Vulkanisches Zwielicht. Ein Vorschlag zur Datierung des Kuwae-Ausbruchs auf 1464

Krater des Vulkans Tambora auf der Insel Sumbawa, Indonesien. Quelle: Wikimedia Commons

Krater des Vulkans Tambora auf der Insel Sumbawa, Indonesien. Quelle: Wikimedia Commons

Vor zweihundert Jahren brach Anfang April 1815 der indonesische Vulkan Tambora aus. Dieses Ereignis, und vor allem das darauf folgende Jahr ohne Sommer 1816 stoßen derzeit auf breites Interesse in den Medien: Unwiderstehlich scheint die Mischung von Vulkanasche, ‚Klimakatastrophe‘, Hunger, Missernten, blutroten Sonnenuntergängen und der Entstehung von Mary Shelleys „Frankenstein“. Vulkane ‚gehen‘ immer. Man darf gespannt sein, ob die jubiiäumsbedingten Treffen der klimatologischen Fachwelt und die damit verbundenen Publikationen das düstere Narrativ bestätigen oder relativieren werden.

In der Suche nach Superlativen für das breite Publikum geht oft unter, dass die Eruption des Tambora in ihrem klimatischen Impact mutmaßlich von zwei Vulkanausbrüchen in mittelalterlicher Zeit in beträchtlichem Umfang übertroffen worden sein dürfte: dem seit kurzem geographisch lokalisierten Ausbruch des Samalas auf der Insel Lombok (Indonesien) vermutlich im Jahr 1257, der größten Eruption des vergangenen Jahrtausends, und dem zweitgrößten Vulkanausbruch der letzten 1000 Jahre. Dieser wurde bisher häufig mit einer unterseeischen Caldera in Vanuatu in Verbindung gebracht, nach einem im Rahmen einer lange schon auf 1452 oder 1453 datierten Eruption verschwundenen Inselstück als Kuwae bezeichnet.[1] Obwohl die Lokalisierung umstritten ist (s.u.) soll im Folgenden weiter von der Kuwae-Eruption gesprochen werden, da sich nicht wie im Fall anderer ungeklärter Eruptionen einfach von einem 1452- bzw. 1458-event sprechen lässt, da auch die bisherige Datierung zunehmend fragwürdig scheint.

„unmistakable marks in world climate records“? Kuwae und der Fall von Konstantinopel

Indikator für den klimatischen Impact eines Vulkanausbruchs ist die Menge an Schwefeldioxid, die die Eruption bis in die Stratosphäre schleudert. Dort wandelt sichdas SO2 relativ rasch zu Sulfat-Aerosolen. Diese Schwebeteilchen reduzieren mutmaßlich die Sonneneinstrahlung und können einige Jahre lang um den Globus zirkulieren, für eine Abkühlung sorgen und so auch die meteorologischen Verhältnisse beeinflussen.[2] Rückschlüsse auf die in der Atmosphäre wirksame Menge an Sulfat-Aerosolen, die wiederum zur Klassifizierung des Ausbruchs dienen, ziehen Geowissenschaftler aus polaren Eisbohrkernen. Die dort nachweisbaren Sulfatschichten können allerdings mit naturwissenschaftlichen Methoden nicht jahrgenau datiert werden: Vielmehr wurden bisher zur Feindatierung häufig historische Fakten – also aus in der Regel schriftlichen Quellen eindeutig belegte und datierbare Eruptionen – als sog. stratigraphische Marker herangezogen.[3] Ein Ereignis wie der Ausbruch des Tambora 1815 und die Wetterkapriolen im Folgejahr sind in der schriftlichen Überlieferung sehr dicht dokumentiert. Viel problematischer ist die Lage für den sehr großen Kuwae-Ausbruch Mitte des 15. Jahrhunderts.

Die historischen Fakten, die 1993 von dem US-Astronomen Kevin D. Pang in einem kurzen Abstract zur Datierung der Kuwae-Eruption angeführt wurden[4], sind – vorab gesagt – alles andere als die „unmistakable marks in world climate records“, die er präsentieren möchte. Zur globalen Verankerung der Datierung dienen ihm sehr pauschale Verweise auf besondere Kälte in Südchina im Jahr 1453/54, auf schlechte Weinernten in Deutschland sowie Ausfälle der Getreideernte in Schweden Mitte der 1450er und auf dendrochronologische Befunde aus Nordamerika, Europa und China. Dass die fraglichen Jahre tatsächlich als kühl und feucht gelten müssen, steht außer Frage. Dies gilt aber sowohl für Europa wie für China (s.u.) in den gesamten 1450er/60er Jahren. Es ist problemlos möglich, eine Handvoll Belege für Kälte und Feuchte sowie Ernteausfälle zu beinahe jedem beliebigen Jahr anzuführen.[5] Damit verlieren diese pauschal zugeordneten Belege ihre argumentative Kraft. Dasselbe gilt übrigens für dendrochronologische Befunde.[6] Entscheidend sind vielmehr spezifische Aussagen in Schriftquellen, die plausibel allein durch eine Aerosolwolke vulkanischen Ursprungs erklärt werden können. Diese meinte Pang in der älteren Literatur zum Fall Konstantinopels im Mai 1453 gefunden zu haben: „But the gardens in the city produced little at that season […] On the night of the full moon there was an eclipse and three hours of darkness […] the whole city [of Constantinople] was blotted out by a thick fog, a phenomenon unknown in those lands in May […] That night, when the fog had lifted, a strange light played about the Dome of the Hagia Sophia […] Lights, too, could be seen from the walls, glimmering in the distant countryside far behind the Turkish camp.“[7] Diese Belege, die Pang anführt und einer für ein breites Publikum gedachten Darstellung von Steven Runciman von 1965 entnimmt, halten keiner näheren Überprüfung stand. Der implizit als Argument für reduzierte Sonnenstrahlung angeführte agrarische Produktionsausfall konnte in keiner Form in den zeitgenössischen Quellen wiedergefunden werden.[8] Das unnatürliche Licht über der Kuppel der Hagia Sophia ist nach ausdrücklicher Erklärung der einzigen davon berichtenden Chronik der göttliche Schutz, der die Stadt verlässt.[9] Die Stürme und Starkniederschläge, per se schon alles andere als überzeugende Indikatoren für eine Aerosolwolke, finden sich im Kontext der Prozession

Staubschicht in der Atmosphäre nach Ausbruch des Pinatubo 1991. Quelle: Wikimedia Commons

Staubschicht in der Atmosphäre nach Ausbruch des Pinatubo 1991. Quelle: Wikimedia Commons

mit einer bisher die Stadt schützenden Marienikone, die im Mai 1453 hoch symbolisch ‚versagte‘.[10] Der beschriebene Nebel über Konstantinopel geht auf eine Passage bei dem mit deutlichem zeitlichen Abstand schreibenden Kritobulos von Imbros zurück, die keineswegs klar einen langanhaltenden, vulkanischen Trockennebel in großer Höhe erkennen lässt, ihre metaphysischen Bezüge aber deutlich macht.[11] Die für den 20. Mai 1453 berichtete,[12] tatsächlich aber für den 22. Mai anzusetzende, in Konstantinopel sichtbare partielle Mondfinsternis[13] zeichnete sich dadurch aus, dass der zunehmende Mond – Vollmond war für den 24. Mai zu erwarten – für vier Stunden nur in stark verminderter Form zu sehen war, einem dreitägigen Sichelmond gleich. Dabei war die Luft völlig klar und ungetrübt. Von einer außergewöhnlichen, dreistündigen Verdunkelung oder Verfärbung – die tatsächlich der Effekt einer durchziehenden Aerosolwolke sein kann[14] – ist im Bericht des Niccolò Barbaro keine Rede.[15] Die Lichter am Horizont hinter dem türkischen Lager, die die Verteidiger angeblich sahen und von denen sie hofften, es handele sich um ein ungarisches Entsatzheer[16], müssen keineswegs mit den Lichterscheinungen gleichzusetzen sein, die in Nordamerika nach dem Krakatauausbruch für falsche Feueralarme sorgten.

Der Quellenbefund wird von Pang also allerorten überdehnt: Nichts was als Beleg in historischen Quellen für den Durchzug einer Aerosolwolke herangezogen wird, ist dafür ein zwingender, oft noch nicht einmal ein plausibler Beleg. Steven Runciman ordnete die berichteten Naturerscheinungen eindeutig als Omen im Kontext des Untergangs der Stadt ein und betonte ihren metaphysischen Charakter, wie dies auch die jüngere Forschung getan hat.[17] Keines der angeführten Phänomene mit Ausnahme der partiellen Mondfinsternis lässt sich in mehreren, unabhängigen Quellen nachweisen. Die Datierung des Ausbruchs auf das Jahr 1452 – nach dem vom Tambora bekannten Muster, nach dem die Kältewelle und Feuchtigkeit mit gehörigem, viele Monate langem Abstand dem Eruptionsereignis folgte – sowie die Postulierung eines ‚Jahrs ohne Sommer‘ für 1453 ist damit hinfällig, soweit sie sich auf Pangs Ergebnisse bezieht. Trotzdem ist festzuhalten, dass viele Jahre alle geowissenschaftlichen, paläovulkanologischen und klimatologischen Untersuchungen auf Pangs Abstract als unhinterfragten Lieferanten ‚historischer Fakten‘ Bezug genommen haben – erkennbar ohne den kurzen Text je gelesen zu haben.[18] Die vollen Konsequenzen der hier plausibel gemachten Fehldatierung der Kuwae-Eruption auf 1452/53 für die Kalibrierung von Eisbohrkernen und anderen naturwissenschaftlichen Daten kann der Autor dieses Textes nicht kompetent einschätzen; völlig unbedeutend dürften sie aber nicht sein. Allerdings fällt auf, dass neuere geowissenschaftliche Publikationen die Rolle stratigraphischer Marker, die aus der schriftlichen Überlieferung gewonnen werden, für die Datierung von Eisbohrkernbefunden nicht klar benennen: Für Vulkaneruptionen in abgelegenen Weltgegenden wie Vanuatu sei die Gewinnung einer präzisen Chronologie durch die Befragung der zeitgenössischen Überlieferung wohl nicht möglich.[19] Entsprechend haben Eisbohrkernforscher in jüngster Zeit Neudatierungsversuche allein durch das Zählen der jährlichen Ablagerungsschichten in Eisbohrkernen unternommen (wobei sich nur ein kleiner Teil der Bohrungen für dieses independent layer counting eignet) und ordnen nun die Kuwae-Eruption ins Jahr 1458 ein.[20] Auch bei dieser präziseren Methode bleibt eine gewisse Unsicherheit in der Datierung von ca. 2 Jahren (Sigl et al.) oder im Extremfall bis zu 7 Jahren (Plummer et al.). Zur Bestimmung der Unsicherheit wird immer wieder auf durch historische Fakten klar belegte, jüngere Eruptionen zurückgegriffen, weil etwa Jahresschichten an den Übergängen zwischen einzelnen Eisbohrkernteilen fehlen könnten. Im Übrigen wird auch in diesen Publikationen auf die Ergebnisse von Pang Bezug genommen, die erklärt werden müssten.[21] Dass also ‚historische Fakten‘ durch diese verfeinerten Methoden völlig irrelevant geworden wären und die Datierung von Eisbohrkernen durch geowissenschaftliche Methoden wirkliche Jahrgenauigkeit herstellen könnten, ist nicht ersichtlich.

Kleiner Ausbruch eines Rinjani-Nebenkraters 1994. Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Mount_Rinjani?uselang=de#/media/File:Rinjani_1994_cropped.PNG

Kleiner Ausbruch eines Rinjani-Nebenkraters 1994. Quelle: Wikimedia Commons

Dass „time marker“ aus narrativen Quellen nach wie vor eine fundamentale Rolle spielen[22], legenauch die jüngsten Befunde außerhalb der Eisbohrkernforschung nahe, die eine Identifizierung des für den sog. 1258-event verantwortlichen Vulkans erlaubt haben. Die genaue Datierung der Eruption des Samalas auf Mai 1257 beruht nach allem, was erkennbar ist, auf drei chronikalischen Belegstellen aus dem mittelalterlichen Europa. Mindestens eine dieser Datierungen ist falsch, berichtet die Chronik doch den zur Einordnung herangezogenen warmen Winter[23] für den Januar 1256 und nicht für den Jahresanfang 1258, wie behauptet.[24] Die zweite nordfranzösische Chronik ist in ihren Zeitangaben uneindeutig.[25] Nur ein Zitat aus der Chronik des Matthew Paris stützt den Datierungsversuch, der allerdings trotz der benannten Fehler – und damit eher zufällig – korrekt sein könnte.[26]

Alternativjahr 1464: „das die sun(n)e ir glaentz nit als claerlich hett, als sy dan(n) haben solt“

Das am Beispiel der Kuwae-Datierung durch Pang aufgezeigte Problem ist also virulent und kein Einzelfall. Es illustriert sehr deutlich die Bedeutung von Kooperationen zwischen Geschichts- und Geowissenschaftlern für gewisse Forschungen bzw. unterstreicht die fatalen Konsequenzen, wenn solche Zusammenarbeit unterbleibt. Doch kann man in narrativen Quellen des späten Mittelalters überhaupt spezifische Belege finden, die auf den Durchzug einer Aerosolwolke und wirklich nur darauf schließen lassen? Bei einer umfangreichen Recherche zu ungewöhnlichen Himmelsphänomenen in den 1460er Jahren[27] stieß der Autor auf einige sehr spezielle Befunde, die in diesem Kontext überaus relevant erscheinen und daher kurz vorgestellt werden sollen:

St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 646 f. 211v: Chronik von Konstanz des Gebhard Dacher, ad. ann. 1465.

St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 646 f. 211v: Chronik von Konstanz des Gebhard Dacher, ad. ann. 1465.

Ausgangspunkt war eine bemerkenswerte Charakterisierung des Jahres 1465 durch den Konstanzer Chronisten Gebhard Dacher, über das er schrieb, das die sun(n)e ir glaentz nit als claerlich hett, als sy dan(n) haben solt. […] Nun was sy vor das jar jn her zü mengem mal mit ir varb entstelt gewesen, yetz vast geluar, dan(n) rotuar, mit zirkeln, gestalt ain regenbogen, umgeben, ye das sy ir wùrkùng der frùchten halb das jar nit hett als andre jar.[28] Die hier sehr genau beschriebene, übers Jahr hin verminderte Sonnenstrahlung und der damit in Verbindung gebrachte, reduzierte Wuchs der Feldfrüchte ist ein sehr präzises Indiz für eine vulkanische Aerosolwolke. Allerdings ist mit einem Einzelbeleg nichts zu beweisen, besteht doch immer die Gefahr von Fehldatierung in der Überlieferung oder doch fiktionaler Berichte. Die weitere Suche brachte aber drei voneinander und vom Konstanzer Zitat erkennbar unabhängige Befunde aus dem nördlichen Mitteleuropa, die alle von (meist blauen) Verfärbungen und geringer Strahlkraft der Sonne sowie gelblicher Luft um ein ganz spezifisches Datum (13. September 1465) herum berichten.[29] Noch bemerkenswerter ist, dass auch südalpin zum ungefähr selben Datum aus vier verschiedenen Regionen Italiens Berichte vorliegen:[30] Eine Bologneser Chronik schildert einen besonders dunstigen September, in dem die milchweiße, manchmal blaue Sonne ohne Strahlkraft blieb wie der nächtliche Mond und den Wein nicht zum Reifen brachte.[31] Der römische Senatsschreiber Stefano Infessura erwähnt Veränderungen der Sonne am 14. September, die mal grün, mal blau, mal gelb erschien.[32] Ein Chronist aus dem umbrischen Gubbio berichtet ebenfalls, dass die Sonne zur Mittagszeit des 13. September blau wurde und so bis zum nächsten Tag blieb.[33] Doch das Potential zum Kronzeugen einer durchziehenden Aerosolwolke hat eindeutig der neapolitanische Notar Angelo de Tummulillis. Er berichtet, dass vom 8. September an die oberen Luftschichten so dunstig waren, dass die Sonne nach ihrem Aufgang wie der Mond wirkte und selbst um die Mittagszeit keine Schatten warf. Am 13. September wurde sie noch dunkler, am Morgen des 14. September erschien sie ganz gelblich wie hinter Nebeln, am Mittag von blauer Farbe. Mehr als zehn Tage konnte sie die hohen Nebel kaum durchdringen, dazu herrschte völlige Windstille und statt Wolken gab es nur den Dunst in der Höhe. Als nach über einer Woche ein leichter Wind aufkam, konnte dieser den Höhennebel nicht vertreiben.[34]

Die Schilderung durch Angelo de Tummulillis lässt an Präzision nichts zu wünschen übrig und deckt sich mit dem, was zu vulkanischen Trockennebeln nach der Tambora-Eruption bekannt ist.[35] Wie alle anderen genannten Autoren enthält er sich bei der Beschreibung der ihm unerklärlichen Himmelsphänomene bemerkenswerterweise metaphysischer Erklärungsversuche. Wie aber können die Berichte über eine blaue und grüne Sonne plausibel als Effekt einer Aerosolwolke erklärt werden? Im Kontext des Tambora-Ausbruchs wird nichts dergleichen berichtet. Eine Sammlung weltweiter Beobachtungen nach dem Ausbruch des Krakatau 1883 verweist hingegen durchaus auf Berichte aus Äquatornähe, dass dort eine Blau- und Grünfärbung der Sonne nach dem Ausbruch des Vulkans bemerkt wurde.[36] Auch alternative Erklärungen für die blaue Sonne müssen in Betracht gezogen werden: Im September 1950 war über Nordeuropa, v.a. in Schottland und Skandinavien, eine Blaufärbung der Sonne zu beobachten, die hypothetisch auf massive Waldbrände in Kanada zurückgeführt wurde.[37] Allerdings könnte auch bei diesem Ereignis ein in Japan lokalisierter Vulkanausbruch im Spiel gewesen sein, weil völlig unklar ist, ob die Rußpartikel eines Waldbrands die für einen Transport bis nach Europa notwendigen Höhen in der Atmosphäre erreichen können.[38]

