Tyrannei für Dummies?

Rezension des Buches von Christopher S. Celenza über “Der Fürst” und andere Texte von Niccolò Machiavelli (1469-1527)

In dem 1993 erschienen Computerspiel „Merchant Prince“ muss der Spieler sich brutal gegen den Computergegner durchsetzen. Nicht einmal die Ermordung des Dogen von Venedig oder des Papstes sind geächtete Mittel seiner Politik. 1995 erschien das Spiel mit verbesserter Grafik unter dem Titel „Machiavelli: The Prince“.
Das Beispiel zeigt, wie sehr der Name eines Autors mit einem seiner Bücher verbunden ist. Entsprechend steht der vom Autorennamen abgeleitete Begriff des Machiavellismus für eine korrupte, unmoralische Politik.

Zum Leben Niccolò Machiavellis hat eben erst Christopher S. Celenza eine Biographie, also eine Lebensbeschreibung, in englischer Sprache veröffentlicht.

[...]

Quelle: https://wicquefort.hypotheses.org/133

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aventinus studiosa Nr. 8 [11.06.2015]: Sebastian Conrad: Globalgeschichte. Eine Einführung (= Beck’sche Reihe; 6079), München: C.H.Beck 2013

http://sehepunkte.de/2013/09/22836.html In den vergangenen Jahren sind im deutschsprachigen Raum schon mehrere Versuche gemacht worden, Einführungen und Überblicke zum Feld der Globalgeschichte zu liefern. Sebastian Conrad von der Freien Universität Berlin ist einer der profiliertesten deutschen Vertreter dieses historiographischen Trends und bringt unzweifelhaft den für ein solches Unterfangen notwendigen Hintergrund mit. Conrad hat nicht nur für […]

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2015/06/5877/

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RIDE – Review Journal for Digital Editions – issue 2 erschienen

Die zweite Ausgabe des vom Institut für Dokumentologie und Editorik (IDE) herausgegebenen Rezensionsjournals Review Journal for Digital Editions (RIDE) ist erschienen.

Diese Ausgabe von RIDE enthält 5 ausführliche Rezensionen (4 englisch, 1 deutsch), die öffentlich zugängliche digitale Editionen kritisch betrachten.

Enthalten sind:

  • 16th Century Chronicle to 21st Century Edition: A Review of The Diary of Henry Machyn, by Misha Broughton
  • Der Zürcher Sommer 1968: Die digitale Edition, by Friederike Wein
  • The Digital Edition of the Becerro Galicano de San Millán de la Cogolla, by Francisco Javier Álvarez Carbajal
  • The Fleischmann Diaries, by Merisa A. Martinez
  • The Shelley-Godwin Archive: The edition of Mary Shelley’s Frankenstein Notebooks, by Frederike Neuber

Alle Rezensionen stehen frei unter http://ride.i-d-e.de zur Verfügung. Alle Rezensionen sind auch als TEI Dokumente verfügbar. Übersichtliche Factsheets zur jeweils besprochenen digitalen Edition ergänzen die Rezensionen.

Mehr zu RIDE, unseren Zielen und unserer Vorgehensweise finden Sie im Editorial: http://ride.i-d-e.de/about/editorial/

Wir freuen uns außerdem über Beiträge für die nächsten Ausgaben. Alle Informationen finden Sie hier: http://ride.i-d-e.de/reviewers/

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=4483

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Chinabilder 2014: “Manche mögen Reis”

Chinabilder in der Belletristik (im weitesten Sinne) sind ein sehr weites Feld zwischen  Karl Mays Kong-Kheou, das Ehrenwort,  Sax Rohmers Dr. Fu Manchu,  Hergés Le lotus bleu, Romanen von Pearl S. Buck und Han Suyin, Robert van Guliks Richter Di-Reihe, Pixi-Büchern wie Petzi fährt nach China, Krimis von Christopher West und Peter May, Petra Häring-Kuans Chinesisch für Anfänger, Richard Masons Suzie Wong und Gene Luen Yangs Boxers & Saints – eine zufällige und willkürliche Auswahl, die die Bandbreite nur andeuten kann: Unterhaltungsliteratur, Kriminalromane und Thriller, ‘Chick-Lit’, Kinderbücher, Comics und Graphic Novels etc. etc. Eine (nicht mehr ganz) neue Facette eröffnet das “erzählende Sachbuch”[1] aus der ‘So sah ich China’-Perspektive: Ausländer berichten über ihre Zeit in China. Da sind zwar auch Journalisten, die sich nur für kurze Zeit in China aufhalten, in der Mehrzahl sind diese Berichte von Expats, die Jahre ihres Lebens in China zubringen.

Klassische Beispiele für Erfahrungsberichte aus China sind unter anderem Max Scipio von Brandt: 33 Jahre in Ostasien – Erinnerungen eines deutschen Diplomaten (1901), Egon Erwin Kisch: China geheim (1933), Hugo Portisch: So sah ich China (1965) und Augenzeuge in Rotchina (1965), Klaus Mehnert: China nach dem Sturm. Bericht und Kommentar (1971), Harrison Salisbury: To Peking and Beyond: A Report on the New Asia (1973), Lois Fischer-Ruge Alltag in Peking. Eine Frau aus dem Westen erlebt das heutige China (1981), Harrison Salisbury: Tiananmen Diary: Thirteen Days in June (1989) und Peter Scholl-Latour: Der Wahn vom Himmlischen Frieden. Chinas langes Erwachen (1990).

