1517 ließ Kaiser Maximilian I. durch Jakob Mennel eine fünf Bände umfassende Genealogie des Hauses Habsburg erstellen.[1] Ziel des aufwändigen Unternehmens war es, einen nach den zeitgenössischen Maßstäben wissenschaftlich fundierten Stammbaum zu publizieren, der das überlegene „Herkommen“ der Habsburger nachweisen sollte.[2] Die nach Dieter Mertens „eigene Geschichtskonzeption“, die Maximilans Selbstverständnis als römisch-deutscher Kaiser zugrunde lag, wird von einer doppelseitigen Abbildung im vierten Band des Geburtsspiegels eindrücklich illustriert. Zu…
Das Portal „Deutsche Inschriften Online“ als Hilfsmittel für die heraldische Forschung
Mit über 2000 Wappendarstellungen für die Zeit bis 1650 stellt die Datenbank Deutsche Inschriften Online (DIO) eine wertvolle Hilfe für die heraldische Forschung zur Verfügung. Bei der Verwendung gilt es jedoch einiges zu beachten. So stellt die Online-Version des Editionsprojekts Deutsche Inschriften bislang nur etwa ein Drittel der ca. 90 gedruckten Editionsbände zur Verfügung. Außerdem werden die besonderen Interessen der heraldischen Forschung nur begrenzt berücksichtigt. Hier soll die Plattform speziell für die Forschung zu Wappen vorgestellt werden: In diesem ersten Blogbeitrag soll der Frage nachgegangen werden, wie man das Angebot für heraldische Fragestellungen nutzen kann und wo dessen Grenzen liegen. In einem weiteren Beitrag soll dann exemplarisch dargestellt werden, welche Informations- und Anschlussmöglichkeiten die DIO im konkreten Anwendungsfall bieten. Inschriften in der heraldischen Forschung Inschriften spielen als Traditionsquellen in vielen Bereichen der historischen Forschung eine bedeutende Rolle. Dies gilt auch für die Heraldik und die Arbeit mit heraldischen Quellen: Neben Wappenbüchern und Siegeln bilden sie eine der wichtigsten Quellengruppen der heraldischen Forschung. Dies scheint seinen Grund hauptsächlich in der Funktion von Inschriften zu haben: Als repräsentative Zeichen können sie etwa auf Stifter verweisen oder an Verstorbene erinnern. Dabei ist die Abbildung der zugehörigen Wappen für die mittelalterliche Gesellschaft von großer […]
Neue Perspektiven einer Kulturgeschichte der Heraldik: Der Blog Heraldica Nova erweitert sein Angebot
Die Jesus Christus zugeschriebenen Wappen in der Hyghalmen Wappenrolle, heute im College of Arms, aus dem 15. Jahrhundert. Quelle: Wikimedia Commons
Von der Geschichtswissenschaft ist die Heraldik lange kaum beachtet worden. Zu sehr, so empfanden Historikerinnen und Historiker, beschränkte sich die Disziplin auf das Systematisieren und Kategorisieren der Quellen, zu wenig bediente die klassische Heraldik die neuen, kulturwissenschaftlichen Interessen der historischen Forschung an den Interpretationen und Konstruktionen vormoderner Gesellschaften. Dabei waren heraldische Zeichen in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaft allgegenwärtig und können deshalb gerade dort vollkommen neue Perspektiven eröffnen, wo die Geschichtswissenschaft historische Diskurse, symbolische und visuelle Kommunikation und Repräsentation zum Ansatz hat und Themen wie Identität und Mentalität, Verwandt- und Gefolgschaft, das Imaginäre oder Gender in den Mittelpunkt stellt.[1]
Chancen und Potenziale einer neuen Heraldik
Die Potenziale heraldischer Quellen für die kulturwissenschaftliche Forschung sind Kern des von der VolkswagenStiftung geförderten Projektes “Die Performanz der Wappen” an der Universität Münster. Dort werden in einem interdisziplinären Vorgehen historische, kunsthistorische und philologische Ansätze zusammengeführt, um der Transmedialität heraldischer Zeichen gerecht zu werden. Physische Abbildungen, Artefakte und Architektur werden dabei ebenso zur Quelle wie die schriftliche Überlieferung zu Wappen. Zum einen soll erforscht werden, wie und inwiefern heraldische Zeichen ein solch omnipräsentes und potentes Mittel visueller Kommunikation der vormodernen Gesellschaft werden konnten. Zum anderen soll herausgestellt werden, wie dieses Kommunikationsmedium im gesellschaftlichen Alltag funktionierte und wie es von den Zeitgenossen – quer durch alle Schichten – verstanden und genutzt wurde. Eine transmediale und interdisziplinäre neue Heraldik soll damit ein omnipräsentes Phänomen mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Kultur und Mentalität erschließen und einen geschichtswissenschaftlichen Beitrag zum fächerübergreifenden Forschungsdiskurs zur visuellen Kultur leisten.