An dieser Stelle ist zu betonen, von welchen Zufällen eine solche kohärente Beobachtungskette von Neapel bis Braunschweig abhängt: Voraussetzung ist ein wolkenloser Himmel an denselben Tagen in Regionen, die eigentlich von grundverschiedenen meteorologischen Mustern geprägt sind. Dies mag auch den Negativbefund für West- und Osteuropa erklären. Hinzu kommt die Anwesenheit eines Beobachters, der sich für Himmelsphänomene interessiert und diese brauchbar datiert und beschreibt.[39] Insofern sind sieben voneinander unabhängige, spezifische Quellenbelege schon ein zufriedenstellendes Ergebnis. Offen bleiben muss, ob im September 1465 nur ein Ausläufer einer Aerosolwolke in einem langen Streifen von Norddeutschland bis Süditalien sichtbar war. Nur eine Quelle, Gebhard Dacher, berichtet von dauerhaft eingeschränkter Strahlkraft der Sonne im Jahr 1465. Ein Bericht des uns bereits aus dem Kontext von 1453 bekannten Chronisten Kritobulos von Imbros schildert möglicherweise einen bereits früher erfolgten Durchzug eines ersten Teils der Kuwae-Aerosolwolke: In eben diesen Tagen aber wurde auch eine außergewöhnliche Himmelserscheinung beobachtet. Zur hohen Mittagszeit nämlich verfinsterte sich die Sonne, die ungetrübt und wolkenlos schien, in einem plötzlichen Wechsel und wurde dunkel, und ihr Aussehen veränderte sich, und sie nahm die Farbe von dunklem Kupfer an und wurde ganz und gar finster und schwarz, nicht in der gewohnten Weise wie bei Sonnenfinsternissen (denn es war keine Sonnenfinsternis damals), sondern auf eine andere noch nie dagewesene Art, gleichsam wie wenn ein Nebel oder eine dichte, dunkle Wolke sie überziehe und überschatte, und sie blieb so insgesamt drei Tage und ebenso viele Nächte lang, und es haben sie auch alle so gesehen.[40] Leider ist diese Beobachtung, die vermutlich in der nördlichen Ägais anzusiedeln ist, nicht sicher datierbar. Der Editor schlägt aus dem Kontext der Chronik heraus den Zeitraum Herbst/Winter 1464 vor; eine Sonnenfinsternis kann nachweislich nicht Ursache der Erscheinung sein.[41]

Der Befund aus der Ägais weist aber erstmals über die Grenzen des mittelalterlichen Europa hinaus: Denn bei einem globalen Ereignis wie der Kuwae-Eruption kann man auch weltweite Beobachtungen der Aerosolwolke und ihrer Effekte zumindest erhoffen. Allerdings stößt der Autor spätestens hier an die Grenzen seiner Fähigkeiten, zum einen wegen Sprachbarrieren, zum anderen in den Kenntnissen, wie mit schriftlicher Überlieferung aus dem muslimischen, indischen oder mittelamerikanischen Raum umgegangen werden muss. Nur ein instruktives Beispiel aus China mag zeigen, welche Potentiale in einer fächerübergreifenden Zusammenarbeit von Mediävisten, Arabisten, Indologen, usw. schlummern dürften: Chinesische Klimahistoriker haben seit den 1980er Jahren die immense schriftliche Überlieferung ihres Landes nach meteorologisch relevanten Informationen von der frühesten Zeit bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts durchsucht und diese Ergebnisse publiziert.[42] Die Datensammlung für die 1460er Jahre zu interpretieren ist schwierig, werden die Befunde doch in einem sehr annalistischen Stil präsentiert.[43] Da so eine qualitative Einschätzung schwierig bis unmöglich wird, wurde ein simpler quantitativer Ansatz versucht, der Kategorien von Extremereignissen wie Fluten und Dürren in ein prozentuales Verhältnis setzt. Dadurch wurde klar, dass im großen geographischen Raum des mittelalterlichen China z.B. auch Trockenjahre eine für sich genommen beträchtliche Zahl an Fluten in manchen Landesteilen aufweisen können. Dasselbe gilt für extreme Temperaturen. Umso weniger ist es sinnvoll, hier Einzelereignisse wie kalte Winter, zufrierende Flüsse, etc. als Indikatoren herauszugreifen, wie Pang es für die 1450er Jahre getan hat. Erkennbar ist, dass nach einem feuchten Jahr 1460 die Jahre 1461 bis 1463 tendenziell trockener wurden.[44] Einen drastischen Wechsel verzeichnen dann die äußerst niederschlagsreichen Jahre 1464/65.[45] Im Februar 1464 wird ein – allerdings unspezifischer – Nebel für Bejing erwähnt.[46] Sehr viel aussagekräftiger sind Berichte über den Niederschlag von “schwarzer Hirse” in Zentralchina und “schwarzem Reis“ in Südchina im Juli 1464.[47] Innerhalb der vorliegenden chinesischen narrativen Quellen der 1460er Jahre gibt es keine vergleichbaren Berichte. Es ist sehr verlockend, diese beiden wiederum unabhängigen Textstellen als Umschreibungen für den Niederschlag von Vulkanasche des über 7000 km entfernten Kuwae zu verstehen. Allerdings wurde bei der (mutmaßlich kleineren) Tambora-Eruption Vulkanasche nur in einer Entfernung von bis zu 1300 km nachgewiesen.[48] Die Beantwortung der Frage, ob ein Niedergang feiner Vulkanasche auch in so großer Entfernung vom – geographisch ja umstrittenen[49] – Eruptionsort denkbar ist, kann kein Historiker leisten.

Fazit

Mindestens drei Schlussfolgerungen bieten sich abschließend an:

Erstens soll vor dem Rückgriff auf die Ergebnisse Pangs für die Diskussion um die Kuwae-Eruption Mitte des 15. Jahrhunderts nachdrücklich gewarnt werden. Sie sind nicht valide. Selbst wenn sie nicht mehr die zentrale Rolle für die Datierung als stratigraphische Marker spielen, wird auf sie doch immer wieder Bezug genommen, etwa in der Frage, ob es sich um zwei Eruptionen handelte: Arktische Eiskerne weisen gelegentlich zwei Eruptionssignale jeweils Mitte der 1450er und Anfang der 1460er auf; andere zeigen nur ein Signal.[50] Wenn weiterhin aufgrund der invaliden Beobachtungen von Pang ein Zwang zur Erklärung meteorologischer und optischer Phänomene im Jahr 1453 gesehen wird[51], gehen solche Interpretationen des Datenmaterials vermutlich von falschen Voraussetzungen aus.

Zweitens sollen die hier vorgestellten Belege diskutiert werden, und zwar nicht nur von Mediävisten und bewusst im eher informalen Rahmen eines Blogbeitrags: Ermöglichen die dargebotenen Befunde aus den Schriftquellen – vorausgesetzt ihre Interpretation als Effekte einer vulkanischen Aerosolwolke trifft zu – nicht eine ähnlich präzise, ja letztlich präzisere Datierung als das Schichtenzählen bei Eisbohrkernen? Anders als bei Frostringen in dendrochronologischen Befunden, die lokale Phänomene spiegeln und keineswegs zwingend mit Vulkaneruptionen erklärt werden müssen, können die vorlegten Auszüge aus narrativen Quellen so einfach nicht ohne Aerosolwolke erklärt werden. Schließen die naturwissenschaftlichen Datierungen eine Eruption im Jahr 1464 vollständig aus, wenn wir das Jahr 1453 schlicht vergessen und eine Grobeinordnung der Eruption(en) in die Mitte des 15. Jahrhunderts vornehmen, um dann die Diskussion neu zu führen?

Zweifellos hängt die Validität der hypothetischen Datierung auf 1464 von der Qualität der beigebrachten Schriftquellen ab. Der Autor hat hier nur einen kleinen Ausschnitt der erhobene Belege präsentiert, dafür aber ausschließlich solche, die seiner Ansicht nach kaum anders als mit Durchzug einer Aerosolwolke vulkanischen Ursprungs erklärt werden können. Um den hier formulierten Vorschlag einer Datierung der Kuwae-Eruption – oder unter welchem Namen dieser Ausbruch auch immer künftig firmieren wird – auf 1464 argumentativ zu erhärten, bräuchte es vergleichbar präzise und einschlägige Beobachtungen für die Jahre 1452/53 oder auch 1458-60. Eine ähnlich intensive Recherche wie für die 1460er Jahre steht für die 1450er noch aus. Außerdem wäre es fundamental, Alternativerklärungen für die blaue und grüne Sonne, die beschriebenen Höhennebel sowie die reduzierte Sonneneinstrahlung ausschließen zu können. Im Fall der hier vorgestellten Phänomene sind also auch Quellenbefunde aus der Nordhemisphäre relevant für Eruptionsereignisse der Südhemisphäre.[52] Allerdings muss die Überlieferung der außereuropäischen Gesellschaften noch gründlich von Fachleuten durchsucht werden. Dies kann ein Einzelner nicht leisten.

Drittens fokussiert der Beitrag ausdrücklich auf Aspekte, bei denen Geowissenschaftler von historischer Expertise profitieren können. Ausgespart blieb daher das, was Historiker für gewöhnlich eher interessieren würde: die zahlreichen Aussagen der narrativen Quellen zu meteorologischen Extremereignissen zwischen 1460 und 1470 sowie deren mutmaßlicher sozialer und ökonomischer Impact. Für Datierungsfragen sollten diese Beobachtungen, da nicht zwingend durch eine vulkanische Ursache erklärbar, ohne Beachtung bleiben. Der Autor hat sich ihnen an anderer Stelle gewidmet, mit dem substantiierten Eindruck, dass die meteorologischen Konsequenzen der Kuwae-Eruption viel weniger eindeutig dem Tambora-Modell folgen als bisher angenommen und generell die sozio-ökonomischen Folgen weniger harsch und apokalyptisch sind als vielfach angenommen.[53] Vielleicht liegt darin auch eine Erklärung, warum die Wachstumsringe von Bäumen nicht ‚adäquat‘ (d.h. stark) auf vulkanische Eruptionen reagieren:[54] Die vulkanische Abkühlung – so eine abschließende Hypothese im Gegensatz nicht nur zu Mann et al. 2012 – wird nicht unterschätzt, sie wird überschätzt. Aber das bedarf weiterer Forschung, von geowissenschaftlicher wie von geschichtswissenschaftlicher Seite.

Ausdrücklich erbittet der Autor Rückmeldung und Kritik zu seinen hier geäußerten Überlegungen, die genau zu diesem Zweck online gestellt wird. Bei der Recherche geriet er vielfach an die Grenze der eigenen Kompetenzen. Die geäußerte Kritik auch an Kollegen aus anderen Disziplinen erfolgt im Bewusstsein, wie schnell auch der Autor selbst bei diesem Thema zwar noch am wenigsten mit seinem Latein, aber doch mit seinem Verständnis komplexer Prozesse, die andere Fächer beschreiben, am Ende war. Ich erhoffe mir eine fruchtbare Diskussion, die ein wenig mehr Klarheit in das vulkanische Zwielicht bringt.

An English version of this article is upcoming.

Zitiervorschlag:

Martin Bauch: Vulkanisches Zwielicht. Ein Vorschlag zur Datierung des Kuwae-Ausbruchs auf 1464, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 10. April 2015, http://mittelalter.hypotheses.org/5697 (ISSN 2197-6120)

Dieser Beitrag steht unter der Lizenz  https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/de/.

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Anmerkungen:
[1] Vgl. zuletzt Jeffrey B. Witter; Steven Self, The Kuwae (Vanuatu) eruption of AD 1452: potential magnitude and volatile release, in: Bulletin of Vulcanology 69 (2007), S. 301-318 mit weiterer Literatur.

[2] Jüngste Überblicke über den komplexen Mechanismus z.B. bei Anja Schmidt; Alan Robock, Volcanism, the atmosphere, and climate through time, Chap. 13, in: Volcanism and Global Environmental Change, ed. by Anja Schmidt, Кirsten E. Fristad, Linda T. Elkins-Tanton, (Cambridge University Press, Cambridge, 2015, S. 195-207, hier S. 198f.; Jihong Cole-Dai, Volcanoes and climate, in: Wiley Interdisciplinary Reviews: Climatic Change 1/6 2010, S. 824–839.

[3] Auf neuere, höhere Genauigkeit beanspruchende Datierungsmethoden der Eisbohrkernforscher wird weiter unten eingegangen.

[4] Kevin D. Pang, ‘Climatic impact of the mid-fifteenth century Kuwae caldera formation, as reconstructed from historical and proxy data’, in: Fall Meeting. American Geophysical Union, 1993, S. 106. Zur gewöhnlich falsch wiedergegebenen bibliographischen Angabe dieses Abstracts vgl. Anm. 18.

[5] Für die 1450er Jahre wird auf die klimageschichtliche Online-Datenbank tambora.org verwiesen. Obwohl ein Großteil der darin aufgenommen Daten sich als aus quellenkritischer Sicht gerade für das Mittelalter als problematisch erweist – v.a. die Aufnahme nicht zeitgenössischer Quellen ist zu nennen –, ist das Projekt perspektivisch doch sehr nützlich für die Sammlung meteorologisch relevanter Daten aus narrativen Quellen. Für die 1460er Jahre liegt eine Kompilation quellenkritisch zuverlässiger Belege durch den Autor vor, vgl. Martin Bauch, The day the sun turned blue. The redated Kuwae eruption in 1465 and its putative climatic impact – a globally perceived volcanic disaster in the Late Middle Ages?, in: Schenk, Gerrit J.  (Hg.), Historical Disaster Experiences. A Comparative and Transcultural Survey between Asia and Europe, Heidelberg 2015 (im Druck).

[6] Siehe Anm. 54.

[7] Steven Runciman, The Fall of Constantinople, Cambridge/Mass. 1965, S. 112, 121f.

[8] Die drei von Runciman angeführten Chronisten Niccolò Barbaro, Leonard von Chios und Giorgios Sphrantzes berichten im April und Mai 1453 nichts, was über normalen Nahrungsmittelmangel im Zug einer Belagerung hinausgeht (Vgl. La caduta di Costantinopoli. Le testimonianze dei contemporanei, a cura di Agostino Pertusi, S. 19-29, 129-153) Misswuchs oder Verweise auf reduzierte Sonneneinstrahlung finden sich nirgends. Dass landwirtschaftliche Flächen innerhalb der Stadtmauern im April/Mai wenig Essbares produzierten – und vielleicht meint Runciman nur das –, ist jahreszeitbedingt alles andere als ungewöhnlich.

[9] Il 21 maggio ci fu, a causa di nostri peccati, un tremendo presagio in città: la notte del venerdì tutta la città si illuminò, e le sentinelle, avendo visto ciò, corsero a vedere che cosa stava succedendo: pensavano che i turchi avessero incendiato la città e gridavano a gran voce. Radunatasi una gran folla, si vide che in cima, dalle finestre della Grande Chiesa di Santa Sofia, usciva un gran fuoco che circondò la base della cupola della chiesa per molto tempo e le fiamme riunitesi si trasformarono in un‘ unica gran fiamma, e ci fu come una luce indescrivibile e subito essa salì verso il cielo. Coloro che guardavano incominciarono a piangere amaramente rivolgendo l’invocazione: ‚Signore, abbi pieta!’. Quando quella luce raggiunse il cielo, si aprirono le porte del cielo e, accolta la luca, di nuovo si richiusero. […] [Am nächsten Tag erläutert der Patriarch dem byzantinischen Kaiser das Vorgefallene]: ‘Tu sai, imperatore, tutte le predizioni su questa città, e anche ora c’è stato un presagio tremendo: la luce indescrivibile, che operava già nella Grande Chiesa di Santa Sofia assieme ai più grandi sapienti e ai sommi sacerdoti ecumenici, così come anche l’angelo divino, che Dio aveva reso più forte durante il regno dell‘ imperatore Giustiniano per la conservazione della santa e grande chiesa e di questa città, questa notte se ne sono andati in cielo; e ciò significa che la grazia di Dio e la sua generosità ci hanno abbandonato [S. 283] e che Dio vuole consegnare la città nelle mani di nostri nemici‘. E così gli presentò quelle persone che avevano visto il prodigio; e come l’imperatore ebbe ascoltato quanto essi dicevano, cadde a terra come morto e senza parola per lungo tempo (Nestor Iskander, Racconto di Costantinopoli, in: La caduta di Costantinopoli. Le testimonianze dei contemporanei, a cura di Agostino Perusi, S. 261-298, hier S. 282f.)

[10] Bereits zu Beginn der Prozession war die Ikone von übernatürlichen Kräften zu Boden geworfen worden, so dass sie kaum wieder aufgehoben werden konnte. Doch damit nicht genug: Dann aber […] brach gleich darauf genau um die Mittagsstunde ein starkes Gewitter herein mit dunklem Gewölk, und es goß in Strömen und hagelte heftig, so daß die Priester und Träger der Ikone und die nachfolgende Menge es nicht aushalten und ihren Weg nicht weiter fortsetzen konnten, bedrängt und behindert durch die herabstürzenden Regenmassen und die Gewalt des Hagels. Auch wären viele der mitziehenden Kinder in Gefahr geraten, mitgerissen zu werden und zu ertrinken, fortgeschwemmt von dem starken und reißenden Wasserschwall, wenn nicht Männer sie sogleich ergriffen und mit Mühe der Gewalt des Wassers entrissen hätten. So unerhört und ungewöhnlich war die gewaltige Masse des Regens und jenes Hagels. Fraglos zeigte dies den unmittelbar bevorstehenden, totalen Untergang der Stadt an (Mehmet II. erobert Konstantinopel. Die ersten Regierungsjahre des Sultans Mehmet Fatih, des Eroberers von Konstantinopel 1453. Das Geschichtswerk des Kritobulos von Imbros, Übersetzt, eingeleitet und erklärt v. Diether Roderich Reinsch [Byzantinische Geschichtsschreiber, 17], Graz; Wien; Köln 1986, S. 103).

[11] Tags darauf aber hüllte morgens eine tiefhängende Wolke die ganze Stadt vom Morgengrauen bis zum Abend ein. Dies zeigte zweifellos den Aus- und Rückzug der Gottheit aus der Stadt an und dass sie diese endgültig verließ und sich von ihr abwandte. Denn in eine Wolke gehüllt naht die Gottheit und entschwindet wieder (Ebd., S. 104)

[12] Pur ancora in questo zorno de vintido de mazo [20. Mai 1453], a una hora de note el parse uno mirabel segnal in zielo, el qual segno fo quel che dè ad intender a Costantin degno imperadore de Costantinopoli, che el suo degno imperio sì se aprossimava al finimento suo, come con efeto è stato. Questo segnal si fo de questa condition e forma: questa sera a un hora de notte levò la luna et havea hozi el suo tondo, levando questa luna la dovea levar tuta tonda, ma questa luna si levò come quela avesse abudo tre zorni, la qual puoco parea, e iera l’aiere sereno come un cristalo neto e mundo; questa luna si durò a questo muodo zerca hore quattro, e poi a puoco a puoco quela si se andò fazando el suo tondo, e a ore sie de note, tuta si fo compida de far el suo tondo. (Niccolò Barbaro, Giornale dell’assedio di Costantinopolo, in: Pertusi, La caduta di Costantinopoli [wie Anm. 9], S. 8-38, hier S. 26)

[13] http://eclipse.gsfc.nasa.gov/LEhistory/LEplot/LE1453May22P.pdf

[14] Richard A. Keen, Volcanic Aerosols and Lunar Eclipses, in: Science 222 (1983), S. 1011-1013.

[15] Hier scheint das Versäumnis bei Runciman zu liegen, der die venezianische Quelle irreführend paraphrasiert.