Jüngere Beispiele sind unter anderem: Tim Glissold:  Mr. China: A Memoir (2006), Peter Hessler: River Town: Two Years on the Yangtze (2006), Matthew Polly: American Shaolin (2007), Michael Levy: Kosher Chinese: Living, Teaching, and Eating with China’s Other Billion (2011), Dominic Stevenson: Monkey House Blues. A Shanghai Prison Memoir (2010), Peter Hessler: Country driving : a Chinese road trip (2010, dt. Über Land: Begegnungen im neuen China (2009)) Alan Paul, Big in China. My Unlikely Adventures Raising a Family, Playing the Blues, and Becoming a Star in Beijing (2011), Leanna Adams: Pretty Woman Spitting. An American’s Travels in China (2012).
Diese Berichte zeichnen naturgemäß höchst unterschiedliche Bilder von China zwischen Faszination und Frustration, zwischen Abscheu und Begeisterung. Allen gemeinsam ist das Sich-Einlassen auf China.

Ganz anders ist Manche mögen Reis. Skurriles aus dem Reich der Mitte. ((Susanne Vehlow: Manche mögen Reis. Skurriles aus dem Reich der Mitte (Berlin: Ullstein 2014).)) Fassungslosigkeit ist eine unzulängliche Beschreibung meiner Reaktion auf “eine umwerfende Erfahrung, mitten unter Chinesen zu leben!”[2] Die Autorin ist Sport- und Englischlehreren und lebte mit Mann und Kindern von 2009 bis 2014 in Shanghai, wo sie und ihr Mann an der Deutschen Schule unterrichteten.[3]

Vehlow: Manche mögen Reis

Vehlow: Manche mögen Reis (Quelle: Ullstein Verlag)

Das Cover zeigt drei ‘Chinesen’ in pyjamaartigen Gewändern, mit langem Zopf und Kegelhut. Sie bedienen sich aus einer überdimensionalen (und perspektivisch ziemlich eigenartig wirkenden) Schale mit weißem Reis. Die Figur im roten Gewand führt einen kleinen grünen Drachen an einer Leine – und im Hintergrund lehnt in der Ecke ein Kontrabass – wohl in Anlehnung an das Kinderlied “Drei Chinesen mit dem Kontrabass”[4]

Eigentlich sollte das eine ausreichende Warnung sein. Tatsächlich wird auf 330 Seiten  in 52 Kapiteln kein Klischee ausgelassen: Menschenmassen, Küche, Wohnverhältnisse, Klima/Wetter in Shanghai, Verkehr, Küche, hygienische Verhältnisse und Charakter ‘der Chinesen’ schlechthin.

Zum – zugegeben gewöhnungsbedürftigen – Straßenverkehr in Shanghai heißt es: “Mit den Verkehrsregeln nehmen sie es hier nicht so genau” (S. 42). ‘Man’ hat kein Auto, weil man nur einen Block von der Schule entfernt wohnt und den Weg mit dem Rad zurücklegt. Für alles andere gibt es Taxis – Taxifahren ist ein Abenteuer, dasimmer wieder thematisiert wird, speziell im Kapitel 17 “Taxifahren” (S. 112-116). Damit ‘man’ dieses Abenteuer überlebt, muss ‘man’ sowohl die Startadresse als auch die Zieladresse entweder auf Visitenkarten dabeihaben oder aber von speziellen Webseiten ausdrucken. Aber selbst dann ist es nicht sicher, dass man ohne Probleme von A nach B kommt. Denn die Fahrer sprechen nur Chinesisch.

Die chinesische Sprache aber bleibt für die Expats in den fünf Jahren in Shanghai ein Buch mit sieben Siegeln – zu schwer zu lernen, schließlich “bedeutete ein Wort etwas gänzlich anderes, wenn man es mit der falschen Betonung aussprach” (S. 113). Umso skurriler mutet die “kleine[n] Einführung ins chinesische  Verkehrseinmaleins”  (S. 116). an, denn “um Verwirrungen zu vermeiden” (S. 115) wird auf Tonzeichen verzichtet – von Schriftzeichen gar nicht zu reden.

Die “Lauweis” (S. 48 und passim)[5], wie die Autorin sich selbst und ihre Familie nennt, stolpern durch Shanghai, sie leben in einem Compound, zwar weit weg von ‘allem’, aber in einem großen Haus – und sie hat eine ‘Ayi’[6], die sich um den Haushalt kümmert (für umgerechnet  200 Euro im Monat fünfmal pro Woche acht Stunden (S. 55)). Leider hatte sich in “Expat-Kreisen [...] herumgesprochen, dass Ayis zwar oft wirklich gute Seelen waren, es jedoch nicht wenige unter ihnen gab, die das eine oder andere einsteckten, die ein Nickerchen hielten, wenn die Dame des Hauses nicht daheim war [...] oder Partys [feierten].” (S. 67) Doch die Familie hatte zum Glück wirklich Glück mit ihrer Ayi.
Der Alltag außerhalb von Compound und Schule gestaltet sich schwierig, jeder Einkauf (z.B.  bei “Tschallefu”[7] und “Idscha”[8] ) wird zum Abenteuer- oder zum Horrortrip. Das Shanghai außerhalb des Compounds wird nur am Wochenende erfahren/erlebt, wobei ‘man’ sich auf Touristenpfaden bewegt: Bund, Oriental Pearl Radio & TV Tower, Pudong, das Shanghai World Financial Center (der “Flaschenöffner”) etc.

