Willy Brandt und Nordeuropa

Der Norden Europas hat im Leben Willy Brandts, der gestern 100 Jahre alt geworden wäre, eine essenzielle Rolle gespielt. 1933 emigrierte er, nachdem er kur zuvor seinen Decknamen angenommen hatte, über Dänemark (er floh in einem Fischerboot) nach Norwegen, wo er als Journalist tätig war, aber auch für die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAP), der er sich 1931 angeschlossen hatte, politisch aktiv blieb. In Norwegen sollte er eine Auslandsgruppe der SAP aufbauen und Kontakte zur Norwegischen Arbeiterpartei [Det norske Arbejderparti] aufzubauen. Von Norwegen aus unternahm er Reisen nach Deutschland und Spanien, wo er mit einer “geliehenen” Identität als Norweger auftrat. Ein gewagtes Unterfangen war eine  Reise nach Berlin 1936 mit dem Ziel, die Auslandsabteilung der SAP wieder aufzubauen. Die Reste dieser sozialdemokratischen Splitterpartei in Deutschland wurden indes 1937/38 zerschlagen, so dass sie quasi reine Exilpartei wurde. Brandt war 1937 Berichterstatter mehrerer norwegischer Zeitungen im Spanischen Bürgerkrieg. In der Phase ab 1937 integrierte sich Brandt stärker in die norwegische Arbeiterbewegung. Seine Bedeutung wuchs: Für den Kriegsfall wurde Oslo als Auslandszentrale der SAP mit Brandt als ihrem Leiter ausgewählt. 

Willy.Brandt.Stockholm.2007

Statue von Rainer Fetting im Willy-Brandt-Park in Stockholm
Wikimedia Commons (gemeinfrei)

Seine Ausbürgerung beraubte ihn 1938 seiner deutschen Staatsbürgerschaft. Die Besetzung Norwegens durch die Deutschen 1940 beraubte ihn seiner ersten Exilheimat. Von den Deutschen gar verhaftet, rettete ihn die norwegische Uniform, die er trug, und seine Norwegischkenntnisse, deren Erwerb er bereits vor dem Exil begonnen hatte. Sein Weg führte ihn in das benachbarte Schweden, wo er die norwegische Staatsbürgerschaft von der dortigen Botschaft erhielt und wo er bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs weiterhin journalistisch und politisch tätig blieb. Anfangs war Brandt eher noch Vertreter des norwegischen Exils und unterstützte u.a. die norwegische Widerstandsbewegung. Später engagierte er sich in einem Kreis europäischer Exil-Sozialdemokraten, der später als “kleine Internationale” bekannt wurde.  Hier diskutierte er in den Jahren 1942–45 mit Vertretern wie Bruno Kreisky oder den schwedischen sozialdemokratischen Intellektuellen Alva und Gunnar Myrdal die Zukunft und den demokratischen Wiederaufbau Deutschlands nach dem Kriegsende.

Brandt näherte sich wieder der SPD an, mit der er 1931 gebrochen hatte und trat seiner alten Partei im Exil wieder bei. Er begleitete das Schicksal Norwegens im Krieg publizistisch mit einer ganzen Reihe von Büchern und Artikeln über Krieg, Besatzung und Widerstandskampf in Norwegen in verschiedenen Facetten. Die Zukunftspläne für Deutschland und Europa thematisierte er in Publikationen wie dem 1942 erstmals erschienenen Efter segern [Nach dem Sieg]. Die Exiljahre hatten maßgebliche Auswirkungen auf Brandts politisches Denken. Die Begegnung mit den Arbeiterbewegungen in Norwegen und Schweden zeigte ihm eine andere Sozialdemokratie, die sich insbesondere in Schweden bereits auf dem Weg zum erfolgreichen Wohlfahrtsstaat (“Volksheim”) befand. Brandt war von dem Pragmatismus und der freiheitlichen Einstellung seiner nordeuropäischen Parteikollegen nachhaltig beeindruckt, was mit ein Grund für seine Rückkehr zur SPD war.

Brandt kehrte bald nach dem Krieg nach Deutschland zurück, zunächst als Berichterstatter von den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen. Seine Beobachtungen dort veranlassten ihn 1946 zur Niederschrift seines erst vor wenigen Jahren in deutscher Übersetzung erschienenen Werks Forbrytere og andre tyskere [Verbrecher und andere Deutsche, dt. Bonn 2007]. Brandt ging es darum, gegenüber seinen verbitterten norwegischen Landsleuten zu zeigen, dass es ein anderes, ein besseres Deutschland durchaus gab und dass es – anders als es so mancher Norweger geneigt war, zu sehen – die Chance für einen Neuanfang verdient habe. Brandt kam dann 1947 als Presseattaché an die norwegische Militärmission (die erste diplomatische Vertretung Norwegens in Deutschland nach dem Krieg) nach Berlin. Er sollte über die politischen Entwicklungen in Deutschland berichten – die früheren Genossen aus Lübeck hatten ebenfalls versucht, ihn für sich als Bürgermeisterkandidaten zu werben und waren enttäuscht. In einem Schreiben legte Brandt seine Gründe für die Wahl Berlins dar.

Nachdem er 1948 wieder deutscher Staatsbürger geworden war, wurde Brandt, wie allgemein bekannt, als Regierender Bürgermeister zu einer Symbolgestalt West-Berlins und zu einem Vorkämpfer gegen die deutsche Teilung. Die Verbindungen nach Norwegen würden nie ganz nachlassen, doch politisch für einige Zeit nicht die wichtigste Rolle spielen. Mit seiner norwegischstämmigen zweiten Frau Rut und ihren Söhnen gehörten Sommerurlaube in Norwegen indes zum festen Familienprogramm. Nordeuropa geriet wieder stärker in den Blick, als Brandt 1966–69 Außenminister der ersten Großen Koalition wurde. In seine Amtszeit als Bundeskanzler 1969–74 fielen auch die norwegischen Beitrittsbemühungen zur EWG, zu deren Fürsprecher er sich machte. Deutschland war wie auch später, der Anwalt Nordeuropas in der EWG/EU und Brandt sprach gar auf einer Kundgebung am Youngstorget (dem Sitz zentraler Institutionen der norwegischen Arbeiterbewegung) und warb – auf Norwegisch! – um die Zustimmung der Norweger zum EWG-Beitritt. Diese erfolgte im entsprechenden Referendum indes nicht und Brandt war enttäuscht, dass eine stärker skandinavische Prägung (nur Dänemark trat 1973 neben Großbritannien und Irland bei) der EWG somit ausblieb.

Für seine Verdienste um die Annäherung zwischen Ost und West im Rahmen der von ihm und seinem politischen Umfeld angestoßenen “neuen Ostpolitik” erhielt Willy Brandt 1971 den Friedensnobelpreis, der ja bekannterweise in Oslo verliehen wird. Die Zeremonie im Dezember 1971 war für Brandt ein emotionales Erlebnis, und aus Sicht der norwegischen Bevölkerung wurde da einer der Ihren ausgezeichnet. Die Sicht der Norweger auf Deutschland war für lange Zeit durch das harte Besatzungsregime und große Verbitterung geprägt. Dass zwischen der Bundesrepublik und Norwegen eine gewisse Annäherung erreicht wurde, ist nicht zuletzt Brandts politischem Wirken und der großen Sympathie für ihn in Norwegen zu schulden.

Quelle: http://nordichistoryblog.hypotheses.org/2042

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Einzigartiges open access-Projekt – finnische Kriegsfotos im Internet

Am 25.4. veröffentlichte die finnische Armee über 160 000 sog. TK-Fotos aus dem Zweiten Weltkrieg im Internet. Diese Fotos sind während des Winter- (1939/40) und Fortsetzungskriegs (1941–44) von offiziellen Fotografen der finnischen Armee aufgenommen worden. Sie umfassen sowohl Kriegsfotos von der Front als auch solche von der Heimatfront.Die Fotos sind für jeden Interessierten unter der Adresse www.sa-kuva.fi zugänglich und können als druckfertige Dateien heruntergeladen werden. Das Digitalisierungsprojekt, welches 3,5 Jahre gedauert hat, wurde am nationalen Feiertag der Veteranen bekanntgegeben und erweckte sofort so großes Interesse, dass die Internetseiten erneut geschlossen werden musste, weil die Server unter der Belastung zusammenbrachen. Inzwischen funktioniert die Webseite wieder.

Dieses Großprojekt hat dazu geführt, dass Finnland momentan die Führungsposition hat, was den Onlinezugang von bedeutenden Bildarchiven angeht. Nirgendwo sonst in der Welt gibt es ähnlich umfassende kostenlose Bildarchive: z.B. in Deutschland kann zwar ein Teil der deutschen PK-Fotos (PK=Propagandakompanie) auf der Webseite des Bundesarchivs angesehen werden, aber druckfertige Versionen sind immer noch kostenpflichtig. Vielleicht regt das Beispiel Finnlands auch andere Länder an, ihm Folge zu leisten.

Die finnische Armee macht deutlich, dass die Informationen zu den Bildern in manchen Fällen Fehler oder Lücken enthalten und das man um diese weiß. Zwar haben die Informationsblätter zu den Fotos den Krieg überlebt, und diese Informationen wurden beim Digitalisieren als Bildertexte angegeben, doch enthalten diese Papiere eben Fehler, welche jetzt einfach übernommen wurden. Um diesem Manko entgegenzuwirken, gibt es im Portal ein digitales Formular, das die Zusendung von zusätzlichen Informationen ermöglicht. Die zugeschickten Informationen werden geprüft und gegebenfalls übernommen. Somit wird dieses Bildarchiv möglicherweise im Laufe der Zeit zu einer nationalen Wikipedia der Kriegsfotos.

