Die USA um 1900, Teil 2/3

Von Stefan Sasse

In Teil 1 haben wir die Außenpolitik und imperialen Ambitionen der USA in der Epoche um 1900 sowie ihre ausgeprägte Fremdenfeindlichkeit zu jener Zeit besprochen. Die imperialen Ambitionen fußten im so genannten "American Exceptionalism", also der Idee, dass die USA ein ganz besonderes Land seien, während die Fremdenfeindlichkeit der Strömung des "Nativism" zugeordnet werden kann, die eine Unvereinbarkeit von nicht-protestantischen Einflüssen mit dem American Way of Life propagierte. 

Pinkerton-Agenten beschützen Streikbrecher
Doch nicht nur Migranten erlebten furchtbare Arbeitsbedingungen bei mieser Bezahlung. Der große Aufschwung, der durch die zahlreichen Innovationen des späten 19. Jahrhunderts befeuert wurde - Elektrizität, fließendes Wasser, chemische Industrie, etc. - machte einzelne "robber barons" (Räuberbarone), wie man die großen Industriellen jener Epoche nannte, unermesslich reich. Namen wie Carnegie, Astor, Rockefeller oder Vanderbilt stehen heute noch sinnbildlich für jene Zeit. Bei den Arbeitern selbst, die in den entstehenden riesigen Fabriken schufteten, kam davon freilich wenig an. Ihre Arbeitszeiten waren extrem lang, ihre Bezahlung schlecht, ihnen konnte jederzeit gekündigt werden und sie mussten das oft diktatorische Regime der patriarchalischen Unternehmer ertragen. Jeder Versuch, eine Gewerkschaft zu gründen oder nur einer beizutreten war ein sofortiger Kündigungsgrund, und oft genug hatten die robber barons die absolute Dominanz in der lokalen Wirtschaft, so dass es kaum möglich war, einen Job zu finden wenn man erst einmal beim Streiken erwischt worden war.

Dass trotz dieser Bedingungen immer wieder heftige Streiks ausbrachen zeigt die Schwere dieser Bedingungen nur umso mehr auf. Wenn die Arbeiter sich doch einmal zu Streiks organisierten, setzten die Industriebosse aggressive Streikbrecher ein. Sie verstanden sich vor allem darauf, die verschiedenen Gruppierungen gegeneinander auszuspielen. Während normalerweise niemand auf die Idee kommen würde, Iren oder Italiener einzustellen, wurden sie als Streikbrecher gerne genommen (und die Einwanderer ergriffen die Gelegenheit in Hoffnung auf eine Festanstellung begehrlich, die freilich praktisch nie dabei herauskam), was weiter zu den Konflikten zwischen Alteingesessenen und Einwanderern beitrug und dem Nativism ständig neue Nahrung verschaffte. Zu trauriger Berühmtheit kam während dieser Streiks auch die Detektei Pinkerton. Die Agentur genoss einen finsteren Ruf, denn in ihren Diensten fanden sich die übelsten Charaktere und Schlägertypen, die gerne als Streikbrecher eingesetzt wurden. Die völlige Kompromisslosigkeit der Industriebosse führte zu ungeheuer brutalen Auseinandersetzungen. 

Pinkerton-Agenten nach der Kapitulation
Ein Beispiel dafür ist der Homestead-Streik von 1892, in dem rund 300 Pinkerton-Agenten angeheuert wurden, um einen Streik im Industriegebiet von Pittsburgh zu brechen (die Aktion wurde von gleich zwei Räuberbaronen koordiniert, Carnegie und Frick). Sowohl die streikenden Arbeiter als auch die Pinkerton-Agenten waren schwer bewaffnet, und die Pinkerton-Agenten führten eine regelrechte Landeoperation durch, um die Fabriken zurückzuerobern, die in ein Feuergefecht ausartete, das sechzehn Männer das Leben kostete (neun Streikende und sieben Pinkerton-Agenten). Die Pinkerton-Agenten wurden an den Fluss zurückgetrieben und mussten, umzingelt und ohne Fluchtmöglichkeit, kapitulieren. Die Ereignisse von Homestead nahmen die Öffentlichkeit allerdings gegen die Streikenden ein, denen die Schuld am Ausbruch der Gewalt in die Schuhe geschoben wurde. Nach dem Pinkerton-Desaster sandte der Gouverneur von Pennsylvania zwei Brigaden der Nationalgarde, um die Streikenden zu entwaffnen. Zwar war eine Eskalation in diesem Maßstab eher die Ausnahme als die Regel, zu Gewalt kam es aber bei diesen Streiks, die mangels Gewerkschaften und wegen der Kompromisslosigkeit der Industriebosse keine friedlichen Lösungsmechanismen kannten, praktisch immer. 

Doch während die sozialen Verwerfungen durch das Aufkommen der neuen Industrien und ihrer riesigen Monopolherren zu den düsteren Seiten jener Epoche gehören, muss man sich auch klarmachen welche gigantischen Umwälzungen sie im Alltag der Menschen bedeuteten. Im Rahmen von kaum einer Generation änderte sich das Alltagsleben stärker als durch den Siegeszug des PCs und des Internets. Um 1860 lebte die Mehrheit der Menschen noch auf dem Land in Holzhäusern, machte Licht mit Öllampen und bestellte den Boden, während man in der Stadt in furchtbaren Elendsquartieren lebte. Das Hauptfortbewegungsmittel waren die eigenen Füße und das Pferd. Die meisten Güter, die man konsumierte, waren selbst hergestellt oder innerhalb kleienr dörflicher Gemeinden entstanden. Um 1890 hatten sich die Reisezeiten durch die dramatische Ausbreitung der Eisenbahn um ein vielfaches verkürzt, die auch für einfache Leute erschwinglich war. Elektrische Straßenlaternen machten das Durchqueren der Stadt auch nach Sonnenuntergang halbwegs sicher möglich. Kanalisationen schafften die Fäkalien weg und reduzierten die Sterblichkeit deutlich. Eine ganze Palette neuer Behandlungsmethoden für Krankheiten war aufgekommen und erhöhte die durchschnittliche Lebenserwartung um über ein Jahrzehnt, während die Kindersterblichkeit deutlich absank. In immer mehr Haushalten war fließendes Wasser verfügbar. Billig in Massenproduktion hergestellte Kleidung und Nahrung und die deutlich gesunkenen Transportkosten machten mehr Einkommen für andere Ausgaben verfügbar, und die ersten zarten Pflänzchen des späteren Massenkonsums sprossen (es sollte eine neue Generation von Unternehmern sein, allen voran Ford, die die Macht dieses Konsums erkannten und ihre Unternehmenspolitik entsprechend gestalteten). 