Aktuelle Forschung im Netz
Der Blog Heraldica Nova wurde im Jahr 2013 von Torsten Hiltmann als Präsentations- und Kommunikationsplattform dieser “neuen Heraldik” gegründet. Im Mittelpunkt stand seitdem vor allem der Auf- und Ausbau des Blogs zu einem internationalen Online-Netzwerk für Forscherinnen und Forscher, die sich mit Geschichte und Heraldik befassen und auf dem Blog ihre Forschungsideen und -ergebnisse in eigenen Posts zur Diskussion stellen. Indem aktuelle Arbeiten und laufende Projekte an einem zentralen Ort im Internet zusammengeführt werden, sollen die einzelnen Forschungsvorhaben sichtbar gemacht und miteinander in Kontakt gebracht werden, die sich allmählich zu einer neuen Forschungsrichtung formieren. Mit kompakten und exemplarischen Einzelbeiträgen möchte der Blog dabei zugleich auch mit der breiteren, außeruniversitären Öffentlichkeit über diese neuen Perspektiven auf heraldische Quellen in Dialog treten und Einblick in aktuelle Tendenzen der akademischen Forschung geben.
Seit der Veröffentlichung im vergangenen Jahr blickt der Blog bereits auf eine erfolgreiche Entwicklung zurück: Mehr als 100 Beiträgen gewähren Einsicht in die laufende kulturwissenschaftlich-heraldische Forschung, die von rund 3.000 Besuchern pro Monat gelesen und kommentiert werden. Diese erfolgreiche Entwicklung hat jetzt man zum Anlass genommen, Heraldica Nova weiterzuentwickeln.
Stand anfangs noch die mittelalterliche Heraldik allein im Mittelpunkt, so hat sich gezeigt, dass das Phänomen der Wappen in seiner gesamtgesellschaftlichen Bedeutung keineswegs auf das Mittelalter beschränkt ist.[2] Künstliche Epochengrenzen verstellen den Blick dafür, dass sich die mittelalterliche Heraldik bis weit in das 16. und 17. Jahrhundert kontinuierlich weiterentwickelt hat. Aus diesem Grund lädt der Blog nun auch explizit Forscherinnen und Forscher zur Veröffentlichung ein, die sich mit Heraldik in der Frühen Neuzeit beschäftigen. Auch epochenübergreifende Fragestellungen und Diskussionen sollen so angestoßen werden.
Wegweiser: Forschung, Diskurse, Hilfsmittel
Gerade der Einstieg in die Heraldik – wie der Umgang mit den Hilfswissenschaften überhaupt – hält oft erhebliche Hürden für Interessierte bereit. Hier will der Blog durch Materialien und Ressourcen helfen, die bei den ersten Schritten und grundlegenden Fragestellungen der Heraldik begleiten und in die Erforschung heraldischer Zeichen einführen sollen. So gibt es nun erste Übersichten zu den wichtigsten Zeitschriften und Bibliografien sowie Datenbanken und Werkzeugen, die bei der hilfswissenschaftlichen Bestimmung von Wappen und dem Umgang mit heraldischen Begrifflichkeiten helfen können. Eine stetig wachsende Sammlung digitalisierter Wappenbücher bietet einen direkten Einstieg in eine wichtige Quellengattung der heraldischen Forschung. Den Fortgeschrittenen dienen Überblicke und Rezensionen als Wegweiser im laufenden Forschungsdiskurs.