Was ich persönlich aber als problematisch empfinde, ist die Entscheidung der Armee, die etwa 200 grausamsten Fotos, die Leichen o.Ä. zeigen, nicht im Archiv zu veröffentlichen. Zwar können diese Bilder weiterhin in der Bildstelle der Armee angesehen werden, aber da ein Teil der Bilder bereits auf diversen Websites zu finden ist, wäre es wohl möglich gewesen, diese Bilder zu veröffentlichen, damit sie nicht gefundenes Fressen für verschiede Verschwörungstheoretiker werden können. Sollte man mit dieser Selbstzensur Kindern vor schrecklichen Bildmaterial schützen wollen, wäre es aber technisch durchaus möglich, eine getrennte, passwortgeschützte Archivseite aufzubauen, auf der diese Fotos gezeigt werden könnten. Der einmal gültige Zugangscode könnte automatisch nach Angabe des Geburtsdatums zugeschickt werden.

Beispiel für eine Bildrückseite

Beispiel für eine Bildrückseite mit Notizen
Foto: Olli Kleemola

Natürlich vermisse ich auch die im Internetarchiv fehlenden Bildrückseiten (siehe Abbildung). Um die bestmögliche Bildqualität zu erreichen, wurden die Bilder von den Negativen digitalisiert. Das ist auch gut so, aber dabei wurde leider übersehen, welche Fülle an Informationen die Originalabzüge der Bilder, die immer noch in der Bildstelle der Armee aufbewahrt werden, enthalten. Auf den Rückseiten der Abzüge gibt es Stempel, die zeigen, ob das Bild von der Zensur genehmigt wurde oder nicht. Es gibt auch Markierungen, die offenbaren, wohin das Bild für Veröffentlichung geschickt wurde. Weiter gibt es öfters auch propagandistische Bildtitel, die von der Zensurbehörde anhand der Hintergrundinformationen geschrieben wurden, und die sonst nirgends überliefert sind. Wenn man die Abzugsrückseiten auch scannen und ins Netz stellen würde, ließe sich das Archiv noch besser zu Forschungszwecken verwenden.

Hierbei ist aber anzumerken, dass das Archiv bereits jetzt eine wahre Goldgrube für Historiker ist. Wenn man bedenkt, dass die finnischen Kriegsfotografen keine reinen Propagandisten waren, sondern auch viel kulturgeschichtlich und volkskundlich wertvolles Material produziert haben, wird einem klar, dass die Verwendungszwecke des Fotoarchivs beinahe grenzenlos sind!

Quelle: http://nordichistoryblog.hypotheses.org/1585

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Kurioses aus den Archiven: Die ”Wunderwaffe” der Roten Armee?

Für meine Doktorarbeit suche ich ständig deutsche und finnische offizielle und inoffizielle Kriegsfotos aus dem Zweiten Weltkrieg. Während der Suche entdecke ich des Öfteren Kuriositäten: Beim Durchblättern eines finnischen privaten Kriegsfotoalbums von einen Artilleristen des 5. finnischen Feldartillerieregiments entdeckte ich dieses Bild, aufgenommen im Herbst 1941.

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Laut beiliegender Information testen oder probieren finnische Soldaten gerade eine erbeutete Gummiausrüstung, mit der man flache Seen überqueren könnte, und zwar so, dass der Kopf die ganze Zeit an der Oberfläche bleibt, während die meterlangen ”Schuhe” selbst auf schlammigen Seeböden einen festen Halt hätten.

Ansonsten sind in dem besagten Album normale Motive zu sehen (Offiziere, Soldatenalltag, Gefangene usw.), wie sie auch in den deutschen Alben häufig vorkommen.

Liebe Leserinnen und Leser, ich wende mich an Sie: Ist unter Ihnen vielleicht jemand, der mir genauere Auskünfte über Zweck und Häufigkeit dieser Ausrüstung geben kann?

Quelle: http://nordichistoryblog.hypotheses.org/1492

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DHI Warschau veröffentlicht einzigartige Quellenedition zum Warschauer Ghetto

Gemeinsam mit dem Jüdischen Historischen Institut und der Generaldirektion der polnischen Staatsarchive hat das Deutsche Historische Institut Warschau eine einzigartige Quellenedition veröffentlicht. Mit der Edition wird das Alltagsleben der jüdischen Bevölkerung im Warschauer Ghetto in den Jahren 1939-1943 dokumentiert. Die Publikation, die ursprünglich in Form zweier umfangreicher gedruckter Bände geplant war und von dem im Jahre 2008 verstorbenen Direktor des Archivs der Stadt Warschau Józef Kazimierski vorbereitet wurde, besteht aus einem Buch, das die Einleitungstexte sowie die Titel und Nummern der Quellenbestände beinhaltet sowie einer CD, auf der die eigentlichen Quellen zugänglich sind.

Warschauer Ghetto, o.J.

Warschauer Ghetto, o.J.
Archiv des Jüdischen Historischen Instituts Warschau

Die erstmals veröffentlichten Dokumente umfassen die administrative Berichterstattung sowohl der deutschen Zivilverwaltung des Distrikts Warschau als auch des Judenrates innerhalb des Ghettos aus den Jahren 1939-1943. So finden sich hier u. a. wöchentliche, monatliche Berichte, Tabellen und numerische Zusammenstellungen über die Wohnsituation im Ghetto, über das jüdische Bildungswesen, Zwangsarbeit, Sterblichkeit in Krankenhäusern, die Epidemien oder die Beschlagnahme jüdischen Besitzes im Ghetto. Die Autoren sind sowohl deutsche Beamte als auch Mitglieder des Judenrates. Die Dokumente sind eine Fundgrube an Informationen über das alltägliche Funktionieren des Ghettos und über die deutsche Besatzungswirtschaft im Distrikt Warschau sowohl für den professionellen Historiker wie für den interessierten Laien, der mehr über das Alltagsleben im besetzten Warschau zu erfahren sucht. Zugleich verbirgt sich hinter den „trockenen“ statistischen Daten z.B. über die Ernährungsrationen, die konfiszierte Kinderbekleidung oder über die Zahlen der an Typhus gestorbenen Kranken das Ausmaß des Elends, dem die jüdische Bevölkerung in jener Zeit ausgesetzt wurde.

Ludność żydowska w Warszawie w latach 1939-1943. Życie-Walka-Zagłada. Bearbeitet von Józef Kazimierski, unter Mitarbeit von Jan Grabowski, Marta Jaszczyńska, Danuta Skorwider, Warschau 2012, 60 zł, ISBN 978-83-7181-303-0

Quelle: http://mws.hypotheses.org/1818

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Antrittsvorlesung des neuen Direktors am DHI Rom, Prof. Dr. Martin Baumeister

Am Montag dem 10. Dezember hat Martin Baumeister seine Antrittsvorlesung »Tiber alone, transient and seaward, bent remains of Rome« am Deutschen Historischen Institut Rom gehalten.

Prof. Dr. Martin Baumeister – Jahrgang 1958 – studierte Geschichte, Germanistik und Hispanistik in München und Madrid. 1985–1989 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der LMU, wo er 1992 mit einer Arbeit zur Sozialgeschichte des ländlichen Spanien promoviert wurde. 1992–1999 arbeitete er als Wissenschaftlicher Assistent an der HU Berlin, 2001 erfolgte die Habilitation mit einer Schrift zur Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs. Nach einer Privatdozentur an der HU Berlin (2002–2003) hat er seit 2003 den Lehrstuhl für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts (Schwerpunkt Südeuropa) an der LMU München inne. 2010/11 war er bereits Gastwissenschaftler am DHI Rom, im Oktober 2012 trat er dort das Amt des Institutsdirektors an.

Baumeister forscht zur italienischen, spanischen und deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, zur Geschichte der populären Kultur und des Theaters, zur Religionsgeschichte, zur Geschichte des Zeitalters der Weltkriege und des Faschismus sowie dem Mittelmeerraum als historische Region. Er ist Mitglied im Vorstand der Gesellschaft für Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung (seit 2008), im Beirat der Zeitschrift »Historia del Presente« (seit 2009), eines von der DFG finanzierten internationalen Graduiertenkollegs der LMU in Kooperation mit der Karls-Universität Prag zum Thema »Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts« (seit 2009), im Beirat der Zeitschrift »Semata. Ciencias Sociales y Humanidades« (seit 2010) und der Leibniz Graduate School »Enttäuschung im 20. Jahrhundert. Utopieverlust – Verweigerung – Neuverhandlung« des Instituts für Zeitgeschichte und des Historischen Seminars der LMU (seit 2012).  Er gibt u. a. die Zeitschriften »IMS – Informationen zur modernen Stadtgeschichte« (seit 2003), »Münchner Beiträge zur Jüdischen Geschichte und Kultur« (seit 2007) und das Themenportal Europäische Geschichte (clio online) (seit 2010) mit heraus. Prof. Dr. Martin Baumeister, Direktor des DHI Rom.
Prof. Dr. Dr. h.c. Heinz Duchhardt, Präsident der Max Weber Stiftung. Prof. Dr. Martin Baumeister, Prof. Dr. Dr. h.c. Heinz Duchhardt und Prof. Dr. Gabriele B. Clemens, Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats des DHI Rom. Concerto Romano Zur Begrüßung von Prof. Dr. Martin Baumeister fand am DHI Rom ein Concerto Romano statt. Concerto Romano

 

 

Quelle: http://mws.hypotheses.org/1668

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Wie sollen Rentenzahlungen zur Beschäftigung in Ghettos erfolgen? Eine Stellungnahme von Stephan Lehnstaedt

Dr. Stephan Lehnstaedt, DHI Warschau
Am 10. Dezember 2012 fand im Sozialausschuss des Bundestages eine vielbeachtete Anhörung statt. Verhandelt wurden Anträge der Bundestagsfraktion von SPD, Bündnis90/Die Grünen und der Linken. Hiermit sollen Rentenzahlungen für die Arbeit in den Ghettos während des Zweiten Weltkrieges gesichert werden. Dr. Stephan Lehnstaedt, Historiker am Deutschen Historischen Institut Warschau, war als Sachverständiger zur Anhörung geladen. Wir dokumentieren hier seine schriftliche Stellungnahme, die sich in der Ausschussdrucksache 17(11)1022neu ab S. 37 findet. 