[16] Die wenig präzise Belegpraxis Runcimans macht es unmöglich, die dieser Behauptung zugrunde liegende Quellenstelle zu finden. Da aber die Beobachtung so oder so keine argumentative Kraft hat, wurde darauf verzichtet, umfänglich Editionen durchzugehen.

[17] Runciman, The Fall (wie Anm. 7), S. 121f.; Marios Philippides; Walter K. Hanak, The Siege and the Fall of Constantinople in 1453. Historiography, Topography and Military Studies, Farnham, 2011, S. 214-231.

[18] Die ausnahmlos anzutreffende bibliographische Angabe des in Anm. 4 genannten Abstracts von Pang verweist auf den Publikationsort „Eos. Transactions of the AGU 74 (1993), S. 106“. Die genannte Seitenzahl existiert in keinem der beiden Teilbände 74/9 und 74/10; natürlich findet sich auch Pangs Abstract nicht hier. Dies lässt nur den Schluss zu, dass die Angabe von Publikation zu Publikation übernommen, aber nie überprüft wurde.

[19] Michael Sigl et al., A new bipolar ice core record of volcanism from WAIS Divide and NEEM and implications for climate forcing of the last 2000 years, in: Journal of Geophysical Research, 118/3 (2013), S. 1151–1169, here S. 1152: “While many of the Icelandic eruptions back into the middle ages are associated with reliable eruption dates reported by historic witnesses, this is not true for the majority of eruptions that took place in remote areas of the tropics and the Southern Hemisphere […]. Nevertheless, two additional time markers from large stratospheric eruptions in the tropics are used as tie-points for development of ice core chronologies: an unknown eruption in 1258 […], the largest volcanic event of the last millennium, and the signal in 1452/1453 associated with the eruption of Kuwae in Vanuatu […], the largest volcanic event of the last millennium for most of the Antarctic ice core records. Various volcanic timescales in Antarctica were tied to this 15th century time marker.”

[20] Ebd., S. 1160f.; C.T. Plummer et al., An independently dated 2000-yr volcanic record from LawDome, East Antarctica, including a new perspective on the dating of the 1450s CE eruption of Kuwae, Vanuatu, in: Climate of the Past 8 (2012) S. 1929-1940, hier S. 1936f.

[21] Vgl. Sigl et al., A new bipolar ice core record, S. 1163; Plummer et al., An independently dated 2000-yr volcanic record, S. 1936f.

[22] “only volcanic signals from historically documented eruptions have been used to tie the absolute ages” (Sigl et al., A new bipolar ice core record, S. 1153.

[23] Vgl. zum Auftreten warmer Winter in (Nord-)Europa unmittelbar nach großen Vulkaneruptionen Schmidt/Robock, Volcanisms (wie Anm. 1), S. 200 mit weiterer Literatur.

[24] Franck Lavigne et al., Source of the great A.D. 1257 mystery eruption

unveiled, Samalas volcano, Rinjani Volcanic

Complex, Indonesia, in: PNAS 110/42 (2013), pp. 16742-16747, here p. 1674. Viele inexakte Angaben fallen ins Auge: vom Titel der zitierten Chronik (recte: 1308) bis hin zur fehlenden Seitenzahl in der Edition (S. 131). Vom grundsätzlichen Problem, aus einer mit mindestens 60 Jahren Abstand zum Ereignis niedergeschriebenen Chronik exakte Angaben für das Jahr 1258 zu erwarten, ganz zu schweigen.

[25] Die Chronologie im von Lavigne et al. zitierten Text (S. 2) ist nicht so klar wie behauptet: Der Kontext der Textstelle in der Edition mit seinen Erwähnungen der Wahl Richards von Cornwall (13. Januar 1257) verweist eindeutig auf das Jahr 1257, wenn auch der isolierte Absatz zum warmen Winter tatsächlich, wenn auch keineswegs zwingend, auf das Folgejahr deuten könnte.

[26] Zu verweisen ist auf in Vorbereitung befindliche Artikel zu den Konsequenzen des Samalas-Ausbruchs für das mittelalterliche Europa einerseits durch Bruce Campbell (Belfast), andererseits durch den Autor. Darin werden weitere Belege für einen warmen Winter 1257/58 angeführt.

[27] Vgl. Bauch, The day the sun turned blue (wie Anm. 5). Zur Quellenbasis der Studie, deren datierungsrelevanter Teil hier präsentiert wird: Ein Großteil der wichtigsten edierten Chroniken, Tagebücher und anderer narrativer Quellen in Europa und dem Mittelmeergebiet wurden vom Autor für die Jahre 1460-1470 überprüft. Sie wurden durch Rückgriff auf das unverzichtbare Hilfsmittel der Encyclopedia of the Medieval Chronicle, ed. Graeme Dunphy, 2 Bde., Leiden 2010 ermittelt. Quellen in ungarischer, rumänischer, russischer, griechischer und arabischer Sprache wurden nicht ausgewertet, soweit keine Übersetzung ins Englische, Französische oder Deutsche vorlag. Von einer Gesamtzahl von 280 im Druck vorliegenden narrativen Quellen für die genannte Periode enthielten 181 keine relevanten Informationen zu Wetter, Hunger, Epidemien oder Himmelsphänomenen, 69 erbrachten Resultate. 31 Quellen konnten weder über Fernleihe noch online eingesehen werden.

[28] Die “Konstanzer Chronik” Gebhart Dachers: “By des Byschoffs zyten volgiengen disz nachgeschriben ding vnd sachen …”; Codex Sangallensis 646, Edition und Kommentar, hg. v. Sandra Wolff, Ostfildern 2008, S. 696.

[29] Sog. „Sächsische Bilderchronik“ aus Braunschweig: Darna upp ein fridage vor des hiligen Crützes dage in dem rechten midden dage, do vvas de sunne so blauwe umme getzirkelt alse ein blauw korne blome, unde gaff nenye schyn van sick (Chronicon Brunsvicensium Picturatum dialecto saxonica conscriptum, in: Scriptores rerum Brunsvicensium illustrantium, Bd. 3, hg. v. Gottfried Wilhelm Leibniz, Hannover 1711, S. 277-425, hier S. 411); Soester Stadtbücher: Anno domini 1465. Up des hilgen Cruces avende Exaltacionis do was dey sunne an dem hemele so bla ind dey lucht so gelbleck, dat nummant en wuste, wo dat sin mochte, und dat dey rynck van der sunnen und dey schyn was alle blaewyt und was ok eyne wijle tydes roit und wyt (Die Chroniken der westfälischen und niederrheinischen Städte. Dritter Band: Soest und Duisburg, Leipzig 1895 [Die Chroniken der deutschen Städte, 24], S. 51); Bericht einer Chronik aus der Gegend um Maastricht: Terstont doer noe op synte Cornelis avent off op der Heyligen Cruyts avent due scheyn die sonne also jemerlich inde also blodich, gelick doen hedde sy myt blode besmert off bestreken gewest. Inde dit waes al te jemerlick inde bedroft aen te syen. Inde dit duerde omtrent II dach (J. Habets [Hg.], Chronijck der Landen van Overmaas en der anngrenzende gewesten door eenen inwoner van Beek bij Maastricht, in: Publications de la Société Historique et Archéologique dans le Limbourg 7 (1870), S. 11-218, hier S. 22).

[30] Auf sie verweist erstmals Dario Camuffo, Silvia Enzi, Impact of the Clouds of Volcanic Aerosols in Italy During the Last 7 Centuries, in: Natural Hazards 11 (1995), S. 135-161, hier S. 140. Doch wird das Ereignis hier nicht direkt mit einem global wirksamen Ausbruch in Zusammenhang gebracht.

[31] El mese de settenbre [1465] fu chalinzoso, ché ‘l sole mostrava pocho spiandore, era de colore como è la notte la luna, cum colore azuro e smorto, l’ochio del sole biancho como latta; le uve non se possenno madurare bene, li vini bruschi. Questo durò infino adì 26 de settembre (Corpus Chronicorum Bononiensium. Bd. 4, hg. v. Albano Sorbelli, Città di Castello 1924, [RIS² 18/1-4], S. 341, Cronaca A, Cronaca B quasi identischer Bericht).

[32] Eodem anno [1465] a dì 14 di settembre, in die santae crucis, lo sole fece molte mutationi; quanno pareva verde e quanno azzurro et alcuna volta giallo, tutto lo dì (Diario della città di Roma di Stefano Infessura scribasenato, a cura di Oreste Tommassini, Roma 1890 [Fonti per la Storia d’Italia, 5], S. 69).

[33] A dí 13 de setembre [1465], che fo vènere, circa el mezo dí, el sole deventò celestro, et stecte cosí tucto el sabato, che fo a dí 14; e cosí ando sotto la sera.

[34] Sed in ipso mense septembris .XIIII. indictione infra octavam nativitatis beate virginis Marie totum aer sursum factum nubilosus et caliginosus per plures dies et noctes in tantum quod sol in ortu suo videbatur velut luna non radians, et in meridie non naturaliter set paulisper effundebat radios suos ita quod in oppositis vero faceret umbram, qui cum declinaret ad occasum aspicientibus latebat in totum. Sed eadem ebdomada die veneris .XIII. eiusdem magis oscuratus est et in sequenti die sabati .XIIII. in mane apparuit quasi inter nebulas intrusus crocei coloris usque ad sextam, ita quod vultus etiam hominum sese adspicientium viderentur eiusdem crocey coloris seu zallany; et circa meridiem usque ad vesperos dictus sol apparuit coloris azuri seu brevis parum radians inter nebulas vel caligines interpositas, et omni die in vesperis latebat quasi in totum, et hoc duravit quasi per decem dies cum silentio et tranquilitate aeris sine flatu alicuius venti, nec aliqua nubes apparebat super terram vel in montaneis nisi in aere, quasi caligines sine motu. Set postea ceperunt flare modicum venti super terram non expellentes tamen caligines in aere (Notabilia temporum di Angelo de Tummulillis da Sant’Elia, a cura di Costantino Corvisieri, Livorno 1890 [Fonti per la Storia d’Italia, 7], S. 134)

[35] Vgl. Richard B. Stothers, The Great Tambora Eruption in 1815 and Its Aftermath, in: Science 224/4654 (1984), S. 1191–1198, hier S. 1194f.

[36] Tom Simkin; Richard S. Fiske, Krakatau 1883. The Volcanic Eruption and its Effects, Washington, D.C.: Smithsonian Institute Press, 1983, pp. 154–159.

[37] Rudolf Penndorf, On the phenomenon of the colored sun, especially the “blue” sun of september 1950, Cambridge, MA: Air Force Cambridge Research Center, 1953; Anders Angström, The Blue Sun of September 1950, in: Tellus 3/3 (1951), S. 135-140 mit weiterer Literatur zum Phänomen der blauen Sonne.

[38] Ebd., S. 140.

[39] Der Befund kann sich auch ganz anders darstellen: In der „Chronik Friedrichs I. des Siegreichen“ (Berichtzeitraum 1452-1475) schreibt Matthias Kemnat zum Thema Von den cometen, hauven vnd irem vbel. Leider ist der Bericht nicht genau zu datieren. Die Kometen werden auf die Jahre 1456, 1469 und 1477 datiert; eine Einordnung der beschriebenen Sonnenverfärbung in die zweite Hälfte der 1460er Jahre wäre also auf jeden Fall denkbar: Auch soltu hie wissen vnd eben mercken, das zu der zeit, do keiser Friederich der dritt hoit regiert, haben zum dickern male erschienen vnd sint gesehen worden die cometen. Das sein stern mit langen schwentzen. Die sone ist vil tag blahe gesehen worden vnd ein creutz ist gesehen worden inn dem mone vnd vil anders wunders an dem himmel (Matthias von Kemnat, Chronik Friedrichs I. des Siegreichen, in: Quellen zur Geschichte Friedrich’s des Siegreichen. Erster Band: Matthias von Kemnat und Eikhart Artzt, hg. v. C. Hofmann, München 1862 (Quellen und Erörterungen zur bayerischen und deutschen Geschichte, 2), S. 1-141, hier: S. 87).

[40] Das Geschichtswerk des Kritobulos von Imbros (wie Anm. 10), S. 277.

[41] Ebd., S. 327. Tatsächlich gibt es im ganzen Jahr 1464 bis 20. September 1465 keine Sonnenfinsternis, die im Gebiet des heutigen Griechenland und der Türkei hätte sichtbar sein können, vgl. http://eclipse.gsfc.nasa.gov/SEcat5/SE1401-1500.html

[42] De’er Zhang (ed), A compendium of Chinese Meteorological Records of the last 3,000 years, 4 vols., Nanjing 2004. Relevant ist hier Bd. 2 mit Quellen für die Ming-Dynastie (1368-1643).

[43] Meteorologische Ereignisse werden knapp beschrieben: „severe flood“, „long drought“, continuous rainfall”. Ob dies der kompilatorischen Arbeit der Herausgeber zu verdanken ist oder den Wortlaut der Originalquellen spiegelt, entzieht sich bereits der Kenntnis des Autors.

[44] 1460: 55% Hochwasser, 14% Dürre, 18% Dauerregen. – 1461: 38% Hochwasser, 29% Dauerregen, 22% Dürre. – 1462: 35% Hochwasser, 6% Dauerregen, 32% Dürre, 16% kein Schnee im Winter. – 1463: 33% Hochwasser, 29% Dauerregen, 33% Dürre. Die Prozentangaben beziehen sich auf die Gesamtzahl aller berichteten meteorologischen Extremereignisse, ohne dass diese gewichtet werden könnten.

[45] 1464: 42% Hochwasser, 17% Dauerregen, 6% Dürre. – 1465: 47% Hochwasser, 15% Dauerregen, 14% Dürre.

[46] February 17th, there was great fog, vgl. De’er (ed): A compendium of Chinese Meteorological Records, Bd. 2, S. 705. Für die Übersetzung ins Englische danke ich sehr herzlich Xiangyu Kong (Hangzhou) und Prof. Dr. Mao Zheng Wei (Hangzhou) für die Vermittlung.

[47] Xiangfan (seit 2010: Xiangyang), Provinz Hubei: Black balls like millets fell in Xiangyang; Shunde, heute Teil der Stadt Foshan, Provinz Guangdong (bei Hongkong): In the 6th month summer [5. Juli – 2. August 1464], black rice fell in Shunde, vgl De’er (ed): A compendium of Chinese Meteorological Records, vol. 2, 710.

[48] Richard B. Stothers, The Great Tambora Eruption in 1815 and Its Aftermath, in: Science. 224/4654 (1984), S. 1191–1198, hier S. 1193f.

[49] Károly Németh, Shane J. Cronin, James D.L. White, Kuwae Caldera and Climate Confusion, in: The Open Geology Journal 1/2007, S. 7-11.

[50] Sigl et al., A new bipolar ice core record, S. 1162.

[51] „historical accounts in Europe and China [Pang, 1993] suggest a volcanic eruption in late 1452/early 1453“ (Ebd., S. 1163); Historical evidence of unusual weather phenomena during 1453 also suggests an eruption took place at this time (Pang, 1993), but this historical evidence is primarily from the N[orthern] H[emisphere]” (Plummer et al., An independently dated 2000-yr volcanic record, S. 1936).

[52] „Often it is difficult to obtain reliable dates for reference horizons beyond recent history, especially in the Southern Hemisphere (SH), as historical documentation of eruptions is poor“ (Plummer et al., An independently dated 2000-yr volcanic record, S. 1930).

[53] Vgl. Bauch, The day the sun turned blue (wie Anm. 5), passim. Ähnliche Beobachtungen formulierte bisher mündlich Bruce M. Campbell, der wie der Autor dieses Beitrags eine Publikation zu den Konsequenzen des Samalas-Ausbruchs von 1257 vorbereitet.

[54] Michael Mann; Jose D. Fuentes; Scott Rutherford, Underestimation of volcanic cooling in tree-ring-based reconstructions of hemispheric temperatures, in: Nature Geoscience 5 (2012), S. 202-205.

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/5697

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Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte – Stellenausschreibung Software-EntwicklerIn

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
das Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte (MPIWG) in Berlin sucht zum frühestmöglichen Zeitpunkt für die Dauer von drei Jahren eine/n Software-Entwickler/in (TVöD (Bund) E13, Stellenumfang 50%) für die Mitarbeit am Forschungsprogramm zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft.

Den vollständigen Ausschreibungstext sowie Kontaktinformationen erhalten Sie auf http://www.mpiwg-berlin.mpg.de/en/news/jobs.html#0082.

Beste Grüße,
Klaus Thoden

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=4873

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LMU: Ausschreibung: sieben Stellen als Wissenschaftliche Mitarbeiter/innen (Promovierende) in Teilzeit (65 %) (zum 1. Oktober 2015)

http://www.igk-religioese-kulturen.uni-muenchen.de/bewerbung/ausschr_stip/index.html Zum 1. Oktober 2015 vergibt das Internationale Graduiertenkolleg “Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts” sieben Stellen als Wissenschaftliche Mitarbeiter/innen (Promovierende) in Teilzeit (65 %) für die Dauer von zunächst zwei Jahren. Eine Verlängerung um maximal zwölf Monate ist möglich. Bewerbungsschluss ist der 15. Mai 2015.

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2015/03/5732/

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Kein Wunder nirgendwo – die genetische Herausforderung der Geschichte

Unter dem Titel „Die DNA der Geschichte“ hat der Heidelberger Historiker Jörg Feuchter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 5. November 2014 einen Appell zur epistemologischen Reflexion historischer Genforschung seitens der Mediävistik  lanciert.[1] Obgleich ich mich diesem Aufruf grundsätzlich anschließen möchte, will ich diese Zustimmung mit deutlich kritischeren Akzenten gerade in Richtung meiner eigenen Disziplin versehen.

 

Wellcome Library, London, Ms 49, fol. 37 v (Lizenz: CC BY 4.0)

Wellcome Library, London, Ms 49, fol. 37 v (Lizenz: CC BY 4.0) 

„Wo waren die Mikroben vor Pasteur?”, so fragte 1999 der französische Soziologe Bruno Latour, um sogleich in apodiktischer Schärfe selbst zu antworten: „Sie existierten nicht, bevor er daherkam“.[2] Auf den ersten Blick provokant, folgt dieses Postulat letztlich einer ebenso simplen wie stringenten Forschungslogik: Für Latour und seine ANT gelten nur jene Entitäten als (historische) Akteure, die im Handeln anderer „einen Unterschied“ machen. Gewiss, Milch wurde bereits im Mittelalter sauer. Die Mikroorganismen der Milchsäuregärung aber stiegen erst zu historischen Mächten auf, nachdem sie im Mikroskop Pasteurs Gestalt angenommen hatten. Seit diesem Moment setzten sie sich in den Köpfen der Menschen fest, wurden zu begehrten Ansprech- und Verhandlungspartnern, avancierten schließlich zu Auslösern einer Hygienebewegung und Initiatoren einer Biopolitik, wie es sie allein auf der Grundlage ‚mittelalterlich’ saurer Milch kaum je gegeben hätte.