Vernetzung als Forschungs- und Öffentlichkeitsarbeit
Der Blog Heraldica Nova versteht sich als Plattform, die sowohl Forscherinnen und Forschern als auch Interessierten außerhalb der Wissenschaft einen zentralen Informations- und Kommunikationsort zur heraldisch interessierten Kulturgeschichte bietet. Wer seine eigene Forschung auf dem Blog veröffentlichen und zur Diskussion stellen möchte, dem steht eine redaktionelle Betreuung im Rahmen des Trägerprojektes "Die Performanz der Wappen" an der Universität Münster zur Verfügung. Schließlich sind Leserinnen und Leser ausdrücklich dazu eingeladen, die Beiträge zu kommentieren und zu diskutieren. Im freien Austausch der Leserinnen und Leser mit den Verfasserinnen und Verfassern entwickeln sich so oft fruchtbare Gespräche und wertvolle Impulse für die eigene Forschung, besonders dann, wenn die mitlesende Expertencommunity unmittelbar angesprochen wird und mittels der Kommentarfunktion sofort antworten kann.[3]
Das Medium des Blogs bietet auf diese Weise nicht nur die Möglichkeit zur Vernetzung innerhalb der Fachwelt, er bietet auch die Möglichkeit, die eigene Forschung in der breiteren Öffentlichkeit sichtbar zu machen. Hierfür ist der Blog nahtlos mit anderen Online-Medien vernetzt. Über RSS-Feed und Newsletter können Interessierte ebenso “am Ball bleiben” wie über Twitter, Facebook und Google+.
Adresse des Heraldica Nova-Blogs: http://heraldica.hypotheses.org/
[1] Für eine Einschätzung der bestehenden Historiografie sowie den Potenzialen heraldischer Zeichen für die Forschung, vgl. Torsten Hiltmann, “Heraldry and History – why is there so much and at the same time so little heraldry in historical research?”, in: Heraldica Nova (blog on hypotheses.org), 23. Juli 2013, URL: http://heraldica.hypotheses.org/364 (abgerufen am 19.11.2014).
[2] Vgl. Torsten Hiltmann, Legends in doubt – the end of medieval heraldry in the 17th century: On the continuity of medieval imaginary in early modern thought, Vortrag gehalten im Rahmen der Konferenz "Kontinuitäten | Umbrüche | Zäsuren: Die Konstruktion von Epochen in Mittelalter und früher Neuzeit in interdisziplinärer Sichtung", Krems an der Donau, 14.- 17. Mai 2014.
[3] Vgl. die vielfältigen Reaktionen von Heraldikern und Historikern zu Jörg Schlarb, “Wer kennt mittelalterliche Wappensagen?”, in: Heraldica Nova (blog on hypotheses.org), 11. September 2014, URL: http://heraldica.hypotheses.org/1436 (abgerufen am 19.11.2014).
Der Aldrevandin Beaker: Drei süddeutsche Wappen in mamlukischem Dekor
Im British Museum wird eine Gruppe von bunt bemalten Glasgefäßen aus dem späten 13. und frühen 14. Jahrhundert aufbewahrt. [1] Hierzu gehört auch ein gut erhaltenes Trinkglas, das um das Jahr 1330 von einem venezianischen Meister gefertigt wurde und im Zentrum der folgenden Betrachtungen stehen soll. Die Emaillierung des Glases zeigt drei Wappen. Während die Wappen eindeutig südwestdeutschen Geschlechtern zugeordnet werden können, gehören die sie umrankenden Blumen- und Pflanzendarstellungen zur typisch islamischen Ikonographie der Zeit. Bei diesem hybriden Erscheinungsbild drängt sich die Frage auf, welche Intention der Gestaltung dieses einfachen Trinkglases zugrunde lag und wie sich die sich hier vorgefundene Wappenkombination in diesen Kontext einordnet. Mamlukische Glaskunst aus Venedig Bis in die 1970er Jahre hielt man an der Vermutung fest, dass dieses Glas als Teil einer „syro-fränkischen“ Gruppe von Glasgefäßen im späten 13. Jahrhundert an der syrischen Küste von einem fränkischen Meister gefertigt worden sei, der von der mamlukischen Glaskunst inspiriert wurde. [2] Erst in jüngster Zeit ist diese Annahme gänzlich verworfen worden, da durch neuere archäologische und elektromikroskopische Untersuchungen die Herstellung des Glases eindeutig auf der venezianischen Insel Murano (Venedig) verortet werden kann, wo sich im 13. Jahrhundert ein überregional bedeutsames Zentrum der Glasmanufaktur entwickelt hatte. [3] Die Inschrift […]
