsprozesses in Gestalt der Beständeabgrenzung in ihrem Kern immer noch keine Anstalten macht, eine themenbezogene Herangehensweise zu unterstützen.
Terry Cook bezeichnete den Fonds als ein intellektuelles Konstrukt.[3] Er sagte dies angesichts sich schnell verändernder Strukturen und komplexer Muster im Verwaltungsaufbau und im Verwaltungsablauf in modernen Organisationen. Peter Scott kam bereits in den 1960er Jahren zu einer ähnlichen Anschauung und wurde zum Vater des australischen „Series System“.[4] Ausgehend von häufig wechselnden Strukturen und Aufgabenverteilungen, sah er, dass die Federführung bei langfristig laufenden Aktenserien häufig wechselte. Er stellte fest, dass solche Serien dadurch mehrere Registraturbildner erhielten. Daraus folgte die Einsicht, dass es möglicherweise weniger die Organisationseinheiten sind, die für die Schriftgutentstehung verantwortlich sind, als vielmehr die Aufgaben und Funktionen, die in deren Mandat liegen. Das australische Series System implizierte, dass eine Serie mehreren Fonds zuzuordnen war.
Begreifen wir Aufgaben und Funktionen als Urheber von Aktionen und Prozessen und das Archivgut als deren Repräsentation, so müssen wir unser Verständnis von Provenienz über die an Organisationen gebundene hin zu einer an Funktionen gebundenen erweitern. Wir müssen die „funktionale Provenienz“ als Bestandsabgrenzungskriterium akzeptieren.[5] Und, was unsere Traditionen weit mehr erschüttern kann: Wir müssen uns damit auseinandersetzen, dass Archivgut mehreren Beständen angehören kann, dass demnach auch die Erschließung nicht mehr eine ihrem Wesen nach einzigartige Repräsentation eines in jeder Hinsicht einmaligen und fix strukturierten Bestandes zum Ziel hat. In Anlehnung an Terry Cook bedeutet die Zuweisung von Archivgut zu jeweils einem einzigen Bestand die Verdunkelung von Kontexten, da es seine Existenz vielfältigen entstehungsursächlichen Beziehungsgemeinschaften verdankt. Diese Vielfalt gilt es bei der Erschließung sichtbar zu machen.
Kontextwahrende Beschreibung in relationalen Modellen
Die Beschreibung von Beziehungsformen, Beziehungsgemeinschaften und die ergänzende Berücksichtigung entstehungsursächlicher Funktionen kann zu einer Erschließung führen, die in der Tat eine themenbezogene Herangehensweise seitens des Nutzers unter Wahrung der Konnotation zu den Entstehungskontexten begünstigt. Entsprechende Metadaten können zugewiesen und in Normdateien erläutert werden. Durch eine verstärkte Betonung der Beschreibung von Beziehungen und Eigenschaften der Entitäten des angewandten Metadatenmodells lassen sich die Grundlagen dafür legen, die so entstehenden Erschließungsprodukte mit den Rechercheinstrumenten des Semantic Web zu nutzen. Der bestandsbildende und damit die äußere Ordnung schaffende Prozess verlagert sich auf die Identifikation dieser Beziehungen und Eigenschaften und wird damit Bestandteil des analysierenden Prozesses der Beschreibung von Archivgut.
Peter Horsman weist in seinem Aufsatz „The Last Dance of Phoenix“ darauf hin, dass bereits Peter Scott mit seinem Seriensystem die Beschreibung von Archivgut gegenüber dem physisch nachvollziehbaren Ordnungsprozess den Vorzug einräumt:
Scott added an important conceptual element by stressing the power of description, indeed, by eventually preferring description to arrangement [6]
Horsman zeigt ferner auf, dass die Diskussion darüber, ob die Bestandsabgrenzung durch den Beschreibungsprozess und nicht durch eine starre Form des Arrangement erfolgen sollte, bereits bis zum Internationalen Archivarskongress in Brüssel im Jahr 1910, der ein Meilenstein für die internationale Durchsetzung des Provenienzprinzips werden sollte, zurückreicht und in Deutschland von dem Archivar Gustav Wolf bereits frühzeitig thematisiert wurde. Dennoch bedurfte es vor allem eines Terry Cook, um diesem Ansatz in der jüngeren Archivwissenschaft erneut Beachtung zu schenken. Nun, letztlich kommt Horsman zu dem Schluss, dass die Gestalt von Archivbeständen, von Fonds, er benutzt diesen Term, durch den beschreibenden Prozess der Erschließung erfolgt. Er definiert einen Fonds quasi mit einer mathematischen Formel, indem er sagt:
A fonds (F) is any set of relationships (r1, r2, r3, etc.), where a record (a1, a2, a3, etc.) is an element in any of the identified (and non-identified) relationships. Evidently, a record can be part of two or more relationships, and two or more fonds.[7]
Damit haben wir eine neue Ebene erreicht. Um Bestände auf diese Weise identifizieren zu können, müssen die Einzelteile potentieller Fonds mit Metadaten versehen werden, deren Auswertung Beziehungsgemeinschaften zur Grundlage visualisierbarer Archivkörper machen kann. Wir benötigen dafür standardisierte Metadatensets, die maschinenlesbar sind. Geoffrey Yeo weist in einem 2012 erschienen Beitrag in der Zeitschrift „Archivaria“ darauf hin, dass es ein Proprium gerade unseres digitalen Zeitalters sei, Objekte durch das Arrangement von Metadaten zu ordnen, und nimmt dafür Bezug auf David Weinbergers Theorie der „Third Order of Order“, die gerade dadurch geschaffen wird:
This is Weinberger’s ‚third order of order,’ in which resources can be arranged into as many sequences as may be desired and users can organize their work independently of the limitations imposed by analog systems.[8]
Rufen wir uns nun erneut ins Gedächtnis, dass sich Fonds durch Beziehungsgemeinschaften abgrenzen lassen und je nach der Priorisierung dieser Gemeinschaften andere Grenzen haben, die über die einzelnen Archive hinausgehen, so ist die Standardisierung der Metadaten eines der Erfordernisse, um den Nutzern mit neuen Konzepten begegnen zu können, die einen Mehrwert für die Auswertbarkeit von Archivgut bringen; Nutzern, die längst begonnen haben, selbst Quellen zu entdecken und mit Hilfe breit angelegter Projekt zu erschließen und der Forschergemeinschaft zugänglich zu machen. Ich nenne Projekte wie CENDARI, DARIAH, EHRI und nicht zuletzt die Europeana als Pionierin im Aufbau und Einsatz wegweisender Metadatenmodelle. Wir haben es mit Nutzern zu tun, die als Historiker und Vertreter verwandter Disziplinen sich nicht nur im aktiven Zugang sondern auch in der Zugänglichmachung von Archiv- und Kulturgut emanzipiert haben, die Aufgaben übernommen haben, die ursprünglich auf dem ureigenen Terrain der Archivare lagen, die aber dabei auch umfassendere Formen der Erschließung vornehmen konnten, für die den Archiven die Ressourcen fehlten.
Die Standards zu formulieren und die erforderlichen Metadatensets vorzuhalten ist die Aufgabe der Archivare, um eine Erschließung zu gewährleisten, die sich nicht in Beliebigkeit verliert, die nicht Beziehungsgemeinschaften konstruiert, sondern in ihnen Kontexte identifiziert; eine mögliche Fehlentwicklung übrigens, die Jennifer Meehan als die Regel in der weithin gängigen Erschließungspraxis brandmarkt.[9] Die praktische Anwendung der Sets im Prozess der Beschreibung der einzelnen Archivguteinheiten ist eine Aufgabe, an der sich der emanzipierte Nutzer beteiligen kann, ja wohl beteiligen muss, um sie angesichts der kaum veränderbaren Ressourcenknappheit überhaupt ernsthaft angehen zu können.
Um Beziehungen und Eigenschaften von Entitäten eines Metadatenmodells standardisiert identifizieren und beschreiben zu können, bedarf es der Festlegung der Entitäten, mit denen man arbeiten möchte, der Beschreibung der Entitäten als Objekte, etwa in Gestalt von Normdateien (Authority Records) und eines Katalogs von Beziehungsformen und Eigenschaften, mittels derer die Verbindungen der Entitäten untereinander beschrieben werden können. Auf diese Weise gelangt man zu einem Findmittelsystem in der Gestalt eines so genannten Entity-Relationship Model (ERM), ähnlich dem im Museumsbereich angewandten CIDOC Conceptual Reference Model, das mit einem Katalog arbeitet, der auf die Verhältnisse musealer Objekte abgestimmt ist.[10] Im Bereich der Archive muss hier wohl das Conceptual Model for Archival Description in Spain von 2012 hervorgehoben werden.[11] Ansätze für die Umsetzung solcher Modelle in Datenaustauschformate finden sich zum Teil bereits im EAD-Schema, insbesondere im neuen EAD3, in dem der Beschreibung von Rollen der Entitäten größeres Gewicht eingeräumt wird.[12] Beispielsweise kann Archivgut mit Funktionen in Beziehung stehen, die einerseits entstehungsursächlich waren oder andererseits einen Nutzungskontext bezeichnen, in den das Archivgut bei einer späteren Nachnutzung zu anderen als den Ursprungszwecken gestellt wurde. Das ist mit Rollenbeschreibung gemeint. Die konsequente Durchsetzung eines Conceptual Reference Model gibt jede den Nutzer bevormundende Priorisierung des einen oder des anderen Beziehungs- oder Kontextstranges auf, beseitigt monohierarchische Tektoniken, arbeitet mit Ontologien und lässt den Nutzer an seinem PC selbst entscheiden, welche Beziehungsformen für sein konkretes Nutzungsvorhaben welche Priorität bekommen soll. Er befindet sich sozusagen vor einem Bausteinkasten von Geschichten und Namen, von stories and names, wie Wendy M. Duff und Verne Harris ihren Aufsatz über archival description as narrating records and constructing meanings betitelten, und stellt nun legitime Verknüpfungen zwischen den Bausteinen her, wodurch historische Narrative wieder aufleben.[13] Auf diese softwarebasierte Priorisierung von Information durch den Nutzer folgt die Generierung einer virtuellen Kollektion, in der Kontexte und Hierarchien zusammen mit den Archivgutbeschreibungen und den digitalen Repräsentationen angezeigt werden, möglicherweise in der äußeren Gestalt eines Findbuchs, wenn auch als temporäres und nutzungsfallbezogenes Erzeugnis.