‚Wo waren die Gene vor Mendel und Avery?’, so möchte ich im Fahrwasser dieser Überlegungen fragen und meine Antwort gleicht notgedrungen jener Latours: ‚Sie existierten nicht!’ Gewiss registrierte man Unterschiede in Geschlecht, Hautfarbe und Körperbau, ignorierten die Menschen des Mittelalters keineswegs die phänotypische Fremdheit ihres Gegen­übers. Auch Migrationsströme, Erbfolgen und selbst Krankheitsdispositionen entgingen ihnen nicht, die DNA blieb gleichwohl hartnäckig außerhalb ihres Denk- und Handlungshorizonts. Die ‚Gene’ – zumal jene „95 Prozent (…), die nicht kodiert sind“ – müssen dem Mediävisten daher als anachronistischer Fremdkörper ‚seiner’ Geschichtsforschung gelten. Insofern die Kategorie der ‚Kultur’ als konventionelles Produkt mensch­licher Diskurse und Sinnstiftungen betrachtet wird, führt von der DNA aus kein Weg zum „Gegenstand der Geschichtswissenschaft“, der „kulturelle[n] Entwicklung der letzten zwei- bis dreitausend Jahre.“ Ebensowenig sind Nukleotidsequenzen „stets unmittelbar mit Fragen der Identität verknüpft“, sofern diese nicht als faktisch stabile ‚Rassezugehörigkeit’, sondern als soziales Interaktionsprodukt betrachtet wird.

Hat die ‚genetic history’ ihren Geltungsanspruch innerhalb der Geschichtswissenschaft damit gänzlich verwirkt? Wohl kaum! Im Sinne des von Peter von Moos begrüßten ‚heuristischen Anachronismus’[3] hat sie längst eine Diskursarena etabliert, die unserer Disziplin umfangreiche neue Frage­stellungen zuführt. So anachronistisch der Faktor DNA erscheinen mag, so wenig darf er ferner als ahistorisch qualifiziert werden. Die Entwicklung menschlichen Erbgutes ist integraler Bestandteil des historischen Prozesses und als solcher allemal der Erforschung wert. Allerdings liefert die Molekularbiologie kaum verlässliche Fakten. Sie produziert zu­nächst einmal nichts als Rohdaten, die einer sorgfältigen Deutung und Einordnung in historische Narrative bedürfen. Zu Recht mahnt Jörg Feuchter eine „epi­ste­mologische Reflexion“ über den Gebrauch dieses Datenmaterials an.

Naturwissenschaftliche Versuche beruhen ebenso wie das Gedankenexperiment des Geisteswissenschaftlers auf Prämissen und Schlussfolgerungen, die methodisch hinterfragt und ggf. revidiert werden können. Insofern verwundert es, wenn Feuchter die „erstaunlichen Resultate“ der Studie von Michael E. Weale et al.[4] hervorhebt, in der nichts weniger behauptet werde, alsdass die angelsächsische Immigration nach England im 5. bis 7. Jahrhundert mit einem fast kompletten Austausch der männlichen Bevölkerung auf der Insel“ verbunden gewesen sei. Ein Triumph der Genforschung über die Geschichtswissenschaft? Nur knapp sei darauf verwiesen, in welchem Maße sich der Diskussionsstand seit Annahme des Papers im Januar 2002 verschoben hat[5]: Ein Oxforder Forscherteam reklamierte bereits im Folgejahr einen Teil des vermeintlich ‚angelsächsischen’ Erbgutes als Relikt der dänischen Invasionsbewegung des 10. Jahrhunderts[6], während rezente Rechenmodelle den angelsächsischen Einwandereranteil auf eine Quote von 10-20% absenken. Jenseits des reinen Zahlenspiels stellt sich die Frage, ob durch die Fokussierung auf genetische Merkmale nicht die unter Archäologien verpönte Formel ‘Topf gleich Volk’ durch das neue Mantra ‘Gen gleich Volk’ ersetzt wird. Gerade Migration lässt sich nicht auf Reinraumbedingungen reduzieren oder unter die ceteris-paribus-Klausel stellen. Moderne Waliser sind keine ‚Britonen’, heutige Friesen keine Angelsachsen, der genetische Austausch zwischen Kontinent und Insel nicht auf ein singuläres Ereignis zurückzuführen. Mithin müssen sich alle Bemühungen, aus den genetischen Daten Rückschlüsse auf die Sozialstruktur der Inselbevölkerung zu ziehen, gar einen Genozid oder ein System der ‚racial apartheid’[7] zu postulieren, der Vetomacht schriftlicher und archäologischer Quellen stellen.

Vor dem Hintergrund einer fluiden Deutungsmatrix erstaunt der Anspruch des neuen MPI-Direktors Russell Gray, mit naturwissenschaftlicher Präzision nunmehr die „Mechanismen der Staats- und Religionsbildung“ rekonstruieren zu wollen. Gray erklärt die Regelhaftigkeit der Geschichte zu einer allein „empirischen Frage“, zweifellos lösbar auf ausreichender Datenbasis: „There are no wonders“[8]. Der Versuch, den Gang der Geschichte einem überzeitlich gültigen Schematismus aus Zyklen, Stadien und Entwicklungsintervallen zu unterwerfen, ist keineswegs neu, mit der Marx’schen Geschichtsmechanik sei nur sein prominentester Vertreter benannt. Prophetisches Prognosepotential besitzt sie ebensowenig wie ihre aktuellen – in diesem Punkt wesentlich bescheideneren – sozialwissenschaftlichen Pendants. Dies spricht keineswegs generell gegen eine Komplexitätsreduktion durch Modellbildung, warnt freilich vor übertriebenen Erwartungen: Von der historischen Genetik aus den Götzen objektiver Geschichtsgesetze erneut herauf zu beschwören, hieße mithin, sich von der Kontingenz und Multiperspektivität der Geschichte zu verabschieden.

Die von Jörg Feuchter vermerkte Reaffirmierung „für obsolet gehaltener Forschungsstände“ erweist sich nicht nur an diesem Punkt als riskantes Unternehmen.[9] Mit Blick auf die Trias von ‚race, class and gender’ lassen sich derzeit besorgniserregende Tendenzen beobachten, alle drei Kategorien aus dem Status kultureller Konstruiertheit (abermals) auf die Ebene objektiver historischer Wirkfaktoren zu überführen. Nein, an diesem Punkt soll den Biowissenschaften keinesfalls ein Rückfall in ein Denken rassisch-genetischer ‚Kulturträgerschaft’ unterstellt werden. Der Fehler liegt zumeist auf Seiten jener Historiker, die den methodischen Grundlagen des eigenen Faches nicht mehr vertrauen und unüberlegt der vermeintlichen Faktizität naturwissenschaftlicher Evidenzen huldigen. Wenn Feuchter – womöglich zutreffend – konstatiert, dass „DNA im heutigen Bewusstsein mehr und mehr als primärer Identitätsträger“ Anerkennung findet, so sollte dieser Befund zu einem kollektiven Aufschrei aller historischen Kulturwissenschaften führen. Der vom Verfasser des FAZ-Beitrages angemahnte „kritische Dialog“ muss mit dem Selbstbewusstsein einer empirisch arbeitenden und methodisch fundierten Fachdisziplin gesucht werden. Nicht nur gegenüber den „historisch arbeitenden Genetikern“, sondern vor allem innerhalb der Historikerzunft selbst. Die genetische Herausforderung betrifft in erster Linie das Selbstverständnis unseres eigenen Faches.

[1] Jörg Feuchter, Die DNA der Geschichte, in: FAZ Nr. 257, Mi. 5. Nov. 2014, S. N4. Dem Artikel entnommene und mit „“ gekennzeichnete Zitate sind nicht mehr separat ausgewiesen.

[2] Bruno Latour, Wo waren die Mikroben vor Pasteur?, in: ders.: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt a.M. 2002, S. 175.

[3] Peter von Moos, Einleitung. Persönliche Identität und Identifikation vor der Moderne. Zum Wechselspiel von sozialer Zuschreibung und Selbstbeschreibung, in: Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft, hrsg. von Dems. (Norm und Struktur 23), Köln/Weimar/Wien 2004, S. 1–42, S. 2.

[4] Michael E. Weale/Deborah A. Weiss/Rolf F. Jager/Neil Bradman/Mark G. Thomas: Y chromosome evidence for Anglo-Saxon mass migration, in: Molecular Biology and Evolution 19,7 (2002), S. 1008-1021.

[5] Siehe dazu Erik Grigg: Genetics and the Anglo-Saxon Invasion, unter: https://www.academia.edu/2607635/Genetics_and_the_Anglo-Saxon_Invasion; Heinrich Härke: Die Entstehung der Angelsachsen, in: Heinrich Beck/Dieter Geuenich/Heiko Steuer (Hrsg.): Altertumskunde – Altertumswissenschaft – Kulturwissenschaft. Erträge und Perspektiven nach 40 Jahren Reallexikon der Germanischen Altertumskunde (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 77), Berlin/Boston 2012, S. 429-458; Robert Hedges: Anglo-Saxon Migration and the molecular evidence. In: Helena Hamerow/D David A. Hinton/Sally Crawford (Hrsg.): The Oxford Handbook of Anglo-Saxon Archaeology, Oxford 2011, 79-90.

[6] Cristian Capelli/Nicola Redhead/Julia K. Abernethy/Fiona Gratrix/James F. Wilson/Torolf Moen/Tor Hervig/Martin Richards/Michael P.H. Stumpf/Peter A. Underhill/Paul Bradshaw/Alom Shaha/Mark G. Thomas/Neal Bradman/David B. Goldstein: A Y chromosome census of the British Isles, in: Current Biology 13 (2003), S. 979-984.

[7] Mark G.Thomas/Michael P.M. Stumpf/Heinrich Härke: Evidence for an apartheid-like social structure in early Anglo-Saxon England, in: Proceedings of the Royal Society B: Biological Sciences 273/1601 (2006), S. 2651-2657.

[8] Virginia Morell: Feature: ‘No miracles’, in: Science 345/6203 (2014), S. 1443-1445, unter; http://www.sciencemag.org/content/345/6203/1443.full.pdf

[9] Zu Recht verweist der Autor hier warnend auf den markanten Fall des Biologen Pierre Zalloua, der die Religionsgemeinschaften des Libanon auf ideologische Weise ethisch interpretiert. Dahinter ist jedoch ein Grundsatzproblem zu erkennen: Genetische Bevölkerungsanalysen basieren auf einer überschaubarer Zahl von Axiomen und Parametern, die oftmals ‚fachfremd’ der Geschichtsforschung entnommen werden. Sie reduzieren damit historische Komplexität, ohne die epistemologischen Grundlagen ausreichend zu reflektieren und sich so gegen zirkuläre Schlussfolgerungen abzusichern. Hier wäre in der Tat die Expertise von Historikern dringend gefragt.

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/4734

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“Eine schöne Nebenbeschäftigung”? Perspektiven einer altertumskundlich-mediävistischen Wissenschaftsgeschichte 2.0

Nach der kürzlichen Veröffentlichung eines kleinen E-Books zur “Wissenschaftsgeschichte im digitalen Zeitalter” (https://verlag-ripperger-kremers.de/fluechtigkeit-der-information) möchte ich – aus meiner Perspektive als literaturwissenschaftlicher Mediävist – an dieser Stelle einige Aspekte der Publikation perspektivieren und damit zur weiterführenden Diskussion einladen. Meine Überlegungen verstehe ich als Positionsbestimmung in einer disziplinübergreifenden Wissenschaftslandschaft und als Versuch einer konstruktiven Zusammenführung aktueller Diskussionspotenziale zwischen historisch arbeitenden Disziplinen und den Digital Humanities. Hingewiesen sei nicht zuletzt auch auf weitere Bände der neuen Reihe “Transformationen von Wissen und Wissenschaft im digitalen Zeitalter” (https://verlag-ripperger-kremers.de/ebook-reihe/transformationen-des-wissens).

Es ist eine Klage, die sich durch Jahrzehnte zurückverfolgen lässt: der zunehmende Orientierungsverlust der Geisteswissenschaften hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Aufgabe – Orientierungslosigkeit als “Signum der Gegenwartsphilosophie” (K. W. Zeidler). Verschiedene Gründe werden ins Feld geführt: wachsende Dominanz diffus so bezeichneter ‘Kulturwissenschaften’, vermeintlicher Verfall wissenschaftlicher Werte und Traditionen angesichts von digital turn und open access… Man ist bisweilen erstaunt, wie mühelos kausallogische Zusammenhänge konstruiert werden. Interessanter erscheint die implizite Prämisse, diese Geisteswissenschaften könnten überhaupt eine Orientierungsleistung erbringen. Es geht dann nicht allein um Fragen der Methode, sondern um Zwecke und Ziele, unter denen solche Wissenschaften sich konstituieren. Fragen also, die sich als ungemein stimulierend erweisen können, doch zugleich einer Vielzahl an Meinungen Tür und Tor öffnen, die immer noch regelmäßig im erklärten Niedergang ‘der’ Geisteswissenschaften gipfeln.

Man kann diesen Fragenkomplex als Aufgabe der Fach-Philosophen von sich weisen. Oder sich der vermeintlich unverfänglichen Pflege etablierter Fronten von ‘Theorie’ und ‘Praxis’ widmen, wie sie sich im digitalen Zeitalter wieder verschärft zu haben scheinen. Eine solche Haltung muss aber zumindest in zweifacher Hinsicht verwundern. Zum ersten sind diese Fragen, wie gesagt, bereits seit Jahren, teils Jahrzehnten gestellt, sodass weder Geisteswissenschaften noch Wissenschaftsverlage heute, 2014, unvermittelt vor eine unerwartete Herausforderung gestellt sind, wie manche Diskussion indes suggeriert.[1] Zum zweiten ist die Reflexion von Bedingungen, unter denen Forschung und Theoriebildung sich vollziehen, doch seit jeher Voraussetzung einer fortwährenden Teilhabe an Wissenschaft. Anders gesagt: Die Geisteswissenschaften sind in ihrem Wesen reflexiv und damit gleichsam angewiesen auf Krisen, die dieses Bewusstsein gegenüber dogmatischer Erstarrung schärfen.

Desinteresse und Pessimismus angesichts sich vollziehender Transformationsprozesse mögen auch darauf beruhen, dass der Terminus ‘Wissenschaftsgeschichte’ im 20. Jahrhundert vielfältige Positionen befördert hat, die in ihren Relationen oft schwerlich überschaubar sind. Dahinter steht auch ein generelles terminologisches Problem, angesichts einer Vielzahl so genannter Schlüsselbegriffe, die in Fach- wie Alltagssprache in diversen Varianten verwendet und damit nicht selten zur assoziativen Auslegungsfrage werden. Wenn in den letzten Jahren Tendenzen einer verstärkten Wiederaufnahme und Weiterentwicklung begriffshistoriographischer Fragestellungen zu verzeichnen ist,[2] so sollte man dies zum Anlass nehmen, die Debatte auf breiterer Front wieder zu etablieren.

Das umrissene Desiderat betrifft auch die interdisziplinären Fachbereiche der Germanischen Altertumskunde und Mediävistik, denen die Geschichte des 20. Jahrhunderts eine besondere Aufgabe gestellt hat.[3] Das Erfordernis einer wissenschaftsgeschichtlichen Reflexion präsentiert sich weiterhin als Herausforderung, zumal mit Fokus auf Entwicklungen der Nachkriegsjahrzehnte;[4] gerade die 1980er Jahre kristallisieren sich als Zeitraum eines beschleunigten Orientierungswandels heraus.[5] So sollte man auch in altertumskundlich-mediävistischen Disziplinen (ich ziehe hier bewusst keine scharfen Grenzen) den Versuch wagen, Wissenschaftsgeschichte nicht allein als Geschichte der Wissenschaften im Mittelalter zu verfolgen, sondern sie als jüngere und – Stichwort: digital – jüngste Geschichte einzelner Disziplinen fruchtbar zu machen, zwischen Positionen zu vermitteln.

Damit ist die Frage der Perspektive gestellt, gibt ‘Wissenschaftsgeschichte’ doch kein verbindliches, gleichsam abzuarbeitendes Methodenspektrum an die Hand. Hier ist eine intensivierte Diskussion gefordert. So hat, um einen Ansatzpunkt zu nennen, Otto Gerhard Oexle in den letzten zwei Jahrzehnten das Konzept der ‘Problemgeschichte(n)’ in der Mediävistik befördert, im Sinne einer Orientierung an transdisziplinär zu bearbeitenden Fragestellungen.[6] Über Disziplingrenzen hinaus sind seine Vorschläge bisher aber – soweit ich sehe – allenfalls punktuell rezipiert worden. Zugleich wird daran beispielhaft deutlich, dass die historisch-systematische Hinterfragung disziplinärer Potenziale für ein Bewähren dieses zunehmend verkündeten, aber immer noch vagen Forschungsprinzips ‘Transdisziplinarität’ – in dem an erster Stelle zu lösende Probleme das Verbindende sein sollen – unerlässlich ist. Doch müssen solche ‘Probleme’ als wissenschaftliche (Re-)Konstruktionen in ihrer Geltung begründet sein.

Es kann der Wissenschaftshistoriographie ja nicht einfach um den Nachvollzug einer linear abstrahierten Genese von Wissen und Wissenschaft, eine “Autobiographie der eigenen Vernunft” (J. Mittelstraß) gehen, die dogmatisch am Status quo einer Disziplin orientiert wäre. Es geht um den Nachvollzug von Argumentationen, die darauf gründen, zweckmäßig und zielorientiert zu sein. Erst in der aktualisierenden Verhandlung solcher Argumentationsstrukturen kann Wissen konstituiert und somit relevant werden. Aber wo beginnt und wo endet Argumentation? Es sind ja dynamische Prozesse angesprochen, bei deren Erfassung vielfach mit den Begriffen ‘Innovation’ und ‘Tradition’ operiert wird, einerseits also Potenziale zur Diskussion stehen, andererseits die Unhintergehbarkeit von Wirkungsgeschichten mitgedacht ist. Der Hermeneutik sind beide Begriffe inhärent. Doch ist die Forderung nach hermeneutischer Reflexion vielfach Gemeinplatz geworden: Hermeneutik muss als reproblematisierendes Diskussionsfeld einzelner Disziplinen wieder kultiviert werden![7]

Die Digital Humanities versprechen einen Ausweg aus dem skizzierten Dilemma, erheben sie doch selbstbewusst den Anspruch, eine zukunftsträchtige Form der Geisteswissenschaften zu etablieren.[8] Aber was ist damit gemeint? Wenn regelhaft ‘überprüfbare Antworten’ zum Ziel erklärt werden, so rückt die bekannte Frage der praktischen Relevanz der Geisteswissenschaften in den Fokus, in Orientierung an den so genannten exakten Wissenschaften. Wie verhält sich dieser Anspruch der ‘Exaktheit’ zur angedeuteten philosophischen Dimension der Aufgabe? Ein ‘Antwortenkönnen’ funktioniert in den Geisteswissenschaften ja allein im kulturellen Kontext, setzt dort also weiterhin eine hermeneutische Kompetenz voraus, die sich nicht in Ja/Nein-Entscheidungen erschöpft  – ‘Wissen’ ist dort eben doch noch etwas anderes als in den Naturwissenschaften.[9] Die Leistungsfähigkeit digitaler Werkzeuge liegt aber in Prozessen, die nach eben diesem binären Prinzip automatisiert sind. Einen praktischen Nutzen von Suchfunktionen und Datenbanken wird andererseits niemand in Frage stellen wollen, der diese Leistungsfähigkeit erfahren hat. Doch ist mit der Selektion und Strukturierung abstrakter Daten zu Informationen nicht automatisch ein ‘Wissen’ generiert, um dessen zukunftsträchtige Bewahrung und Aktualisierung es in der Wissenschaft doch gehen soll. Es wird deutlich, dass künftig stärker der Dialog aller Beteiligten zu suchen ist, um etablierte Fronten zu entspannen. Es steht zu hoffen, dass zunehmende – und zunehmend ernst genommene – Blog-Diskussionen dazu ihren Beitrag leisten werden.