Konkretes Abbild oder abstrakte Vorstellung? Zur Interpretation des Wappenfrieses im Festsaal des Kardinals Gaillard de La Motte in Avignon (Les fastes du cardinal Gaillard de La Motte)
Zum ersten Mal in der Kirchengeschichte wurde im Jahr 1334 die Stadt Avignon zum Austragungsort einer Papstwahl, obwohl bereits 25 Jahre zuvor unter Clemens V. die päpstliche Residenz dorthin verlegt worden war. Seinem Neffen, dem ebenfalls aus Bordeaux stammenden Gaillard de La Motte wurde als Kardinal und Apostolischer Protonotar die Ehre zuteil, den erwählten Benedikt XII. im Januar 1335 zum Papst zu krönen und damit in sein Amt einzuführen. Der Kardinal besaß einen noblen Stadtwohnsitz in der Rue du Collége in Avignon, unweit des späteren Papstpalastes gelegen. Innerhalb des Stadtwohnsitzes des Kardinals Gaillard de La Motte befindet sich ein Festsaal, welcher der Zeit gemäß üppig ausgemalt ist und Vergleiche mit anderen Wandbemalungen des 14. Jahrhunderts nicht zu scheuen braucht. Die bildlichen Darstellungen des 140 m² großen Saals zeigen eine Vielzahl von wilden Tieren, von denen sich die meisten auf der Flucht befinden. Bei diesem sogenannten Jagdfries steht die Hirschhatz als Königsdisziplin der adligen Hochwildjagd für den Betrachter im Mittelpunkt. Dieses Bildprogramm wird in einem engen Zusammenhang zur Raumnutzung gesehen, indem die vorgestellten Wildtierarten zum einen konkret auf die im Festsaal dargereichten Speisen verweisen, zum anderen aber auch generell die elitären Gäste in einem standesgemäßen, repräsentativen Rahmen in Szene setzen könnten. […]
“ZeitenWelten”. Zur Verschränkung von Weltdeutung und Zeitwahrnehmung im frühen und hohen Mittelalter. Ein Zwischenbericht
“Schichten” – das ist wohl das wichtigste Stichwort unter dem sich die ersten Teilergebnisse des DFG-geförderten Netzwerks “ZeitenWelten” zusammenfassen lassen: in Zeitschichten, die sich an- und überlagern, aufbrechen und gegeneinander verschieben lassen sich Zeitwahrnehmung und -konzeptualisierung des frühen und hohen Mittelalters am besten beschreiben.
Das interdisziplinäre Netzwerk, das seit 2012 besteht, erforscht das Verhältnis von Zeitwahrnehmung und Weltverständnis zwischen dem 6. und 13. Jahrhundert. Auf fünf Arbeitstreffen und einer großen Abschlusstagung im Frühjahr 2015 werden in elf Teilprojekten sowie im Gespräch mit zahlreichen Gästen aus Geschichte, Kunstgeschichte und Literaturwissenschaften Zeittheorien und -praktiken, Zeitdarstellung, temporale Qualitäten von Raum u.v.m. untersucht.
Gestartet ist das Netzwerk mit der Vorannahme, dass Zeit und Zeitwahrnehmung immer soziale bzw. kulturelle Konstrukte sind, die sich im Zusammenspiel mit theologischen, ästhetischen oder auch ökonomischen Vorstellungen von “Welt”, “Realität” und “Wahrheit” verändern. Die bisherigen Arbeitstreffen haben gezeigt, dass gerade diese Viel-schichtigkeit “Zeit” zu einem Thema für intellektuell anregende Gespräche macht, die sich zu methodischen und theoretischen Grundsatzdiskussionen erweitern.
Nach bisher drei Arbeitstreffen ist es Zeit für eine Zwischenbilanz:
In kritischer Auseinandersetzung mit den Zeitkonzepten Reinhard Kosellecks haben wir einen gemeinsamen Analyserahmen geschaffen, der insgesamt von einer größeren Dynamik mittelalterlicher Zeitvorstellungen ausgeht.
