Alte Religion, alte Rechte. Die “katholische Gemeindereformation” in den 1530er Jahren – eine Hypothese

Im Jahr 1532 stehen in Geislingen, einer Gemeinde im Landgebiet der Reichsstadt Ulm, Wahlen an. Die Bürger sollen neue Richter und einen Bürgermeister wählen. Doch die Mehrheitsverhältnisse bereiten Schwierigkeiten. Der Ulmer Rat fürchtet, dass erneut nur altgläubige Kandidaten Erfolg haben, die dann weiterhin das evangelische “Wort Gottes” behindern könnten. In der Folge entspinnt sich ein jahrelanger Konflikt um alte Rechte und alten Glauben. Ein Großteil der Geislinger Bürger wehrt sich mit den politischen Mitteln der Gemeindeverfassung und verteidigt diese in einem Atemzug mit den atlgläubigen religiösen Praktiken gegen die Ulmer Obrigkeit. Ulm hat Ende 1530 die Einführung der Reformation befürwortet. Jetzt soll die evangelische Ordnung auch auf dem Land durchgesetzt werden. Manche Gemeinden nehmen die evangelischen Kulturformen und Wissensordnungen schnell an, andere sträuben sich. Mancherorts formiert sich altgläubiger Widerstand – so interpretieren die Protestanten die Präsenz und die durchaus innovative Aktualisierung alter religiöser Praktiken. Zur Durchsetzung der evangelischen Kultur kommt es besonders auf die Haltung der lokalen Regierungen an. Der Ulmer Rat will deshalb in den Gemeinden seines Landterritoriums durchsetzungsfähige, obrigkeitstreue und evangelische Vögte, Pfleger, Pfarrer, Richter und Bürgermeister. Das ist leichter gesagt als getan. In Geislingen werden auf der Grundlage der Gemeindeverfassung von 1396 die Vögte als lokale Exekutivbeamte [...]

Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/1641

Weiterlesen

Wie wichtig war Religion in der Reformationszeit? Eine Beobachtung in der Grafschaft Lippe

Die Reformation und das nachfolgende konfessionelle Zeitalter gelten als Hochzeit der Religion. Gerade Religionshistoriker (von Kirchenhistorikern ganz zu schweigen) machen dabei ihr Forschungsgebiet gerne etwas unreflektiert zum bestimmenden Paradigma einer ganzen Epoche. Tatsächlich treten im 16. Jahrhundert europaweit durch die Glaubensspaltung Differenzierungen und “zcerteilungen” auf, welche die Gesellschaften gründlich umkrempeln und immer wieder zu Gewalt führen. Auch der Alltag, ja das ganze Leben werden vom Glauben und dessen Ritualen eingerahmt. Die reformatorischen Glaubensspaltugen bedeuten somit Differenz und Unsicherheit im Wichtigsten und Ewigen und müssten die Bedeutung der Religion noch weiter vergrößert haben. Dieser “Betriebsblindheit” der Religionshistoriker, die in der Konfessionalisierungsthese der 1980er und 1990er Jahre ihren Höhepunkt erreicht hat, möchte ich in der Folge eine kurze Beobachtung aus meinen aktuellen Forschungen entgegenhalten. Ich werde auf einer bestimmten, aber für die gesellschaftlichen Konflikte der Reformationszeit repräsentativen Plattform das weitgehende Fehlen religiöser Themen nachweisen. Zumindest mich hat dieser Befund etwas verblüfft und zu ein paar Relativierungen und Überlegungen motiviert, die womöglich nicht neu sind, aber im Forschungsalltag zu selten ins Bewusstsein gelangen. Es geht um die Fragen: War das 16. Jahrhundert wirklich eine Epoche der Omnipräsenz des Religiösen? Wurde die Gesellschaft von Religion oder vielleicht gerade vom Nicht-Religiösen verbunden? Im Rahmen meiner Fallstudie [...]

Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/1180

Weiterlesen

Fabien Lévy (Chambéry): Vorboten der Italienischen Kriege. Der Platz Genuas in den strategischen Planungen Frankreichs im 15. Jahrhundert

deutschsprachige Zusammenfassung des Vortrages vom 13. Mai 2013: Prodromes aux guerres d’Italie: la place de Gênes dans l’édifice stratégique français au XVe siècle

Mit dem berühmten Zug Karls VIII. 1494 nach Neapel schienen die Italienischen Kriege, in denen sich Franzosen und Spanier auf der italienischen Halbinsel gegenüberstanden, ganz unvermittelt zu beginnen. Ein Unternehmen, dessen Ruhm, Zeugnis der berühmten furia francese, ein katastrophales Abenteuer verschleierte, das mit der schmachvollen Rückkehr nach Frankreich endete. Dabei waren alle typischen „Zutaten“ der Italienischen Kriege bereits vorhanden: das ausgesöhnte Königreich Frankreich, ein ritterlicher König, umgeben von einem turbulenten Adel, den es im Zaume zu halten galt, militärisches Können und Truppen, wie sie nunmehr nur die großen Nationen aufbringen konnten, und schließlich und vor allem die offenkundige Anziehungskraft Italiens. Selbst die Niederlage, rasch in einen epischen Sieg umgewandelt, nahm die vielen weiteren Niederlagen vorweg, welche Frankreich auf der Halbinsel noch erleiden sollte.

Trotzdem war der Zug Karls VIII. nicht das Ergebnis einer plötzlichen Eingebung des Königs. Während des gesamten 15. Jahrhunderts, als es sich vorrangig mit England und Burgund auseinandersetzte, hatte Frankreich die italienische Halbinsel nicht vergessen. Jenseits des Getöses des Hundertjährigen Krieges wurde eine aktive Italienpolitik geführt. Der Weg, den die Franzosen in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts immer wieder nach Neapel nahmen, wurde über das gesamte 15. Jahrhundert hinweg vorbereitet und eingeübt. Der bemerkenswerte Platz, den Genua in diesem Abenteuer Karls VIII. einnahm, war kein zufälliger: Die Stadt am ligurischen Golf diente nicht nur als Sammelpunkt für einen Teil der französischen Truppen. Durch einen exorbitanten Kredit des Ufficio di San Giorgio und der Familie Sauli stellte sie auch die Finanzierung der Unternehmung sicher, bevor sie die französische Armee auf ihren Galeeren bis in den Golf von Neapel brachte. Diese strategische Stellung als Durchgangsstelle und maritimes wie finanzielles Zentrum war nicht das Ergebnis einer willkürlichen Entscheidung, sondern einer – wenngleich zögerlichen und diskontinuierlichen – Konstruktion, die über das gesamte 15. Jahrhundert hinweg aus Genua ein entscheidendes Zentrum in den strategischen Planungen Frankreichs machte.

Zwischen 1396 und 1512 stand Genua drei Mal unter französischer Herrschaft: von 1396 bis 1409, von 1458 bis 1461 und schließlich von 1499 bis 1512. Aus diesen Zeiten und den sie verbindenden Zwischenräumen lassen sich klar mehrere Entwicklungen ausmachen.

So fällt zuallererst das zunehmende königliche Interesse an Genua auf. In der Tat lässt sich feststellen, dass das Interesse am Besitz Genuas sich langsam von den Fürsten auf den König verlagerte. Die ersten französischen Herrschaften über Genua waren noch keineswegs der königlichen Macht geschuldet, sondern Konsequenzen der Machenschaften einzelner französischer Fürstenhäuser und ihrer italienischen Interessen. Die komplexe Situation in der Stadt und auf der italienischen Halbinsel ausnutzend, waren es 1396 und 1458 noch die Orléans und Anjous, die Genua in die Hände des Königs trieben. Seit den 1440er Jahren jedoch lässt sich seitens Karls VII. und seiner Nachfolger eine bewusste und zielstrebige Politik ausmachen, Genua in Besitz zu nehmen und zu regieren –  wobei sie nicht zögerten, etwaig störende Fürsten hierbei beiseite zu schieben. Seitdem drängte sich Genau als Stadt mit offensichtlicher strategischer Bedeutung, derer sich die Krone bemächtigen wollte und musste, für sich selbst und um in Italien intervenieren zu können, geradezu auf. Genua wurde in gewisser Weise damit Teil der strategischen Planungen der französischen Krone, um dies fortan auch zu bleiben.