In der vorgestellten Publikation konkretisiere ich die vorausgehenden Überlegungen am Beispiel des “Reallexikons der Germanischen Altertumskunde” sowie der vor einigen Jahren daraus hervorgegangenen “Germanischen Altertumskunde Online”.[10] In diesem rund 50.000 Druckseiten umfassenden Großprojekt finden Archäologie, Geschichtswissenschaft, Philologie und Religionswissenschaft zusammen; die Frage der kulturwissenschaftlichen Inter- und Transdisziplinarität ist umso dringlicher gestellt. Waren unlängst aber noch voluminöse Registerbände vonnöten, um Fragestellungen auf einer Metaebene zu verknüpfen, so erscheint die Kombination leistungsfähiger Datenbanken und Suchfunktionen mit digitalen Darstellungsmöglichkeiten (die über bloße Listen ja längst hinausführen) als künftige Option, Problemstellungen der Wissensgenerierung und ‑tradierung visuell zu ‘materialisieren’ – und an einer solchen Darstellung neue Fragen zu entwickeln.

Wo ansetzen? Im Nachvollzug disziplinärer und überdisziplinärer Entwicklungsprozesse treten als Kristallisationspunkte von Diskursen Begriffe hervor, die weiterhin zum konstruktiven Ausgangspunkt einer Untersuchung von ‘Problemen’ gereichen könnten. Es ginge aber nicht darum, weiterhin in enzyklopädischer Weise unter ausgewählten Lemmata disziplinäre Positionen zu versammeln. Es ginge darum, über die Leistungsfähigkeit digitaler Werkzeuge semantische Netze zu generieren, deren Strukturen nach Wirkungszusammenhängen fragen lassen. Die Plausibilität gesetzter ‘Probleme’ wäre dann nicht zuletzt zu bemessen an deren Potenzial, neue ‘Probleme’ zu erschließen; Wissenschaft verwirklicht sich im fortdauernden Prozess. Einer strikten Hierarchie von Fragestellungen und Thesen (und damit schließlich von Disziplinen) wären Netze potenzieller Problemrelationen entgegengestellt, die schließlich auch ‘Unerwartetes’[11] hervorbringen könnten – und damit nicht nur jene curiositas stimulieren, sondern auch der Forderung nach Transdisziplinarität Rechnung tragen würden.

Die Möglichkeiten des digitalen Mediums stehen zu ‘traditioneller’ Wissenschaft somit keinesfalls konträr. Es ist aber an der Zeit, “daß die Theoretiker ihre Überheblichkeit und die Praktiker ihre Ignoranz ablegen”,[12] um programmatischen Bekenntnissen aktive Zusammenarbeit folgen zu lassen. “Das freundliche Ende der Geisteswissenschaften”, das Hans Ulrich Gumbrecht unlängst in der F.A.Z. proklamierte – Geisteswissenschaften als schöne Nebenbeschäftigung (amenity) –,[13] sehe ich noch nicht eingeläutet. Solange indes Bescheidenheit[14] den (‘traditionellen’) geisteswissenschaftlichen Betrieb bestimmt, wird man Gumbrechts Formulierung von einem “Über-Leben auf Gnade und an der intellektuellen Peripherie” zustimmen müssen. Gefordert ist keine neue Form der Geisteswissenschaften. Gefordert ist ein neues Selbstbewusstsein ihrer Vertreterinnen und Vertreter, die sich der Reflexionsform und der Orientierungsfunktion ihrer Tätigkeit – über Fachgrenzen hinaus – wieder bewusst werden und unter den Bedingungen und Möglichkeiten des frühen 21. Jahrhunderts stellen.

Jan Alexander van Nahl 2014: Die Flüchtigkeit der Information. Wissenschaftsgeschichte im digitalen Zeitalter. (Transformationen von Wissen und Wissenschaft im digitalen Zeitalter 3.) Ripperger & Kremers, Berlin.



[1] Vgl. van Nahl, Jan Alexander 2014: Odyssee 2.0? Wege und Irrwege digitaler Publikationen in den Geisteswissenschaften. In: Ulrich Seelbach (Hg.), Zwischen Skylla und Charybdis? Forschung, Wissenschaftsverlage und Web 2.0, S. 129–136. Bern.

[2] Vgl. Eggers, Michael/Matthias Rothe (Hg.) 2009: Wissenschaftsgeschichte als Begriffsgeschichte. Terminologische Umbrüche im Entstehungsprozess der modernen Wissenschaften. Wetzlar.

[3] Vgl. Zernack, Julia 2005: Kontinuität als Problem der Wissenschaftsgeschichte. Otto Höfler und das Münchner Institut für Nordische Philologie und Germanische Altertumskunde. In: Klaus Böldl/Miriam Kauko (Hg.), Kontinuität in der Kritik. Zum 50jährigen Bestehen des Münchener Nordistikinstituts. Historische und aktuelle Perspektiven der Skandinavistik, S. 47–72. Freiburg.

[4] Vgl. meine exemplarischen Bemerkungen zu “Walter Baetke” in: Germanischen Altertumskunde Online 01/2014 (s.u.). Abrufbar unter: http://www.degruyter.com/view/GAO/GAO_32 [20.10.2014].

[5] Vgl. van Nahl, Jan Alexander 2013: Verwehter Traum? Ältere Skandinavistik zu Beginn des 21. Jahrhunderts. In: Hartmut Bleumer et al. (Hg.), Turn, Turn, Turn? – Oder: Braucht die Germanistik eine germanistische Wende?, S. 139–142. Siegen.

[6] Vgl. u.a. Oexle, Otto Gerhard 2007: Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Eine Problemgeschichte der Moderne. In: Otto Gerhard Oexle (Hg.), Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880–1932, S. 11–116. Göttingen.

[7] Vgl. auch meine Diskussion zu “Veröffentlichungsformen der Zukunft” mit Christian Schwaderer und Jan Keupp unter http://mittelalter.hypotheses.org/3893 [20.10.2014].

[8] Vgl. Thaller, Manfred 2011: Digitale Geisteswissenschaften. Abrufbar unter: http://www.cceh.uni-koeln.de/Dokumente/BroschuereWeb.pdf [20.10.2014]. Es seien an dieser Stelle die Vertreterinnen und Vertreter der Mediävistik daran erinnert, dass Manfred Thaller bereits seit den späten 1970er Jahren (!) zu grundlegenden Fragen einer digitalen Geschichtswissenschaft arbeitet.

[9] Vgl. Rheinberger, Hans-Jörg 2004: Wozu Wissenschaftsgeschichte? In: Rudolf Seising/Menso Folkerts/Ulf Hashagen (Hg.), Form, Zahl, Ordnung. Studien zur Wissenschafts- und Technikgeschichte, S. 51–62. Stuttgart.

[10] http://www.degruyter.com/view/db/gao [20.10.2014].

[11] Rheinberger, Hans-Jörg 2007: Man weiß nicht genau, was man nicht weiß. Über die Kunst, das Unbekannte zu erforschen. In: Neuer Zürcher Zeitung 05.05.2007. Abrufbar unter: http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/articleELG88-1.354487 [20.10.2014].

[12] Peckhaus, Volker 1999: Chancen kontextueller Disziplingeschichtsschreibung in der Mathematik. In: Volker Peckhaus/Christian Thiel (Hg.), Disziplinen im Kontext. Perspektiven der Disziplingeschichtsschreibung, S. 77–95. (Erlanger Beiträge zur Wissenschaftsforschung.) München, hier: S. 92.

[13] Gumbrecht, Hans Ulrich 2013: Ein freundliches Ende der Geisteswissenschaften? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Digital/Pausen 04.10.2013 Abrufbar unter: http://blogs.faz.net/digital/2013/10/04/freundliches-ende-geisteswissenschaften-379 [20.10.2014].

[14] Vgl. Heidbrink, Ludger/Harald Welzer (Hg.) 2007: Das Ende der Bescheidenheit. Zur Verbesserung der Geistes- und Kulturwissenschaften. München.

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=4170

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Ferdinand Güterbock – Mediävist und Mitarbeiter der Monumenta Germaniae Historica

Der Beitrag entstand im Rahmen der 2013/14 bei den MGH vorgenommenen Teilerschließung der Akten des „Reichsinstituts für ältere deutsche Geschichtskunde“, vgl. den Bericht unter: http://mittelalter.hypotheses.org/4036. Zu danken habe ich dem Leiter des MGH-Archivs, Prof. Dr. Mentzel-Reuters für die Möglichkeit, die Archivalien auch nach Abschluss des Projekts benutzen zu können.

 

Biographisches

 

Ferdinand Güterbock[1] wurde 1872 als Sohn des Historien- und Orientmalers Leopold Güterbock und einer ebenfalls als Malerin tätigen Mutter in Berlin geboren. Er entstammte einer alteingesessenen jüdischen Familie, ein Vetter war der Königsberger Rechtshistoriker Carl Eduard Güterbock.[2] Auch zu dem Orientalisten Bruno Güterbock, der mit der Schweizer Schriftstellerin Grethe Auer verheiratet war, bestanden verwandtschaftliche Beziehungen. Ursprünglich im kaufmännischen Bereich und im Bankgewerbe tätig, führten Teile der Familie ein Leben als Rentiers wie etwa der Vater von Bruno Güterbock, der mit seinen Brüdern das Bankgeschäft der Eltern aufgegeben hatte.[3] Ferdinand Güterbock heiratete eine Verwandte von Grethe Auer, nämlich Mina Güterbock-Auer. Die Familien Güterbock und Auer waren beide mit dem Schweizer Ort Engelberg verbunden, die Eltern von Ferdinand Güterbock verbrachten dort seit den 1860er Jahren ihre Sommerfrische.[4]

Ferdinand Güterbock promovierte bei Paul Scheffer-Boichorst 1895 über den Frieden von Montebello.[5] Die enge Verbundenheit zu seinem Lehrer geht aus dem Lebensabriss vor, den Güterbock als Mitherausgeber der Schriften Scheffer-Boichorsts verfasste.[6] Güterbocks bevorzugte Forschungsgebiete waren Friedrich Barbarossa, die Geschichte Italiens besonders der Stauferzeit sowie später die Geschichte der Schweiz. Die Archivlandschaft Italiens erschloss Güterbock sich durch regelmäßige Reisen.[7]

Güterbock lebte als Privatgelehrter, ohne jemals ein universitäres Lehramt zu erreichen.[8] Diese Existenz beruhte auf dem Vermögen seiner Familie, das ihm wirtschaftliche Unabhängigkeit ermöglichte. In seiner auch mit Kunstsammlungen ausgestatteten Villa in Berlin-Steglitz führte er einen gastlichen Haushalt, der einen beliebten Treffpunkt für Historiker darstellte. Güterbock suchte dabei auch den wissenschaftlichen Nachwuchs zu fördern.[9] Heute kaum noch bekannt und aufgrund der Exklusion infolge des ‘Dritten Reichs’ in der Wissenschaftsgeschichte marginalisiert, war Güterbock offensichtlich gut vernetzt und auch ohne akademisches Amt voll anerkannt. Mit dem Wissenschaftsorganisator und späteren Vorsitzenden der Zentraldirektion der Monumenta Germaniae Historica, Paul Fridolin Kehr verband ihn Freundschaft[10] wie auch mit den Monumentisten Erich Caspar und Robert Holtzmann.[11] Für den Historiker Karl Hampe und seine Familie stellte Güterbock eine von deren engsten Vertrauenspersonen dar.[12]

Ob seine Gelehrtenexistenz mit den auch nach 1918/19 durchaus fortbestehenden Beeinträchtigungen, als Jude eine akademische Karriere erreichen zu können, zusammenhing, mag dahingestellt bleiben.[13] Dass Güterbock, der sich offensichtlich wie so viele jüdische Intellektuelle und Gelehrte voll mit dem Kaiserreich identifizieren konnte,[14] antisemitischen Anwürfen ausgesetzt war, belegt seine wissenschaftliche Kontroverse mit dem Schüler Hampes, Karl Schambach, über Heinrich den Löwen.[15]

Güterbock emigrierte 1937 in die Schweiz,[16] wo er sich in Weggis niederließ und kurz vor seinem Tod auch eingebürgert wurde.[17] In seinen letzten Lebensjahren beschäftigte er sich besonders mit der Geschichte der Benediktinerabtei Engelberg, in der er – mitten in der Arbeit an einer Studie über die Gründung des Klosters – 1944 infolge einer Embolie oder Herzattacke verstarb.[18]

 

Güterbock und die Monumenta Germaniae Historica

 

Bereits seit Mitte der 1890er Jahre stellte Güterbock den Ertrag seiner Archivreisen nach Italien wohl auch den Monumenta etwa in Form der Erstellung von Kollationen zur Verfügung.[19] Erstmals offizielle Verbindungen lassen sich nach der Jahrhundertwende feststellen. Oswald Holder-Egger als gewählter, aber nicht ernannter Vorsitzender der Zentraldirektion und Leiter der Abteilungen Scriptores und Epistolae stattete im Jahresbericht für 1905 Güterbock seine Dankesschuld für die Untersuchung einer Abschrift der von ihm selbst bearbeiteten Chronik des Salimbene de Adam aus dem 16. Jahrhundert ab.[20] Güterbock wurde außerdem Mitarbeiter des „Neuen Archivs“ und trug darin kurz vor dem Ersten Weltkrieg eine Fehde mit Johannes Haller aus, in der sich sowohl Harry Bresslau, als auch die Redaktion – Michael Tangl, Karl Zeumer und sein Mitarbeiter Richard Salomon – auf seine Seite stellten.[21] Güterbock übernahm immer wieder kleinere Aufgaben im Rahmen der Monumenta, so zum Beispiel die Vergleichung von Handschriften der Schrift „De ruina civitatis Terdonae“ im Rahmen einer Italienreise.[22] 1925 wurden ihm die „Historia Frederici I“ von Otto Morena sowie die Faventiner Chronik des Magister Tolosanus übertragen.[23] Die Bearbeitung von Quellen italienischer Schriftsteller aus der Stauferzeit durch Güterbock hatte bereits Holder-Egger beabsichtigt: Nach einer handschriftlichen Aufzeichnung bot dieser dem jüdischen Gelehrten nicht nur die Werke von Morena und Tolosanus an, sondern plante auch die Aufnahme von „De ruina civitatis Terdonae“ ins Editionsprogramm. Da die Ausgaben italienischer Schriftsteller nach dem Tod Holder-Eggers zurückgestellt worden waren, regte Güterbock ihre Wiederaufnahme selbst an.[24] Für die Arbeit an der Morena-Edition unternahm er 1926 eine Archivreise nach Mailand, Modena und Faenza.[25] Die Morena-Edition konnte bereits 1930 erscheinen.[26] Zu Tätigkeiten im Rahmen der Faventiner Chronik finden sich keine weiteren Hinweise.[27] Güterbock verfügte aber offensichtlich über ein gewisses Interesse, sich langfristig aktiv oder aber theoretisch in das Editionsprogramm der Monumenta einzubringen. 1931 legte er der Zentraldirektion ein Gutachten über die Scriptores-Abteilung vor, in dem er verschiedene Ideen zur Verbesserung der auf Holder-Egger und Bresslau zurückgehenden Editionsmethoden, aber auch der Druckgestaltung entwickelte.[28]

Die Aufnahme Güterbocks in die Zentraldirektion wurde unter der Ägide Paul Fridolin Kehrs erwogen. Anlässlich der Jahressitzung 1931 erörterte man die Frage der Zuwahl von neuen Mitgliedern ausführlich, wobei verschiedene Kandidaten zur Debatte standen. Der der Zentraldirektion bekanntermaßen grundsätzlich nicht unbedingt positiv gegenüberstehende Kehr schlug „nach dem Bedürfnis der Arbeiten“ der Monumenta Güterbock, der „viel gearbeitet“ habe und Ernst Perels, von dem „sachlich etwas […] zu erwarten“ sei, vor: „Beide könnten erwünscht oder doch tragbar erscheinen.“ Auch Karl Hampe sprach sich „entschieden für Güterbock“ sowie Perels aus, ein Votum, dem sich Wilhelm Levison anschloss. Ernst Heymann stimmte ebenfalls für Perels, für den nur Oswald Redlich „sich nicht recht erwärmen“ konnte, „obwohl er ein trefflicher Editor sei.“ Letztlich stellte jedoch nur Hampe einen offiziellen Antrag auf Zuwahl, und zwar von Erich Caspar. Nach Wiederaufnahme der Diskussion in der Nachmittagssitzung beantragten einzelne Zentraldirektoren die Zuwahl verschiedener Kandidaten: Levison die von Perels, Güterbock und Percy Ernst Schramm, Adolf Hofmeister die von Bernhard Schmeidler und Edmund Ernst Stengel sowie Hampe zusätzlich zu Caspar die von Robert Holtzmann. Kehr empfahl daraufhin, obwohl er selbst sich nochmals für Perels und Güterbock aussprach, „angesichts gewisser Schwierigkeiten, und da 3 Mitglieder der ZD. fehlen, wohl besser diesmal von Zuwahlen überhaupt abzusehen.“ Formell abgestimmt wurde schließlich nur über die Aufnahme von Caspar in die Zentraldirektion, wonach Levison, da die Abstimmung negativ ausfiel, seinen Antrag auf Zuwahl von Perels und Güterbock zurückzog. Eine Erweiterung der Zentraldirektion kam somit nicht zustande.[29] Eine erneute Diskussion zwei Jahre später und damit bereits nach der ‘Machtergreifung’ wurde nun von Kehr abgeschmettert. Weder die Zuwahl des von ihm später als seinen Nachfolger befürworteten Karl August Eckhardt, die Heymann vorgeschlagen hatte, noch die von Güterbock oder Perels waren Kehr jetzt genehm. Die Meinung Heymanns, man brauche einen ‘jüngeren Mann’, teilte Kehr nicht, er sah darin eine Bedrohung seiner Autorität als Vorsitzender.[30]