Nachdem ein solcher Katalog von Beziehungen und Eigenschaften erstellt bzw. ein entsprechendes Datenset als dafür geeignet identifiziert und nach Möglichkeit als Linked Open Data übergreifend nutzbar ist, gilt es, um zu dem skizzierten Ergebnis zu gelangen, User zu adressieren, die sich eignen und Interesse haben, in passender technischer Umgebung den Archivalien solche Metadaten zu attributieren und möglicherweise auch selbst zur Vervollkommnung dieses Katalogs beizutragen. Von der Vorgehensweise handelt es sich dabei um eine Art von Indizierung mit vorgegebenen Werten durch den Nutzer. Weiters kann ihm erlaubt werden, zusätzliche Werte für den Katalog der Beziehungen und Eigenschaften vorzuschlagen. Diese Form der Interaktion zwischen Archiv und Nutzer, der Partizipation des Nutzers an der Erschließung, benötigt visuelle Repräsentationen des Archivguts. Ohne dass die in Frage kommenden Archivalien digitalisiert vorliegen, ist diese Form der Erschließung ebenso wenig möglich wie jede andere Art des onlinebasierten Crowdsourcing.
Die Attributierung von Eigenschaften in der geschilderten Weise muss sich übrigens nicht zwangsläufig an den Grenzen physischer Archivalieneinheiten orientieren. Das Modell des konzeptuellen Fonds ließe sich womöglich mikrokosmisch auf die konzeptuelle Archivalieneinheit ausweiten. Wenn man aber tatsächlich Beziehungsgemeinschaften zwischen Vorgängen, Dokumenten und Einträgen in die Erschließung einbeziehen möchte, so bekämen die Digitalisate eine neue Qualität. Die metadatengesteuerte Komposition von Subfile-Elementen schüfe neue semantische Einheiten, wenn man möchte, virtuelle Repräsentationen intellektueller Rekontextualisierungen. Denn es entstünden quasi Archivguteinheiten, die weder in analoger noch in digitaler Form so jemals vorgelegen hatte. Im Archiv würden auf diese Weise mehr oder weniger filigrane Informationskollektionen gebildet.
Partizipatorische Erschließung mit Social Communities
Wer könnten nun die Adressaten partizipatorischer Erschließungsformen sein?
Die zeitgleiche Arbeit am selben Archivbestand war Gegenstand eines interinstitutionellen Erschließungsprojekts von Beständen des Internationalen Suchdienstes, das ich koordiniert habe. Die adressierten Teilnehmer an der Erschließung waren in jenem Projekt Spezialisten in den Archiven von Yad Vashem und dem USHMM in Washington, D.C.
Eine Möglichkeit der Erschließung in Zusammenarbeit mit Dritten sind demnach geschlossene Kreise, die sich beispielsweise in Form der Mitarbeiter in einer kooperierenden Institution oder in Gestalt der Glieder irgendeiner anderen, unter Mitwirkung des Archivs zu konstituierenden Community konkretisieren können. Ein offenes Crowdsourcing, ein Anzapfen der „Schwarmintelligenz“, wird je unmöglicher, je höher die Anforderungen an die Qualität der Crowd sind.
Möchten wir vielleicht (lieber) von Addressed Sourcing sprechen und diesen Begriff verwenden, wenn es das Ziel ist, soziale Communities zu identifizieren, die bei der Erschließung interaktiv mit dem Archivar kooperieren? Der Schwerpunkt liegt auf dem Identifizieren und dem Kooperieren als beidseitigen Aktionen. Damit wäre dem Prosumentengedanken des Web 2.0 – wie ich meine – sehr gut Rechnung getragen. Anders als bei Crowdsourcing-Projekten, bei denen die Nutzer oft lediglich die Möglichkeit haben, Information zu rezipieren und neue Information hinzuzufügen, wären sie beim Addressed Sourcing ebenso auf die Rückmeldung des Archivars angewiesen, wie der Archivar auf die des Nutzers. Addressed Sourcing ist insofern eine dialogische, interaktive und durative Kooperation. Sie kann sich nicht auf ein punktuell fassbares Kommunikationsereignis beschränken, sondern funktioniert nur durch steten Austausch innerhalb einer längeren Verlaufsdauer.