Eher zwiespältig scheint das Verhältnis zur chinesischen Küche zu sein. ‘Man’ geht zwar oft und häufig essen, denn das “ist hier tatsächlich supergünstig[, i]nsbesondere wenn du chinesisch essen gehst.” (130) Die Sache hat mehrere Haken: das miese, ungemütliche, wenig einladende Ambiente, die Tischsitten ‘der Chinesen – und

Es schmeckt nicht so wie beim Chinesen in Berlin. Ganz anders. Kann ich kaum beschreiben. Sie verwenden ganz andere Gewürze. Und wirklich jedes Gericht schmeckt eigen. (S. 131)

Zum Glück gibt es Abhilfe – in der Hongmei Lu 虹梅路 gibt es eine kleine Fußgängerzone mit nicht-chinesischen Lokalen.

Da findet man auf jeden Fall etwas, wenn man mal wieder Lust auf ‘normales’ Essen hat (S. 132)

Bei “Tschallefu” gibt es die aus der Heimat vertraute Nussnougatcreme – leider ziemlich teuer, aber das muss sein; Müsliriegel werden überlebenswichtig, falls ‘nichts Normales’ aufzutreiben ist. Und aus der Heimat kommen Fresspakete mit Lebkuchen und den Zutaten für Schokoladekuchen.

Immer wieder sind die “Lauweis” erstaunt über ‘die Chinesen’:

Überall waren sie. Auf den Gehwegen, auf den Rolltreppen, in den Läden, im Aquarium, auf dem Klo – überall kleine schwarzhaarige Menschen in den schrillsten Klamotten. (89 f.)

‘Die Chinesen’ sind nicht nur eigenartig gekleidet, sie verhalten sich  mitunter eigenartig. Und natürlich können ‘die Chinesen’ nicht  oder nicht sehr gut Englisch und können kein “r” aussprechen: “Plies hold sis spoon inflont of yo left eye.” (S. 50). Doch es gibt auch Ausnahmen, die beides können, wie der Makler, der der Familie das Haus vermittelt hat (S. 54): “Was für eine Wohltat. Es gab anscheinend auch Leute, die uns ohne Pantomime-Einlage verstanden.” (S. 55)

Die Autorin scheint – im Gegensatz zu ihrem Mann – das Leben in Shanghai als kaum erträglich und unendlich schwierig zu empfinden. Lichtblicke scheinen rar: die Wochen und Monate, wo ‘man’ aus Shanghai wegkommt (Ferienreisen nach Australien, auf die Philippinen, nach Kambodscha, Myanmar und Malaysia), Heimatbesuche und Besuche von Familie und Freunden in China, mit denen auch Nanjing, Xi’an, Beijing und Guilin in Wochenendtrips  abgegrast werden.
Im Rahmen dieser Kurztrips werden Informationen zur Kultur und zur Geschichte eingeworfen, so unter anderem zu  Kalender, Tierkreis und Neujahrsfest (S. 172-177), zu einem chinesischen Badehaus (183-187), zur Terrakotta-Armee in Xian, zur Stadtmauer und zum Sun-Yat-sen-Mausoleum in Nanjing (und bei Nanjing darf John Rabe nicht fehlen.)

Die kursorischen Informations-Fragmente reichen dem Ullstein Verlag, um den  Titel mit dem Etikett “Erzählendes Sachbuch”  zu versehen. Dazu kommen die Etiketten”Humor” und “Politik/Internationale Politik”. Wie es zu der Einordnung kommt, erschließt sich mir nicht. Die politischen Verhältnisse werden mit keiner Silbe erwähnt und das Humoristische beschränkt sich allenfalls auf unfreiwillige Komik (die so wohl nicht intendiert war).

Die Lektüre macht fassungslos: Holzschnittartig und schablonenhaft werden Episoden und Typen aneinandergereiht.  Das in China Erlebte wird am aus Deutschland vertrauten ‘Normalzustand’ gemessen und bewertet.  Die Klischees vom ausländerfeindlichen, unberechenbaren Orientalen wird einmal mehr fortgeschrieben. Traurig nur, dass diese Ansammlung von Stereotypen auch 2014 noch unter “China-Erfahrung” und “China-Erfahrungsbericht” läuft.

Sollte Manche mögen Reis ins Chinesische übersetzt werden, empfiehlt sich der erste Satz aus dem kleinem Sprachkurs “Praktisches Chinesisch – die wichtigsten Sätze” in Christan Y. Schmidts Bliefe von dlüben. Der China-Crashkurs [9]:

In jeder Situation:
Bù,  wǒ bù shì dé guó rén. /Wǒ shì liè zhī dūn shì dēng rén.[10]
Nein, ich bin kein Deutscher. / Ich komme aus Liechtenstein. (S. 208)

Österreicher und Österreicherinnen brauchen nicht zu schummeln, die ersetzen Lièzhīdūnshìdēngrén einfach durch Àodìlì rén 奧地利人.