In den Akten der 1935 in ein „Reichsinstitut für Ältere Deutsche Geschichtskunde“ umgewandelten Monumenta taucht der Name Güterbocks nur noch am Rande auf, inwieweit nach der nationalsozialistischen ‘Machtergreifung’ noch persönliche Kontakte fortbestanden, lässt sich daraus nicht erschließen.[31] Güterbocks Arbeiten wurden allerdings im Reichsinstitut weiterhin wahrgenommen (und auch rezensiert). 1937 bat der damalige Leiter des Reichsinstituts, Wilhelm Engel, den Direktor des Departementalarchivs von Vesoul, Jacques Dropet, um Photographien von Siegeln aus Vesoul, die Güterbock in einem Aufsatz besprochen hatte.[32] Im Jahr 1938 leitete die Landesbibliothek Hannover einen Brief Güterbocks mit der Bitte um Bearbeitung an das Reichsinstitut weiter. Güterbock benötigte Photographien eines Briefes von Notar Burchard aus dem Jahr 1161, die Handschrift war gerade an das Reichsinstitut aus Hannover verliehen worden.[33] 1942 riet Präsident Edmund Ernst Stengel dem Archivar und Byzantinisten Werner Ohnsorge, in einem Aufsatz über die Byzanzpolitik Friedrich Barbarossas für das „Deutsche Archiv“[34], „im Text lieber keine Namen aus der neueren Forschung über den Prozeß Heinrichs des Löwen zu nennen“ und in den Anmerkungen „entweder nur die letzte Arbeit G a n a h l s [sic] mit Hinweis auf das dort gegebene Schrifttum oder aber neben ihr auch die übrigen wichtigsten neueren Arbeiten“ zu verzeichnen. Im letzteren Falle könne er auch auf Güterbock verweisen, dem „in vieler Beziehung“ zwar nicht zu folgen sei, der aber „das Problem unbedingt sehr stark“ gefördert habe.[35] Ohnsorge war an einer „leisen Hervorhebung“ u.a. der Arbeit von Güterbock, dem er inhaltlich nicht zustimmte, „gelegen“.[36] Planungen zwischen dem Präsidenten Theodor Mayer und Martin Lintzel bezüglich möglicher Beiträger zur Festschrift für Robert Holtzmann Ende 1942 schlossen Güterbock – neben Richard Koebner und Wilhelm Levison! – aufgrund des „Arierparagraphen aus“.[37]

 

Ferdinand Güterbock und Benito Mussolini

 

In politischer Hinsicht bemerkenswert ist Güterbocks Sympathie für Benito Mussolini, der Güterbock in zwei Audienzen 1923 und 1924 als ersten Deutschen überhaupt empfing.[38] Güterbock legte 1923 aus der Perspektive des wissenschaftlich ausgewiesenen, lebenslangen Quellenforschers in Italien und damit auch Kenners der zeitpolitischen Umstände eine Studie über die Entstehung des Faschismus vor. Er begründete dieses Werk mit der singulären Neuheit von Mussolini und seiner Bewegung, die eine reizvolle Aufgabe für jeden Historiker darstellen müsse.[39]

Güterbock nimmt in dem knapp 130-seitigen Werk, das auf der Auswertung italienischer Zeitungen beruht, zwar vordergründig eine objektive Position ein, das von Mussolini auf ihn ausgehende Faszinosum wird aber deutlich erkennbar. Die Charakterisierung als ‘Tatmensch’, ‘Führernatur’ und ‘Realpolitiker’ hebt auf die Singularität des ‘Duce’ ab, explizit nennt Güterbock „eine ausgesprochene Persönlichkeit, deren Bekanntschaft zu machen wohl der Mühe lohnt.“[40] Die von Güterbock vorgenommenen Zuschreibungen sind ohne weiteres im Kontext des Führer-Diskurses der Weimarer Zeit zu verorten.[41] Die Ehrlichkeit von Mussolinis Absichten sieht er für gegeben an, und auch die so wahrgenommene Entwicklung ‘vom Sozialismus zum Chauvinismus’ beurteilt er als logische Folge eines aufrechten Charakters.[42] Obwohl Güterbock in der gesamten Darstellung zwar den Ton des objektiven historiographischen Berichterstatters beibehält,[43] liefert er indirekte Stellungnahmen und am Schluss einen Ausblick, der seine eigene Haltung zu erkennen gibt.

Es ist offensichtlich gerade die Verbindung nationaler und sozialer Ideen, die Güterbocks Beifall findet und seine für das nationale Bürgertum so typische Furcht vor dem Sozialismus bedient: Mussolini habe die Sozialisten gezwungen, „von dem Plan einer Terrorisierung des Bürgertums Abschied zu nehmen.“[44] Sein Sozialismus sei der einer praktischen Anwendung durchaus berechtigter sozialer Ideen und nicht Ausdruck blinden Parteidoktrinarismus’.[45] Die grundsätzliche Zuschreibung eines weltfremden Utopismus an sozialistisch und kommunistische Gesellschaftsentwürfe wird in der Formulierung, dass jedoch Mussolini „gerade aus Liebe zum Proletariat praktisch durchführbare Vorschläge mache und keinen Utopien nachjage“[46], deutlich. Affirmativ erscheint Güterbocks Bemerkung, dass nach Mussolini „das Klasseninteresse des Proletariats dem Interesse der Nation unterzuordnen sei.“[47] Bei allem Verständnis für berechtigte soziale Forderungen, so offensichtlich auch Güterbock: Das Wohl des Volksganzen, der Nation, steht höher. Güterbocks Charakterisierung von Mussolinis „jugendfrische[...][m]“ Nationalismus lässt unschwer Sympathien für die darin von ihm perzipierten Elemente dieses Nationalgedankens fassen, „der dem Vaterlande die natürlichen Grenzen geben, der möglichst allen Volksgenossen in Europa die nationale Einigung bringen und sie zu einer ‘friedlichen Expansion im Mittelmeer und in der Welt’ führen“ wolle. Inhärent sei ihm zugleich die „Bekämpfung der krankhaften Keime des Staatsorganismus wie der Volksseele, durch eine Demokratisierung und Modernisierung der Verfassung, durch eine gesunde Sozialgesetzgebung, eine freiheitliche Wirtschafts- und eine strenge Finanzpolitik“ um das Land „innerlich [zu] regenerieren und mit neuen Kräften [zu] erfüllen […].“[48]

Auch die Elemente zeitgenössischer Parlamentarismuskritik scheinen auf, wenngleich Güterbock hier wiederum nicht direkt Stellung bezieht. Er vermerkt, dass Mussolini „hitzig […] gegen die Schwäche des liberalen Staates und gegen die Energielosigkeit der bisher herrschenden demokratischen Partei“ polemisiert habe.[49] Noch deutlicher spricht er an anderer Stelle von Mussolinis Eintreten gegen „das demokratisch-sozialistische Dogma der Vergötterung der Majorität, das dem gesunden Menschenverstand oft widerstreite“ und gegen „das demokratische System einer Nivellierung des Lebens und einer Züchtung des Mittelmaßes.“[50] Ein identifikatorisches Potenzial besitzen ganz offensichtlich Elemente der faschistischen Ideologie, die sich als Eintreten für die Interessen aller sozialen Klassen interpretieren lassen. So weist Güterbock den Vorwurf italienischer Sozialisten an den Faschismus als Interessenvertreter der „Kapitalisten, […] Industriellen und Großgrundbesitzer“ zurück. Obwohl „Angehörige der Industrie und der Landwirtschaft aus Besorgnis vor der bolschewistisch-sozialistischen Gefahr die Fascisten durch Zuwendung von Geld, Waffen und Automobilen unterstützt“ hätten und „heute hinter dem Unternehmen Mussolini stehen“ würden, könne man Mussolini nicht die Begünstigung „wirtschaftlicher Sonderinteressen“ vorwerfen und ihn „am allerwenigsten ein Diener kapitalistischer Interessen“ nennen. Güterbock bekräftigt vielmehr den in seinen Augen vorrangig idealistischen Charakter der Bewegung, „die in verschiedenen Gegenden verschiedene Bevölkerungsklassen […] ergriffen hat, die jedem etwas bieten und die alle Berufsstände in gleicher Weise umspannen möchte.“[51] Den Begriff der ‘Volksgemeinschaft’, der seit den 1860er Jahren für verschiedenste politische Richtungen feststellbar ist und von radikalnationalistischen wie völkischen Kreisen infolge des Ersten Weltkriegs zum verschiedene Minderheiten ausschließenden Konzept der rassischen Gemeinschaft umgedeutet wurde[52], verwendet Güterbock nicht.

Apologetisch klingen Güterbocks Bemerkungen zu möglichen Kritikpunkten aus bürgerlich-liberaler Sicht wie etwa zum Thema Antisemitismus, dem er eine Relevanz innerhalb der faschistischen Bewegung abspricht. So gebe es zwar Anklänge bei Mussolini selbst und einzelnen Vertretern des Faschismus, aber andererseits habe der ‘Duce’  den Antisemitismus 1921 öffentlich verworfen und auch im Parteiprogramm sei er nie ‘bemerkbar’ hervorgetreten.[53] Einen ähnlichen Tonfall schlägt er in Bezug auf den Einsatz von Gewalt als politisches Mittel durch den Faschismus an. Der „manchmal […] übermäßig rohe[...] Charakter“ des Faschismus gehe auf das Konto von „Verbrechernaturen“, Mussolini selbst hingegen erlaubte nach Güterbock Gewalt nur als „Abwehrmaßnahme[...]“.[54]  An anderer Stelle nennt er Gewalttaten „vorübergehende Rückfälle in Kinderkrankheiten“ oder ein „nur ein vorübergehend anzuwendendes Mittel im Kampf gegen antinationale Strömungen“.[55] Allerdings erklärt Güterbock mit der Begründung, Druck erzeuge Gegendruck, die zukünftige Aufgabe terroristischer Methoden zur Schicksalsfrage: Mussolini müsse sein Werk auf die Grundlage einer freiheitlichen Ordnung stellen.[56]

Die Bemerkungen zur Situation in Italien nach dem Staatsstreich zielen auf als positiv beurteilte Maßnahmen in verschiedenen Bereichen und spiegeln damit unverkennbar politische Urteile des Kommentators wider. In der Wirtschaftspolitik etwa diagnostiziert Güterbock das Überwiegen liberaler Prinzipien bei kleinstmöglichen staatlichen Eingriffen im Interesse der Produktionssteigerung.[57] Die beabsichtigte „Eindämmung der parlamentarischen Tätigkeit und eine Reform des parlamentarischen Wahlrechtes“ begründet Güterbock explizit mit Machtsicherung aber auch der angeblichen erzieherischen Absicht Mussolinis, „die […] Abgeordneten zu umsichtigeren Vertretern der italienischen Nation zu erheben“, eine Formulierung, aus der das parlamentarismuskritische Topos des ‘Parteiegoismus’ hervorgeht.[58] Die Metapher des Arztes, „der auch vor chirurgischen Eingriffen und scharfen Kuren nicht zurückschreckt“ zielt auf den so perzipierten Reformcharakter des Faschismus, „der in den lange verschlossenen dumpfen Bürokratenstuben rücksichtslos die Fenster“ aufreiße und „frische Zugluft eindringen“ lasse.[59]

Eine Parallelisierung zum Deutschland Anfang der 20er Jahre nimmt Güterbock selbst vor, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu präsentieren. Zwar sieht er im Reich „vielfach parallele Krankheitsempfindungen und Gefühlsregungen“ vorhanden und meint damit „eine Reaktion gegen übertriebene Sozialisierungsversuche, eine Unzufriedenheit mit dem unfähigen Bürokratentum, eine Abneigung gegen den schlaffen Parlamentarismus, eine Regeneration des Nationalismus“[60]; schätzt grundsätzlich Italien aber für ‘kränker’ und damit reformbedürftiger ein. Hier erteilt er explizit „äußere[n] Begleiterscheinungen […] wie de[...][m] Gummiknüppel“ die Absage, adaptionswürdig sei jedoch „die eigentliche fascistische Medizin mit ihren manchesterlichen und nationalistischen Bestandteilen“.[61] Hier geht Güterbock auch direkt auf die nationalsozialistische Bewegung ein, die er vom Faschismus abgrenzt. Mussolini selbst habe betont, dass es keine Berührungspunkte zum ‘bayerischen’ Nationalsozialismus gebe und auch Güterbock konstatiert, dass dieser sich „in der Tat von seinem italienischen Vorbild nur das Mittel des Gummiknüppels und das Ziel einer nationalen Diktatur aneignet, ohne in den Kern des Problems einzudringen.“[62]

In einem Beitrag zur Festschrift seines Schullehrers, des jüdischen Pädagogen und Historikers Moritz Schäfer, unternimmt Güterbock ein paar Jahre später eine eher kursorische Einordnung Mussolinis in die Geschichte der Stadt Rom seit der Antike.[63] Hier hebt er die Stützung der „Staatsautorität“ und des „Nationalgefühls“ der Italiener durch antike Reminiszenzen des Faschismus besonders hervor. Er weist ihre Einschätzung als „theatralische[...] Aueßerlichkeiten“ zurück, sie hätten vielmehr zu einem Aufschwung der italienischen Wissenschaft, besonders der Archäologie, geführt.[64] Neben der Förderung archäologischer Projekte durch Mussolini streicht Güterbock ausdrücklich die „politischen imperialistischen Tendenzen“ in Nachfolge „der alten Römer“ etwa in Form von Expansionstendenzen im Norden heraus. All dies habe dazu geführt, dem italienischen Volk, „das zum Partikularismus wie zur Schwäche und Korruption“ neige, ein „stärkeres Nationalgefühl“ zu verleihen, wie auch „Ordnungssinn und Selbstzucht“.[65] Der nach Güterbock seit dem Mittelalter in Italien eingetretenen „Verweichlichung“ – als Beispiel nennt er die Niederlage römischer Truppen 1167 vor Tusculum – suche der Faschismus „durch sportliche[...] und militärische[...] Ausbildung“ entgegenzutreten, um „ein neues männliches kampfbereites Geschlecht heranzuerziehen und zu diesem Behuf das Menschenmaterial des heimatlichen Bodens umzuformen durch Beschwörung der Geister der Ahnen.“[66]

Man wird Güterbocks Stellungnahmen zum italienischen Faschismus – und damit indirekt auch zur Weimarer Republik – als Ausdruck eines dem politischen Umsturz nach dem Ersten Weltkrieg skeptisch gegenüberstehenden bürgerlichen Liberalismus begreifen müssen. Kritik an einem als ausschließlichen Diener von Sonderinteressen aufgefassten Parlamentarismus, Sympathien für die Vorstellung einer nationalen Volkseinheit, scharfe Frontstellung gegen den Sozialismus und Bolschewismus bei gleichzeitiger Sehnsucht nach Erneuerung und Reform, Führer-Diskurs – Güterbock artikuliert hier Denkmuster ehemals demokratisch-liberalen, nun in die politische Sinnkrise geratenen Bürgertums. Dazu tritt die Verkennung des faschistischen Antisemitismus – wobei seine diesbezügliche Einschätzung des Nationalsozialismus offenbleiben muss.[67]

 

[1]    Die biographischen Angaben folgen: Beck, Marcel, Ferdinand Güterbock +, in: Neue Zürcher Zeitung, 29.04.1944, Bl. 2; Vasella, Oskar, Nekrolog Ferdinand Güterbock, in: Zeitschrift für Schweizerische Kirchengeschichte 38 (1944), S. 160; Holtzmann, Walther, Nekrolog Ferdinand Güterbock, in: Deutsches Archiv 8 (1951), S. 498; ders., Ferdinand Güterbock, in: Historische Zeitschrift 172 (1951), S. 433f. Vgl. auch: Kies, Dorothea, Die Juden und die MGH. Jüdische und jüdischstämmige Monumenta-Mitarbeiter im Spiegel ihrer Zeit, Magisterarbeit Tübingen ca. 2012 (PDF-Version: http://www.mgh-bibliothek.de/dokumente/b/b070295.pdf), S. 91-93.

[2]    Carl (auch: Karl) Eduard Güterbock (1830-1914), seit 1851 evangelisch getauft, erlangte 1865 eine ordentliche Professur in Königsberg. Zu seinen Spezialgebieten zählte die Geschichte des mittelalterlichen Strafrechts; vgl.: Claußen, Hans-Kurt, „Güterbock, Carl Eduard“, in: Neue Deutsche Biographie 7 (1966), S. 290.

[3]    Zu Bruno Güterbock (1858-1940) und Grethe Auer (1871-1940) vgl. die Autobiographie: Auer, Grethe, Wenn ich mein Leben betrachte… Wien – Bern – Marokko – Berlin. Erinnerungen. Im Auftrag von Hans Gustav Güterbock hg. von Herzeleide Henning, Berlin 1995. Zur Familie Güterbock siehe auch: Panwitz, Sebastian, Die Gesellschaft der Freunde 1792-1935. Berliner Juden zwischen Aufklärung und Hochfinanz (= Haskala. Wissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 34), Hildesheim u.a. 2007, S. 66 und 301. Bruno Güterbocks Name findet sich auch in den Akten der Monumenta Germaniae Historica: 1909 teilte der Vorsitzende der Zentraldirektion mit, dass durch Vermittlung Güterbocks die Bibliothek seines Freundes Ludwig Traube in das Eigentum des Reichs und in den Besitz der MGH übergegangen sei, Protokoll der 35. Plenarversammlung der Zentraldirektion, 15.04.1909, MGH-Archiv 338/47, Bl. 12. Bruno Güterbock konvertierte zum protestantischen Glauben; vgl. Renger, Johannes, Altorientalistik und jüdische Gelehrte in Deutschland – Deutsche und österreichische Altorientalisten im Exil, in: Jüdische Intellektuelle und die Philologien in Deutschland 1871-1933 (= Marbacher Wissenschaftsgeschichte 3), hg. von Wilfried Barner und Christoph König, Göttingen 2001, S. 247-262, hier S. 256.

[4]    Heer, Gall, Einführung, in: Güterbock, Ferdinand, Engelbergs Gründung und erste Blüte 1120-1223. Neue quellenkritische Forschungen von Ferdinand Güterbock. Aus seinem Nachlass herausgegeben von P. Gall Heer, Zürich 1948, S. VI-VII. Auch Bruno Güterbocks Familie hielt sich regelmäßig dort auf, siehe: Auer, Erinnerungen (wie Anm. 3), S. 259.

[5]    Güterbock, Ferdinand, Der Friede von Montebello und die Weiterentwicklung des Lombardenbundes. Von Ferdinand Güterbock. Mit Widmung des Verf. an Prof. Holder-Egger, Berlin 1895.