Stellungnahme von Dr. Stephan Lehnstaedt, Deutsches Historisches Institut Warschau, zur Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales des 17. Deutschen Bundestags am 10. Dezember 2012.

Inhalt:

1. Arbeitsbedingungen in nationalsozialistischen Ghettos

2. Die Umsetzung des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus
Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) durch Rentenversicherer und Justiz

3. Ghettoarbeit und Ghettorenten aus Sicht der Überlebenden

4. Das ZRBG und die Bundesministerien

Zusammenfassung

  • Die Juden, die während des Zweiten Weltkriegs in den deutschen Ghettos gearbeitet haben, haben dies in der weit überwiegenden Mehrzahl aus eigenem Willensentschluss und gegen Entlohnung getan, allerdings unter allgemeinen äußeren Bedingungen von Zwang, Verfolgung und Holocaust. In vielen Fällen wurden sogar Rentenbeiträge abgeführt.
  • Rentenversicherer und Sozialgerichtsbarkeit haben diese historischen Gegebenheiten bis 2009 weitgehend ignoriert. Mit dieser Einstellung gegenüber fachwissenschaftlichen Erkenntnissen konstruierten sie auf laienhafter Basis ein verzerrtes Bild der historischen Wirklichkeit. Im so entstandenen Schema hatten die Erfahrungen von zehntausenden Antragstellern keinen Platz, die Kläger wurden dadurch systematisch benachteiligt. Eine zusätzliche Ungleichbehandlung entstand dadurch, dass Überlebende aus Israel bei der DRV Rheinland weniger Erfolg hatten als die aus den USA bei der DRV Nord.
  • Bundesregierung und Ministerialverwaltung haben diese Praxis auch gegen starke nationale wie internationale Kritik verteidigt, weil sie keine Schieflage eingestehen wollten und vor allem nicht bereit waren, die höheren Kosten einer nicht systematisch benachteiligenden ZRBG-Auslegung zu tragen.
  • Paradoxerweise argumentieren alle in die Umsetzung des ZRBG involvierten Seiten mit dem Willen des Bundestags: Ministerium und Rentenversicherer verteidigten damit die harte Auslegung, Opfervertreter und die parlamentarische Opposition ihre Forderungen nach kulanteren Regelungen. Nach sieben Jahren Ghettorenten gab 2009 das Bundessozialgericht eine eindeutige Interpretation vor, die eine klare Abkehr von der bisherigen Anwendung des ZRBG darstellte – und legte damit u.a. aufgrund neuerer historischer Erkenntnisse einmal mehr fest, was der Bundestag 2002 gewollt haben könnte. Die restriktive Praxis von Rentenversicherern und Sozialgerichten wurde dabei eindeutig verworfen und als falsch gekennzeichnet.
  • Nach § 44 SGB X ist eine Korrektur dieser rechtswidrigen Praxis zum Nachteil der jüdischen Ghettoarbeiter aber nur für die zurückliegenden vier Jahre möglich. Deshalb werden den Überlebenden, denen bis 2002 jegliche Renten für Ghettoarbeit verwehrt wurden, seit 2009 die vollständigen Renten verwehrt. Die Antragsteller hatten erwartet, im Rahmen des ZRBG für tatsächlich geleistete Arbeit eine Rente zu erhalten wie andere Beschäftigte auch, und nicht bloß eine Entschädigung oder Wiedergutmachung, deren einziger Grund darin bestand, dass sie Opfer gewesen waren. Doch die erhoffte Gleichstellung von jüdischen und deutschen Arbeitern blieb aus.

1. Arbeitsbedingungen in nationalsozialistischen Ghettos

Arbeit heißt Leben! Diese Gleichung galt während des Zweiten Weltkriegs für die allermeisten jüdischen Insassen nationalsozialistischer Ghettos, denn die nicht Arbeitenden waren fast nie in der Lage, sich selbst mit dem Überlebensnotwendigen zu versorgen. Aus der Perspektive der deutschen Besatzer waren diejenigen, die keiner Beschäftigung nachgingen, schlicht unnütze Esser und daher nicht nur einem Arbeitszwang ausgesetzt, sondern fielen auch als erste den Deportationen in die Vernichtungslager zum Opfer. Arbeit nahm daher einen, wenn nicht sogar den zentralen Platz im Leben der Juden in den Ghettos ein und bestimmte zu einem großen Teil die Ökonomie dieser Einrichtungen.

Diese Kausalitäten in der ersten Phase des Holocaust schienen lange Zeit so offensichtlich, dass sie keiner näheren Untersuchung wert waren, weshalb sich neuere Studien beispielsweise nur der Ausbeutung der Juden in Lagern widmeten.[1] Ansonsten dominierte in Deutschland die Auseinandersetzung mit den nichtjüdischen Zwangsarbeitern, die zu Millionen in der Industrie des Reiches eingesetzt worden waren, während die deutsche Geschichtswissenschaft überhaupt erst in den letzten Jahren begann, sich mit Ghettos zu beschäftigen,[2] wobei wesentliche Impulse von den – wenigen – Sozialrichtern ausgingen, die für ihre Entscheidungen in ZRBG-Verfahren Gutachten in Auftrag gaben.

Dabei stellte sich schnell heraus, dass die Wissensgrundlage keineswegs besonders umfassend und die konkreten Fragen zur Ghettoarbeit oft nur schwer zu beantworten waren. Neben vereinzelten synthetisierenden Überblicksdarstellungen lagen lediglich für die besetzten polnischen Gebiete gewisse Erkenntnisse vor, die vor allem Forscher des Warschauer Jüdischen Historischen Instituts (Żydowski Instytut Historyczny) in den 1950er und 1960er Jahren vorgelegt hatten.[3] Neuere Untersuchungen waren weit weniger hilfreich, weil sich beispielsweise die in den letzten Jahren überaus ertragreiche Forschung zu den nationalsozialistischen Tätern nicht oder nur sehr peripher mit den Bedingungen in den Ghettos beschäftigt hatte.

Angesichts dessen begann eine intensive Auseinandersetzung mit der vorhandenen Literatur, zudem fuhren manche Gutachter sogar in osteuropäische Archive; Ende 2009 waren so in der zentralen Datenbank der Sozialgerichtsbarkeit (www.sozialgerichtsbarkeit.de) rund 200 Expertisen gespeichert. Darin konnte beispielsweise ganz grundlegend die Frage geklärt werden, was denn überhaupt ein Ghetto ist; die Rentenversicherer waren zunächst nur von rund 400 Ghettos in Osteuropa ausgegangen, aber die zu diesem Zeitpunkt bereits weit fortgeschrittenen Editionen zweier Ghetto-Enzyklopädien des US Holocaust Memorial Museums und der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem[4]  verwiesen diese Zahl schnell ins Reich der Mythen: Tatsächlich existierten rund 1150 Orte, für die man von einem Ghetto sprechen kann.

Zwar ist dieser Begriff keineswegs eindeutig besetzt, er hatte teilweise zeitgleich mehrere Bedeutungen und war außerdem im Laufe der Jahrhunderte einem semantischen Wandel ausgesetzt.[5] Während des Zweiten Weltkriegs definierte sich der Begriff zunächst über den Sprachgebrauch, der ein Gebiet als Ghetto, „Wohngebiet der Juden“, „Jüdisches Wohnviertel“ oder, z.B. auf Polnisch, als „dzielnica żydowska“ beschrieb. Darüber hinaus kennzeichnet Martin Dean, Herausgeber der Enzyklopädie des US Holocaust Memorial Museums, ein Ghetto als (1) einen separierten, explizit begrenzten Wohnbezirk, in dem Juden leben mussten und der ihnen in einem Vorgang der „Ghettoisierung“ zugewiesen worden war; (2) Nichtjuden durften dort nicht wohnen, während (3) den Juden das Verlassen unter Strafe untersagt war.[6]

Diese historische Definition war auch unter Juristen kaum umstritten. Ebenfalls akzeptiert war schnell, dass es längst nicht nur geschlossene, also mit einer Mauer oder einem Zaun umfasste Ghettos gab, sondern auch solche, in denen diese Elemente fehlten und demzufolge ein „offenes Ghetto“ gegeben war. Wesentlich komplexer war die Frage, was denn unter einem „eigenen Willensentschluss“ zu verstehen sei, den das ZRBG als rentenrechtliche Regelung unabdingbar erforderte – um damit eine Abgrenzung zur Zwangsarbeit zu schaffen, für die in den zurückliegenden Jahren die Stiftung „Erinnerung – Verantwortung – Zukunft“ Zahlungen geleistet hatte. Direkt mit diesem Problem verbunden war das „Entgelt“, welches die ehemaligen Ghettoarbeiter erhalten haben mussten, um sich nun für eine Rente zu qualifizieren.

Für beide Gesichtspunkte hatte die Geschichtswissenschaft vor den Gutachten für die Sozialgerichtsbarkeit keine gesicherten Erkenntnisse. In den wenigen Untersuchungen, in denen auf das Leben in Ghettos eingegangen wurde, war meist recht pauschal von „Zwang“ die Rede, der, von den allgemeinen Umständen der Inhaftierung ausgehend, genauso für die Arbeit gegolten habe.[7] Doch eine derartig undifferenzierte Sichtweise war für die durchaus artifizielle Betrachtung im Rahmen des ZRBG wenig nützlich. Tatsächlich herrschte in den Ghettos keineswegs immer nur unbezahlte Zwangsarbeit vor. Ganz im Gegenteil konnten die Gutachten vielfältige Arbeitsformen beschreiben, die Arbeitsbataillone, willkürliche Verhaftungen und Verschleppung in Arbeitslager – aber auch freiwillige Meldungen hierfür –, „shops“ der Judenräte und der Besatzer und sogar fortgesetzte Beschäftigungsverhältnisse beinahe wie vor dem Krieg umfassten. Und diese Varianten ergaben sich in unterschiedlich großen Ghettos mit je eigenen Rahmenbedingungen in verschiedenen besetzten Gebieten Osteuropas. Im Grunde war jedes Ghetto ein Sonderfall, der einzeln beschrieben werden musste und seine eigenen Spezifika aufwies. Dessen ungeachtet gab es zahllose wiederkehrende Phänomene, die sich besonders in der regionalen Unterteilung der deutschen Herrschaft spiegelten.

Hinzuweisen ist auch darauf, dass es aus Sicht der deutschen Besatzer durchaus rational war, die Juden zu bezahlen: Indem die Arbeitsämter etwa im Generalgouvernement (also dem nicht ins Reich eingegliederten Teil Polens, in dem etwa 2 Millionen Juden in insgesamt 342 Ghettos lebten) auf freiwillige Beschäftigungsverhältnisse setzten, maximierten sie den Nutzen für die deutsche Kriegswirtschaft, einfach weil Menschen, die aus eigenem Willensentschluss arbeiten, motivierter als Zwangsarbeiter sind. Der Leiter der Arbeitsverwaltung im Generalgouvernement, Dr. Max Frauendorfer, erklärte, dass es nur mit der Lohnzahlung möglich sei, „die Arbeitsfähigkeit der Juden zu erhalten, den nötigen Lebensunterhalt der Familie sicherzustellen und Krankheiten und Seuchen zu vermeiden“[8] Von Mitte 1940 an bis Mitte 1942 waren 80 bis 90 Prozent der arbeitenden Juden weitgehend aus eigenem Willensentschluss und gegen Entlohnung in Form von Bargeld oder Nahrungsmitteln tätig. Das galt insbesondere für Frauen und Kinder, die weder der Lagerarbeit noch dem Dienst in den Arbeitsbataillonen unterlagen.[9] Die Arbeitsverhältnisse der Ghettoinsassen waren im Gebiet Ostoberschlesien tendenziell besser, im Warthegau und auch in den besetzten Teilen der Sowjetunion – mit der Ausnahme Litauens – schlechter.[10]

Für eine Generalisierung der Ghettoarbeit im Sinne des ZRBG lässt sich dennoch feststellen, dass der „eigene Willensentschluss“ in den allermeisten Fällen gegeben war: Arbeit zu haben stellte ein Privileg dar. Das galt nicht für die Arbeitslager, in denen die Bedingungen hart und die Todesraten hoch waren, aber doch für die Ghettos; selbst die Arbeitsbataillone, in denen niedere und schwere, aber entlohnte Hilfstätigkeiten ausgeübt wurden, konnten oft auf Freiwillige zurückgreifen. Von echter „Freiwilligkeit“ kann selbstverständlich nicht die Rede sein, vielmehr waren die Juden wegen der deutschen Hunger- und Beraubungspolitik gezwungen, jegliche Möglichkeit, etwas Essen zu erhalten, wahrzunehmen. Und da die Beschäftigungen in den Ghettos und selbst in den Lagern und Arbeitsbataillonen beinahe immer eine Gegenleistung in Form von Nahrungsmitteln beinhalteten – was die Gutachten klar zeigen –, waren sie begehrt, denn für Geld konnten Juden in den Ghettos nichts kaufen. Die Juden hatten also ein Interesse daran, eine Arbeit zu suchen. Und da es fast immer viel weniger Arbeitsplätze als Bewerber gab, war eine Stelle ein wertvolles Privileg. Die „Entlohnung“ mochte nicht angemessen sein sondern eher eine Ausbeutung dar, sie mochte oft über die Judenräte und nicht direkt von den Arbeitgebern ausgegeben worden sein, aber sie machte doch den Unterschied zwischen Überleben und Verhungern aus. Ihr Wert war insofern kaum hoch genug zu veranschlagen, und entsprechend begehrt war Arbeit, die später zudem über den längeren Verbleib im Ghetto oder die schnellere Deportation in die Vernichtungslager entschied. Hinzuweisen ist auch darauf, dass zumindest im besetzten Polen (also im Generalgouvernement, Warthegau und Ostoberschlesien) für die jüdischen Arbeiter regulär und regelmäßig Sozialversicherungsbeiträge für die jüdischen Arbeiter an die damaligen Rentenkassen gezahlt wurden – selbst für die Arbeit in Zwangsarbeitslagern.
2. Die Umsetzung des ZRBG durch Rentenversicherer und Justiz

Die eben geschilderten historischen Bedingungen waren so weder 1997, zum Zeitpunkt des grundlegenden Urteils des Bundessozialgerichts am Beispiel des Ghettos Litzmannstadt, noch 2002, bei der Verabschiedung des ZRBG im Bundestag, im wissenschaftlichen Diskurs präsent. Dies gilt in weit größerem Maße für die nichtfachliche Öffentlichkeit, zu der auch die Ministerialverwaltungen, die Deutsche Rentenversicherung und die Sozialgerichtsbarkeit gezählt werden muss. Als das Bundesministerium für Arbeit und Soziales in den Jahren 1997 und 2002 für den Deutschen Bundestag das ZRBG vorbereitete und dazu auch Rücksprache mit den Rentenversicherern hielt, wurden keine Historiker in das Verfahren eingebunden. Wie eine Akteneinsicht nach dem Informationsfreiheitsgesetz in die Akten des BMAS zeigt, entstanden deshalb groteske Fehlannahmen über den zu erwartenden Umfang des ZRBG, die in dieser Form auch dem Bundestag als Entscheidungsgrundlage unterbreitet wurden: Die Schätzung über die zu erwartende Zahl der Antragsteller lag um den Faktor 100 zu niedrig: statt schlussendlich 70.000 Antragstellern rechnete das BMAS gegenüber dem Haushaltsausschuss des Bundestags Ende 2001 mit nur 700 Antragstellern, obwohl in internen Papieren auch Zahlen von bis zu 6.000 Antragstellern kursierten.[11]

Da der Zwangscharakter der Ghettos so offensichtlich erschien, waren Bundes- und Landesministerien sowie die Rentenversicherer höchst überrascht von den rund 70.000 Anträgen, die nach der Verabschiedung des Gesetzes gestellt wurden. Doch anstatt nun bei Wissenschaftlern Erkundigungen über die Arbeitsbedingungen in Ghettos einzuziehen, entwickelte die Deutsche Rentenversicherung ohne fachliche Beratung eigene pseudohistorische Kriterien, nach denen die Anträge zu bearbeiten waren, und gab dafür im September 2002 Anweisungen zur Bearbeitung von ZRBG-Fällen heraus. Auf 36 DIN-A5 Seiten sowie einem längeren Anhang, der einzelne Ghettos auflistete, wurde dort eine eigene Interpretation zu Arbeit in Ghettos vorgelegt, die auch eine Übersicht zu den Verhältnissen in den deutsch besetzten Gebieten Osteuropas enthielt. Im Januar 2006 erfuhr der Text eine Überarbeitung und Erweiterung.[12] Er diente als Grundlage für sämtliche Verwaltungsentscheidungen bis zu den Urteilen des Bundessozialgerichts von Juni 2009.

Die beiden Arbeitsanweisungen von 2002 und 2006 weisen in Bezug auf die Rezeption des historischen Forschungsstands keine Fortschritte auf. Andererseits beruhen die teilweise sehr weit reichenden Interpretationen der Rentenversicherung auf insgesamt nur acht fachwissenschaftlichen Büchern, davon vier Nachschlage- bzw. Überblickswerke. Zwar sind diese allesamt als Standardwerke zu bezeichnen, doch das älteste von ihnen ist von 1990, die zwei neuesten von 1999. Bedenkt man den Druckzyklus historischer Werke, so ist die Grundlage für die Entscheidungen der Rentenversicherung der Forschungsstand von Anfang 1998. Gleichwohl gilt selbst dies nur mit Einschränkungen, Referenz für das Reichskommissariat Ukraine sind lediglich drei Überblicksdarstellungen von 1990, 1991 bzw. 1993.

Die Auswertung der von der Rentenversicherung herangezogenen Werke geschah offensichtlich nicht durch einen Historiker, der auch eine fachliche Einordnung und Beurteilung hätte vornehmen können. So blieben zahlreiche einschlägige Studien unberücksichtigt, die gerade zu den speziellen Fragen von Ghettoisierung oder Arbeit weit detaillierter Auskunft geben als die vier Nachschlage- bzw. Überblickswerke, die die Rentenversicherung verwendet. So erklären sich zahllose Irrtümer, unzulässige Analogien und Pauschalisierungen bzw. Fehlinterpretationen. Die mangelhafte Auseinandersetzung mit den damaligen Gegebenheiten setzt sich in einem unkritischen Umgang mit den Sekundärquellen fort. Das Bild, das die Rentenversicherung in ihren Arbeitsanweisungen von der nationalsozialistischen Judenpolitik in Osteuropa zeichnet, entspricht nicht dem aktuellen historischen Forschungsstand, und entsprach ihm auch nicht zum Zeitpunkt der Entstehung der Anweisungen. Die Grundlage für das Verwaltungshandeln war eine laienhafte, ohne fachhistorische Anleitung durchgeführte Auswertung von lediglich acht unsystematisch zusammengestellten Werken.

Grundlage für die individuelle Entscheidungsfindung waren Fragebögen, die die Überlebenden auszufüllen hatten. Zwar ist dies aus Gründen der Operationalisierung bei vielen tausend Anfragen verständlich, doch die fachliche Kritik durch erfahrene Psychologen zeigt, dass die Gestaltung der Fragebögen kaum geeignet war, valide Daten zu erhalten,[13] schon alleine, weil sich Erinnerungen kaum in die starren Schemata von Vordrucken pressen lassen. Verwirrend war beispielsweise die Frage zum Zustandekommen des Arbeitsverhältnisses, bei dem die Optionen „freiwillig“, „durch Vermittlung“ und „durch Zuweisung“ gegeben sind: Viele Überlebende kreuzten alle drei Punkte an, weil sie sich an den Judenrat mit der Bitte um eine Arbeit gewandt hatten, dieser ihnen einen Arbeitgeber vermittelte, wo schließlich eine konkrete Aufgabe zugewiesen wurde. Dieser vollkommen übliche und historisch auch kaum anders denkbare Vorgang führte indes regelmäßig zur Ablehnung des Antrags.

Relevant für die Bearbeitung der einzelnen Anträge waren ferner Dokumente aus den früheren Entschädigungsverfahren der Überlebenden (nach dem Bundesentschädigungsgesetz – BEG). Sie wurden in der weit überwiegenden Mehrzahl gegen die Antragsteller ausgelegt, weil sie angeblich im Widerspruch zu den Angaben im ZRBG-Verfahren rund 50 Jahre später stünden. Doch die Annahme, Angaben im Entschädigungsverfahren seien für ZRBG-relevante Sachverhalte wegen des kürzeren Abstandes zu den strittigen Zeiten größerer Beweiswert beizumessen als Angaben im ZRBG-Verfahren selbst, kann historisch-quellenkritischen, aber auch schlicht logischen Maßstäben nicht standhalten: In den BEG-Verfahren wurden andere Sachverhalte ermittelt, vor allem Schäden an Freiheit und Gesundheit, wobei man sich auf ein Minimum an relevanten Angaben beschränkte. Das verdeutlicht die Tatsache, dass in den BEG-Akten dem eigentlichen Verfolgungsschicksal in der Regel nur wenige Zeilen gewidmet sind.

Die Vorstellungen, die hinter der Argumentation der deutschen Rentenversicherer standen, beschränken sich auf ein weitgehend eindimensionales, von ihnen selbst geschaffenes Bild einer Ghettowelt. Sie konstruierten ihre eigene Geschichte der Ghettos, die durch andauernde Wiederholung perpetuiert wurde – und lehnten dementsprechend über 90 Prozent aller Anträge ab. Wie erfolgreich die Versicherer mit ihrem Vorgehen waren, zeigt die Überprüfung ihres Handelns durch die Sozialgerichtsbarkeit. Auch hier bestand bis Mitte 2009 kaum Aussicht auf eine erfolgreiche Klage gegen die Verwaltungsbescheide.

Blickt man auf das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, das als zweite Instanz für Kläger aus Israel zuständig war, wird deutlich, dass die Kläger in etwas mehr als 17 Prozent aller dort eingegangenen ZRBG-Fälle zumindest einen Teilerfolg erzielen konnten (zum Vergleich: die Erfolgsquote in Rentensachen außerhalb des ZRBG liegt etwa bei 27 Prozent).[14] Den Überlebenden gelang es nicht, ihre Ansprüche glaubhaft zu machen, weil an der Plausibilität ihrer Angaben gezweifelt wurde. Über 60 Jahre nach dem Ende ihrer Verfolgung konnten sie auch keine Dokumente mehr präsentieren, die ihr Vorbringen stützen könnten – denn es war schlechterdings unmöglich, irgendwelche Schriftstücke durch Ghetto, Lager und Vernichtung, durch DP-Camp und Auswanderung hindurch aufzubewahren. Die Überlebenden hatten keine andere Möglichkeit, als ihren ZRBG-Antrag ausschließlich durch eine nachträgliche Aussage zu untermauern. Selbstverständlich müssen sie bei der Aufklärung des Sachverhalts mitwirken und sie tragen auch die Beweislast. Letztere schließt indes nicht die Amtsermittlungspflicht von Behörden und Gerichten aus. Wie in allen Fällen nach dem Sozialgerichtsgesetz muss die Verwaltung die relevanten Tatsachen von sich aus ermitteln, wobei sie nicht an das Vorbringen oder an Beweisanträge der Antragsteller gebunden ist. Angesichts dieser Grundsätze sticht ins Auge, dass insbesondere zwei Ermittlungsansätze kaum genutzt wurden: die persönliche Anhörung der Kläger und der Sachverständigenbeweis.

Trotz der enormen Bedeutung von Aussagen für die Urteile waren die im Ausland lebenden, durchweg betagten Antragsteller dadurch benachteiligt, dass in den Verfahren in der Regel keine Anhörung stattfand, weil dazu – wenn überhaupt – eine Anreise der hoch betagten Holocaustüberlebenden zum Gerichtsstandort erwartet wurde, die dazu nur selten bereit oder in der Lage waren. So wurden nur schriftlich niedergelegte Einlassungen herangezogen bzw. die Rechtsanwälte befragt. In mehr als einem Urteil war sogar davon die Rede, dass eine Anhörung des Klägers nichts zum konkreten Fall beitragen würde, da die Fakten ja bekannt seien.[15]

Ein ähnliches Problem ergab sich bei der Hinzuziehung von Sachverständigen. Die Verfahren haben durchweg historische Tatsachen zum Gegenstand, aber es wurde auf die Einholung historischer Sachverständigengutachten in der Regel verzichtet. Damit schrieben sich die Gerichte selbst die für die Bewertung historischer Tatsachen erforderliche Sachkunde zu. Das Bundessozialgericht hat demgegenüber in mehreren zum ZRBG ergangenen Entscheidungen[16] betont, ein Gericht müsse bei der Beurteilung historischer Tatsachen nicht nur darlegen, woher es die von ihm selbst behauptete besondere historisch-wissenschaftliche Sachkunde erlangt hat, sondern auch, wie weit diese nach Inhalt und Umfang reicht. Es genüge nicht, mitzuteilen, welche Unterlagen hinzugezogen worden sind, wenn nicht dargestellt werde, über welche speziellen Kenntnisse das Gericht verfügt, die es ihm seiner Ansicht nach erlauben, den historisch-wissenschaftlichen Wert der beigezogenen Unterlagen, ihre fachwissenschaftliche Stichhaltigkeit, die fachliche Richtigkeit und Vollständigkeit der jeweils berücksichtigten Quellen sowie die Bewertung durch die verschiedenen Autoren zu beurteilen: „Auch die Lektüre umfangreicher historischer, zum Teil sogar wissenschaftlicher Veröffentlichungen, macht aus dem Leser im Regelfall keinen Sachverständigen der historischen Wissenschaft“.[17]

Das Urteil blieb indes folgenlos und wurde von den allermeisten Sozial- und Landessozialgerichten ignoriert, Historiker nur in Ausnahmefällen als Gutachter hinzugezogen – und die Vorstellungen der Richter über die Ghettoarbeit blieben entsprechend weit von der historischen Realität entfernt.[18] Dass in einem nationalsozialistischen Ghetto tatsächlich ein eigener Willensentschluss zur Arbeit und sogar eine Arbeitsentlohnung stattfanden, erschien angesichts der sonst bekannten Tatsachen über die Judenvernichtung eher unwahrscheinlich; das allgemeine Wissen über Ghettos ist fast ausschließlich mit Zwang assoziiert. Nur selten ist in den Urteilen eine Loslösung von diesem in der Bundesrepublik tradierten Bild zu beobachten. Es war für die meisten Richter kaum vorstellbar, dass im Ghetto überhaupt etwas aus freiem Willen geschah.

Für die ZRBG-Praxis bedeutete all das, dass ausschließlich Versicherungen und Justiz die Bedeutung bestimmter Begrifflichkeiten festlegten; davon abweichende Varianten führen beinahe automatisch zu einer Ablehnung des Klagebegehrens. Der Diskurs über die Ghettoarbeit, wie er von Verwaltung und Sozialgerichtsbarkeit geführt wurde, schuf eine eigene Wirklichkeit, die mit dem historischen Geschehen nichts gemein hatte. Die tatsächlichen Erfahrungen der Überlebenden hatten darin keinen Platz.

3. Ghettoarbeit und Ghettorenten aus Sicht der Überlebenden

Für die meist hoch betagten Antragsteller waren die ZRBG-Verfahren nur schwer zu begreifen. Sie hatten den Holocaust mit knapper Not überlebt und die Schrecken des Nationalsozialismus am eigenen Leib erfahren. Angesichts der mehrjährigen Verfolgung im Zweiten Weltkrieg, die eine permanente Ausnahmesituation voller Zwang darstellte, war auch in der subjektiven Wahrnehmung beinahe alle Arbeit „Zwangsarbeit“, zumal sie – gemessen an normalen Maßstäben – völlig unzureichend entlohnt wurde. Insbesondere in Nachkriegsaussagen wird der Terminus „Zwangsarbeit“ daher universell zur Benennung von Tätigkeiten während der nationalsozialistischen Verfolgung genutzt. Weder in der Perspektive der damaligen Ghettoinsassen noch der der heutigen Überlebenden, wie sie uns in überlieferten Nachkriegsaussagen zur Verfügung steht, spielte es eine Rolle, dass „Arbeitspflicht“ und „Arbeitszwang“ verschiedene Bedeutungen und Bedingungen implizierten, die aber beispielsweise nichts mit „Zwangsarbeit“ etwa in Lagern zu tun hatten. Hinzu kommt, dass nicht einmal die nationalsozialistischen Behörden und die Judenräte ihre unterschiedlichen Begriffe für die Arbeitsformen konsequent verwendeten, sondern sie häufig vermischten, was auch dem zeitlichen Wandel der Konnotationen geschuldet war.

Wenn also in den erwähnten BEG-Akten häufig von „Zwangsarbeit“ berichtet wird, steht dies nicht im Widerspruch zur später postulierten „Arbeit aus eigenem Willensentschluss“: Der seinerzeit gängige Begriff von Zwangsarbeit, wie er von Überlebenden der Shoah verwendet wird, zielte zuvorderst auf die allgemeine Zwangssituation des Ghettos ab. Einer Aussage in den Entschädigungsakten, in der der Terminus „Zwangsarbeit“ oder die Formulierung „zur Arbeit gezwungen“ vorkommt, ist nicht der Vorzug gegenüber anderen Aussagen oder Informationen zu geben, weil sie „zeitnäher“ getätigt worden ist. Bei dieser Argumentation wird von falschen Voraussetzungen ausgegangen, nämlich von der Existenz einer klaren, dem Alltagsverständnis zugänglichen begrifflichen Unterscheidung von erzwungenen und „freien“ Arbeitsverhältnissen. Der Münchener Historiker Jürgen Zarusky hat es als kafkaesk bezeichnet, dass die Anträge häufig daran scheiterten, dass die Überlebenden vor „vier oder fünf Jahrzehnten keine Antwort auf Fragen gegeben haben, die ihnen nicht gestellt wurden, und Begriffe nicht benutzt haben, die es noch nicht gab“.[19]

Dass die Glaubwürdigkeit der Kläger in den Urteilen oftmals anhand der Aktenlage abgetan wurde, war für die Überlebenden demütigend, zumal sich Vertreter der Bundesrepublik für ihr ganzes Schicksal nur selten interessiert haben.[20] Für sie schien gerade das ZRBG ein innovatives Gesetz zu sein, weil es ihnen endlich einen Anspruch zubilligte, der auf einer „normalen“, tatsächlich erbrachten Leistung beruhte: Sie erhielten eine Arbeitsrente wie andere Arbeiter auch, nicht bloß eine Entschädigung oder Wiedergutmachung, deren einziger Grund darin bestand, dass sie Opfer gewesen waren und – im Unterschied zu vielen Angehörigen – überlebt hatten. Die Zahlungen im Rahmen des BEG waren natürlich notwendig, denn viele Holocaustüberlebende sind nicht wohlhabend, weil sie während eines entscheidenden Abschnitts ihres Erwerbslebens unter deutscher Verfolgung litten und häufig seelische und körperliche Schäden davontrugen; sie sind daher auf das Geld angewiesen. Aber das ZRBG ist eben keine moralische Wiedergutmachung – und es ist sowieso fraglich, ob, und wenn ja, in wieweit der Horror des Holocaust „entschädigt“ oder „wieder gut gemacht“ werden kann – sondern schlicht eine Gleichbehandlung. Noach Flug, der 2011 verstorbene Präsident des Internationalen Auschwitz Komitees und Vorsitzender der Organisation der Holocaust-Überlebenden in Israel, hat das ZRBG einmal als die Aufhebung der Nürnberger Gesetze bezeichnet,[21] denn damit würden Juden nicht mehr nur wegen ihrer Opfereigenschaft Geld aus Deutschland bekommen; die Ghettorenten stellten also – zumindest in der Theorie – eine Gleichstellung von jüdischen und deutschen Arbeitern dar.

4. Das ZRBG und die Bundesministerien

Mit dem ZRBG hat der Bundestag 2002 ein Gesetz beschlossen, das den ehemaligen Ghettoarbeitern die Möglichkeit einer Rente einräumte. Bei der Anwendung und Auslegung des Gesetzes wurden die Antragsteller von Rentenversicherern und Sozialgerichten indes systematisch benachteiligt, da historische Gegebenheiten ignoriert und die Perspektive der Überlebenden falsch interpretiert wurden. Die Aufsichtsbehörden in den Landes- und Bundesministerien waren über den Umfang der Ablehnungen genau informiert. Zweifel auch des BMAS, ob denn eine sachgemäße Behandlung der Einzelfälle gewährleistet sei, wiesen die Rentenversicherer allerdings zurück. Das Ministerium war andererseits aber auch nicht an einer Klarstellung des Gesetzes interessiert – die Auslegung durch die Rentenversicherer würden die Gerichte überprüfen, und dabei sei von einer Bestätigung auszugehen.[22]

Änderungswünsche wies die Bundesregierung zurück. Den Überlebenden weiter entgegen zu kommen, würde „Fiktionsregelungen“ schaffen und „der gesetzlichen Rentenversicherung Aufgaben zuweisen, die keinerlei Bezug mehr zur Versichertengemeinschaft haben“.[23] Tatsächlich war die Bundesregierung im August 2006 sogar der Ansicht, die hohe Ablehnungsquote resultiere aus der Unkenntnis der Antragsteller in Bezug auf die komplexe rechtliche Materie – und machte die Überlebenden damit indirekt für die geringen Bewilligungsquoten selbst verantwortlich.[24]

Versicherer und Verwaltung beriefen sich bei dieser Haltung stets auf eine Überprüfung, der die Rentenversicherung Rheinland unterzogen worden war und deren Abschlussbericht Anfang 2005 dem Bundestagsausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherheit vorgelegen hatte. Ausgehend von einer Dienstaufsichtsbeschwerde der Berliner Rechtsanwältin und Opfervertreterin Simona Reppenhagen hatte das Arbeits- und Sozialministerium Nordrhein-Westfalen knapp hundert Einzelfälle überprüft – allerdings unter Rückgriff ausschließlich auf Material der Rentenversicherer – und deren Auslegung bestätigt.[25] Damit attestierte sich die Verwaltung selbst ein tadelloses Verhalten im Rahmen der Gesetzesnormen und –intentionen.

Allerdings hatte die Bundesregierung Anfang 2006 gegenüber Israel eine Zusage gegeben, bei den Ghettorenten die Leistungen für die Holocaust-Überlebenden zu verbessern. Immer dringlichere Nachfragen, dieses Versprechen einzuhalten, brachten nach eineinhalb Jahren Wartezeit eine gewisse Bewegung in die verfahrene Situation. Im Sommer 2007 kamen Arbeits- und Finanzministerium zusammen, um über eine Anerkennungsleistung zu verhandeln. Sehr deutlich war ihnen die beinahe schizophrene Situation bewusst, nach der die Rente, die nach Argumentation der Bundesregierung vollkommen im Sinne des Gesetzgebers umgesetzt würde, eine zusätzliche Zahlung erforderte, diesmal allerdings als Wiedergutmachung. Fraglich war, was denn eigentlich anerkannt werden sollte: Die Haftzeit war durch das Bundesentschädigungsgesetz längst berücksichtigt; für Zwangsarbeit gab es die Stiftung „Erinnerung – Verantwortung – Zukunft“, und für sonstige Arbeit aus eigenem Willensentschluss gab es Renten. Eine Regelungslücke konnte eigentlich nicht existieren.

Trotzdem war das Bundesarbeitsministerium selbst 2008 weder willens noch in der Lage, von der offiziellen Linie der Bundesregierung abzuweichen. So äußerte man zwar für die „Absicht, den Menschen zu helfen, [...] volles Verständnis“, aber der Gesetzgeber sei bereits 2002 „an die Grenzen dessen gegangen, was in der gesetzlichen Rentenversicherung möglich ist. Die Bundesregierung hat deshalb mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass eine Novellierung des ZRBG nicht vorgesehen ist und eine Lösung außerhalb des ZRBG gesucht werde“.[26] Doch Anfang 2009 konnte sich nicht einmal das BMAS dem weiter wachsenden öffentlichen und außenpolitischen Druck noch länger entziehen. Zunächst intern plädierte das zuständige Referat dafür, eine Arbeitsgruppe mit Angehörigen von Ministerium und Versicherungen sowie israelischen Fachleuten und Vertretern der Conference on Jewish Material Claims against Germany (Claims Conference, JCC) einzurichten – offiziell mit der Absicht, eine einheitlichere Umsetzung des ZRBG zu erreichen. Dabei müsse einerseits der Eindruck vermieden werden, der Bund wolle den selbstverwalteten Versicherern Kompetenzen entziehen, andererseits aber „die nachdrückliche politische Erwartung des BMAS an die Träger deutlich werden, nicht nur – wie schon bisher – zu gemeinsamen Auslegungsrichtlinien zu kommen, sondern auch in Anwendung der Richtlinien zu möglichst einheitlichen Anerkennungsquoten, die sich an den bei der Anwendung des ZRBG ‚großzügigeren’ RV-Trägern orientieren.“[27] Deutlicher konnten Ministerialbeamte kaum formulieren, dass die Ghettorenten-Praxis nicht ihren Erwartungen entsprach.

Widerstand dagegen regte sich einmal mehr von Seiten des Bundesfinanzministeriums, das Präzedenzwirkungen und damit einhergehende finanzielle Belastungen ebenso fürchtete wie eine Revision der stillschweigenden Übereinkunft, die Ghettorenten als Erfolg zu deklarieren, der keiner Nachbesserung bedürfe. Nach sieben Jahren ZRBG und eineinhalb Jahren Anerkennungsrichtlinie, was „eine gewisse Befriedung der unterschiedlichen Gruppen“ bewirkt hätte, sei die Idee daher „unglücklich“; das BMAS solle überprüfen, ob diese Maßnahme „wirklich angezeigt“ sei.[28]

Die Rentenversicherer sahen ebenfalls keine Notwendigkeit für eine Kontrolle ihres Handelns und zeigten sich überrascht, dass das Bundesarbeitsministerium „entgegen sonst herrschender Meinung“ die Ansicht vertrete, ursächlich für die große Ablehnungsquote sei die Verwaltungspraxis und nicht das Gesetz selbst. Gleichzeitig musste die DRV Rheinland aber einräumen, tatsächlich durchaus restriktiver zu entscheiden, als ihre Kollegen in Hamburg. Man selbst orientiere sich an den Vorgaben der Gerichte – wenn restriktive Auslegungen akzeptiert würden, bestehe kein Grund, die eigene Praxis zu ändern; demgegenüber hätten die Kollegen in Hamburg akzeptiert, dass die dortigen Gerichte eine klägerfreundlichere Auslegung vornähmen und würden selbst entsprechend handeln.[29]

Möglich war dies, weil die verschiedenen Senate des Bundessozialgerichts vor 2009 keine einheitliche Interpretation des ZRBG vorgelegt hatten. Der 13. Senat hatte 2004 eine recht enge Auslegung gefordert, die im Wesentlichen das Vorhandensein einer tatsächlichen Versicherungspflicht für die Ghettoarbeiter sowie einen dafür notwendigen Vertragsabschluss verlangte.[30] Eine gegenläufige Auffassung des 4. Senats,[31] der bereits Ende 2006 eine großzügigere Interpretation des ZRBG durchzusetzen versuchte, war nicht auf Akzeptanz gestoßen. Der vom 4. Senat angerufene Große Senat des Bundessozialgerichts, der für die Klärung interner Auslegungsunterschiede zuständig ist, entschied in der Sache aus formellen Gründen nicht. Der Verweis auf die Meinung des 4. Senats diente aber dennoch manchen Richtern als Referenz für eine klägerfreundliche Spruchpraxis.

Das Sozialgericht München berief sich z.B. darauf, vor allem aber die Sozialgerichtsbarkeit in Hamburg, wo die Rentenversicherung Nord für Kläger u.a. aus den USA, und damit für die nach Israel zweitgrößte Überlebendengruppe zuständig ist. Die Richter am dortigen Sozialgericht waren es, die 2005 erstmals historische Gutachten bei Frank Golczewski anforderten. Nach eigenen Angaben veränderte sich der Umgang mit den ZRBG-Fällen ab diesem Zeitpunkt.[32] Seriöse Schätzungen der beteiligten Parteien belaufen sich auf 30 bis 40 Prozent für die Kläger erfolgreiche Fälle vor dem Urteil des Bundessozialgerichts im Juni 2009, wobei davon über zwei Drittel durch Anerkenntnis oder Vergleich zustande kamen.[33] Die regionalen Unterschiede beeinträchtigten indes die Gleichbehandlung der Antragsteller. Damit hatten Herkunft, sozialer Status und örtliche Nähe des Verfolgten in hohem Maße Auswirkung auf dessen Erfolgsaussichten.

Diese regionalen Unterschiede machen deutlich, wie pragmatisch letztlich das Vorgehen der Rentenversicherer war, und zeigen ferner, welch entscheidende Rolle die Sozialgerichtsbarkeit einnahm. Ganz offensichtlich waren klägerfreundlichere Deutungen, als sie in Nordrhein-Westfalen vorgenommen wurden, anderswo möglich. Weitere Auseinandersetzungen in dieser durchaus unangenehmen Lage blieben den Ministerien vor allem deshalb erspart, weil das Bundessozialgericht in seiner wegweisenden Entscheidung Mitte 2009 eine eindeutige Kehrtwende der bisherigen Ghettorenten-Auslegung anordnete.

In Berlin setzte unmittelbar darauf das große Rechnen ein. Besonders das Bundesfinanzministerium erwies sich als Widerpart gegen großzügigere Regelungen für die Überlebenden. Man fürchtete steigende Ausgaben und Präzedenzwirkungen, die auch andere Opfergruppen nach Geld verlangen lassen könnten. In einer internen Besprechung zwischen Finanz- und Arbeitsministerium hieß es im Sommer 2009: „Minister Steinbrück habe die Weisung gegeben, strikt auf Begrenzung der finanziellen Auswirkungen zu achten.“[34] Doch schon bei der Konzipierung des ZRBG vor 2002 waren für sämtliche Überlegungen stets Kostenfragen zentral gewesen.[35]

Nach 2002 haben sich die Bundesministerien nicht mit den Auslegungsfragen des ZRBG beschäftigt und verteidigten stets den eingeschlagenen restriktiven Weg, selbst wenn für die außenpolitische Rechtfertigung eine durchaus absurde „Anerkennungsleistung“ notwendig war. Erst als 2008 Opfergruppen und die israelische Regierung immer lauter protestierten und sogar das Arbeitsministerium in Nordrhein-Westfalen der DRV Rheinland Zügel anlegte, fingen in Berlin Planungen an, die ZRBG-Praxis zu reformieren – erneut gegen den Widerstand des Bundesfinanzministeriums. Aber auch in der Frage der Rückwirkung legte das BMAS kein besonderes Engagement an den Tag und wartete die nächste Entscheidung des Bundessozialgerichts ab. So erwies sich die Exekutive vorwiegend als hinhaltender Verteidiger einer Politik, die nicht vom Gedanken einer Gleichbehandlung jüdischer Arbeiter in der Rentenversicherung, sondern von den Finanznöten des Staates bestimmt wurde. Auch im Rahmen der Ghettorenten war die Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen lediglich eine von den Umständen diktierte Pflicht, die viele Probleme und Fehler aus dem 20. Jahrhundert wiederholte.


[1] Wolf Gruner, Der Geschlossene Arbeitseinsatz deutscher Juden. Zur Zwangsarbeit als Element der Verfolgung 1983-1943, Berlin 1996; erweitert u.d.T.: Jewish Forced Labor Under the Nazis. Economic Needs and Racial Aims, 1938-1944, New York 2006.

[2] Vgl. die Forschungsüberblicke bei: Christoph Dieckmann / Babette Quinkert, Einleitung, in: Im Ghetto 1939-1945. Neue Forschungen zu Alltag und Umfeld, hg. v. Christoph Dieckmann / Babette Quinkert, Göttingen 2009, S. 9-29; Dieter Pohl, Ghettos im Holocaust. Zum Stand der historischen Forschung, in: Ghettorenten. Entschädigungspolitik, Rechtsprechung und historische Forschung, hg. v. Jürgen Zarusky, München 2010, S. 39-50.

[3] Vgl. etwa Tatiana Berenstein, Praca przymusowa Żydów w Warszawie w czasie okupacji hitlerowskiej, in: Biuletyn Żydowskiego Instytutu Historycznego 45/46 (1963), S. 42–93; dies., Praca przymusowa ludności żydowskiej w dystrykcie Galicja, in: ebd. 69 (1969), S. 3-46; Adam Rutkowski, Hitlerowskie obozy pracy dla Zydów w dystrykcie radomskim, in: ebd. 17-18 (1956), S. 106-128.

[4]  The Yad Vashem Encyclopedia of the Ghettos During the Holocaust, hg. v. Guy Miron, Jerusalem 2009; The United States Holocaust Memorial Museum Encyclopedia of Camps and Ghettos 1933-1945. Volume II: Ghettos in German-Occupied Eastern Europe, hg. v. Martin Dean, Bloomington 2012.

[5] Dan Michman, Angst vor den „Ostjuden“. Die Entstehung der Ghettos während des Holocaust, Frankfurt 2011. Die folgende Charakterisierung auf S. 164-166.

[6] Dean, USHMM Encyclopedia of Camps and Ghettos, Volume II, Part A, S. XLIII.

[7] Vgl. etwa Gruner, Der Geschlossene Arbeitseinsatz, a.a.O.

[8] Archiwum Państwowe Lublin, Amt des Distrikts Lublin / 906. Protokoll über die Judeneinsatzbesprechung am 6.8.1940, vom 9.8.1940.

[9] Stephan Lehnstaedt, Die deutsche Arbeitsverwaltung im Generalgouvernement und die Juden, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 60 (2012), S. 409-440, hier S. 438f.

[10] Für eine Einordnung vgl. ders., Geschichte und Gesetzesauslegung. Zu Kontinuität und Wandel des bundesdeutschen Wiedergutmachungsdiskurses am Beispiel der Ghettorenten, Osnabrück 2011, S. 29-48.

[11] Bundesarchiv (künftig: BA), B 149 / 194039, unpaginiert (gesehen im BMAS im Dezember 2011). Sprechzettel für die 102. Sitzung des Haushaltsausschusses am 17.4.2002. Noch im Oktober 2003 waren die Rentenversicherer nicht in der Lage, auch nur eine ungefähre Schätzung über die Gesamtzahl der Antragsteller abzugeben: LVA Rheinprovinz, Az. IV Ausl. 445/03 (gesehen im MAIS NRW). LVA Rheinprovinz an Landesversicherungsamt NRW, 22.10.2003.

[12] Vgl. „Gemeinsame Arbeitsanweisungen LVA Rheinprovinz“ vom 6.9.2002 bzw. vom 6.1.2006. Abgedruckt in: Lehnstaedt, Geschichte und Gesetzesauslegung. a.a.O., S. 134-163.

[13] Kristin Platt, Bezweifelte Erinnerung, verweigerte Glaubwürdigkeit. Überlebende des Holocaust in den Ghettorenten-Verfahren, München 2012, S. 124-144.

[14] Schreiben des LSG NRW an den Verfasser, 18.3.2010.

[15] Statt vieler: SG Düsseldorf, S 22 R 327/05, Urteil vom 17.10.2006.

[16] BSG, B 13 R 28/06 R, Urteil vom 26.7.2007; BSG, B 4 R 29/06 R, Urteil vom 14.12.2006.

[17] BSG, B 4 R 29/06 R, Urteil vom 14.12.2006.

[18] Stephan Lehnstaedt, Ghetto-„Bilder“. Historische Aussagen in Urteilen der Sozialgerichtsbarkeit, in: Ghettorenten. Entschädigungspolitik, Rechtsprechung und historische Forschung, hg. v. Jürgen Zarusky, München 2010, S. 89-100, hier S. 98ff.

[19] Jürgen Zarusky, Hindernislauf für Holocaustüberlebende. Das „Ghettorentengesetz“ und seine Anwendung, in: Die Tribüne 47 (2008), S. 155-161, hier S. 159f.

[20] Vgl. „Geld nur gegen Geschichtsverfälschung? Zwangsarbeiterrichtlinie empört Holocaustüberlebende“, in: Jüdische Zeitung, Februar 2008, S. 2.

[21] Vortrag Noach Flugs auf der Tagung „’Ghettorenten’ und historische Forschung, Institut für Zeitgeschichte München, 9.4.2008. Vgl. auch Noach Flug, Shoah und Entschädigung, in: Zarusky (Hg.), Ghettorenten, a.a.O., S. 79-88.

[22] Exemplarisch: BMAS-Az. 43754/40, 41, 42. VDR an BMAS, 30.1.2003, auf Zeichen IVb1-43/2344 des BMAS.

[23] BMAS-Az. 43754/25. BMAS an MAIS NRW, 24.11.2004.