Wahlkampf um die Frage des Bimetall-Standards
Die Zeit um 1900 war jedoch nicht nur von Arbeitskonflikten geprägt. Auf der volkswirtschaftlichen Ebene war ein heftiger Streit um die Frage des Finanzsystems entbrannt. Dieser hatte seinen Hintergrund in der Finanzierung des Bürgerkriegs: Der Norden hatte mit dem "greenback" erstmals eine Papierwährung (Fiat-Währung) geschaffen, die als legales Zahlungsmittel akzeptiert wurde. 1873 aber wurde der Goldstandard eingeführt, obwohl Silber ebenfalls noch (in einer Rate von 16:1) als legales Zahlungsmittel akzeptiert wurde. Die Republicans wollten jedoch auf einen reinen Goldstandard hinaus und argumentierten, dass dies die Währung deutlich stabilisieren und die Inflation bekämpfen würde. Die Democrats dagegen forderten eine Ausweitung der Silbermenge ("free silver"), um Geldknappheit zu verhindern (wenn die Goldpreise marktbedingt stiegen, neigten die Menschen dazu die Goldwährung aus dem Verkehr zu ziehen, einzuschmelzen und für den Goldwert zu verkaufen). Diese Frage erreichte 1893 eine ungewohnte Heftigkeit, als in der "Panic of 1893" eine landesweite Rezession ausbrach.

Hintergrund dieser Rezession war eine Blase im Eisenbahnbau, eine Branche, die wegen der engen Verknüpfung mit der Politik und der damit einhergehenden Korruption sowie einer Neigung zu übertriebenen Erwartungen und Börsenhypes ohnehin zu Blasen neigte. Der Zusammenbrach einer Eisenbahnunternehmung riss 1893 mehrere Banken mit den Abgrund, und landesweite Panik war die Folge. Die Menschen zogen ihr Geld aus den Banken ab, was den Geldkreislauf deutlich ins Stocken brachte, und im europäischen Ausland, vor allem im Großbritannien, wurden massiv (in Gold konvertierbare) Anlagen verkauft, was eine effektive Zahlungsunfähigkeit der USA nach sich zog. Wie immer in Wirtschaftskrisen kämpften danach mehrere Gruppierungen um die "richtige" Deutung der Geschehnisse. Im Wahlkampf 1896 kulminierte dies in einem dramatischen voter realignment (einer Wanderung von Wählern von einer Partei zur anderen). Die Republicans, die für einen rigiden Goldstandard eintraten, hatten die Kongresswahlen 1894 deutlich gewonnen und erwarteten bei den Präsidentschaftswahlen mit ihrem Kandidaten McKinley einen vergleichbar einfachen Sieg. Der Kandidat der Democrats, William J. Bryan, vertrat jedoch aggressiv die Einführung eines Bimetallstandards, der Silber zur offiziellen Währung erklären würde. Dies würde die Inflation steigern und damit vor allem zwei Gruppen helfen: den Farmern, die ihre Kredite zurückbezahlen konnten, und den Minenbesitzern, die das Silber schürften. In den Umfragen legte Bryan deutlich zu und gefährdete McKinleys sicher geglaubten Wahlsieg. 

Wahlplakat McKinleys 1896
McKinleys Wahlkampfberater Mark Hanna inszenierte daraufhin den ersten modernen Wahlkampf der Geschichte. Eine vorher nie dagewesene Summe Geld floss in den Wahlkampf (McKinley gab fünfmal so viel  Geld aus wie Bryan; heute entspräche die Summe atemberaubenden drei Milliarden Dollar). Gleichzeitig gelang es den Republicans, eine starke Allianz aus Unternehmern, Facharbeitern und wohlhabenden Farmern zu schmieden, die vor allem im Nordosten, nördlichen Mittelwesten und Westen erfolgreich war (in etwa identisch mit den Zentren der heutigen Democrats). Wahlentscheidend aber dürfte sein framing gewesen sein, also die Deutungshoheit über den Kandidaten. Es gelang McKinley, Bryans Pläne für einen Silberstandard als Inflationsgefahr darzustellen und seine eigene, am Goldstandard ausgerichtete Politik als seriös und sicher ("sound money") darzustellen, obwohl sie die Krise wohl eher verschärfte. An diesem Muster hat sich bis heute wenig geändert. Bryan verlor die Wahl knapp.

Sowohl McKinley als auch Bryan hatten eines gemeinsam: sie traten gewichtig für die Interessen der Wirtschaft ein. Die Idee einer Politik für die breite Masse brauchte noch bis zu Franklin D. Roosevelt in der Wahl 1932 (und einem erneuten voter realignment), weswegen sich an den schlimmen Zuständen für die Arbeiter wenig änderte. Die Rezession tat dazu ihr Übriges und half den Industriebossen eher, ihre Monopole zu festigen. Tatsächlich waren die riesigen Betriebe, über die die "robber barons" verfügten, inzwischen zu einem ernsthaften volkswirtschaftlichen Problem geworden. Die Monopole, etwa von Rockefellers Standard Oil, des Morgan Bankenkonglomerats, der Gould Eisenbahnsysteme oder Carnegies Eisenproduktion, waren so riesig, dass sie oft zwischen 60 und 80% Marktanteil besaßen und jede Konkurrenz ausschalten konnten. Für den Kapitalismus als solchen war diese Situation verheerend, da Monopole grundsätzlich innovationshemmend wirken und die Preise verzerren. Auch für die Arbeiter war die Situation schlecht, da es keine Alternativen und daher praktisch keine Verhandlungsmacht gab. Die Politiker jener Epoche aber hatten die Position der Unternehmer, dass jeglicher staatlicher Eingriff in die Wirtschaft Sozialismus bedeute und der Wirtschaft schade, verinnerlicht. Entsprechend erschien es zumindest als sehr unwahrscheinlich, dass sich hier etwas ändern würde. Das "vergoldete Zeitalter" (im Gegensatz zu einem goldenen Zeitalter scheint es nur golden und ist unter der Oberfläche etwas anderes) schien die Menschen langsam zu erdrücken. Erst die Ermordung William McKinleys und die folgende Vereidigung Theodore Roosevelts bedeuteten hier einen Paradigmenwechsel. 