So trägt zum Beispiel die Logik der Heilsgeschichte zur Konzeption von “Zeit in Bewegung” bei: die hermeneutische Auslegung der Bibel führt einerseits zu einem linearen andererseits zu einem zyklischen Zeitverständnis. Aus der Feststellung der zeitlichen Dialektik entwickeln sich Fragen zum Umgang mit Veränderungsdynamiken im Rahmen eschatologischer Zeitkonzepte und mit Widersprüchlichkeiten innerhalb von Zeitkonzeptionen. So interpretiert Richard Corradini (Wien) das “Zeitbuch” des Walahfrid Strabo als Reaktion auf eine Krisenzeit, in der die präsentierten unterschiedlichen und konkurrierenden Zeitstrukturen und -konzepte als variable Alternativmodelle im Sinne von “Langzeitperspektiven und Nachhaltigkeitskonzepten” entworfen werden. Inhaltlich bietet das Zeitbuch “Zeit” in drei verschiedenen Schichten dar: die instabile menschliche Geschichte, die zyklische Zeit Gottes auf Erden und die göttliche Zeit im Zeichen der Gestirne. Aus seinem zeitgenössischen Kontext bietet es in langfristigen Perspektiven intellektuelle Lösungen für den Umgang mit den politischen
Konflikten und Umbrüchen der eigenen Zeit.
Analoge Mehrschichtigkeit lässt Miriam Czock (Essen) zufolge auch in der frühmittelalterlichen Bibelexegese aufzeigen. So offenbaren sich in der “Unberechenbarkeit der berechenbaren Zukunft” zwei Facetten von “kommender Zeit”: zum einen ist die Zukunft das Ergebnis einer linearen Entwicklung, das zurückwirkt auf die Bedingungen des gegenwärtigen Lebens. Zum anderen gibt es das Konzept einer “geoffenbarten Zukunft”, die mit Gegenwart und Vergangenheit verschmilzt. Diese „breite Gegenwart“ (Gumbrecht) der karolingischen Zeit bezieht nicht nur die Vergangenheit in die Gegenwart mit ein, sondern auch die Zukunft, die, obwohl geoffenbart, als offen, gestalt- und planbar verstanden wird. In der Bibelexegese zeigt sich zudem, dass die lineare Zeit zwischen Schöpfung und Jüngstem Gericht als sehr dynamisch gefasst werden kann in ihrer jeweils unmittelbaren Verbindung zu Gott. In ihrer prinzipiell chronologischen Ordnung wird die Zeit der Exegese damit mitunter zyklisch und kann zerdehnt und gestaucht werden. Auch die Gäste des Netzwerks Sumi Shimahara (Paris) und Felicitas Schmieder (Hagen) konnten in ihren Beiträgen die Dynamik der Zeit im Verhältnis zur Ewigkeit in der karolingischen Exegese respektive die “Offenheit” der planbaren Zukunft in der frühmittelalterlichen Apokalyptik feststellen und damit die Ergebnisse der Teilprojekte ergänzen und bestätigen.
Die “Praxen der Zeitlichkeit” können anhand von liturgischen, historiographischen und Memorial- und Rechtsquellen sowie der Frage nach der Logik der Tageseinteilung durch (Gebets)Stunden erschlossen werden. Bestimmte temporale Praktiken lassen sich spezifischen Nutzungskontexten zuordnen, wobei der Umgang mit institutionellen oder theologischen Vorgaben pragmatische ist und Zeitordnungen auch zu Gunsten politischer oder ökonomischer Vorteile verschoben werden können.
In ihrer Analyse der zeitlichen Dimensionen der liturgischen Quellen aus Halberstadt kann Patrizia Carmassi (Göttingen/Wolfenbüttel) drei Aspekte voneinander unterscheiden: die Reflexion über Zeit in heilsgeschichtlicher Perspektive unter Berücksichtigung ihrer Rolle im sakramentalen Geschehen, die Ordnung und Gestaltung der kirchlichen Zeit durch den liturgischen Kalender in synchronischer und diachronischer Perspektive (z. B. durch die Einführung neuer Feste) sowie die Bedeutung der Zeit im Spannungsfeld zwischen liturgischer Kontinuität und Liturgiereform. Diese drei Punkte spielen auch in der Königsabtei St.-Denis im 12. Jahrhundert eine bedeutende Rolle, die im Projekt von Anja Rathmann-Lutz (Basel) untersucht wird. Für die Frage ob und inwiefern sich die Zeitregime der „monastischen Zeit” und der “höfischen Zeit” unterscheiden eignet sich die Multifunktionalität von St.-Denis als kontemplativer Ort, als königliche Grablege und caput regni sowie als Pilgerstätte in besonderer Weise. Mindestens fünf Modi der Zeitorganisation und -repräsentation, die sich wiederum in unterschiedlicher Weise überlagern, können hier idealtypisch beschrieben werden: Die heilige/biblische Zeit und die historische Zeit sind zwar beide vergangen, aber liturgisch aktualisierbar. Die liturgische Zeit ist präsent und momentan und hängt eng zusammen mit der somatischen Zeit, die körperlich und subjektiv messbar ist. Über diesen Zeitebenen liegt dabei die eschatologische Zeit. Vergleicht man die Repräsentation von Zeit im klösterlichen und im höfischen Milieu, zeigen sich zwei gegensätzliche, ideologisch gerahmte Zeitregime: der stabilitas des Klosters steht der durch körperliche Präsenz, kontinuierliche Bewegung und hohe Geschwindigkeit gekennzeichnete, in Historiographie und höfischer Literatur idealisierte Alltag des Hofes gegenüber.