  1. Der Dreh mit dem ‘erzählenden Sachbuch’ ist nicht neu,  s. Rainer Traub: “Die Luftnummern der Lizenzstrategen” In: Der Spiegel 10/2000 (06.03.2000).
  2. Susanne Vehlow: Manche mögen Reis. Skurriles aus dem Reich der Mitte (Berlin: Ullstein 2014), Umschlagrückseite.
  3. Vehlow (2014), Frontispizseite.
  4. Zum Reinhören “Drei Chinesen mit dem Kontrabass“.
  5. laowai 老外 – wörtlich “Alter Fremder” ist eine generische Bezeichnung für Ausländer, wird im Buch aber immerwieder mit “Langnasen” übersetzt.
  6. āyí 阿姨  – wörtlich “Tante”, eine Hausangestellte.
  7. Jiālèfú  家乐福  / 家樂福   = Carrefour.
  8. Yíjiā  宜家  = IKEA
  9. Christian Y. Schmidt: Bliefe von dlüben. Der China-Crashkurs (Berlin: Rowohlt 2009). Schmidt beschreibt zwar das Leben in Beijing, ist aber ungleich unterhaltsamer (z.B. das Kapitel “Meine chinesische Tante” (S. 125-129) über die Ayi.
  10. Korrekt wäre: Bù,  wǒ bù shì déguórén. 不,我不是德國人。 / Wǒ shì lièzhīdūnshìdēngrén. 我是列支敦士登人。

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/1571

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Erstausgabe RIDE – Review Journal for Digital Editions

Das Institut für Dokumentologie und Editorik (IDE) freut sich, die Publikation der ersten Ausgabe einer neuen Rezensionszeitschrift, RIDE, bekannt zu geben. RIDE ist digitalen Editionen und Ressourcen gewidmet und will ein kritisches Forum zur Besprechung digitaler Editionen schaffen. Es soll helfen, die gängige Praxis zu verbessern und die zukünftige Entwicklung voranzutreiben. RIDE-Rezensenten sind deshalb angehalten, nicht nur die traditionellen Leistungen und Probleme von Editionen im Allgemeinen zu besprechen, sondern auch die sich weiter entwickelnde Methodologie und ihre technischen Implikationen zu berücksichtigen.

Bereits die soeben veröffentlichte erste Ausgabe enthält Besprechungen aus verschiedenen Fachbereichen, z.B. Philosophie, Kunstgeschichte, Philologie, die für Sie interessant sein könnten. Neben den ausführlichen Rezensionen bietet jeweils ein Factsheet einen schnellen Einblick in die besprochene Digitale Eidtion.

Alle Rezensionen und weitere Informationen finden Sie hier: http://ride.i-d-e.de

Mehr zu RIDE, unseren Zielen und unserer Vorgehensweise, finden Sie im Editorial: http://ride.i-d-e.de/about/editorial/

Wir freuen uns außerdem über Beiträge für die nächsten Ausgaben. Alle Informationen finden Sie hier: http://ride.i-d-e.de/reviewers/

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=3662

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Gerade gelesen: “Orakelnde Musik. Schönberg, der Fortschritt und die Avantgarde” von Golan Gur

Die Fortschrittsidee sei deshalb so wirkmächtig, schreibt Golan Gur, weil sie das Verstehen der Vergangenheit mit dem Vorhersagen der Zukunft verbindet. So nennt der Musikwissenschaftler seine Dissertation auch „Orakelnde Musik“ in Anspielung auf Karl Popper, der in seiner kritischen Betrachtung der Geschichtsphilosophien von Hegel und Marx von einer orakelnden Philosophie spricht. In seiner 2013 in der Reihe „Musiksoziologie“ veröffentlichten Studie möchte Gur zeigen, „wie die Kategorie des Fortschritts als Quelle der künstlerischen Motivation und Legitimation im musikalischen Denken einer von Richard Wagner bis Pierre Boulez gefassten Moderne insgesamt Bedeutung erlangt hat.“1 Im Mittelpunkt steht dabei die Fortschrittsidee, wie sie in den musikästhetischen Schriften Arnold Schönbergs ausgeprägt ist. Auch ihren geistes- und ideengeschichtlichen Hintergründen gibt der Autor viel Raum: So liest sich seine Arbeit letztlich wie eine historische Abhandlung über den Fortschrittsgedanken in der Musik, orientiert an und zentriert um Arnold Schönberg. Dabei setzt Gur die Idee eines musikalischen Fortschritts nie als gegeben voraus, sondern unterzieht sie stets einer kritischen Prüfung.

Im ersten Kapitel („Modernismus, historische Erzählungen und ästhetische Ideologien“) werden einleitende, allgemeine Gedanken zum Fortschrittsbegriff in der Moderne vorausgeschickt. Besonders wichtig ist Gur der Zusammenhang zwischen Fortschritt und Historizismus, also einer Sichtweise, nach der die Geschichte allgemeinen Gesetzen unterworfen ist, die ihren Verlauf voraussagbar machen. Mit diesem von Popper geprägten Begriff betont Gur das ideologische Moment der Fortschrittsidee: Was sich als allgemeine Gesetzmäßigkeit darstellt, ist vielmehr eine selektive Interpretation der Geschichte. „Fortschritt“ fasst er auf als ein Narrativ, mit dem Musikgeschichte erzählt wird bzw. werden kann. Damit sind Fortschritt und (Musik-) Historiographie eng verzahnt.