Schluss
Web 2.0-Technologien einzusetzen, um Dritte an der archivarischen Arbeit teilnehmen zu lassen ist ein entscheidender Schritt zu einem erneuerten Ressourcenmanagement in den Archiven. Web 2.0, Addressed Sourcing, Standardisierung und emanzipierte Nutzer sind die Voraussetzung für eine erfolgreiche Partizipation. Damit gelingt die Integration der User in das archivarische Kerngeschäft. Die Nutzung von Web 2.0 und Web 2.0-Technologie führte nicht dazu, dass Nebenaufgaben aufgebläht oder völlig neue Arbeitsbereiche an Land gezogen werden, vielmehr führte sie zum Ressourcengewinn für die zentralen Aufgaben. Derartige Partzipationsformen lassen sich vermutlich auch auf andere Bereiche übertragen, etwa auf eine partizipatorische Bewertungspraxis. Wir gelangen somit vielleicht bei dem an, was man „Archiv 2.0“ nennen darf. Ich schließe mit einem Satz von Jennifer Meehan, in dem sie, anknüpfend an die Erläuterung des Begriffs Archives 2.0 durch Kate Theimer am Ende Joy Palmer zitiert:[14]
Rather, an ‚Archives 2.0‘ mode of description might encompass participatory archives, which ‚posits a more radical user orientation, where both archivists and users collaborate to build the archive itself’.
[1] „We can perceive that a collection has physicality, but a fonds, as Cook affirmed, should be seen as an intellectual construct.“ (Geoffrey Yeo, The Conceptual Fonds and the Physical Collection. In: Archivaria 73 (2012), S. 53.
[2] Jennifer Meehan, Arrangement and description: between theory and practice. In: Archives and recordkeeping: theory into practice, hg. v. Caroline Brown, London, 2014, S. 63-99; hier: S. 75.
[3] Vgl. u.a.: Terry Cook, The Concept of the Archival Fonds in the Post-Custodial Era. In: Archivaria 35 (1993).
[4] Vgl. u.a.: Peter J. Scott, The Record Group Concept: a case for abandonment. In: American Archivist 29 (1966).
[5] Die Theorie ist keineswegs neu, hat sich aber als Kriterium zur äußeren Beständeabgrenzung im deutschsprachigen Raum wenig etabliert; vgl. David Bearman, Archival Methods: Archives and Museum Informatics Technical Report. In: Archives and Museum Informatics, Pittsburgh, 1989; Ders., Electronic Evidence: Strategies for managing records in contemporary organizations. In: Archives and Museum Informatics, Pittsburgh, 1994. Im “International Standard for Describing Functions” (ISDF) wird Provenienz wie folgt definiert: “The relationships between records and the organizations or individuals that created, accumulated and/or maintained and used them in the conduct of personal or corporate activity. Provenance is also the relationship between records and the functions which generated the need of the records.” (First Edition, 2007, S. 10; http://www.ica.org/10208/standards/isdf-international-standard-for-describing-functions.html).
[6] Peter Horsman, The Last Dance of Phoenix – The De-Discovery of the Archival Fonds“. In: Archivaria 54 (2002), S. 1-23; hier: S. 15.
[8] Geoffrey Yeo, Bringing Things Together: Aggregate Records in a Digital Age. In: Archivaria 74 (2012), S. 43-91; hier: S. 58. Vgl. David Weinberger, Everything is Miscellaneous: The Power of the New Digital Disorder, New York, 2007.
[9] Jennifer Meehan, Arrangement and Description, S. 76.
[13] Die Vielfalt der dem Archivgut innewohnenden Narrative betonte in jüngster Zeit u.a. Eric Ketelaar: „The record is full of meanings, some may be read in the record, or inferred from the intertextuality that connects it to other documents, others have to be deduced from the context of archives‘ creation and use.“ Er geht danach auch auf mögliche Instrumentalisierungen solcher Narrative ein. (Eric Ketelaar, Archives and Archivists without Borders In: Archives without borders/Archivos sin fronteras, proceedings of the international congress in The Hague, August 30 – 31, 2010 / ed. Hildo van Engen et al. – Berchem ; Vlaamse Vereniging voor Bibliotheek-, Archief- en Documentatiewezen, Sectie Archieven ; 2012 (= Archiefkunde, 12), S. 355-359.
Quelle: http://archive20.hypotheses.org/1555