[6]    Güterbock, Ferdinand, Aus Scheffer-Boichorsts Leben, in: Gesammelte Schriften von Paul Scheffer-Boichorst. 1. Bd.: Kirchengeschichtliche Forschungen, Berlin 1903, S. 1-62.

[7]    Holtzmann, Nekrolog (wie Anm. 1), S. 498; Beck, Güterbock (wie Anm. 1), Bl. 2. Zu Güterbocks Werk siehe auch: Beck, Marcel, Bibliographie der historischen Arbeiten von Ferdinand Güterbock, in: Güterbock, Ferdinand, Engelbergs Gründung und erste Blüte 1120-1223. Neue quellenkritische Forschungen von Ferdinand Güterbock. Aus seinem Nachlass herausgegeben von P. Gall Heer, Zürich 1948, S. 144-147. Vgl. zu Güterbocks Forschungen zu Barbarossa: Berwinkel, Holger, Die Schlacht bei Legnano (1176), in: Kirche und Frömmigkeit – Italien und Rom. Colloquium zum 75. Geburtstag von Professor Dr. Jürgen Petersohn. Würzburg, 7. und 8. Mai 2010, hg. von Jörg Schwarz, Matthias Thumser und Franz Fuchs, Würzburg 2012, S. 70-80, hier S. 70f., S. 75f.

[8]    In den Jahresberichten der Monumenta Germaniae Historica nach dem Ersten Weltkrieg erscheint Güterbock unter dem Titel eines Professors, vgl. z.B.: Kehr, Paul, Bericht über die Herausgabe der Monumenta Germaniae Historica 1920, in: Neues Archiv 44 (1922), S. 1-10, hier S. 4. So auch Vasella, Nekrolog (wie Anm. 1), S. 160.

[9]    Holtzmann, Nekrolog (wie Anm. 1), S. 498; Beck, Güterbock (wie Anm. 1), Bl. 2.

[10]  So Holtzmann, Nekrolog (wie Anm. 1), S. 498; Beck, Güterbock (wie Anm. 1), Bl. 2.

[11]  Beck, Güterbock (wie Anm. 1), Bl. 2.

[12]  Reichert, Folker, Gelehrtes Leben. Karl Hampe, das Mittelalter und die Geschichte der Deutschen (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 79), Göttingen 2009, S. 249.

[13]  Eine Parallele stellt das Leben seines Verwandten Bruno Güterbock dar: Sein Amt als Schriftführer der Deutschen Orient-Gesellschaft, was u.a. die Herausgabe des Publikationsorgans wie auch der wissenschaftlichen Veröffentlichungen ihrer Mitarbeiter beinhaltete, übte er ohne Bezahlung aus. Güterbock erhielt später die Ehrenprofessorwürde; so Auer, Erinnerungen (wie Anm. 3), S. 271-273.

[14]  Vgl. seine Reaktion auf den Ausbruch des 1. Weltkriegs: Reichert, Hampe (wie Anm. 12), S. 203.

[15]  Dargelegt bei: Reichert, Hampe (wie Anm. 12), S. 166, S. 251f.

[16]  So Kies, Juden (wie Anm. 1), S. 92.

[17]  Heer, Einführung (wie Anm. 4), S. VIf.

[18]  Kies, Juden (wie Anm. 1), S. 92f.; Beck, Güterbock (wie Anm. 1), Bl. 2.

[19]  Güterbock, Ferdinand, Einige Beobachtungen zu den SS-Editionen, 25.10.1931, MGH-Archiv 338/52, Bl. 137f., hier Bl. 138.

[20]  Holder-Egger, Oswald, Bericht über die 31. Jahresversammlung der Zentraldirektion der Monumenta Germaniae Historica, in: Neues Archiv 30 (1905), S. 1-12, hier S. 5.

[21]  Güterbock hatte der Feststellung von Johannes Haller, das Privileg Friedrichs I. für Kloster Neuburg von 1174 stelle eine Fälschung dar, massiv und rhetorisch recht unverblümt widersprochen; vgl.: Güterbock, Ferdinand, Ein echtes und ein unechtes Privileg Friedrichs I. für Kloster Neuburg (im Elsass), in: Neues Archiv 38 (1913), S. 559-561. Eine Erwiderung Hallers erschien nicht, weil dieser sich weigerte, die aus Sicht der Redaktion zu ausfälligen Formulierungen seiner „Gegenerklärung“ zu modifizieren. Vgl. den Brief von Harry Bresslau an Karl Zeumer, 12.10.1913, MGH-Archiv 3338/66: Haller „unterstellt, daß er [d.i. Güterbock; Anm.d.V.] seinen Artikel nicht aus wissenschaftlich-sachlichen, sondern aus persönlichen Motiven, um Haller zu diskreditieren, geschrieben habe. Ein solcher Vorwurf, wenn er nicht bewiesen werden kann, erscheint mir unzuläßig.“ Siehe auch den Brief Karl Zeumers an Michael Tangl mit der Zustimmung zu Harry Bresslaus Gutachten, 14.10.1913 sowie den Briefwechsel zwischen Michael Tangl und Johannes Hallers Anwalt F. Sailer aus dem Mai 1914 mit dem Rückzug von Hallers Erwiderung; ebd. Zur Redaktion des „Neuen Archivs“ durch Karl Zeumer und Michael Tangl bzw. später Ernst Perels vgl.: Schaller, Annekatrin, Michael Tangl (1861-1921) und seine Schule. Forschung und Lehre in den Historischen Hilfswissenschaften (= Pallas Athene. Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 7), Stuttgart 2002, S. 250-252.

[22]  Kehr, Paul, Bericht über die Herausgabe der Monumenta Germaniae Historica 1920, in: Neues Archiv 44 (1922), S. 1-10, hier S. 4; ders., Bericht über die Herausgabe der Monumenta Germaniae Historica 1921, in: Neues Archiv 45 (1924), S. 1-13, hier S. 4. Im MGH-Archiv findet sich eine kurze Zusammenstellung der von Güterbock für die MGH geleisteten Arbeiten, darunter auch seine Aufsätze für das „Neue Archiv“, MGH-Archiv 338/52, Bl. 124.

[23]  Kehr, Paul, Bericht über die Herausgabe der Monumenta Germaniae Historica 1925, in: Neues Archiv 46 (1926), S. *I-*VIII, hier S. *IV.

[24]  Güterbock, Ferdinand, Pro memoria von Editionen italienischer Schriftsteller der Stauferzeit, 01.4.1926, MGH-Archiv 338/41, Bl. 136-138.

[25]  Kehr, Paul, Bericht über die Herausgabe der Monumenta Germaniae Historica 1926, in: Neues Archiv 47 (1928), S. I-VII, hier S. III. Belege für weitere Italienreisen im Dienst der Monumenta finden sich z.B. in der Jahresrechnung der Zentraldirektion für 1928 mit der Erstattung der Auslagen Güterbocks von 800 Mark, MGH-Archiv 338/191.

[26]  Güterbock, Ferdinand (Hg.), Das Geschichtswerk des Otto Morena und seiner Fortsetzer über die Taten Friedrichs I. in der Lombardei (= MGH SS rer. Germ. n.s. 7), Berlin 1930.

[27]  Nach Holtzmann, Nekrolog (wie Anm. 1), S. 498, hinderte die Vertreibung durch die Nationalsozialisten sowie der Kriegsausbruch Güterbock an der Inangriffnahme der Edition.

[28]  Güterbock, SS-Editionen (wie Anm. 19), Bl. 137f. Konkret mahnte Güterbock dabei an, auf genauere Feststellung der Entstehungsdaten von Textteilen zu achten, bei der Eruierung der Quellen noch weiterzugehen, im Fall zweifelhaften Wortlauts bei mangelhafter Überlieferung in der Edition Elemente zur Nachprüfung anzugeben sowie klassische und Vulgata-Zitate nicht wörtlich wiederzugeben. Für die Indizes schlug er möglichst vollständige Namen- und beschränkte Sachregister vor; geographische Ortsbestimmungen sollten allgemein verständlich nach nahe gelegenen größeren Städten oder Ortschaften nach dem Vorbild von Georg Heinrich Pertz vorgenommen werden. Die Namensformen von Orten und Personen seien nach Urkundenbüchern anzusetzen. Das Druckbild wünschte Güterbock sich möglichst klar und übersichtlich, außerdem eine weitergehende Vereinheitlichung aller Bände.

[29]  Protokoll der Sitzung der Zentraldirektion, 24.04.1931, MGH-Archiv 338/51, Bl. 116-118.

[30]  Protokoll der Ausschusssitzung der Zentraldirektion, 29.04.1933, MGH-Archiv 338/52, Bl. 55.

[31]  Vgl. dazu die Bemerkungen im Nachruf des Perels-Schülers Oskar Vasella, demzufolge „die Beziehungen mit dem einstigen Wirkungskreis auch nie ganz ab[rissen]“, ders., Nekrolog (wie Anm. 1), S. 160.

[32]  Wilhelm Engel an Jacques Dropet, 19.07.1937, MGH-Archiv B 539, Bl. 109. Es handelt sich um den Aufsatz: Güterbock, Ferdinand, Zur Geschichte Burgunds im Zeitalter Barbarossas, in: Zeitschrift für Schweizerische Geschichte 17,2 (1937), S. 145-229. Siehe auch die Rezension im Deutschen Archiv 2 (1938), S. 289f.

[33]  Landesbibliothek Hannover an das Reichsinstitut, 12.03.1938, MGH-Archiv B 540/41, Bl. 90f. (Brief Güterbocks beigefügt).

[34]  Ohnsorge, Werner, Die Byzanzpolitik Friedrich Barbarossas und der “Landesverrat” Heinrichs des Löwen, in: Deutsches Archiv 6 (1943), S. 118-149.

[35]  Edmund Ernst Stengel an Werner Ohnsorge, 06.01.1942, MGH-Archiv B 569, Bl. 415.

[36]  Werner Ohnsorge an Edmund Ernst Stengel, 09.01.1942, MGH-Archiv B 569, Bl. 413.

[37]  So Martin Lintzel an Theodor Mayer, 26.12.1942, MGH-Archiv B 569, Bl. 86.

[38]  Schieder, Wolfgang, Mythos Mussolini, München 2013, S. 106f.

[39]  Güterbock, Ferdinand, Mussolini und der Fascismus, München 1923, S. 5. Eine erweiterte, ins Spanische übersetzte Ausgabe erschien ein Jahr später; vgl. ders., Mussolini y el fascismo, Berlin 1924. Im Wintersemester 1924/25 nahm Güterbock an einer Vortragsreihe der Universität Königsberg zum Thema „Romanische Völker“ teil und fasste seine Beobachtungen zu Mussolini und zum Faschismus dort noch einmal bündig zusammen; ders., Mussolini und der Fascismus, in: Die romanischen Völker (= Auslandsstudien 1), Königsberg 1925, S. 89-110. Vgl. zu Güterbocks Buch auch: Damm, Matthias, Die Rezeption des italienischen Faschismus in der Weimarer Republik (= Extremismus und Demokratie, Bd. 27), Baden-Baden 2013, S. 181f. Rezensiert wurde Güterbocks Studie im Berliner Tageblatt von dem Kulturhistoriker und Schriftsteller Mario Krammer, der ebenfalls Mitarbeiter der Monumenta war, ebd.

[40]  Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 9. Vgl. ebd.: „Feuergeist, der mit zündenden Worten sein Land in den Weltkrieg trieb und der als ein geborener Beherrscher der Menge erscheint, [..] ein die Majorität verachtender Individualist, der ‘die Aristokratie der Intelligenz und Kraft’ verherrlicht; ein warmherzig für die Freunde empfindender Mensch und andererseits eine auf die Gegner rücksichtslos einstürmende, roh gewaltsame Kampfnatur […]; ein heißblütiger, begeisterungsfähiger Idealist und zugleich ein dogmenfeindlicher, klar und konsequent denkender Realpolitiker […]; bei alledem ein aufrechter Charakter, der ohne ein Prinzipienreiter zu sein, doch mannhaft für seine Überzeugung eintritt […].“

[41]  Eine Auswahl bei Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 126: „ein ganzer Mann; seinem Wesen haftet nichts Schwächliches oder Weichliches, nichts Dekadentes an.“; ebd.: „unersättlicher Tätigkeitsdrang“; S. 127: „aristokratische Machttheorien und Gewaltmethoden, mit denen er auch über Leichen geht und gleicherweise Gegner und Anhänger niederhält. Ja, er übertrumpft als Herrennatur sogar den eisernen Kanzler und wandelt als nietzschescher Übermensch auf den schwindelnden Pfaden eines Napoleon, indem er gelegentlich die drohende Geste des Diktators fast zynisch herausfordernd hervorkehrt“.

[42]  Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 23.

[43]  Güterbocks Bemühungen um eine Objektivierung zeigen sich besonders in seinen Ausführungen zum Ersten Weltkrieg, die der in anderen zeitgenössischen deutschen Schriften zum Thema so hervorstechenden nationalen bis nationalistischen Empörung vollständig entbehren. So beurteilt Güterbock die italienische Position äußerst verständnisvoll und begründet den Kriegseintritt aufseiten der Entente mit Fehlern Österreich-Ungarns auf dem Balkan; Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 25-39. Obwohl er die ‘Gräuelpropaganda’ der Entente gegenüber Deutschland kritisiert, versucht er ihren medialen Erfolg in Italien teilweise wiederum zu erklären. In Bezug auf die Deutschfeindlichkeit Mussolinis lässt sich nur eine indirekte Stellungnahme durch die Bezeichnung des „italienischen Clemenceau“ (S. 45) erkennen und er zieht aus ihr sogar den Schluss – auch wenn ‘uns’ diese Einstellung Mussolinis unsympathisch erscheine – dass der ‘Duce’ sich dadurch nationale Verdienste errang, weil er den italienischen Kriegswillen aufrecht erhielt, S. 46.

[44]  Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 76. Vgl. auch die Bemerkung Güterbocks im Kontext von Mussolinis Deutschlandreise: Das Reich habe „in schwierigster Lage sich von dem Bolschewismus nicht infizieren“ lassen „und der roten Sturmwelle einen unerschütterlichen Damm entgegen[...][gesetzt]“; ebd., S. 95.

[45]  Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 23.

[46]  Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 101. Der Faschismus stelle im Gegensatz zum Bolschewismus ein realpolitisches Reformieren statt des ‘Beseitigens’ in den Mittelpunkt, ebd., S. 129.

[47]  Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 100.

[48]  Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 62.

[49]  Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 105.

[50]  Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 106.

[51]  Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 75. Vgl. noch pointierter S. 131: „[...] die Einigung der verschiedensten Volksklassen auf ein gemeinsames Programm, der Zusammenschluß von Stadt und Land, von Intelligenz und Proletariat, von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, von konservativen Monarchisten und radikalen Republikanern zu einer einheitlichen Partei.“

[52]  Vgl. dazu: Bruendel, Steffen, Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin  2003, bes. S. 275ff.

[53]  Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 63f.

[54]  Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 75.

[55]  Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 83 bzw. S. 87.

[56]  Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 128. Kurz darauf konstatiert Güterbock aber auch, der Faschismus habe den revolutionären Überschwang seiner Anfänge bereits überwunden, S. 129

[57]  Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 124.

[58]  Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 125.

[59]  Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 125.

[60]  Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 130. Vgl. ebd.: „Immerhin werden wir aus der Geschichte des italienischen Faschismus auch manches für die Behandlung unseres erkrankten Volks- und Staatskörpers – man denke nur an die bürokratischen Auswüchse unserer Wohnungsämter – lernen können.“

[61]  Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 130.

[62]  Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 130.

[63]  Güterbock, Ferdinand, Roma Aeterna und der moderne Fascismus, in: Festschrift zum 70. Geburtstage von Moritz Schaefer, Berlin 1927, S. 79-84.

[64]  Güterbock, Roma Aeterna (wie Anm. 63), S. 80.

[65]  Güterbock, Roma Aeterna (wie Anm. 63), S. 82.

[66]  Güterbock, Roma Aeterna (wie Anm. 63), S. 83f.

[67]  Vgl. hier wiederum die Haltung seines Verwandten Bruno Güterbock: Nach Grethe Auer waren sie und ihr Ehemann Anhänger der rechtsliberalen DVP, weil die eigentlich bevorzugte DNVP wegen ihres Antisemitismus nicht wählbar erschien, Auer, Erinnerungen (wie Anm. 3), S. 377.  Das Ehepaar begrüßte sogar die ‘Machtergreifung’ von 1933, da es sie aus starker Sympathie mit der Arbeiterschaft als Revolution von rechts und verhinderten Klassenkampf begriff, ebd. S. 391. Die 1940 verstorbene Auer verharmlost in ihren Erinnerungen die antisemitischen Maßnahmen des NS-Regimes, von denen das Ehepaar und ihre zwei Söhne selbst betroffen waren.

 

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Empfohlene Zitierweise:
Nikola Becker: Ferdinand Güterbock – Mediävist und Mitarbeiter der Monumenta Germaniae Historica, 18. September 2014, http://mittelalter.hypotheses.org/4304 (ISSN 2197-6120).

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/4304

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mediaevum.net: Akten des „Reichsinstituts für ältere deutsche Geschichtskunde“

http://mittelalter.hypotheses.org/4036 Die Monumenta Germaniae Historica wurden zum 1.4.1935 mit Zustimmung des Vorsitzenden der Zentraldirektion, Paul Fridolin Kehr in ein „Reichsinstitut für altere deutsche Geschichtskunde“ umgewandelt. Vonseiten des NS-Regimes war es als eine Schwesterinstitution zum ebenfalls 1935 begründeten „Reichsinstitut für Geschichte des Neuen Deutschland“ von Walter Frank konzipiert. Der ca. 100 Faszikel umfassende, faktisch unversehrt gebliebene […]

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2014/08/5294/

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Neuerscheinung: Linn Holmberg, „The Forgotten Encyclopedia“

Sie gilt als Leitmedium, manchen sogar als Inbegriff des Denkens der „Aufklärung“: die von Denis Diderot und Jean Le Rond d’Alembert herausgegebene Encyclopédie von 1751–1772. Sie hat auch als eines der am besten erforschten Nachschlagewerke aller Zeiten zu gelten, über das etliche ganze Bücher veröffentlicht worden sind und das heute auch (gleich mehrfach) als suchbare Online-Version aufbereitet wird.

Weitestgehend unbekannt ist dagegen geblieben, dass nahezu zeitgleich mit dem Beginn der Encyclopédie in der französischen Benediktinerkongregation von Saint-Maur ein Werk ähnlichen Zuschnitts, ein Lexikon der Künste und Wissenschaften, unter der Leitung von Dom Antoine-Joseph Pernety in Angriff genommen wurde. Die Mauriner hatten seit dem späten 17. Jahrhundert eine angesehene Stellung in der Gelehrtenwelt erlangt, die vor allem auf ihrer Fähigkeit beruhte, eine Reihe von historisch-philologischen Großprojekten zu betreiben und teilweise auch zum erfolgreichen Abschluss zu bringen: Editionen der Werke der Kirchenväter, eine monumentale Ordensgeschichte, im 18. Jahrhundert aber auch zunehmend Arbeiten von nicht primär kirchlichem Interesse wie quellengesättigte Geschichten französischer Provinzen oder Bernard de Montfaucons Antiquité expliquée, ein antiquarisches Grundlagen- und zugleich Prachtwerk, das große Verkaufserfolge erzielt hatte.