So richtet er seinen Blick in den Kapiteln 2 („Der Fortschrittsbegriff im musikalischen Denken“) und 3 („Musik und Fortschrittsideologien des 19. Jahrhunderts“) nicht nur auf die Entstehung des modernen Fortschrittsbegriffs, sondern auch auf die Entwicklung der Musikgeschichtsschreibung. Ist in der Antike ein zyklisches Geschichtsbild verbreitet, und wird Fortschritt in der Renaissance noch als Rückgriff auf Vergangenheit verstanden, so stellt sich dann im 18. Jahrhundert die Musik als ein Ort dar, an dem sich der Fortschritt der Menschheit vollzieht. Dabei spannt Gur einen Bogen von der Ars nova über die Querelle des Anciens et des Modernes bis ins 19. Jahrhundert und weist glaubwürdig nach, wie sich hier langsam ein neues Geschichtsbewusstsein entwickelt und wie dies nach und nach auch für die ästhetischen Überlegungen von Komponisten bedeutsam wird. Im 19. Jahrhundert sind es das geschichtsphilosophische Modell Hegels sowie die darwinistische Idee einer evolutionären Entwicklung von Kunst, die das Verständnis des musikalischen Fortschritts zentral prägten.

Für mich war es hier besonders spannend zu lesen, wie der Autor die frühe Musikwissenschaft um die Jahrhundertwende in diesem ideengeschichtlichen Kontext positioniert. Er zeigt, dass die Musikwissenschaft nicht nur in der Musikästhetik des 19. Jahrhunderts verwurzelt ist, sondern auch evolutionistische Ideen aufgenommen hat. Guido Adler, der als ein Gründungsvater der akademischen Musikwissenschaft gilt, hat von seinem Lehrer Eduard Hanslick („Vom Musikalisch-Schönen“, 1854) die Einstellung übernommen, ein Kunstwerk lasse sich objektiv nur unter formalen Gesichtspunkten (Stil etc.) analysieren, während kontextbezogene (kulturelle, soziale, politische etc.) Aspekte nicht ins Gewicht fallen. Beeinflusst durch die evolutionistische Theorie von Herbert Spencer entwickelte er darüber hinaus die Idee, dass die Musikgeschichte nach bestimmten (eigenen) Gesetzen verlaufe, nämlich in Hinblick auf eine zunehmende Komplexität der Kompositionen. – Ist nicht auch heute noch innerhalb des Faches die Meinung weit verbreitet, dass nur aus der musikalischen Analyse sicheres Wissen über Musik resultiere? Und wie oft wird das Bild einer natürlichen, vielleicht sogar notwendig verlaufenden Entwicklung gezeichnet, die von Bach über Beethoven bis zu Schönberg reicht? Mir scheinen diese ästhetischen und geschichtsphilosophischen Annahmen tief in der Disziplin der historischen Musikwissenschaft verwurzelt zu sein. Eine Thematisierung und kritische Auseinandersetzung mit diesen Ursprüngen sollten unbedingt in die Curricula aufgenommen werden!

In Kapitel 4 („Schönberg und der ‚Fortschritt‘ der Musik“) geht es dann um Schönbergs Konzeption des musikalischen Fortschritts. Schönberg geht von einer organischen Entwicklung der Musik aus, die sich in der harmonischen Emanzipation äußert: Die immer freiere Verwendung von Dissonanzen bis hin zur Auflösung der Tonalität stellt für ihn eine historische Notwendigkeit dar. Schönberg, die diese Auflösung in der Zwölftonmusik vollzieht, inszeniert sich damit als (der) Komponist, der die abendländische Musiktradition fortführt. Gur verweist hier nochmals auf Poppers Begriff des Historizismus, um Schönbergs Deutung der Musikgeschichte und seinen Anspruch auf den (alleinigen) Fortschritt zu problematisieren. Schönbergs Fortschrittsidee ist aber bei weitem nicht bloß ein theoretisches Konstrukt, so lautet eine von Gurs Thesen, sondern sie steht in Wechselwirkung mit seinem kompositorischen Schaffen. Für ein umfassendes Verständnis seiner musiktheoretischen Schriften sowie seiner Kompositionen ist die Idee des Fortschritts also unerlässlich. Von Schönberg und vielen seiner Zeitgenossen wurde Fortschritt als selbstverständlich vorausgesetzt. So heißt es in der vorliegenden Studie: „Für Schönberg, wie für viele andere moderne Komponisten, war der Fortschrittsglaube fester Bestandteil einer Werteordnung, ohne welche die Kunst nicht ein wahrhaftiges Unterfangen von Bedeutung sein konnte.“2

Schönbergs Konzept von Fortschritt, so Gur, hatte großen Einfluss auf das Denken über Musik im 20. Jahrhundert, insbesondere auf die Musikphilosophie Theodor W. Adornos. Dabei zeichnet er nach, wie Schönbergs Ideen durch die Emigration seiner Schüler und Anhänger nach 1933 in andere Länder (USA, England, Frankreich) Einzug fanden. Im letzten Kapitel („Die Avantgarde und der Weg zum Pluralismus“) gibt der Autor einen Ausblick darauf, wie musikalischer Fortschritt nach 1945 konzipiert wird, besonders im Kontext der europäischen Avantgarde und sozialistisch geprägten Staaten.