Weiter geht's im dritten Teil.

Literaturhinweise:
Videospiel "Bioshock Infinite", das sich mit den hier besprochenen Ideen und Ereignissen auseinandersetzt und die Inspiration für diesen Artikel bot: PC, PS3, X360
Joe Fiedler - Mind in Revolt

Bildnachweise: 
Pinkerton - Joseph Becker (gemeinfrei)
Kapitulation - Dabbs (gemeinfrei)
Plakate - GOP (gemeinfrei)
McKinley Plakat - Gillespie, Metzgar & Kelley (gemeinfrei)

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2013/04/die-usa-um-1900-teil-23.html

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Die USA um 1900, Teil 1/3

Von Stefan Sasse

"American Progress": Colombia führt die Siedler, Buch unterm Arm
Um 1900 waren die Vereinigten Staaten ein ungemein widersprüchliches Land, noch viel widersprüchlicher als sie es sonst sind. Ein nie dagewesener technischer Fortschritt erreicht die breite Masse der Bevölkerung und sorgte für eine dramatische Verbesserung der Lebensbedingungen. Die Wirtschaft boomte, und jeden Tag kamen hunderte von Migranten ins Land. Die Vorstellung, dass Amerika eine weltweit einzigartige Nation war, deren Bestimmung es sein musste, die Ideale von Freiheit und Demokratie in die Welt hinauszutragen - der so genannte American Exceptionalism - mischte sich mit einer großen Welle der Religiosität, deren Triumph 1919 das Alkoholverbot der Prohibition werden sollte. Gleichzeitig aber waren die Abgründe zwischen arm und reich im Land gigantisch, lebten viele Minderheiten diskriminiert und von den Segnungen des Fortschritts ausgeschlossen und wurden die letzten großen Verbrechen an der amerikanischen Urbevölkerung, den Indianern, begangen. Im Folgenden sollen schlaglichtartig Aspekte dieser Widersprüchlichkeit der USA, die so viel mit einer ähnlichen Widersprüchlichkeit im Deutschland derselben Epoche gemeinsam hat und doch völlig andere Wege daraus findet, genauer beleuchtet werden.

Die Epoche zwischen 1890 und 1920 sah die Vervollständigung des amerikanischen Territoriums durch die Zulassung neuer Staaten zum Gebiet der USA. Die Ära des Wilden Westens, die in den scheinbar rechtlosen territories geblüht hatte, kam mit der formalen Aufnahme der Bundesstaaten Montana, South Dakota, North Dakota, Washington (alle 1889), Idaho, Wyoming (beide 1890), Utah (1896), Oklahoma (1907), Arizona und New Mexico (beide 1912) zu ihrem Ende. Das bedeutete auch das vollständige Ende der amerikanischen Urbevölkerung als frei umherziehender Stammesgesellschaft, die bereits zuvor durch die Errichtung der Reservate empfindlich eingeschränkt worden war. Mit der Aufnahme der neuen Staaten jedoch kamen das Recht der USA (für US-Bürger, was die Indianer nicht waren), ihre Polizei, die Marshalls und das Militär in jeden Winkel der USA. Da die wertvollen Gebiete der neuen Bundesstaaten das Interesse von Siedlern und Geschäftsmännern gleichermaßen weckten, wurden die Indianer ein weiteres Mal deportiert. Häufig waren ihre Zielreservate über tausend Kilometer entfernt und weder klimatisch noch kulturell in irgendeiner Weise mit ihrem bisherigen Lebensraum identisch. 

Häuptling Bigfoot tot am Wounded Knee
Der Niedergang ihrer Gesellschaft und Kultur und die Aussichtslosigkeit eines bewaffneten Kampfs gegen die Weißen führte bei den Indianern zu einer Welle von Spiritualität, der so genannten Geistertanzbewegung, die in bemerkenswerter Weise mit Wellen amerikanischer (christlicher) Spiritualität zusammenfiel. Sie hatte bereits zwischen 1860 und 1872 eine erste Blüte erlebt. Zentraler Inhalt war die Vorstellung, dass die Ahnen zurückkehren und eine Wiederbelebung der indianischen Lebensweise einleiten würden. Entgegen populärer Vorstellungen nahmen bei weitem nicht alle indianischen Gesellschaften daran teil; der Geistertanz war eine Sache vorrangig der Minneconjou-, Sioux- und Lakota-Stämme, die die großen Ebenen bewohnt hatten. Die Idee war, dass durch an die alten Jagdtänze gemahnende Geistertänze die Verbindung zwischen Diesseits und Jenseits geöffnet werden und damit den Ahnen und den Büffeln die Rückkehr ermöglicht werden könnte. Die Weißen würden dann verschwinden. Diese Protestbewegung gewann 1890 massiv an Zulauf und stellte eine insgesamt friedliche Protestbewegung dar, die die US-Regierung aber alarmierte. Sie reagierte mit Einschränkungen der ohnehin unzureichenden Lebensmittellieferungen an die Reservate und verschärften Kontrolle. Im Winter 1890 eskalierte die Situation in South Dakota am Wounded Knee, wo Soldaten der 7. Kavalleriedivision ein Massaker unter den Indianern verübten und die Geistertanzbewegung zu einem abrupten Ende brachten. Der Widerstand der Indianer war nach dem Massaker endgültig gebrochen. Ohne Bürgerrechte vegetierten sie für 80 Jahre in den Reservaten dahin, ehe in den 1970er Jahren die Sache der Indianer in der Protestkultur der Epoche einen wichtigen Stellenwert einzunehmen begann und mit der Besetzung von Wounded Knee 1973 populären Ausdruck fand. 