Aus den verschiedenen Techniken bei der Organisation der Namenlisten in libri memoriales aus dem 9. Jahrhundert ergeben sich in den Untersuchungen von Eva Maria Butz (Dortmund) jeweils ganz unterschiedliche Verknüpfungen zwischen den Zeitebenen. So werden im Salzburger Zeugnis Personen der Heilsgeschichte (Patriarchen, Propheten und Apostel), noch lebende Gönner und Vorsteher (Bischöfe, Abt, regionaler Adel, karolingische Könige) und die verbrüderten Verstorbenen, nach ordines gestaffelt, vergegenwärtigt. Andernorts (St. Gallen) hingegen wird gar nicht zwischen Lebenden und Toten unterschieden. Alle Bücher jedoch werden als das irdische Gegenstück zum himmlischen liber vitae gesehen und sind ausnahmslos auf das Jüngste Gericht hin konzipiert. Auswahl und Anordnung der Namenslisten steht in der Regel im Dienste der Sinnstiftung und Legitimation der eigenen Gegenwart. Durch erkennbare Rasuren in einigen Nekrologen (Remiremont) wird deutlich, dass mit der fortschreitenden gegenwärtigen Zeit die Namen ständig umgruppiert wurden und damit eine Neujustierung von Vergangenheit stattfand.
Ebenfalls um Legitimation und Legitimität ging es im Workshop von Andreas Thier (Zürich). Es wurde deutlich, dass in der Lex Baiuvariorum und im Sachsenspiegel durch die Einschreibung rechtlicher Normativität in zeitliche und historische Entwicklungslogiken eine Verbindung des Rechts mit dem göttlichen Heilsplan erreicht wurde, die das sich ständig verändernde Recht legitimierte.
Soziale und ökonomische Einflussnahme auf Zeitordnungen zeigt sich in der von Michael Oberweis (Mainz) untersuchten “Nonverschiebung” bei der aus der “hora nona” im Lauf des 11. -13. Jahrhunderts “high noon” wurde. Sieht man mit Oberweis diesen Vorgang im Zusammenhang mit einer Ausweitung der Sonntagsruhe in der Zeit der Gottesfriedensbewegung so zeigt sich, dass in dieser Einflussnahme zugleich eine Kontrolle der Gesellschaft durch die Zeit liegen kann.
Als nächstes wird das Netzwerk über die räumlichen und bildlichen Dimensionen des Zeitlichen debattieren. Außerdem wird zu fragen sein, auf welche Weise die offenbar gleichzeitig präsenten unterschiedlichen Zeitschichten jeweils wahrgenommen, dargestellt und gewichtet wurden.
Aktuelle Mitteilungen, die ausführlichen Workshop-Berichte von Eva-Maria Butz, Petra Waffner und Uta Kleine (auf denen vorliegende Zwischenbilanz teilweise aufbaut), weitere Informationen und Kontaktdaten finden Sie unter www.zeitenwelten.unibas.ch.
Miriam Czock und Anja Rathmann-Lutz im September 2013
Rezensionsüberblick Dezember 2012
Beginnend mit dem Dezember ’12 möchten wir in diesem Blog regelmäßig einen monatlichen Überblick von online-Rezensionen mit mediävistischem Bezug bringen – unseres Wissens nach ein Service, den es in dieser Form noch nicht gibt. Inspirierend für einen epochal fokussierten Rezensionsüberblick war hierbei das Frühneuzeit-Blog der RWTH Aachen. Vorerst beschränken wir uns auf die fünf unten genannten Portale, freuen uns aber über Ergänzungen gerade zu Rezensionsportalen jenseits der mediävistischen Geschichtswissenschaft. Wir beziehen hier aus Aktualitätsgründen nur tatsächliche online-Rezensionen ein.