In seinen Überlegungen zum modernen Fortschrittsbegriff betont Gur das ausgeprägte Geschichtsbewusstsein der Moderne sowie das Bedürfnis der Komponisten, ihren eigenen Standort in der Geschichte zu reflektieren. Darüber hinaus stellt er die These auf, dass der Begriff des Fortschritts – auch bei Schönberg – nie einheitlich verwendet wurde: Vielmehr gibt es eine Bandbreite an Facetten und Bedeutungen. Das sehe ich im Übrigen genauso: In meinem Dissertationsprojekt untersuche ich für die 1950er Jahre das reiche Spektrum an Positionen zum musikalischen Fortschritt, die auf ganz unterschiedliche Traditionen zurückgeführt werden können.

Zur Bedeutung der Fortschrittsidee in der Musik schreibt Gur: „Fortschritt wurde dadurch zur Realität, dass Komponisten und Musiker dieses Konzept rezipierten und in ihre künstlerischen Entscheidungen und Präferenzen integrierten.“3 Auch wenn die Idee des Fortschritts als historizistisch oder als ideologisch entlarvt wird, so ist sie doch eine zentrale Idee, die noch bis heute in vielen Bereichen des Lebens wirkt – als Legitimation und Orientierung. Das macht eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihr so spannend und wichtig!

Musikwissenschaftler, die sich für die Ästhetik und Historiographie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts interessieren, können sich in „Orakelnde Musik“ über die kritische Besprechung vieler Quellen freuen. Auch über die Grenzen der Musikwissenschaft hinaus ist dieses Buch erkenntnisreich für jeden, der sich mit der Fortschrittsidee und ihren Ausprägungen im Laufe der abendländischen Geschichte beschäftigen möchte.

1Golan Gur, Orakelnde Musik. Schönberg, der Fortschritt und die Avantgarde, Kassel 2013 (Musiksoziologie, 18), S. 15.

2Ebd., S. 124.

3Ebd., S. 103.

Quelle: http://avantmusic.hypotheses.org/124

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Frisch gelesen und rezensiert: Martin Iddons „New Music at Darmstadt“

Faktenreich, anschaulich und stets mit kritischem Blick – diese Monographie von Martin Iddon (University of Leeds) liest sich wie eine spannende Chronik zu den Anfängen der Darmstädter Ferienkurse von 1946 bis 1961. Wie der Untertitel „Nono, Stockhausen, Cage, and Boulez“ schon verrät, wird diese Geschichte am Beispiel ausgewählter (zentraler) Personen erzählt. In der Einleitung werden die Anfangsjahre der geschichtsträchtigen Ferienkurse historisch aufgearbeitet: Iddon beschreibt das politische und kulturelle Klima zur Zeit der Gründung und beleuchtet wirtschaftliche Faktoren ebenso wie die Hintergründe der beteiligten Personen zur Zeit des Nationalsozialismus. Im folgenden Hauptteil geht er auf die einzelnen Jahre mit ihren Schwerpunkten und besonderen Ereignissen ein. Dadurch entsteht nicht nur ein umfangreiches Bild der Ferienkurse, sondern auch ein lebendiger Eindruck davon, welche Themen diskutiert wurden und welche Musik im Vordergrund stand. Gestützt werden diese Eindrücke durch reiches Quellenmaterial, z.B. zahlreiche Korrespondenzen (insbesondere zwischen Wolfgang Steinecke und einzelnen Komponisten), Publikationen und Vorträge der Teilnehmer sowie Rezensionen in der Presse: Wie wurde das „Wunderkonzert“ 1952 aufgenommen? Welches Echo hat John Cage 1958 ausgelöst? All dies ist in „New Music at Darmstadt“ nachzulesen.

Das Buch ist 2013 in der Reihe „Music Since 1900“ (ehemals „Music in the Twentieth Century“) der Cambridge University Press erschienen. Kommen wir nun zu den wesentlichen Thesen: Im ersten Teil „The accidental serialists“ weist Iddon glaubwürdig nach, dass es eine „Darmstädter Schule“ im Sinne einer einheitlichen kompositorischen Schule nicht gegeben hat. Zudem vollzieht er nach, wie die Idee einer „Darmstädter Schule“ überhaupt entstand: Das Bild einer seriell komponierenden, an Anton Webern orientierten Gruppe von jungen Komponisten wie Stockhausen, Bruno Maderna, Luigi Nono, Karel Goeyvaerts und Pierre Boulez wurde (bewusst) konstruiert von Akteuren des Musiklebens wie Wolfgang Steinecke und Herbert Eimert. Von der Presse wurde die Idee einer solchen Schule gerne aufgenommen, durch die es endlich gelang, die „schrägen“ jungen Komponisten einzuordnen. Mit dieser Re-Konstruktion hinterfragt Iddon einen Begriff, der für die Musikgeschichtsschreibung nach 1945 nicht wegzudenken ist. – Ist diese Idee einer „Darmstädter Schule“ seit 1953 vorhanden und ab 1955 verbreitet, so kündigt sich 1957 schon ihre Auflösung an: In dem Jahr, wo das Moment des Zufalls in der Musik (Aleatorik) zunehmend thematisiert wird.