Diese Art der Kolonialisierungspolitik nach innen fand eine Entsprechung nach außen. Die USA, die unter Präsident Monroe bereits 1823 den Anspruch erklärt hatten, den gesamten amerikanischen Doppelkontinent zu beherrschen und von europäischen Einflüssen zu befreien, drängten aggressiv den Einfluss der letzten europäischen Kolonialmacht zurück (Kanada wurde bereits 1919 als eigenständiger Staat im Völkerbund zugelassen, obwohl es seine formale Unabhängigkeit erst 1931 erhielt), Spanien. In der Karibik sowie im Pazifik hielt Spanien noch diverse militärisch wichtige Stützpunkte auf verschiedenen Inseln, die die USA als unabdingbar für die die Durchsetzung ihres Manifest Destiny – wörtlich: unabwendbares Schicksal, die Vorstellung, dass man amerikanische Werte auf dem ganzen Kontinent ausbreiten müsse – ansahen. Im amerikanisch-spanischen Krieg von 1898 besiegten die USA spielend das veraltete Militär der auseinanderbrechenden und von inneren Zwistigkeiten gelähmten einstigen Großmacht Spanien und errichteten einen Satellitenstaat im vormals spanischen Kuba, annektierten Puerto Rico und Guam und kauften Spanien die Philippinen für 20 Millionen Dollar ab. Da die lateinamerikanischen Kolonien ohnehin bereits (zumindest de facto) von ihren einstigen iberischen Kolonialherren unabhängig waren, dominierten die USA damit den Doppelkontinent und schickten sich an, ein eigenes Kolonialreich im Pazifik zu gründen. Im Gegensatz zu Europa nannte man es allerdings nicht „Kolonien“ und plante keine so großflächigen Besitznahmen wie die Europäer das taten, sondern dachte eher in Handels- und Militärstützpunkten.

Amerikanische Truppen erklimmen die Mauern von Peking
Es überrascht nicht, dass die USA 1901 ganz selbstverständlich an der Seite der europäischen Kolonialmächte an der Niederschlagung des Boxer-Aufstands teilnahmen. Die Boxer, eine chinesische Protestbewegung gegen die westlichen Einflüsse auf ihr halb kolonisiertes und zur Bedeutungslosigkeit reduziertes Land, hatten durch Angriffe auf Botschafter Europas eine de-facto-Kriegserklärung abgegeben. In einer entfernt an die Geistertanz-Bewegung erinnernden Welle der Spiritualität (obwohl es natürlich keine Verbindung zwischen den Boxern und den Indianern gab) brachten sich die Boxer in einen Zustand spiritueller Ektase, von der sie sich Unverwundbarkeit gegenüber den Kugeln der Kolonialherrn versprachen. Das Resultat war ein Gemetzel an den Boxern und die Unterwerfung Chinas unter die Handelsinteressen Europas und, erstmals, der USA. 

Die USA begriffen sich erstmals auch in der breiteren Öffentlichkeit als eine Großmacht mit „natürlichen“ Interessen jenseits ihrer eigenen Grenzen. In den Tagen vor Beginn des Ersten Weltkriegs war die Nation äußerlich konsolidiert und hatte sich in eine aktive Macht verwandelt, mit der auf internationaler Ebene gerechnet werden musste und von der niemand klar sagen konnte, wie sie sich verhalten würde, am allerwenigsten die Amerikaner selbst. Man war sich einig darin, dass man keine „typisch europäische“ Kolonialmacht sein wollte – das Manifest Destiny sah schließlich die Verbreitung amerikanischer Werte vor – aber gleichzeitig war man überzeugt, besser als die Nationen ohne Großmachtstatus zu sein und daher das Recht auf ein Eingreifen in deren Souveränität zu besitzen und ihre Bevölkerung als minderwertig zu betrachten. 


Anti-katholische Karikatur
Genau dieser Überlegenheitsdünkel führte zu einer Bewegung namens Nativism, die bereits Mitte des 19. Jahrhunderts aggressiv Stimmung gegen Einwanderer gemacht hatte, um 1900 herum aber eine erneute Blüte erlebte. Der Nativism ging davon aus, dass einige Nationen über „besseres Blut“ verfügten als andere – besonders England, Schweden und Norwegen wurden mit positiven Eigenschaften bedacht, während Osteuropäer, Südeuropäer, Iren und Asiaten (Latinos spielten damals noch keine Rolle) negative Eigenschaften zugeschrieben wurden, die eine Vereinbarkeit mit amerikanischen Werten wenn nicht ausschlossen, so doch zumindest in Frage stellten. In einer unheimlichen Parallele zu heutigen Migrations- und Integrationsdiskursen unterstellte man den Einwanderern, dass ihre Religion – der Katholizismus – unvereinbar mit amerikanischen Werten sei und sie im Geheimen das Ziel anstrebten, die USA in einen Vasallenstaat des Vatikans zu verwandeln. Man echauffierte sich über die hohen Geburtenzahlen der Migranten und fürchtete eine Überfremdung des eigenen „Volkes“. Die Migranten seien, entweder vom Blut (Genetik war noch nicht bekannt) oder von kulturellen Werten her außerdem faul und kriminell veranlagt. Die überdurchschnittliche Repräsentation besonders der Italiener (etwa in Chicago) und Iren (etwa in Atlantic City) in der organisierten Kriminalität schien diese Annahmen zu unterstützen.

Einwanderer, die in New York die großen Auswanderungsschiffe verließen, sahen sich daher häufig bei der Arbeitssuche Schildern ausgesetzt, die in klaren Worten ihre Unerwünschtheit deutlich machten: "Irish Need Not Apply" (Iren brauchen sich erst gar nicht zu bewerben) "No Wops Allowed" (Kein Zugang für Spaghettifresser) und "The Chinese Must Go" (Die Chinesen müssen verschwinden) zeigten, dass das Versprechen, das man auf die Freiheitsstatue graviert hatte – Give me your tired, your poor, Your huddled masses (Gebt mir eure Müden, eure Armen, eure zusammengedrängten Massen) – für die Amerikaner eine Drohung geworden war. Die Migranten wurden so künstlich in eine Unterschicht gepresst, in der viele als einzigen Ausweg aus billiger, schwerer Arbeit die Kriminalität sahen, was die Vorurteile nur zu bestätigen schien. Der Aufstieg des Nativism zeigt sich auch deutlich in politischen Maßnahmen jener Zeit, wurden doch Quoten für Einwanderer festgelegt: Während es für die „erwünschten“ Ethnien wie Engländer oder Skandinavier praktisch keine Begrenzungen gab, wurden Süd- und Osteuropäer kaum mehr ins Land gelassen. 