Als Versuch, diese Stellung inmitten einer sich wandelnden öffentlichen Diskussion und Nachfrage nach Wissen zu wahren, ist wohl das benediktinische Enzyklopädieprojekt zu werten, das freilich im Sand verlief: Nach zehnjähriger Arbeit wurden die umfangreichen Materialsammlungen beiseite gelegt, die Arbeit an den Manuskripten abgebrochen, und das Vorhaben fiel der Vergessenheit anheim. Selbst in Darstellungen der maurinischen Gelehrsamkeit kommt es kaum zur Sprache. Dies ändert sich nun durch die an der Universität Umeå abgeschlossene Dissertation von Linn Holmberg mit dem Titel „The Forgotten Encyclopedia“, die seit kurzem als eBook frei zugänglich ist.

Quelle: http://ordensgeschichte.hypotheses.org/7704

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Akten des „Reichsinstituts für ältere deutsche Geschichtskunde“

Die Monumenta Germaniae Historica wurden zum 1.4.1935 mit Zustimmung des Vorsitzenden der Zentraldirektion, Paul Fridolin Kehr, unter Beseitigung der seit 1875 bestehenden bisherigen Organisationsform in ein „Reichsinstitut für altere deutsche Geschichtskunde“ umgewandelt. Mit Abschaffung der Zentraldirektion wurde auf Grundlage des ‚Führerprinzips‘ der Vorsitzende zum faktischen Leiter und später Präsidenten aufgewertet, der nicht nur sämtliche Geschichts- und Altertumsvereine überwachen sollte, sondern auch dem ehemaligen Preußischen Historischen Institut in Rom vorstand. Vonseiten des NS-Regimes war es als eine Schwesterinstitution zum ebenfalls 1935 begründeten „Reichsinstitut für Geschichte des Neuen Deutschland“ von Walter Frank konzipiert.

Der ca. 100 Faszikel umfassende, faktisch unversehrt gebliebene Aktenbestand des Reichsinstituts wurde bis zum 28.2.2014 in Eigenleistung teilerschlossen: Etwa die Hälfte der Archivalien konnte bearbeitet werden und steht über die Homepage des MGH-Archivs zur Verfügung.

Der Aktenbestand bildet die Basis für die noch ausstehende Erforschung der Geschichte der Monumenta während der Zeit des ‚Dritten Reichs‘. Er dokumentiert ihre Einbindung in die wissenschaftlichen Strukturen und Netzwerke, die Entwicklung des Faches mittelalterliche Geschichte und verwandter Disziplinen sowie die intensiven Verflechtungen mit dem Reichswissenschaftsministerium und verschiedenen wissenschaftslenkenden Einrichtungen des NS-Staates. Zu den Korrespondenten zählen renommierte deutschsprachige und ausländische Geisteswissenschaftler, sowie Universitäten, Verlage, Archive und Bibliotheken, Akademien und kulturpolitische Einrichtungen des nationalsozialistischen Regimes in den besetzten Gebieten nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Die Akten geben Aufschluss über wissenschaftliche und (wissenschafts-)politische Aspekte des Wirkens der Leiter bzw. Präsidenten Paul Fridolin Kehr, Wilhelm Engel, Edmund Ernst Stengel und Theodor Mayer sowie weiterer Mitarbeiter und mit den Monumenta verbundener bedeutender Gelehrter wie Karl Brandi. Nicht zuletzt wird die wissenschaftliche Geschichte der Monumenta selbst mit ihren Editionen (MGH-Reihen), der Zeitschrift „Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters“ und weiteren Reihen und Projekten sichtbar.

Die Archivalien ermöglichen Erkenntnisse zu verschiedenen Themenkomplexen der Wissenschaftsgeschichte der NS-Zeit, wie etwa dem Monopolanspruch der deutschen Geschichtswissenschaft mit dem versuchten Gewinn einer ‚Deutungshoheit‘ in Europa und ihrem Verhältnis zum Regime, der Organisation der Geisteswissenschaften (z.B. das Verhältnis der Reichinstitute zu landesgeschichtlichen Institutionen), der Interpretation der deutschen Geschichte aus Sicht der NS-Ideologie, der ideellen Unterstützung der deutschen Kriegsführung (‚Kriegseinsatz Geisteswissenschaften’) oder der Geschichtswissenschaft in Österreich und im „Reichsprotektorat Böhmen und Mähren“. Sie leisten darüber hinaus Beiträge zur Biographieforschung, einschließlich der Verdrängung und des Ausschlusses von Wissenschaftlern mit unerwünschter Abstammung oder missliebiger politischer Orientierung.

Einige Beispiele sollen im Folgenden vorgestellt werden:

  • Faszikel B 543 enthält Korrespondenzen zum „Kunst-, Bibliotheks- und Archivschutz“ während des 2. Weltkriegs in Frankreich und den Beneluxstaaten. Sie dokumentieren die Beteiligung des Reichsinstituts an der umfangreichen Fotokopierung von in zeitgenössischer Diktion dem Deutschen Reich ‚entfremdeten‘ Archivalien und Handschriften. Die Akten stammen aus dem Zeitraum zwischen 1940 und 1943 und machen besonders das Engagement des Präsidenten Edmund Ernst Stengel für die Tätigkeiten der „Gruppe Archivwesen“ deutlich. Der Kommissar für Archivschutz, Ernst Zipfel, bat Stengel bereits kurz nach seiner Ernennung um Mitwirkung bei der „Sicherung“ von Archivgut (Brief vom 28.06.1940). Bereits im Ersten Weltkrieg hatte es vonseiten der Monumenta Bestrebungen zur „Herausgabe der in den napoleonischen Kriegen entfremdeten Archivalien und Handschriften deutscher Herkunft“ gegeben (Vgl. den Brief von Stengel an die Witwe von Michael Tangl, 24.06.1940). Stengel sagte Zipfel die Hilfe des Reichsinstituts bei der „Betreuung“ der holländischen, belgischen und französischen Archive zu, legte den Schwerpunkt dann aber deutlich auf die Erstellung von Fotokopien (Brief vom 11.07.1940). Bereits am 03.07.1940 hatte er offensichtlich aus eigener Initiative ein Rundschreiben an Institutsmitglieder und Fachkollegen mit der bitte um Mitteilung von mittelalterlichen Archivalien bzw. nichtarchivalischen Handschriften für die laufenden amtlichen Erhebungen über dem Deutschen Reich ‚entfremdete‘ und nach Frankreich und Belgien ‚verschleppte‘ Kulturgüter verschickt. Auch darin betonte er  die Bedeutung der möglichst umfassenden Fotokopierung für die Arbeiten des Reichsinstituts. Sein Rundschreiben stieß bei amtlichen Stellen auf wenig Gegenliebe, am 25.09.1940 wurde ihm vom Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung nahegelegt, eigenmächtige Aktionen zukünftig zu unterlassen. Die Akten enthalten Zusammenstellungen der aufgrund von Stengels Umfrage ermittelten Handschriften zur Vervielfältigung.
  • Beziehungen des Reichsinstituts unter Wilhelm Engel und Edmund Ernst Stengel zu wissenschaftlichen Einrichtungen wie etwa dem „Reichsinstitut für Geschichte des Neuen Deutschland“ spiegeln Akten in den Faszikeln B 546 und B 563 wider. Vorbehalte Stengels gegenüber Walter Frank, seine Ablehnung einer räumlichen Vereinigung beider Reichsinstitute, aber auch die offizielle Wahrung gegenseitiger guter Beziehungen und praktische Zusammenarbeit werden hier deutlich. In einer Niederschrift vom Dezember 1937 in B 546 berichtet Stengel über ein Gespräch mit Frank, in dem dieser eine Zusammenarbeit anbot unter der Bedingung, dass Karl August Eckhardt nicht die Leitung der Leges-Abteilung erhalte. Aus Franks Worten geht dabei hervor, dass er Stengel für einen Gegner des Nationalsozialismus hielt und seine Ernennung zum Präsidenten nicht befürwortet hatte. Korrespondenzen in B 563, die aus der Zeit zwischen 1935 und 1940 stammen, dokumentieren den gegenseitigen wissenschaftlichen und wissenschaftspolitischen Austausch, etwa durch die Erstellung von Gutachten. Thematisiert wird z.B. auch die Entfernung von Wilhelm Mommsen aus der Redaktion von „Vergangenheit und Gegenwart“ 1936 in der Amtszeit von Stengels Vorgänger Wilhelm Engel.
  • Zahlreiche Briefwechsel zeigen die Verbindungen des Reichsinstituts zur europäischen Geschichtswissenschaft in den gegnerischen, befreundeten und neutralen Staaten. Faszikel B 545-1 dokumentiert Kontakte des Reichsinstituts von 1942 bis 1943 mit der Schweiz in Form einer Vortragsreise von Präsident Theodor Mayer. Unter den Korrespondenten finden sich die Schweizerische Botschaft Berlin, das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung in Person von Herbert, der Deutsche Akademische Austauschdienst, das Auswärtige Amt, das Deutsche Studienwerk für Ausländer sowie die Schweizer Historiker Richard Feller und Anton Lagiadèr. Thematisiert werden die Lage der Schweizer Mediävistik, die Propaganda der „Feindmächte“ in dem neutralen Land, Absichten zur Errichtung einer ständigen Stelle eines Schweizer Mitarbeiters beim Reichsinstitut (mit Einladung der Stipendiaten Adolf Reinle und Eugen Bürgisser) und insgesamt der Versuch, eine Einflussnahme auf die Schweizer Geschichtswissenschaft zu erreichen. Faszikel B 577 enthält Materialien zu einer weiteren Vortragsreise von Mayer nach Rumänien und Briefwechsel mit rumänischen Wissenschaftlern wie z.B. Alexandru Marcu.
  • Geschichtspolitik im Sinne der NS-Ideologie in besetzten Gebieten offenbaren Akten von 1939 bis 1941 in Faszikel B 556 zur von Stengel geplanten Edition der deutschen Überarbeitung der alttschechischen Chronik des sogenannten „Dalimil“. Die Aufnahme auch der tschechischen Fassung in die MGH wird dabei angesichts der politischen Umstände nach der Eingliederung des Sudetenlandes und der Errichtung des „Protektorats Böhmen und Mähren“ als ‚nationale Pflicht‘ angesehen. Die Korrespondenzpartner Stengels sind der Volkstumsforscher Bruno Schier, die Slawisten Ferdinand Liewehr und Max Vasmer, der Historiker Wilhelm Wostry sowie die Gruppe Unterricht und Kultus beim Reichsprotektor in Böhmen und Mähren. Der Editionsauftrag wurde an Liewehrs Schüler Karl Rösler übertragen. Die politische Brisanz des Projekts wird in den Bedenken des Reichsprotekorats, die Berücksichtigung des tschechischen Texts könne bei den Deustcehn Ärger erregen, deutlich. In Faszikel B 557 befinden sich Korrespondenzen von 1941 bis 1942 zur ebenfalls von Stengel beabsichtigten Herausgabe der Miniaturen des „Brünner Schöffenbuchs“ mit rechtsikonographischen Ausführungen der österreichischen Historikerin Gertrud Schubart-Fikentscher. Stengel warb bei Adolf Hitler persönlich um finanzielle Unterstützung in Hinblick auf die Werbewirkung des Werks für ‚deutsches Wesen‘ in Böhmen.

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/4036

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Wer produzierte das Wissen, auf das sich die Geschichte des 19. Jh. stützt? Zwei Tagungen

Dass historische Quellen – welcher Art auch immer – keinesfalls jene „transparenten Fenster“ in die Vergangenheit sind1, als welche sie die Geschichtswissenschaft früherer Generationen benutzen zu können glaubte, ist eine Erkenntnis, die unter HistorikerInnen heute kaum mehr explizit bestritten werden dürfte. Mit ihrer Anwendung in der geschichtswissenschaftlichen Praxis sieht es freilich je nach Quellengattung, Epoche und Einzelfall noch recht unterschiedlich aus, und auch die quellenkundliche Forschung, die sich darauf richtet, Überlieferungen in ihrer unhintergehbaren Gemachtheit zu verstehen, hat in vielen Bereichen noch große Aufgaben vor sich.

Dabei dürften gerade Materialien aus der jüngeren und jüngsten Vergangenheit ein besonderes Risiko in sich tragen. In ihrer sprachlichen und medialen Form wirken sie oft verhältnismäßig vertraut und leicht verständlich – wodurch die Illusion von Transparenz leichter entsteht als bei mittelalterlichen Urkunden oder antiken Inschriften. Daher rührt wohl in erster Linie die relative Schwäche und geringe Verbreitung quellenkundlicher und historisch-grundwissenschaftlicher Forschung zum 19. und 20. Jahrhundert, die in diesem Blog auch kürzlich im Hinblick auf den Vergleich zwischen Aktenkunde und Diplomatik zur Sprache kam.

Die beiden Veranstaltungen, auf die hier hingewiesen werden soll, vertreten zwei Forschungsgebiete, die in dieser Hinsicht in neuester Zeit wichtige Beiträge leisten und eine breite Kenntnisnahme verdienen: die Geschichte der amtlichen Statistik und jene der Archive. Beide Institutionen erlebten im 19. Jahrhundert einen bemerkenswerten Aufschwung, der mit dem Ausbau und der Professionalisierung der staatlichen Verwaltung ebenso zusammenhing wie mit der Arbeit an der Konstruktion nationalstaatlicher Identitäten, die auf entsprechend zusammengestellte Wissensbestände gestützt wurden. Die Ergebnisse ihrer Tätigkeit sind noch heute unumgängliche Arbeitsgrundlagen für HistorikerInnen, die aber eben nicht als „transparente Fenster“ benutzt, sondern als selektiv und intentional konstruiertes Wissen angesehen werden müssen. Die Erforschung ihrer Produktionsbedingungen und ihrer Funktionen im Kontext der Entstehungszeit bildet einen Überschneidungsbereich zwischen Politik- und Verwaltungsgeschichte einerseits, Wissenschafts- und Wissensgeschichte andererseits; und die aus dieser Forschung zu schöpfenden Reflexionen sind einerseits bei der Arbeit zur Geschichte des 19. Jahrhunderts konsequent im Auge zu behalten, andererseits aber auch durchaus für das Verhältnis von Wissenschaft und Politik in der Gegenwart relevant.

Call for Papers: Die Zählung der Welt. Kulturgeschichte der Statistik vom 18. bis 20. Jahrhundert

Für die Tagung, die im September 2015 in Göttingen stattfinden soll, endet in wenigen Tagen die Einreichfrist für Abstracts. Die Veranstalter Stefan Haas, Michael C. Schneider und Nicolas Bilo schreiben über ihre Perspektive und Ziele Folgendes:

„Bisher sind Statistiken im Wesentlichen als sozialpolitisches oder sozioökonomisches Phänomen, in historischer Perspektive als Datengrundlage der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte thematisiert worden. Die Tagung möchte diesen Blick um eine kulturhistorische Perspektive erweitern. Statistiken bilden eine (historische) Wirklichkeit nicht nur rational ab, sie tragen vielmehr durch Kategorisierung und Taxonomie von Daten zu einer spezifischen Konstruktion von Realität bei, ja mehr noch: Die Erhebung der Daten selbst basiert bereits auf vorgängigen Entscheidungen über die Realitätskonstruktion, die nicht immer offengelegt werden.

Die Tagung verfolgt zwei Ziele: Erstens will sie ein Forum schaffen, Statistiken als Medium moderner Politik und gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse zu historisieren. Durch die Verortung im Kontext der Erfindung der Nationalstaaten und im transnationalen Vergleich soll gefragt werden, welche historischen Bedingungen für die Entwicklung und den Einsatz von Statistik Bedeutung hatten. Zweitens soll gefragt werden, wie Statistiken Realität repräsentieren und wie sie dadurch eine kulturelle Wirklichkeit erzeugen, die dann geschichtswirksam wird. Dazu möchte die Tagung einen Zeitraum von der Einführung von Statistiken im 18. Jahrhundert bis zum Beginn des Kalten Krieges umfassen. Räumlich und kulturell will sie sich nicht auf eine westliche Binnenperspektive verengen, sondern auch Platz für transkulturelle und transnationale Vergleiche bieten. Schließlich fragt die Tagung nach dem wachsenden Einfluss der Mathematisierung auf die verschiedenen Agenturen der Datenerhebung seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts und das Verschmelzen mathematisch-probabilistischer Methoden mit den herkömmlichen Praktiken der Datenauswertung.“

Der vollständige Call for Papers ist auf HSK zu finden.

Tagung: Archives and History. Making Historical Knowledge in Europe during the Long Nineteenth Century

Ebenfalls in Göttingen findet vom 26. bis 28. Juni 2014 diese Tagung statt, in der das Verhältnis von Archiven und Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert thematisiert wird. Zur Sprache kommen sowohl die Frage, wie Archive und Archivbestände gebildet wurden, als auch die Bedingungen der geschichtsforschenden Arbeit in und mit ihnen. Aus der Ankündigung durch den Veranstalter Philipp Müller:

Under which institutional conditions were historians able to undertake historical studies in archives? And how did these conditions of historical-archival research impinge on the production of historical knowledge? In looking into these two inextricably interlinked matters, the symposium highlights an essential, and ultimately scientific, attribute of historical work, rising to prominence in Europe during the long nineteenth century. In order to advance our understanding of the history of the study of records and files, its performance and ramifications for the making of historical knowledge, the symposium draws on different strands of scholarship and gathers experts from different fields of research such as the history of historiography, the history of sciences, anthropology and the history of archives.

Das Programm ist gleichfalls auf HSK abrufbar.

  1. Die Metapher ist hier entlehnt nach GEARY, Patrick J.: Entre gestion et gesta. Aux origines des cartulaires, in: GUYOTJEANNIN, Olivier – MORELLE, Laurent – PARISSE, Michel (Hrsg.): Les cartulaires. Actes de la Table ronde organisée par l’École nationale des chartes et le G.D.R. 121 du C.N.R.S. (Paris, 5–7 décembre 1991) (Mémoires et documents de l’École des chartes 39), Paris 1993, 13–26, hier 13. Vgl. die daran geknüpfte Diskussion bei KURATLI HÜEBLIN, Jakob: Archiv und Fälscherwerkstatt. Das Kloster Pfäfers und sein Umgang mit Schriftgut, 10. bis 18. Jahrhundert (Studia Fabariensia. Beiträge zur Pfäferser Klostergeschichte 4), Dietikon – Zürich 2010, 16–18.

Quelle: http://achtundvierzig.hypotheses.org/559

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