Im zweiten großen Teil „Chance encounters“ beleuchtet Iddon die Umstände von Cages Besuch in Darmstadt 1958 und legt besonderes Augenmerk auf seine Rezeption. Dabei deutet er darauf hin, dass Cages Konzept von „indeterminacy“ (Unbestimmtheit) oft als Improvisation missverstanden wurde. Eine weitere Fehldeutung entstand durch die Übersetzung von Cages Vorlesungen durch Heinz-Klaus Metzger, der den eher spielerischen Charakter des Originaltextes in einen kämpferischen umwandelte und so seine eigene Deutung von Cage als Klassenkämpfer untermalte. Von der vermeintlichen Einheit der Darmstädter Komponisten konnte 1959 keine Rede mehr sein: Die Einstellungen zur Musik und zu kompositorischen Herangehensweisen prallten stark aufeinander – etwa bei Stockhausen und Boulez, oder Stockhausen und Nono – und das Gefühl der Kollegialität ließ stark nach. Cage war dabei, so Iddon, weniger der Grund als vielmehr ein Katalysator für die Unstimmigkeiten, die schon länger vorhanden waren und nun erst an die Oberfläche traten. Der eigentliche Konflikt, den Cage auslöste, war kein kompositionstechnischer, sondern ein musikästhetischer: „The fundamental distinction, then, was not between serial method and chance operations at all, but rather between Europeans, who wanted to be ‘composers’ through the operations of their wills and compositional desires, and Americans, who were willing to allow music to occur unpurposively.“1

Von besonderem Interesse für mich waren die ästhetischen Dispute, die Iddon nachzeichnet und in einen Zusammenhang stellt, von der Auseinandersetzung zwischen Adorno und Metzger (zum Altern der neuen Musik) über die Vorträge von Boulez (1957), Nono (1959) und Stockhausen (1959, 1960) bis hin zu Adornos revidierter Sichtweise in „Vers une musique informelle“ (1961). Dabei lässt Iddon nie aus zu fragen, auf welche Werke und Komponisten sich die Kritik in den Texten beziehen könnte. Im abschließenden Kapitel ergreift der Autor einen interdisziplinären Ansatz: Er verwendet die Theorie des Fremden in der Gesellschaft des polnischen Soziologen Zygmunt Bauman, um die Rezeption von Cages Musikästhetik in Darmstadt in soziologischer Hinsicht zu kategorisieren, nämlich als Assimilation (bei Stockhausen und Metzger) und Exklusion (bei Ernst Thomas). Dieses 300-seitige Buch kann ich jedem Musikwissenschaftler empfehlen, der sich mit der Neuen Musik nach 1945 beschäftigt. Es regt dazu an, tradierte Begriffe der Forschung kritisch zu prüfen, ihrer Konstruktion nachzugehen und damit Mechanismen der Musikgeschichtsschreibung freizulegen.

1Martin Iddon, New Music at Darmstadt. Nono, Stockhausen, Cage, and Boulez, Cambridge 2013 (Music Since 1900), S. 215.

Quelle: http://avantmusic.hypotheses.org/86

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ICH MUSS ALLES WISSEN … ICH MUSS IN SEIN GEHEIMNIS DRINGEN


Olaf Brill räumt in seinem Buch „Der Caligari-Komplex“ im Keller des sagenumwobenen Films auf.

Ein Beitrag von Franziska Stenzel

Caligari_CoverAls der Film Das Cabinet des Dr. Caligari am 26. Februar 1920 im Marmorhaus am Kurfürstendamm in Berlin seine Uraufführung feierte, ging der Premiere des Films eine neuartige Werbekampagne voraus: Du musst Caligari werden stand an den Litfaßsäulen der Stadt geschrieben. 94 Jahre später wurde erneut eine Premiere gefeiert: Eine digital restaurierte Fassung des Caligari-Films gelangte am 9. Februar auf der Berlinale 2014 zur Aufführung. Doch während sich 1920 noch niemand etwas unter dem Titel vorstellen konnte, ist Das Cabinet des Dr. Caligari heute aufgrund seiner Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte und der Legenden, die sich um ihn ranken, ein weithin bekanntes und erforschtes Werk der Filmgeschichte. Die Widersprüchlichkeit der Legenden und Zeitzeugenberichte werfen indessen auch Jahrzehnte nach der Entstehung des Films viele Fragen auf, denen Olaf Brill mit seinem Buch „Der Caligari-Komplex“ (München: Belleville, 2012) auf den Grund gegangen ist.

„Ich kannte Das Cabinet des Dr. Caligari schon lange und war immer von diesem Film fasziniert gewesen: Diese unheimliche Geschichte um den mordenden Somnambulen und den Jahrmarkts-Hypnotiseur, die im Wahnsinn endet. Die aufregende Zeit, in der der Film entstanden ist. Die Legenden. Und die fortwährende Diskussion um die Interpretation des Films.“  – So beschreibt der Autor sein leidenschaftliches Forscherinteresse für den Film im Interview auf www.filmportal.de[1].