Carl C. Brigham, um 1914
Eine weitere unschöne Parallele zu heute ist die Rolle der Wissenschaft. Auch um 1900 machten sich Gegner der Migration scheinwissenschaftliche Argumente zu eigen, um ihre Forderungen zu unterstützen. Eine traurige Berühmtheit erlangte in diesem Zusammenhang vor allem der Psychologe Carl C. Brigham. Er brachte 1915 eine Studie heraus, die die Intelligenz von Einwandern untersuchte (mit genauso dubiosen Methoden, vor allem passend zusammengestellten IQ-Tests) und offiziell feststellte: "The intellectual superiority of our Nordic group over the Alpine, Mediterranean, and negro groups has been demonstrated." (Die intellektuelle Überlegenheit der nordischen Gruppe über die alpine, mediterrane und Neger-Gruppe ist bewiesen worden.) Zur Ehrenrettung Brighams muss man sagen, dass er diese Theorien in den 1920er Jahren vollständig widerrufen hatte, was aber Politiker nicht daran hinderte, sie für die Einführung schärferer Einwanderungsgesetze 1924 zu missbrauchen. Für die Einwanderer, die bereits im Land waren, plante man eine umfassende „Amerikanisierung“. Dazu gehörten vor allem Bücher und Pamphlete, in denen die Einwanderer aufgefordert wurden, ihre bisherige Kultur aufzugeben und stattdessen die amerikanische anzunehmen – ähnlich dem heutigen Integrationsdiskurs also wurde eine totale Assimilation gefordert, eine Annahme „unserer“ Werte und ein Ablegen der „fremden“ Werte. Dass diese „amerikanischen“ Werte ebenfalls von Einwanderern verschiedenster Couleur geprägt worden waren, ist damals wie heute in der hysterischen Debatte völlig untergegangen. Während dieser „Amerikanisierungsprozess“ andauerte, steckte man die Migranten vor allem dahin, wo man sie nicht oft sehen musste und wo sie „den Wert harter Arbeit“ kennenlernen konnten: Textilfabriken, Minen und häusliche Dienstleistungen für die Oberschicht.

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Literaturhinweise:
Videospiel "Bioshock Infinite", das sich mit den hier besprochenen Ideen und Ereignissen auseinandersetzt und die Inspiration für diesen Artikel bot: PC, PS3, X360
Bildnachweise: 
American Progress - John Gast (gemeinfrei)  
Bigfoot - Department of Defense (gemeinfrei)
Peking - Department of the Army (gemeinfrei)
Karikatur - Alma Bridwell White (gemeinfrei)
Brigham - unbekannt (gemeinfrei)

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2013/04/die-usa-um-1900-teil-13.html

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aussichten Nr. 32 [31.01.2012]: Neue Einträge bei aussichten-online.net; Digest 01.01.2013-31.01.2013

novum.ach: Neues aus der Neuzeit http://www.aussichten-online.net/2013/01/3407/ https://www.facebook.com/groups/513222112055579 Unter der Rubrik novum werden fortan Informationen, Neuigkeiten, Internetressourcen etc. zu allen Bereichen der Neuzeit, d.h. der Frühen Neuzeit, der Neuesten Geschichte und der Zeitgeschichte publiziert. Die Rubrik fasst die bisherigen epochenspezifischen Kategorien zusammen. Bei den Beiträgen handelt es sich um Zweitpublikationen aus der gleichnamigen facebook-Gruppe. …………………………………………. Ein […]

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2013/01/3823/

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Ein kurzer Überblick über die Revolution von 1848

Von Stefan Sasse

Lithographie der Barrikadenkämpfe in Berlin, März 1848
Die Revolution von 1848/49 war ein epochemachendes Ereignis in Europa. Dabei spricht bei einer oberflächlichen Betrachtung nur wenig für diese Interpretation: sowohl in Frankreich als auch im Deutschen Bund schuf die Revolution erst einmal nur wenig Bleibendes: Frankreichs zweite Republik wich nach nur kurzer Zeit der Regentschaft eines neuen Kaiser Napoleon, während das kurzlebige Paulskirchenparlament im Deutschen Bund kaum ein Jahr alt wurde. In beiden Fällen kamen danach wieder alte Eliten an die Macht und versuchten ihr bestes, an die Restaurationspolitik des Vormärz anzuknüpfen. 

Diese Restaurationspolitik nahm ihren Ursprung im Wiener Kongress 1814/15, in dem die Großmächte (minus das gegnerische Frankreich) über die politische Ordnung nach der unvermeidlichen Niederlage Napoleons nachdachten. Schnell wurde klar, dass die politischen Rechte, die weiten Volksschichten im Zuge der napoleonischen Reformen zugutegekommen waren und die das Volk immer vehementer einforderte, von keinem der Fürsten gewünscht waren und schnell wieder beseitigt werden sollten. Wem das 1815 noch nicht deutlich vor Augen stand, der musste nur das Wartburgfest 1817 beobachten, auf dem radikale Studenten die Errichtung eines deutschen Nationalstaats forderten, der auf einer Verfassung beruhte – ein klarer Angriff auf die Souveränität der Fürsten, die entsprechend 1819 die Karlsbader Beschlüsse einführten, mit denen sie die Presse und das junge Verlagswesen einer allgemeinen Zensur unterwarfen und die politische Opposition unterdrückten, ein Muster, das sich durch die gesamte Restaurationszeit zog (besonders gut sichtbar 1832/34 mit dem Hambacher Fest und einer weiteren Verschärfung der Beschlüsse). 