Diese Entwicklung erklärt sich einerseits durch die zunehmende Herausbildung Genuas zu einem maritimen und finanziellen Zentrum. Auch hier ist die Entwicklung chaotisch, stellten die Genueser doch schon seit langer Zeit den Franzosen immer wieder Armbrustschützen und Schiffe zur Verfügung. Während der drei französischen Herrschaftsphasen wurde Genua daher rasch den Anforderungen der Fürsten und später der großen Politik der Krone unterworfen, die bei ihren Unternehmungen unermüdlich immer wieder die gleichen Zielen verfolgte: die Landung in Neapel, der Kampf gegen Engländer und Spanier, die späten Kreuzzüge. Genua erschien hierbei unentbehrlich. Zuallererst durch seine finanzielle Macht: Die Kommune, v.a. aber der Ufficio di San Giorgio finanzierten diese Unternehmungen mehr oder weniger freiwillig. Und dann aufgrund seiner maritimen Kapazitäten: Frankreich ließ zahlreiche Schiffe in Genua chartern und auch bauen, um so seine eigenen Unzulänglichkeiten wettzumachen und mit seinen besser ausgestatteten Feinden zumindest gleichzuziehen.

Genua erweiterte damit die strategischen Möglichkeiten der Franzosen und erlaubte es ihnen, sich auf der italienischen Halbinsel einzubringen. Genua erschien wie ein französischer Brückenkopf in Italien, der über Land und über See einen einfachen Truppentransport ermöglichte. Vor allem lag von Genua aus ganz Italien offen: Mailand, Florenz und, etwas weiter, Rom wurden direkt bedroht, während die Genueser Flotte es gestattete, rasch den Golf von Neapel zu erreichen und Druck auf Venedig auszuüben. So entstand im Verlaufe des 15. Jahrhunderts allmählich ein französischer Weg durch Italien, der von Genua über Mailand, Pisa und die Toskana bis hin nach Neapel führte, und der später auch während der Italienischen Kriege wieder genutzt wurde. Mehr noch: Genua gestattete es der französischen Monarchie, die Halbinsel zu verlassen und seine Kreuzzugsträume zu verwirklichen, indem es ihr mit seiner Flotte und seinen Kontoren die Wege in den Osten öffnete.

Im Endeffekt schlug sich die zunehmende strategische Bedeutung Genuas für Frankreich auch in juristischen und institutionellen Entwicklungen wieder, welche aus Genua eine französische Stadt machen sollten. Im Laufe des 15. Jahrhundert vervielfachte sich die Zahl der juristischen Traktate, welche die Zugehörigkeit Genuas zur französischen Krone bewiesen, und auch im Sprachgebrauch schlug sich nieder, dass aus den Genuesen wahrhafte und gute Untertanen Frankreichs werden sollten.

Der Platz und die Bedeutung Genuas in den strategischen Planungen Frankreichs im 15. Jahrhundert verkörpert damit in perfekter Weise das Vorspiel zu den Italienischen Kriegen. Die Stadt erschien zunehmend als das französische Tor nach Italien, Janua Janua Italiae, deutlich machend, dass die Italienischen Kriege in keiner Weise ein spontaner Prozess, sondern eine von langer Hand vorbereitete und strukturierte strategische Bewegung waren.