Brill gliedert sein Buch in drei Teile: 1. Filmanalyse, 2. Entstehungsgeschichte und 3. Wirkung. Im ersten Teil, der Filmanalyse, untersucht er die Frage, warum der Film als Schlüsselwerk der Filmgeschichte gilt. Er bettet den Film in den Kontext der Filmgeschichte ein und untersucht, wie die Malerei in den Film gekommen und inwiefern der Film ein genuin expressionistischer Film ist. Dabei geht Brill besonders auf die Erzählstrategien des ausdrucksstarken Gruselfilms ein. Der Autor setzt den Film in Zusammenhang mit den Schauerromanen der damaligen sowie den Psychothrillern der heutigen Zeit wie z.B. Martin Scorseses Psychothriller Shutter Island aus dem Jahr 2010.

Brill untersucht im ersten Kapitel ebenso Ästhetik und Filmstil. Detailliert beschreibt er einzelne Einstellungen des Films und welche Filmfehler, zum Beispiel in Hinsicht auf die Requisiten sie verraten (z.B. trägt Franzis den Hut in der nächtlichen Büroszene zunächst auf dem Kopf, später hält er ihn in der Hand). Weitere Aspekte von Brills Untersuchungen betreffen die Bewegungsrichtungen oder die räumliche Anordnung der Figuren in den Bildkompositionen.

Im zweiten Teil zur Entstehungsgeschichte des Films entdeckt Brill u.a. die wahre Geschichte hinter dem „Mord am Holstenwall“ und geht der über das Buch von Siegfried Kracauer Von Caligari zu Hitler vermittelten Schöpfungsgeschichte auf den Grund. Dabei verfolgt Brill die Rezeptionsgeschichte des Holstenwall-Mordes und erläutert an diesem Beispiel, wie sich eine solche Erzählung zu einer Legende in der traditionellen Filmgeschichtsschreibung entwickelt.

Der dritte Abschnitt des Buches ist der Wirkung des Caligari-Films gewidmet. Olaf Brill skizziert zunächst die Lebensläufe der Schauspieler, Drehbuchautoren, Regisseure und Bühnenbildner nach Caligari: Carl Mayer wurde von Zeitzeugen als ein wichtiger und passionierter Drehbuchautor beschrieben, für den Das Cabinet des Dr. Caligari nur der Einstieg in das Filmgeschäft bedeutete. Hans Janowitz war als Autor bis Anfang der 1920er Jahre noch bei einigen weiteren Filmen tätig, darunter für die heute als verschollen geltenden Filme von Friedrich Wilhelm Murnau Der Januskopf und Marizza, genannt die Schmuggler-Madonna, ließ danach aber nicht mehr allzu viel von sich hören. Werner Krauß und Conrad Veidt einte zunächst der große Durchbruch als Filmschauspieler – nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten gingen beide Darsteller allerdings unterschiedliche Wege. Der Werdegang und die Wirkung des Films auf diese und weitere Filmbeteiligte werden von Brill in Form von kleineren Biographien beschrieben. Auch die Nachwirkungen auf den Film an sich (vor allem in Form von Filmnachfolgern) sowie Interpretationsversuche finden in diesem Kapitel ihren Platz.

Den dreiteiligen, reich mit Filmfotos, Plakaten und Schemata bebilderten Hauptteil des Buchs ergänzt Brill mit einem beachtlichen Anhang. Dieser bietet Kritiken der Uraufführung, ein Faksimile des Programmhefts, ausführliche filmografische Daten sowie ein detailliertes Einstellungsprotokoll.

Tatsächlich bilden aber die Beschreibungen des Caligari-Films und seine Nachforschungen den Hauptgehalt des Buches, mit denen Brill die Schaulust und Neugier seiner Leser allemal befriedigen kann: Die genauen Erklärungen des Autors, unterstützt durch zahlreiche Bilder und schematische Darstellungen, nehmen die Leser selbst mit auf Spurensuche. Brill gelingt es, Fachbegriffe der Filmwissenschaft und Grundlagen filmhistorischer Forschung verständlich und anschaulich am konkreten Beispiel zu vermitteln.

Zusammenfassend möchte ich den Caligari-Komplex sowohl Filmliebhabern als auch Experten wärmstens empfehlen. Beeindruckend versteht Brill es, seine Untersuchungsergebnisse stets in einen übergreifenden filmhistorischen Kontext zu setzen und dem Leser seine Theorien über die Entstehungs-, Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte des Cabinets des Dr. Caligari zu vermitteln. Seine Resultate verpackt Brill belletristisch sowie fachwissenschaftlich, sodass er jedem Leseranspruch mit seinem Text gerecht wird.

 

ISBN:  3923646771
Seiten: 426
Verlag: BELLEVILLE
Veröffentlicht: Juni 2012
Sprache: Deutsch

Preis: 38.00 €

 

[1] Deutsches Filminstitut – DIF e.V.: Filmgeschichte jenseits der Legenden. Interview mit Olaf Brill über “Der Caligari-Komplex”. URL: http://www.filmportal.de/material/interview-mit-olaf-brill [abgerufen am: 14.04.2014]

Quelle: http://filmeditio.hypotheses.org/190

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aventinus studiosa Nr. 3 [31.03.2014]: Rez. zu: Margit Perneau: Transnationale Geschichte (=Grundkurs Geschichte / UTB 3535), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011

Statt mit Veranstaltungen zur deutschen, französischen oder britischen, seltener zur europäischen Geschichte sehen sich Studierende heute immer häufiger mit Angeboten konfrontiert, die entweder Regionen in den Blick nehmen oder über den nationalen Rahmen hinausweisen. http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=17210

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2014/03/5017/

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