Notleidende schlesische Weber, 1848
1848 jedoch, nach einer Periode ungewöhnlicher wirtschaftlicher Not, entluden sich die aufgestauten Spannung explosionsartig in Frankreich, wo die Herrschaft der Bourbonen endgültig beendet wurde. Von dort schwappte der revolutionäre Geist, wie bereits 1789/90, schnell in die westdeutschen Gebiete über. In Baden, das einer der wenigen deutschen Verfassungsstaaten war, forderte Daniel Bassermann in der dortigen zweiten Kammer die Einberufung einer Nationalversammlung, die über eine gesamtdeutsche Verfassung und einen deutschen Staat beraten solle. Die Forderung fand Gehör vor allem, weil die Fürsten des Deutschen Bundes alle Hände voll damit zu tun hatten, revolutionäre Bewegungen in ihren Ländern niederzuhalten: So hatte es im März 1848 Barrikadenkämpfe in Berlin gegeben, und der preußische König war gezwungen worden, den Gefallenen seine Reverenz zu erweisen. Auch in Österreich war die Lage dramatisch, wo der Kaiser zudem mit Separationsbestrebungen zu kämpfen hatte. 

Unter einem ungewöhnlich gleichen und freien Wahlrecht wurden Abgeordnete für die Nationalversammlung in Frankfurt bestimmt, die nun eine ganze Reihe von Herausforderungen theoretischer und praktischer Art vor sich hatten. Man tut den Revolutionären kein Unrecht an, wenn man ihnen bescheinigt, die theoretischen Probleme gut im Blick gehabt zu haben, jedoch die praktischen sträflich vernachlässigt zu haben (was Bismarck später zu seiner „Blut und Eisen“-Bemerkung veranlasste). Diese praktischen Probleme betrafen vor allem dir realpolitische Durchsetzung von gefassten Beschlüssen, für die es kaum Machtmittel außerhalb der etablierten bundesstaatlichen gab, die fest in der Hand der Fürsten waren. Dies zeigte sich im Sommer 1848 exemplarisch am Krieg gegen Dänemark, den die Nationalversammlung zwar enthusiastisch begrüßte, der aber von Preußen praktisch souverän geführt und vor allem beendet wurde, was den Abgeordneten wie auch den Fürsten die Impotenz der Nationalversammlung eindrücklich vor Augen führte. 

Frankfurter Nationalversammlung, 1848
Die theoretischen Probleme dagegen waren wohl umrissen. Sie umfassten die zukünftigen Grenzen des deutschen Nationalstaats – vor allem, ob und in welcher Form Österreich dazugehören würde -, die Regierungsform und die Frage des Staatsoberhaupts. Die Abgeordneten waren sich in diesen Fragen keinesfalls einig. In Ermangelung von Parteien, die es damals noch nicht gab und die auch ein verabscheutes Konzept darstellten, fanden sich geistesverwandte Abgeordnete zu informellen „Stammtischen“ in örtlichen Gaststätten zusammen, nach denen diese Fraktionen auch den Namen erhielten – Casino, Deutscher Hof, Augsburger Hof, Milani, etc. – die eine wesentlich offenere Struktur als die späteren Parteien aufwiesen. Wechsel und Spaltungen waren an der Tagesordnung, und eine Art Fraktionszwang fehlte völlig. Trotz dieser und anderer Herausforderungen (das Parlament bearbeitete in seinem runden Jahr Bestehen über 1000 Bürger-Petitionen) erreichte die Nationalversammlung Arbeitsfähigkeit in all diesen Fragen. 

Die Schmähung als reines Redeparlament erklärt sich aus der anhaltenden Schwäche durch die mangelnden Durchsetzungsmechanismen. Als die örtlichen Revolutionen – die den liberalen Abgeordneten selbst ein Dorn im Auge waren – von den Fürsten nach und nach niedergeschlagen wurden, schwand deren aus der Furcht gespeiste Kooperation mit der Nationalversammlung. Der preußische König etwa gestand seinem Volk aus eigener Machtvollkommenheit eine Verfassung zu, während der österreichische Kaiser Wien zurückeroberte und zahllose Revolutionäre hinrichten ließ, darunter auch den Frankfurter Abgeordneten Robert Blum, der eigentlich durch die parlamentarische Immunität geschützt war – ein klarer und bewusster Affront. 

Karikatur auf die Bestrebungen der Schaffung eines Staates
Die Nationalversammlung musste unter dem Druck der Realität von großdeutschen Plänen Abschied nehmen und sich auf eine kleindeutsche Lösung besinnen, was jede Halteschranke nationalistischen Überschwangs entfernte und die Minderheiten innerhalb der Reichsgrenzen auf einen Germanisierungskurs zwang. Die Demokraten und Republikaner, gegenüber den gemäßigten Liberalen hoffnungslos in der Minderheit, akzeptierten in einem großen Kompromiss eine konstitutionelle Monarchie und gaben ihre republikanischen Hoffnungen auf. Im Gegenzug garantierte die neue Verfassung Bürgerrechte und implementierte ein allgemeines, gleiches und geheimes Wahlrecht – für die damalige Zeit ein außerordentlicher und revolutionärer Schritt. In einer letzten Anpassung an die realpolitischen Gegebenheiten sandte die Nationalversammlung eine Delegation zum preußischen König, um ihm die Krone für das so geschaffene neue Staatsgebilde anzutragen. 

Dessen Ablehnung des „Reifs aus Dreck und Letten“ bedeutete das endgültige Scheitern der Revolution, die auch durch die Abspaltung eines republikanisch gesinnten „Rumpfparlaments“, das, viel zu spät, die Revolution noch einmal entfachen und in den Dienst der neuen Verfassung stellen wollte, nur noch einmal kurz aufloderte, ehe sie in Stuttgart von preußischen Truppen endgültig niedergeschlagen wurde. 

Verfassungsschema Paulskirchenverfassung, 1849
Trotzdem diesem offenkundigen Scheitern kann die Revolution selbst nicht als völliger Fehlschlag angesehen werden. Die spätere Reichsgründung „von oben“ erwies sich als spannungsgeladenes Gebilde, das schließlich ein einem Sturm aus „Blut und Eisen“ einem weiteren Versuch der Staatsgründung „von unten“ weichen musste, und viele Ideen von 1848 – die Grundrechte und der Föderalismus, um nur zwei zu nennen – bestimmen unsere heutige bundesrepublikanische Gegenwart, während die Blut-und-Eisen-Ideologie der Fürsten mitsamt ihrem Gottesgnadentum im Nebel der Geschichte versinken. Die Ideen von 1848 erwiesen sich ultimativ als wirkmächtiger als die Ideen von 1871.

Literatur:
Dieter Hein - Die Revolution von 1848/49
Frank Engehausen - Die Revolution von 1848/49 
Mike Rapport - 1848: Revolution in Europa
Frank Lorenz Müller - Die Revolution von 1848/49  
Claudia Liebeswar - Die Revolution von 1848

Bildnachweise: 
Barrikaden - unbekannt (gemeinfrei)
Weber - Carl Wilhelm Hübner (gemeinfrei)
Versammlung - Leo von Elliott (gemeinfrei)
Karikatur - unbekannt (gemeinfrei)
Schema - CyborgMax (CC-BY-SA 3.0)

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2012/12/ein-kurzer-uberblick-uber-die.html

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aventinus nova Nr. 41 [24.11.2012]: Die Macht des Bürgertums im 19. Jahrhundert – Auswirkungen des bürgerlichen Wertesystems auf die Gesellschaft [= Skriptum Ausg. 2/2011]

http://www.aventinus-online.de/neuzeit/allgemeines/art/Die_Macht_des_B/html/ca/view Der Artikel zeigt, inwiefern der neue ‘bürgerliche Wertehimmel’ die soziale Praxis des Bürgertums im 19. Jahrhundert tatsächlich beeinflusste und welchen Faktor er innerhalb der Gesellschaft spielte. Das Verhalten folgte übergeordneten Handlungsprinzipien und hatte ihre Verwirklichung zum Ziel.

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2012/11/3621/

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(H-Soz-u-Kult): Job 10 x 0,5 Doctoral Positions “Diversity: Mediating Difference in Transcultural Space” (Univ. Trier)

From: Raphael Konietzny Date: 12.11.2012 Subject: Job: 10 x 0,5 Doctoral Positions "Diversity: Mediating Difference in Transcultural Space" (Univ. Trier) University of Trier, Trier, Montréal, 01.04.2013 Bewerbungsschluss: 31.12.2012 The International Research Training Group (IRTG) "Diversity: Mediating Difference in Transcultural Space", funded by the German Research Foundation (DFG), accepts applications for 10 doctoral research positions (TVL […]

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2012/11/3588/

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aventinus nova Nr. 40 [30.08.2012]: Strukturwandel des deutschen Nationalismus? Die Haltung der Frankfurter Nationalversammlung zu den nationalen Minderheiten

http://www.aventinus-online.de/neuzeit/restauration-und-revolution-1815-1849/art/Strukturwandel/html/ca/23459c6708aa5dda19b5c88b42239296/?tx_mediadb_pi1%5BmaxItems%5D=10 Der Beitrag will herauszufinden, inwieweit man schon für die Jahre 1848/49 von einem Strukturwandel des deutschen Nationalismus sprechen kann. Für dieses Vorhaben ist es besonders gut geeignet, die Haltung der Paulskirchenabgeordneten zu den nationalen Minderheiten zu betrachten.

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2012/08/3163/

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Die Geschichte des "Supreme Court of the United States", Teil 1/3

Von Stefan Sasse

Wappen des Supreme Court of the United States
Nach der Gründung der Vereinigten Staaten und der Verabschiedung der Verfassung schwebte die junge amerikanische Republik in dem typischen Schwebezustand, in dem sich neue Staatswesen immer befinden. Eine Verfassung war zwar verabschiedet, mit hehren Prinzipien, in Artikel gegossen, aber wie diese sich in der Realität bewähren würden war noch völlig offen. Es ist ein Problem eines jeden neuen politischen Systems, dass die Rolle der einzelnen Institutionen und Akteure noch nicht klar ist. Das Grundgesetz etwa weist Parteien und Bundeskanzler keine so herausragende Rolle zu, wie diese sie in der bundesrepublikanischen Realität haben. Als die US-Verfassung vorlag, war das Verhältnis der Bundesstaaten zur Zentralregierung ebenso ungeklärt wie die Kompetenzen des Präsidenten oder des Kongresses. Niemand dachte damals jedoch daran, dass der Supreme Court of the United States, den zu schaffen die Verfassung vorschrieb, eine besonders wichtige Rolle einnehmen würde. Als Thomas Jefferson sein Amt als dritter Präsident mit der offiziellen Agenda einer Stärkung der Einzelstaaten antrat, lehnte er eine dominante Stellung von Bundesorganen ab. Am Ende seiner Amtszeit aber mussten sich Exekutive und Legislative dem Primat der Judikative bereits beugen. Seit diesen Tagen an der Dämmerung des 19. Jahrhunderts hat der Supreme Court im Guten wie im Schlechten die Geschichte der USA maßgeblich mitbestimmt. Dieser Artikel soll die Geschichte dieser Institution nachzeichnen, ihre wichtigsten Entscheidungen, die Bedeutung, die diese hatten, und sich der Frage widmen, wie der Supreme Court eigentlich zu bewerten ist.


Bevor die eigentliche Geschichte besprochen werden soll, einige Worte zur Funktionsweise des Supreme Court. Aktuell besteht er aus neun Richtern, darunter ein Vorsitzender. Entscheidungen werden mit einfacher Mehrheit gefällt. Die Richter werden vom Präsidenten ernannt (und vom Senat bestätigt) und dienen auf Lebenszeit oder bis sie zurücktreten (theoretisch können sie wie Präsidenten in einem ordentlichen Verfahren ihres Amtes enthoben werden, aber das passierte bisher nicht). Ein geflügeltes Wort besagt daher, dass die Ernennung von Richtern an den Supreme Court die dauerhafteste Maßnahme darstellt, die ein Präsident durchführen kann. Die Richter bleiben für gewöhnlich eine lange Zeit im Amt. Gegen Entscheidungen des Supreme Court kann keine Berufung eingelegt werden. Oftmals wirken ihre Entscheidungen über Jahrzehnte nach und stellen Präzedenzfälle dar, anhand derer sich die nachgeordneten Gerichte orientieren.