Übersetzung: Torsten Hiltmann, Georg Jostkleigrewe

Informationen zu Fabien Lévy: hier

Zum Programm im Sommersemester 2013: hier

Quelle: http://jeunegen.hypotheses.org/728

Weiterlesen

Die Gefahr hinter dem Rücken der Priester

  Priester genießen im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit eine herausragende religiöse und soziale Stellung. Sie sind (im Katholizismus und der spätmittelalterlichen Kirche) Vermittler zwischen Gott und den Menschen sowie, durch die Ausgabe der Sakramente, Vermittler des ewigen Heils. Sie bilden, im Protestantismus, Pastorendynastien und einen Autoritätspunkt der Dorfgemeinschaft. Ihr Handeln berührt das Heiligste. Und doch ist die Stellung der Priester prekär, besonders in turbulenten Zeiten wie der frühen Reformation. Pfarrer wurden bis weit ins 16. Jahrhundert hinein oft aus handwerklich-bäuerlichen Schichten rekrutiert und waren in ihrer Lebensweise vom Rest des Dorfes nur zu unterscheiden, wenn sie sakrale Praktiken durchführten. Das ist besonders bei der Eucharistiefeier der Fall, aber auch bei anderen sakramentalen und liturgischen Vorgängen. Während die Priester diese Praktiken ausüben, wenden sie dem gemeinen Volk oft den Rücken zu. Sie widmen sich ganz der religiösen Handlung sowie dem heiligen oder zu heiligenden Objekt. Im Moment des Abwendens gewinnen Priester ihre soziale und sakrale Statur. Die Praktik, der Handelnde und das Objekt müssen von allen Teilnehmer/innen des Kultes als besonders “heilig” anerkannt werden. Denn wenn Kleriker dem Volk den Rücken zuwenden, verlieren sie den Überblick und die Kontrollmöglichkeit über die “untergeordneten” Teilnehmer/innen. Sie sind darauf angewiesen, dass die Religionskultur sich in diesem Augenblick selbst trägt. Andernfalls wären Verwerfungen in der Religionskultur und dem gesellschaftlichen status quo die Folge. Und genau das passiert in der frühen Reformationszeit.   Reale Präsenz Christi? Messe des Hl. Gregor im Beisein der Georgsbruderschaft-Mitglieder. Pieter Jansz Pourbus, 1559. (Martens, Maximilian P. J. (Hg.): Bruges and the Renaissance. Memling to Pourbus, Ausstellungskatalog, Ludion 1998, 204.) Ausgerechnet im bayerischen Altötting lässt sich das anhand eines Falls aus dem Jahr 1523 gut beobachten. In dem berühmten und viel frequentierten Marienwallfahrtsort hört der Rentmeister von Burghausen während einer Untersuchungsreise von skandalösen Vorkommnissen. Darüber hat er am 20.8.1523 einen kurzen Bericht an Bayernherzog Wilhelm IV. verfasst.1 Während seines Aufenthalts wurde dem Rentmeister in Altötting ein Mann angezeigt. Zwei Taten dieses Mannes, der wie der/die Anzeiger nicht namentlich genannt wird, werden in dem Bericht nach München erwähnt. Erstens habe der Mann öffentlich gegen die Wundertätigkeit Marias gesprochen. Die Gebete und Hilfegesuche nützten nichts, habe er gesagt. Die Brisanz und die sozial-kulturelle Sprengraft hinter diesem Diskurs werden verständlich, wenn man sich die religiöse und auch ökonomische Rolle von Marienpraktiken und -mobilität in Altötting um 1500 vor Augen hält. Viel schwerer wiegt aber das Handeln des Manns während einer Seelenmesse in der Altöttinger Pfarrkirche. Im Bericht des Rentmeisters heißt es: “Vener hat ain brister in der pfarkirchen im selambt gesungen. Also er sich vor dem Alltar umbkert unnd fur all glaubig selen gepet, hat diser burger gegen seinen mit burger, einen so neben sein gestannden, gered: Sich an den Narn, was dreibt er fur kleifft [in etwa "dummes Zeug", M.M.]