Wir wünschen interessante und v.a. zeitsparende Lektüre!
Per Klick auf den Namen können Sie zum Überblick für das jeweilige Portal springen
H-Soz-u-Kult
Sehepunkte
Francia-Recensio
The Medieval Review
Reviews in History
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Sehepunkte:
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Francia-Recensio:
D. Barthélemy, Nouvelle histoire des Capétiens (Julian Führer)
A. Bihrer, Begegnungen zwischen dem ostfränkisch-deutschen Reich und England (850–1100) (Levi Roach)
R. Blumenfeld-Kosinski, K. Petkov, Philippe de Mézières and His Age (Jacques Paviot)
H. L. L. Busard (†), Nicole Oresme, Questiones super geometriam Euclidis (Jürgen Miethke)
M. Caesar, Le pouvoir en ville (Eberhard Isenmann)
M. Cohen, J. Firnhaber-Baker, Difference and Identity in Francia and Medieval France (Markus Spaeth)
N. Coulet, Rites, histoires et mythes de Provence (Klaus Oschema)
L. Donkin, H. Vorholt, Imagining Jerusalem in the Medieval West (Élisabeth Ruchaud)
C. A. Fleck, The Clement Bible at the Medieval Courts of Naples and Avignon (Stefan Weiß)
F. Foronda, Avant le contrat social (Gisela Naegle)
F. Foronda, A.I. Carrasco Manchado, Du contrat d’alliance au contrat politique (Gisela Naegle)
F. Foronda, A.I. Carrasco Manchado, El contrato político en la Corona de Castilla (Gisela Naegle)
M. Gabriele, An Empire of Memory (Phillipe Cordez)
A. Germa, B. Lellouch, E. Patlagean, Les Juifs dans l’histoire (Amélie Sagasser)
H.-W. Goetz, Gott und die Welt (Klaus Krönert)
S. Hamel, La justice dans une ville du Nord du Royaume de France au Moyen Âge (Eberhard Isenmann)
K. Herbers, I. Fleisch, Erinnerung – Niederschrift – Nutzung (Beate Schilling)
G. Hirsaugiensis, Willehelmi Abbatis Constitutiones Hirsaugienses (Jean-Loup Lemaitre)
L. Jégou, L’évêque, juge de paix (Ludwig Falkenstein)
J. Kemper, G. Vogeler, Digitale Urkundenpräsentationen (Olivier Guyotjeannin)
A. Laiou (†), C. Morrisson, Le monde byzantin (Jacques Paviot)
O. Mattéoni, Un prince face à Louis XI (Heribert Müller)
C. Mihailovic, Mémoires d’un janissaire (Jacques Paviot)
W. of Ockham, Dialogus (Jacques Verger)
K. Pennington, M. Harris Eichbauer, Law as Profession and Practice in Medieval Europe (Jörg Müller)
K. Schreiner, Rituale, Zeichen, Bilder (Andreas Büttner)
G. Seabourne, Imprisoning Medieval Women (Julie Claustre)
W. Tschacher, Königtum als lokale Praxis (Joseph P. Huffman)
W. E. Wagner, Die liturgische Gegenwart des abwesenden Königs (Yitzak Hen)
________nach oben ↑
The Medieval Review:
TMR 12.12.06, Maxwell, ed., Representing History (Beth Williamson)
TMR 12.12.04, Loutchitsky, Homo Legens (Carol Symes)
TMR 12.12.05, Strauch, Mittelalterliches Nordisches Recht bis 1500 (Anders Winroth)
TMR 12.12.09, Canning, Ideas of Power in the Late Middle Ages (Geoffrey Koziol)
TMR 12.12.10, Folger, Writing as Poaching (John Slater)
TMR 12.12.01, Pastoureau, The Bear (Michael A. Ryan)
TMR 12.12.11, Filosa and Papio, eds. Boccaccio in America (Janet Smarr)
TMR 12.12.08, Machacek, Milton and Homer (David Oliver Davies)
TMR 12.12.07, Kalinke, The Arthur of the North (Sif Rikhardsdottir)
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Reviews in History: