Tagung „The office as an interior (1880-1960)“, Bern 17.-18.10.2013
Klara Löffler: Die Schublade. Zur Mehrdeutigkeit der dienstbaren Dinge
Hans-Georg von Arburg: Schreibraum Büro. Siegfried Kracauers Innenansichten der Moderne
Geschichtswissenschaftliche Blogs auf einen Blick
Der folgende Blog-Beitrag wurde von Beat Estermann (Berner Fachhochschule) im Anschluss an das OpenGLAM Panel anlässlich der OKCon 2013 letzte Woche in Genf verfasst. Reposted aus der opendata.ch Website
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Eines schönen morgens wachen sie auf, sehen, dass sie einen Master der Philosophie in Urkundenform an der Wohnzimmerwand hängen haben (wahlweise auch einen Magister Artium) und beschließen zu promovieren, weil sie Idealist sind und damit Karriere, Wohlstand, Urlaub, Ansehen und Freizeit ebenfalls an den Nagel hängen wollen. Wenn sie diesen schönen Gedanken gefasst haben und ihren Kommilitonen, Freunden und Kollegen davon erzählen wollen, noch bevor sich ihr Thema richtig vor ihrem inneren Auge heraus kristallisiert hat, werden sie schon bald auf einem der zahlreichen Flure zwischen den Bibliotheken der Fakultät mit der alles entscheidenden Frage konfrontiert werden: „Guten Tag, arbeiten sie philosophiegeschichtlich oder systematisch?“
„Hallo“, ich z.B. arbeite philosophiegeschichtlich. Denn ich erarbeite die Position eines Autors aus dem 11. Jh. zu ethischen Dingen. In den Augen der fragenden Person bewegt sich meine Doktorarbeit also wahrscheinlich irgendwo zwischen dem Thema „Die Vier-Elemente-Lehre“ und „Unser geozentrisches Weltbild“. Philosophiegeschichtler wie mich interessiert, was jemand über ein Thema genau gesagt und gedacht hat. Meine eigene Meinung zu dem Thema rückt dabei in den Hintergrund. Auf der anderen Seite stehen die Systematiker. Sie interessiert ein Sachverhalt und sie möchten selbst eine Position zu diesem Sachverhalt erarbeiten. Sie bearbeiten so spannende Themen wie „Was ist Neuro-Enhancement?“
Nun, ich glaube, es gibt ein Paradebeispiel für philosophiegeschichtliche Forschungsfragen (damit wir mal in die Materie einsteigen. Vgl. für das Folgende Brüllmann (2011): Die Theorie des Guten in Aristoteles’ „Nikomachischer Ethik“, S. 20ff., der diese gut zusammenfasst)), damit sie sehen, womit sich solche Leute in etwa beschäftigen.
Also: Etwa 2335 Jahre nach Aristoteles’ Tod schaut sich ein schottischer Autor namens W. F. R. Hardie einige Stellen der Nikomachischen Ethik, der wichtigsten ethischen Schrift des Aristoteles, an. Ihm fällt auf, dass Aristoteles die Glückseligkeit des Menschen für das höchste Gut hält und dafür drei Hauptargumente liefert: 1) Die Glückseligkeit wird immer für sich selbst gewollt, denn sie ist nie Mittel für ein anderes noch höheres Ziel, 2) die Glückseligkeit ist selbstgenügsam, denn wenn man sie hat, braucht man nichts anderes mehr. Und 3) ihr kann gar nichts hinzugefügt werden, da sie ja schon das beste ist, was wir erreichen können. William Francis Ross Hardie hat sich nun Gedanken über diese drei Kriterien des Aristoteles gemacht, einige weitere Textstellen angeschaut und ist zu dem Schluss gekommen, dass sie zwei Interpretationen zulassen. In seinem daraufhin entstandenen Artikel „The Final Good in Aristotle’s Ethics“ von 1965 behauptet er nämlich, man könne entweder zu dem Schluss kommen, Glückseligkeit sei für Aristoteles die Ansammlung von Gütern wie beispielsweise Klugheit, Gesundheit, Vermögen etc.; oder aber Glückseligkeit sei etwas, das nicht aus den verschiedenen Einzelgütern bestehe, sondern etwas anderes neben diesen, zum Beispiel die theoretische Betätigung. Die erste Interpretation wurde von ihm „inklusive“ Interpretation genannt, die zweite „dominante“, da das außenstehende Gut Glückseligkeit alle anderen Güter übertrifft, diese quasi „sticht“, um einmal ins Quartett-Jargon auszuweichen. Der Unterschied lässt sich auch so formulieren: Verfolgen wir Einzelziele, wenn wir glückselig sein wollen? Wollen wir also klug, gesund, vermögend etc. werden, was dann zusammen eben die Glückseligkeit ergibt? Oder verfolgen wir die Glückseligkeit als etwas eigenständiges, das nicht aus diesen Einzeldingen besteht? Wie gesagt, es scheint, als gäbe es für beide Ansichten in Aristoteles’ Schrift Argumente. Um diese Interpretationsweisen haben sich dann in den folgenden Jahrzehnten Legionen von Artikeln gesammelt. Mit immer tieferen Recherchen aus dem aristotelischen Werk versuchten sie, für die eine, die andere oder eine Kombination aus beiden Ansichten oder eine ganz neue Ansicht zu argumentieren.
„Laaangweilig! Sie sind eben kein Systematiker und machen eigentlich auch nichts, als Steuergelder zu verschwenden und mit ihren Ausdrucken die Umwelt zu verschmutzen!“, wäre eine mögliche Antwort, die auch ihnen gerade auf der Zunge liegen könnte. Zum Glück ist das hier aber kein Dialog. Wenn Juristen Gesetzestexte auslegen und sich um die Interpretationsweisen streiten, indem sie für Meinungen von Vorgängern argumentieren, sie verstärken oder negieren, stößt dies hingegen auf Verständnis. „Weil Jura unseren Alltag ja beeinflusst“ wie beispielsweise § 26 Landesreisekostengesetz NRW: “Wenn ein Beamter während der Dienstreise stirbt, so ist die Dienstreise beendet.” Eine Beschäftigung hiermit ist sicher verständlicher und lebensnaher als die Beschäftigung mit der menschlichen Glückseligkeit nach Aristoteles.
Nein, aber philosophiegeschichtliche Positionen sauber herauszuarbeiten, bereichert nicht nur die eigene Meinungsbildung zu so wichtigen Themen wie “Was ist eigentlich ein gutes Leben?” und liefert interessanteste argumentative Wendungen, sondern öffnet auch die Augen bezüglich aktueller Diskussionen. In einem der nächsten Einträge werde ich deshalb auf mein Lieblingsthema, die aktuelle Glücksforschung und ihre Glücksdefinitionen eingehen. Hier ein Vorgeschmack auf die Standardfloskeln, die Wissenschaftler dort nach langjähriger Beschäftigung mit dem Thema Glück erarbeitet haben bzw. aus meinem Poesiealbum der Klasse 7c stammen könnten: “Glück ist, nicht immer alles gleich und sofort zu wollen, sondern sogar weniger zu wollen. Das heißt, seine Impulse zu kontrollieren und seinen Trieben nicht gleich nachzugeben. Die wahre Glückseligkeit liegt dann in der echten und tiefen Bindung mit anderen Menschen.” (http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/39739, abgerufen am 02.03.13)
Dass Geschichte und politische Bildung harmonischen Geschwistern gleichen, scheint in der Öffentlichkeit weitgehend unwidersprochen. Unter BildungsexpertInnen an Schule und Universität wird diese Meinung aber keineswegs geteilt, ganz im Gegenteil erscheinen sie dort fast als die biblischen Brüder Kain und Abel. Vonseiten der Geschichtsdidaktik wird befürchtet, dass Geschichte auf Politik verkürzt werde. Die politische Bildung sieht in einer zu starken Annäherung wiederum eine Verengung des Politikbegriffs. Es scheint eindeutig: Geschichts- und Politikdidaktik mögen sich zwar hin und wieder ergänzen, kurzfristige Sympathien sind erlaubt. Ein längerfristiges Zusammenrücken beider Disziplinen ist aber undenkbar und wird abgelehnt.
Trotz der genannten Einwände tritt nun aber ein Blog Journal, „Public History Weekly“, als Mediatorin auf? Hat gar ein österreichisch-schweizerischer Virus die Redaktion und die AutorInnen befallen? Keine unberechtigte Frage, besteht doch in beiden Ländern traditionell eine enge und zudem nicht immer ruhmreiche Verbindung von Geschichte und politischer Bildung. Die Gründe für diese schwierige Liaison sind vielfältig: In beiden Ländern erschien nach 1945 ein eigenes Fach „Politische Bildung“ nicht so dringlich – die Schweiz hatte ja angeblich mit dem Nationalsozialismus ohnehin nichts zu tun, und Österreich verstand sich bekanntlich als ein „Opfer“ nationalsozialistischer Expansionspolitik. Nach dem Krieg sollte die nationale Integration vorangetrieben und das Bekenntnis zur Demokratie in den Köpfen der Bürger und Bürgerinnen verfestigt werden. Nicht der „Citoyen“, der oder die kritische „AktivbürgerIn“, war gefragt, sondern die Ein- oder auch Unterordnung in die Republik. In diesem Zusammenhang ließ sich Geschichte lange Zeit für nationale Manipulation und Indoktrination instrumentalisieren.
In der Schweiz dienten etwa die Legende des Rütlischwurs und der Bundesbrief von 1291 zur Begründung eines demokratischen Mythos und zur Beschwörung einer vermeintlichen nationalen Harmonie. In Österreich war es wiederum der Opfermythos, der seine Begründung in der angeblichen Friedfertigkeit der österreichischen Bevölkerung bzw. überhaupt im „österreichischen Charakter“ fand. Die habsburgische „Macht des Herzens“ und die große kulturelle Vergangenheit stünden den nationalsozialistischen Verbrechen im Wege. Daher seien die ÖsterreicherInnen während der nationalsozialistischen Diktatur offenbar auch jeglicher Handlungsfähigkeit beraubt worden.
Ein solcher Missbrauch von Geschichte liegt Public History Weekly selbstverständlich fern. Ganz im Gegenteil wird historisch-politische Bildung im kulturwissenschaftlichen Sinne verstanden. Herrschafts- und Machtverhältnisse, soziale Strukturen, hegemoniale kulturelle Praktiken oder unterschiedlichen Kategorien wie „Freiheit“ oder „Gerechtigkeit“ sind immer auch historisch zu begründen. Nur mit dem Überschreiten der von den wissenschaftlichen (Teil-)Disziplinen gesetzten Grenzen, durch das Suchen politischer Implikationen in den kulturellen Praktiken oder besser: das Verstehen des Politischen selbst als einen kulturellen Habitus können diese historischen Dimensionen verdeutlicht werden.
Als „liaison dangereuse“ kann historisch-politische Bildung daher nur dann verstanden werden, wenn ein enger Politikbegriff vertreten wird. Eine moderne, kulturwissenschaftlich orientierte historisch-politische Bildung hat sich dagegen mit dem Bewusstseinsbegriff auseinanderzusetzen. Sie beschäftigt sich, wie etwa der Beitrag von Monika Fenn in diesem Blog Journal sehr anschaulich zeigt, mit Geschichtskultur und politischer Kultur. Zu ihren Themen zählen Identitätsbildung, Sozialisationsprozesse und kollektive Gedächtnisse, sie betreibt Ideologiekritik und untersucht die individuelle Deutung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Geschichte und politische Bildung lassen sich hier nicht getrennt denken. Ganz im Gegenteil wäre eine Vernachlässigung dieser Verbindung geradezu bedenklich oder gar sträflich.
Der Diskurs über eine Zusammenführung oder besser: über eine Synthese beider Disziplinen, der bereits in den 1960/70er Jahren geführt wurde, sei daher unter neuen kulturwissenschaftlichen Voraussetzungen wiederbelebt. Damit werden keine alten Gräben aufgerissen, sondern Perspektiven geboten, die dem Geschichts- und Politikunterricht letztlich bereichern können. Provokant sei gefragt: Kann moderner Geschichts- und Politikunterricht denn letztlich etwas anderes sein als historisch-politische Bildung?
Literatur
Externe Links
Abbildungsnachweis
(c) The Courtauld Gallery, London. Peter Paul Rubens, 1608, Kain erschlägt Abel, Abbildung gemeinfrei.
Empfohlene Zitierweise
Hellmuth, Thomas: Wer erschlägt hier wen? Historisch-politische Bildung. In: Public History Weekly 1 (2013) 5, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-278.
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Dank der freundlichen Vermittlung von Hannes Obermair nahm sich der liebenswürdige Bibliothekar und Archivar der Benediktinerabtei Muri-Gries, Pater Placidus Hungerbühler viel Zeit, um mich durch das Kloster zu führen und mir Archiv und Bibliothek zu zeigen. Ich durfte auch Fotos anfertigen. Herzlichen Dank auch hier für den lehrreichen Vormittag! Seit 1845 wird die monastische Tradition des 1027 von den Habsburgern im Aargau gegründeten und 1841 aufgehobenen Klosters Muri in Gries, heute ein Stadtteil von Bozen, weitergeführt. Der Abt der Gemeinschaft ist kirchenrechtlich Abt von Muri und [...]