. Es ist pueberey [Betrügerei, M.M.], kumbt den sellen nit zu hilf. Mit den unnd dergestallt worden sich grob gehallten.”2 Der Mann verleiht seiner Kritik, sicher nicht zufällig, während einer Seelenmesse Ausdruck. Seelenmessen waren um 1500 ein inflationärer Bestandteil der Zeit- und Totenkultur, ein Aspekt der religion flamboyante (Jacques Chiffoleau). Durch das Lesen einer oft großen Anzahl von Messen sollte die Zeit der verstorbenen, sündigen Seelen im Fegefeuer verkürzt werden. Die Messpraktik bildete also auch eine Art zeitlich-vertikale Kommunikations- und Affektlinie zwischen Lebenden und Toten. Diese Totenkultur lehnen Evangelische seit den 1520er Jahren zunehmend ab. Reformatorische Theologen sehen den Weg zum Heil in Glaube und Gnade, der Mensch ist dabei machtlos. Sie und immer mehr ihrer Anhänger verwerfen das Fegefeuer. In diesem Umfeld entstehen distinktiv evangelische Totenkulturen mit anderen Wissensordnungen und Praktiken, die klare Unterschiede zwischen den späteren Konfessionen entwickeln sollten.3Die ablehnende Sinnzuschreibung zur alten, nun altgläubigen Seelenmesse und der Kultur, in der diese praktiziert wird und die diese repräsentiert, drückt der Anonymus in Altötting aus durch Spott (der Pfarrer als Narr und Betrüger) und eine evangelische Deutung (Messen nützen den Seelen nicht). Wichtig ist der exakte Augenblick, zu dem der Mann diese Aspekte evangelischer Religionskultur in Worte fasst. Es ist der Moment, in dem sich der Priester zum Altar hin umdreht, um für alle gläubigen Seelen (auch die der Anwesenden) zu bitten. Er steht mit dem Rücken zum Volk, wie üblich während der Messliturgie. Nun sollte der oben skizzierte, sozial-religiöse Sakralitäts-Automatismus Umdrehen-Praktik-Objekt greifen. Doch der funktionniert eben nur in einer weitestgehend homogenen Religionskultur. Darin müssten die Messbesucher/innen zumindest äußerlich den Praktiken, Objekten und der Rolle des handelnden Priesters die gleiche Deutung und die gleiche Wirkung zuschreiben. Das Kultursystem müsste so internalisiert sein, dass es sich selbst trägt. Da schert der Anonymus in Altötting aus. Er greift die Praktik, den Zelebranden und die hinter diesen stehende, theologisch-kulturelle Wissensordnung an. Dabei verspottet er zudem die Person des “närrischen” Priesters. Der sakrale Zusammenhang wankt oder gerät in Gefahr – leider kennen wir die Reaktionen der übrigen Messbesucher nicht. Der Mann repräsentiert in dem für die altgläubig-spätmittelalterliche Religionskultur entscheidenden Moment seine in dieser Situation distinktive religiöse Zugehörigkeit und Wissenskultur. “Christus vera lux” – Seelenmessen sind in der lutherischen Totenkultur überflüssig und repräsentieren vielmehr die “andere” Seite. Holzschnitt von Hans Holbein, 1526. (Wikimedia Commons) Dies geschieht in sozialer Interaktion. Der Mann ruft die Worte nicht einfach in die Kirche, sondern sagt sie gezielt seinem Nachbarn, dessen Reaktion leider auch nicht bekannt ist. Da die Worte beim Rentmeister angezeigt werden, ist es sehr wahrscheinlich, dass es in Altötting Einzelne oder Gruppen gibt, die gegen das religiöse Wissen, die situative Differenz und deren öffentliche Manifestierung sind. Merkmale und Momente entstehender, noch sehr an einzelne Situationen gebundener, distinktiver Zugehörigkeiten, werden offenbar und sicher auch verstärkt. Dass der Bruch aber nur in Berührung, Verbindung und direkter Auseinandersetzung mit dem “Anderen” möglich ist, wird ebenso deutlich. Es gibt kein erkennbares “Eigenes” ohne das oder die “Anderen”. Dieser Prozess der ständigen, distinktiven Konstruktion und Aktualisierung – ein langsamer, diskontinuierlicher Prozess – ist typisch für die westeuropäischen Religionskulturen des 16. Jahrhunderts. In den 1520er und 1530er Jahren finden sich erste Merkmale, die von immer mehr Zeitgenossen als bezogen auf distinktive religiöse und somit soziale Zugehörigkeiten gedeutet werden. Mehr als ungewisse Ansätze lassen sich jedoch noch nicht beobachten. Sinnvollerweise ist zu diesem Zeitpunkt also von einer zusätzlichen und in bestimmten, praktischen und kulturellen Momenten distinktiv verstärkten Heterogenität der Religionskulturen zu sprechen. Hölzerne Christusfigur auf dem Esel, repräsentiert den Einzug in Jerusalem. (Das Schweizerische Landesmuseum 