[24] Deutscher Bundestag, Drucksache 16/1955, 26.6.2006.

[25] Deutscher Bundestag, GS-Ausschussdrucksache 0825, 28.2.2005.

[26] BMAS-Az. 43754/93-96. BMAS an Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales NRW, 21.10.2008.

[27] BMAS-Az. IVb 1 – 43754/103. Internes Schreiben des BMAS an den Minister, 9.4.2009.

[28] BMAS-Az. 43754/103. Bundesfinanzministerium (Minister) an BMAS, 28.4.2009. BMF-Az.: V B 4 – O 1473/08/10001.

[29] DRV Rheinland, Vermerk vom 31.3.2009, ohne Az. (gesehen im MAIS NRW). Handschriftlicher Vermerk: „Vertraulich“.

[30] BSG, B 13 RJ 59/03, Urteil vom 7.10.2004. In diesem Sinne auch BSG, B 13 RJ 370/04, Urteil vom 20.7.2005; B 13 RJ 28/06, Urteil vom 26.7.2007.

[31] BSG, B 4 R 29/06, Urteil vom 14.12.2006.

[32] Schreiben von Annett Wittenberg, Richterin am SG Hamburg, an den Verfasser, 3.3.2010.

[33] Eine unvollständige Liste mit 231 Anerkenntnissen bzw. Vergleichen liegt dem Autor vor.

[34] Gedächtnisprotokoll zur Ressortbesprechung, 16.6.2009, Aktenzeichen des Bundesfinanzministeriums: IV B 4 – O 1473/06/10001:002, sowie Klemm/2009/0412321/Caster.

[35] BA, B 149 / 194038, unpaginiert (gesehen im BMAS im Dezember 2011). Entwurf über ein Ghettorentengesetz), 13.12.2001; ebenda, B 149 / 194032. Internes Schreiben BMAS, 20.12.2001.

Dr. Stephan Lehnstaedt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut Warschau

Quelle: http://mws.hypotheses.org/1614

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Deutsche Geschichte in Dokumenten und Bildern


Das 2002 begonnene Großprojekt „Deutsche Geschichte in Dokumenten und Bildern / German History in Documents and Images“ (DGDB/GHDI) ist abgeschlossen. Bei DGDB handelt es sich um eine digitale Quellensammlung zur Geschichte Deutschlands von 1500 bis zur Gegenwart. Das zweisprachige Projekt umfasst etwa 1.700 Primärtexte (im deutschen Original und englischer Übersetzung) und 2.400 Bildquellen, die von namhaften Fachvertretern zusammengestellt wurden.

Das Projekt ist unterteilt in zehn Zeitabschnitte und bietet neben einer Einführung in die zentralen Entwicklungen der deutschen Sozial-, Politik- und Kulturgeschichte des betreffenden Zeitabschnittes, ausgewählte Quellen – sowohl in englischer als auch in deutscher Sprache –, ausgewählte Bildquellen der Zeit und solche, die sich auf diese beziehen, und ausgewähltes Kartenmaterial.

Die Dokumente und Bildquellen wurden in Kategorien eingeteilt und sind so durch Stichwort- und Autorensuche leicht zugänglich. Gerade außerhalb Deutschlands bietet DGDB ein Angebot, Dokumente, die sonst kaum verfügbar sind, zu nutzen. Zudem wurden alle deutschsprachigen Dokumente der Quellensammlung für das Projekt ins Englische übersetzt.

2010 erhielt DGDB den James Harvey Robinson Prize der American Historical Association für das beste Lehrmittel im Bereich Geschichte. Die Webseite wird mittlerweile täglich von ca. 10.000 Benutzern aus aller Welt aufgerufen. Ermöglicht wurde das Projekt durch die Unterstützung der Max Kade Stiftung, der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius und den Friends of the GHI Washington.

Das Angebot ist unter www.germanhistorydocs.ghi-dc.org abrufbar.

Quelle: http://mws.hypotheses.org/1175

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Europe Body Count

Editorial notice: The following text is written by Nicolas Kayser-Bril, a french journalist and a pioneer in advanced data journalism. Some of his projects are highly relevant for the digital history community and we are very glad to have Nicolas presenting his new project here at hist.net! You can contact Nicolas at nkb@jplusplus.org. (ph) A [...]

Quelle: http://weblog.hist.net/archives/6507

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Kleine Anfrage zur deutsch-italienischen Historiker_innenkommission

Festnahme von Zivilisten durch deutsche Soldaten in Rom 1944

Bildbeschreibung laut Quelle: Italien, Rom.- Festnahme von Zivilisten durch deutsche und italienische Soldaten nach dem Attentat in der Via Rasella auf eine Südtiroler Polizei-Einheit am 13. März 1944 vor dem Palazzo Baberini; die Festgenommenen wurden später als Repressalie in den Ardeatinischen Höhlen ermordet; PK (= Propagandakompanie) 699. Bundesarchiv, Bild 101I-312-0983-03 / Koch / CC-BY-SA via Wikimedia Commons

Die deutsch-italienische Historiker_innenkommission wurde 2008 ins Leben gerufen und nahm 2009 ihre Arbeit auf. Von Anfang an, stand die Kommission unter dem Vorbehalt, dass sie eher anstelle als zusätzlich zu einer Entschädigungsregelung geplant war. Die Kommission hat unterdessen die Arbeit beendet. Der Umgang mit den Ergebnissen wird viel über den Willen verraten sich auf deutscher Seite endlich der Verantwortung für die zahllosen Massaker der Wehrmacht und dem Umgang mit den IMI, den italienischen Militärinternierten, zu stellen. Die Presseerklärung der Bundesregierung vom 24.8. verspricht nichts gutes: “Der Abschlussbericht soll den Außenministern beider Staaten im September/Oktober dieses Jahres „in einem angemessenen Rahmen“ übergeben werden. Ein konkreter Termin oder Ort ist hierfür noch nicht vereinbart, schreibt die Bundesregierung in ihrer Antwort (17/10480) auf die Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke (17/10176). Der Abschussbericht werde in kleinerer Auflage in gedruckter Form veröffentlicht und solle der interessierten Öffentlichkeit auch über das Internet zugänglich gemacht werden. Eine Veröffentlichung des gesamten Abschlussberichts in Buchform sei nicht beabsichtigt.” – Will wohl heißen, so ganz untergehen lassen können wir die Ergebnisse nicht, aber wir werden alles tun um möglichst nahe dran zu kommen.

Selbst eine Kommission, die unter der Führung des eher konservativen Wolfgang Schieders arbeitete, war wohl noch zu kritisch. Obwohl der zu Beginn der Arbeit erklärte: “Wir haben hier aber noch eine neue Idee, und das ist die, dass wir nicht so sehr die Auseinandersetzung zwischen den deutschen Militärs und den italienischen untersuchen, sondern dass wir die Erfahrungen der Betroffenen untersuchen wollen: der Soldaten, der Kriegsgefangenen, der KZ-Häftlinge. Und dass wir diese Ebene in den Vordergrund stellen, weil das die Erinnerungen sind, die auch nach dem Krieg bei Millionen von Menschen weitergewirkt haben und bis heute weiter wirken.” (in: Henning Klüver: Kulturelles Feigenblatt, Deutschlandfunk, 29.3.2009) Obwohl Schieder also die Erfahrungen der KZ-Häftlinge neben die der Kriegsgefangenen und die der deutschen und italienischen Soldaten stellen wollte, also durch einebnende individualisierte Erfahrungsrekonstruktion ein auf ein “ja, schrecklich wars, war ja auch Krieg” hinauswollte, schienen die Verbrechen der Deutschen nach 1943 noch zu deutlich zu werden.

Da der Text der Ergebnisse der Kommission noch nicht öffentlich vorliegen, ist es noch zu früh um im Detail zu erkennen, was der Bundesregierung missfallen hat. Die Richtung wird jedoch an Antworten wie der folgenden deutlich:

“[Frage] 14. Ist die Bundesregierung tatsächlich der Auffassung, die bisherige Entschädigungspolitik sei so umfassend, dass kein Nachbesserungsbedarf besteht,
um bislang unentschädigt gebliebene NS-Opfer zu entschädigen?

Die Bundesregierung wird sich auch weiterhin mit der Frage weiterer politischer Gesten gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus auseinandersetzen.

[Frage] 15. Sieht sich die Bundesregierung mittlerweile veranlasst, aus der Urteilsbegründung des Internationalen Gerichtshofs (IGH) vom 3. Februar 2012 irgendwelche Konsequenzen zu ziehen, etwa hinsichtlich der Aufnahme von Gesprächen entweder mit NS-Opfern oder der italienischen Regierung über wenigstens symbolische, humanitäre Leistungen für überlebende NS-Opfer bzw. deren Angehörige (bitte gegebenenfalls erläutern)?

Die Bundesregierung sieht durch das Urteil keine Veranlassung, ihre Rechtsauffassung zu Entschädigungsfragen zu ändern. Gegenstand des Verfahrens war die Verletzung des völkerrechtlichen Grundsatzes der Staatenimmunität, dessen Geltung vom Internationalen Gerichtshof (IGH) bestätigt wurde. Die Bundesregierung hat sich dabei stets zu ihrer moralischen Verantwortung für NS-Verbrechen bekannt. Die Bundesregierung wird auch weiterhin versuchen, ihrer Verantwortung gegenüber den Opfern durch politische Gesten gerecht zu werden und sich hierbei zunächst auf die Empfehlungen der Historikerkommission stützen. Die Umsetzung dieser Empfehlungen ist aus Sicht der Bundesregierung vorrangig vor anderen Überlegungen.” (Seiten 6-7 des pdfs 17/10480 Fett im Original, meine Kursiven).


Einsortiert unter:Faschismus, Geschichtspolitik

Quelle: https://kritischegeschichte.wordpress.com/2012/09/05/kleine-anfrage-zur-deutsch-italienischen-historiker_innenkommission/

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Quelle: http://umstrittenesgedaechtnis.hypotheses.org/50

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