1898-1948. Kunst, Handwerk und Geschichte. Zürich 1948, Abb. 32.) Angriffe auf den Preister, wenn er den Rücken bei einer liturigsichen Handlung dem Volk zudreht und darauf angewisen ist, dass sich die soziale und religiöse Kultur selbst trägt, sind zudem keine Seltenheit. Über Messstörungen wird häufig berichtet, viel öfter noch über Predigtstörungen. Gefahr hinter dem Rücken der Priester droht auch bei liturigischen Handlungen am Palmsonntag. Vielfach war es vor der Reformation Brauch, an diesem Tag mit einer großen Prozession einen hölzernen Esel, auf dem eine Christusfigur reitet, in die Kirche zu schieben. Das Volk, das die Prozession begleitete oder am Wegesrand stand, schlug zu bestimmten Augenblicken mit Palmbuschen auf den Esel ein. Die Buschen erhielten dadurch eine sakramentale Funktion, nicht zuletzt deretwegen dieses Rollenspiel von den Reformatoren kritisiert und zusehends aus der evangelischen Kultur verdrängt wurde. So kommt es bei einer Palmsonntagsprozession im schweizerischen Dorf Sommeri am Bodensee zu einem Zwischenfall. Die mehrheitlich evangelischen Bewohner/innen warten den Moment der Prozession ab, in dem der (altgläubige) Pfarrer sich vor dem Esel niederlegt und die Figurenkombination anbetet. Dann schlagen sie auf den Pfarrer ein, nicht nur mit ihren Palmbuschen.4 Der Moment ist aus evangelischer Perspektive perfekt gewählt. Der Pfarrer wendet sich von der Gemeinde ab und begeht die “abgöttische” Praktik mit dem “götzenhaften” Objekt. In diesem Moment werden die Risse in der religiösen Kultur und dem sozialen Gefüge sichtbar. Wenn also in den 1520er Jahren der Priester dem Volk bei liturgischen Handlungen den Rücken zudreht, droht Gefahr: Ihm und der Religionskultur, in der er seine alten und nun altgläubigen Praktiken vollzieht. Der momentane Kontrollverlust ist ein Test dafür, ob die Religionskultur und die soziale Trennung Klerus-Laien von den Letzteren internalisiert und akezptiert ist. Devianzen, andere Kulturen, Wissensordnungen und Praktiken können hinter dem Rücken der Priester besonders gezielt und effektvoll ausgedrückt werden. Unterschiede werden sichtbar und verstärkt. Der anonyme Mann aus Altötting übrigens versuchte sich beim Verhör durch den Rentmeister mehr schlecht als recht herauszureden. Das Lavieren nutzte ihm nichts. Er wurde bis zu einer Entscheidung des Bayernherzogs vom zuständigen Hauptmann eingekerkert.
  1.  Hauptstaatsarchiv München, Kurbayern Äußeres Archiv, 4246, fol. 5r-6v.
  2. Ibid, fol. 5r-5v.
  3.  Siehe die aktuellen Forschungen zum konfessionellen Konflikt um Begräbnisstätten im 16. und 17. Jahrhundert: Luria, Keith P.: Les frontières du sacré, in: Chrétiens et Sociétés 15 (2008); Karant-Nunn, Susan C.: The Reformation of Ritual. An Interpretation of Early Modern Germany (Christianity and Society in the Modern World), London/New York 1997, 133-182; Koslofsky, Craig: ‘Pest’ – ‘Gift’ – ‘Ketzerei’. Konkurrierende Konzepte von Gemeinschaft und die Verlegung der Friedhöfe (Leipzig 1536), in: Jussen, Bernhard/Ders. (Hg.): Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch, 1400-1600 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 145), Göttingen 1999, 193-208; Brademann, Jan/Freitag, Werner (Hg.): Leben bei den Toten. Kirchhöfe in den ländlichen Gesellschaften der Vormoderne (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 19), Münster 2007. Aktuell zu Sterbekulturen in der Frühen Neuzeit vgl. Thiessen, Hillard von: Das Sterbebett als normative Schwelle. Der Mensch in der Frühen Neuzeit zwischen irdischer Normenkonkurrenz und göttlichem Gericht, in: HZ 295 (2012), 625-659.
  4.  Burg, Christian von: “Das bildt vnsers Herren ab dem esel geschlagen”. Der Palmesel in den Riten der Zerstörung, in: Macht und Ohnmacht der Bilder. Reformatorischer Bildersturm im Kontext der europäischen Geschichte, hg. v. Peter Blickle (HZ Beihefte 33), München 2002, 117-141, hier 133.

Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/518

Weiterlesen

Religiöse Zeitlichkeiten im 16. Jahrhundert

Selten wird in der westeuropäischen Religionsgeschichte die Frage nach der Zeitlichkeit so brisant wie in der Reformationszeit. Es ist eine eschatologische, ja apokalyptische Zeit. Für die einen ist der Antichrist schon auf Erden, nämlich als römischer Papst. Für die Anderen bringen die lutherischen “Vorläufer des Antichristen” den Zorn Gottes und das Ende der Welt näher. So oder so, die Welt dreht sich schneller.


Drachen und Tiere aus der “Cloister Apokalypse” (1405-08). Metropolitan Museum of Art, New York. 

Und überhaupt: die Veränderungsfrage. Selten zuvor und danach war sie so stark zeitlich aufgeladen. Veränderungen finden in der Religion des 16. Jahrhunderts statt, das ist allen Beteiligten klar. Nur der Ort und die Bewegungen der Zeitlichkeiten sind umstritten. Die Altgläubigen sehen sich als die, die beim alten Glauben – das heißt dessen Praktiken und materiellen Artefakten – bleiben. Sie bleiben in dieser Sicht in einer linearen und weder veränder- noch entwickelbaren zeitlichen Kontinuität der Religionskultur. Die halten sie für legitimiert durch die Praktik seit “uralten” Zeiten. Dabei ist ihnen nicht klar, wie sehr sich die Sinnzuschreibungen, (nun zusätzlich z.B. Konfessionen distinguierende) Bedeutungen und sicher auch Inszenierungen der tatsächlichen Praktiken verändern und nuancieren. So wird selbst-wahrgenommene Konservierung beim Blick auf das gesamte soziale Feld ebenso zur Aktualisierung.

Und natürlich kollidiert diese Zeitkultur der Altgläubigen mit jener der evangelischen “Neuerer”. Doch die verwehren sich gegen den Vorwurf der Neuheit. Im Gegenteil, sie sehen die Papisten als die wahren Neuerer, denn die hätten die urchristliche Religion mit neuen “Aufsetzungen” und “Zusetzungen” immer mehr auf die schiefe Bahn gebracht. Die Reformatoren wollen durch Veränderung bzw. “Reform” zurück zum reinen, alten, wahren Christentum, basierend auf dem “puren, lauteren Wort Gottes”. Sie sehen in den Praktiken der Christen um 1500 keine zeitliche statische Kontinuität des wahren Christentums, sondern gehen von einer stattgefundenen, qualitativen “Verschlechterung” der Religion im Fortschreiten der Zeit aus. Das macht die zeitliche Rückkehr zur wahren, alten Religion nötig. Oder vielmehr: das Wahre, Alte soll in das Jetzt geholt werden.

Nicht nur aus historischer Sicht, sondern auch in der Selbstsicht der Akteure finden im 16. Jahrhundert also “Gleichzeitigkeiten” (Achim Landwehr) bei den Zeitauffassungen statt. Altgläubige und Protestanten, ganz zu schweigen von den “radikalen” evangelischen Gruppen, leben gleichzeitig in verschiedenen, sich mitunter auch gezielt wiedersprechenden religiösen Zeiten. Und da sich Zeitlichkeiten als kulturelle Konstrukte immer dann besonders schnell wandeln, wenn sich die Kulturen, die sie hervorbringen, schnell wandeln, sind auch die Aktualisierungen der religiösen Zeitlichkeiten im 16. Jahrhundert besonders schnell – und unterschiedlich, ja gezielt antagonistisch.

Es findet eine beschleunigte Aktualisierung und Diversifizierung der Zeitkulturen statt. Diese sind dabei so plural und wiedersprüchlich wie auch der Ort von Zeit und Kultur: der Mensch.

Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/229

Weiterlesen

WikiDrucke für das 16. Jahrhundert

Hinter diesem Link verbirgt sich ein neues und, wie mir scheint, durchaus interessantes Projekt. Es handelt sich um ein Wiki, das heißt eine kollaborative Plattform mit wissenschaftlichem Anspruch. Darauf entsteht eine Art Repertorium für die Drucke des 16. Jahrhunderts, das erstmalig Beschreibung der Quelle, Informationen zu den Autoren und den Standorten der Quelle, Inhaltsübersicht, historische Einordnung und weiterführende Links – etwa zu Digitalisaten – verbindet. Initiiert wurde die Plattform von Walter Behrendt (Universität Mailand-Bicocca).

Ist diese Plattform eine Möglichkeit, ein neues, umfassenderes Repertorium von (Flug-)Schriften des 16. Jahrhunderts – auf kollaborative Art – zu erstellen?

Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/199

Weiterlesen