John Marshall, 1831
Wie bereits eingangs skizziert deutete zu Beginn wenig auf die Stellung des Obersten Gerichts hin. Sowohl George Washington als auch John Adams brachten ihre Amtszeiten ohne große Einmischung des Supreme Court hinter sich; der einzige größere Fall („Chisholm v. Georgia“) wurde durch den elften Verfassungszusatz hinfällig. Es war überhaupt nicht klar, welchen Geltungsbereich das Gericht überhaupt hat. Durfte das Gericht auf eigene Initiative tätig werden? Konnten Entscheidungen nur auf Anfrage getroffen werden? Und wer durfte diese überhaupt verfassen? Lag die Gerichtsbarkeit nicht eher bei den Einzelstaaten? Die generelle Unsicherheit und Irrelevanz des Supreme Court endeten mit dem Amtsantritt John Marshalls 1801. Marshall ist eine der prägendsten Figuren der US-Geschichte, einer dieser Typen, denen es an Selbst- und Sendungsbewusstsein nicht mangelt und die eine Lücke als Chance und weniger als Hindernis begreifen. Wäre er ein Cowboy, hätte er irgendeine Stadt unter seine Kontrolle gebracht und wäre Sheriff geworden. Er war aber Vorsitzender des obersten Gerichts der Vereinigten Staaten.

Marshall war entschlossen, den Supreme Court zum letztinstanzlichen Rechtsprechungsinstrument auszubauen. Damit stieß er aber genau in den Konflikt des gerade entstehenden ersten amerikanischen Parteiensystems hinein, die Auseinandersetzung zwischen den Federalists und den Democrats (nicht identisch mit den heutigen Democrats). Die große und bis heute andauernde Auseinandersetzung um die Frage, wie viele Rechte die Bundesstaaten gegenüber der Bundesregierung haben, war die entscheidende Wasserscheide für politisch Aktive zur damaligen Zeit. Wenn Marshall, dem mit Jefferson ein (zumindest rhetorisch) entschiedener Verfechter der Rechte der Einzelstaaten als Präsident gegenüberstand, dem Supreme Court also eine entscheidende Stellung einräumen wollte, so musste er geschickt zwischen beiden Lagern lavieren. Er konnte es sich nicht leisten, eines zum Feind zu haben, das den Court bei der ersten Gelegenheit beseitigen würde. Diese Gefahr war durchaus real, das hatte die „Revolution of 1800“ deutlich gezeigt, bei der zum ersten Mal überhaupt die Macht friedlich auf die Opposition übergegangen war. Nichts sprach dagegen, dass dies nicht vier Jahre später erneut geschehen würde, oder sogar früher, wenn sich die Mehrheiten im Kongress entsprechend änderten.

William Marbury
Die Gelegenheit für einen Coup kam für Marshall schnell. John Adams hatte, nachdem er die Wahl 1800 verloren hatte, in dem halben Jahr bis zur Inauguration Thomas Jeffersons noch diverse Richter- und andere Verwaltungsposten gefüllt, um seine Politik gegen Jefferson abzusichern, da er dann mit Personal regieren musste, das Adams‘ Vorstellungen anhing.. Diese Ernennungen - die so genannten "Midnight appointments" - brauchten nur noch die förmliche Überstellung der Urkunden, um gültig zu werden. Adams wie auch die Ernannten gingen davon aus, dass dies reine Formsache war. Jefferson dagegen hielt die Auslieferungen als erste Amtshandlungen auf. Die Urkunden blieben schlicht in der Schublade liegen. Einer derer, die so um ihren Posten gebracht wurden, war William Marbury. Er klagte vor dem Supreme Court gegen die Nicht-Zustellung der Ernennung. Das ist der Hintergrund der berühmten "Marbury v. Madison"-Entscheidung.

Der Fall klingt soweit nach einer reinen Formalie und nicht gerade dazu angetan, grundlegende Bedeutung zu erlangen. Dieser Gedanke verfliegt auch beim Lesen des Urteils nicht. Marshall teilte es vereinfacht gesagt in drei Punkte ein: 1) Hatte Marbury Klagerecht? 2) Ist seine Klage berechtigt? 3) Hatte Marbury Klagerecht vor dem Supreme Court? Diese Aufteilung und deren Reihenfolge ist überraschend, denn vieles war gar nicht gefragt. Interessant war ja eigentlich nur Punkt 2. Marshall beantwortete Fragen 1) und 2) trotzdem schnell mit ¨ja¨ und ging danach zu Frage 3 über, wo es wieder sehr formaljuristisch wird. In Kürze: der Supreme Court besitzt einen Zuständigkeitsbereich, der knapp in der Verfassung definiert wird. Insgesamt ist er aber recht unklar. Marshall argumentierte, dass Marbury nicht das Recht hatte, vor dem Supreme Court zu klagen. Stattdessen hätte er vor einem lokalen Gericht klagen und gegebenenfalls in Revision gehen müssen.

Der Sitz des Kongresses, das Kapitol, 1841
Die Sprengkraft hinter dieser Entscheidung liegt zwischen den Zeilen. Marshall definierte nämlich die Zuständigkeit des Supreme Court und begründete sein Urteil damit, dass es dem Kongress NICHT gestattet war, seinen Zuständigkeitsbereich eigenständig zu definieren. Stattdessen etablierte Marshall das bis heute gültige Prinzip des "judicial review" - der Supreme Court ist letztinstantlich verantwortlich für alle Verfassungsfragen. Jefferson erkannte die Sprengkraft dieses Urteils, aber ihm waren die Hände gebunden - Marshall hatte ihn ausmanövriert, denn politisch hatte Jefferson den Sieg davon getragen. Adams´ Ernennungen wurden nie mehr ausgeliefert. Für die Rechte der Einzelstaaten, als deren Advokat sich Jefferson verstand, war das trotzdem ein herber Schlag, genauso wie für die Exekutive selbst. Der Supreme Court hatte sich quasi selbst neu erschaffen. Der Kongress würde einen Fall niemals seiner Zuständigkeit entziehen können.

Marshall blieb bis 1835 Vorsitzender des Supreme Court. In dieser Zeit fielen viele Entscheidungen, die die hervorgehobene Stellung des Bundes gegenüber den Einzelstaaten zementierten, besonders die recht großzügige Auslegung der so genannten "commerce clause", die dem Kongress die Möglichkeit gibt, den Handel zu regulieren, sofern er mehr als einen Bundesstaat involviert (und in der aktuellen Entscheidung über Barrack Obamas Gesundheitsreform eine entscheidende Rolle spielte) und die Feststellung der Dominanz von Bundesrecht über Staatenrecht. Der Supreme Court fällte überdies vergleichsweise viele Entscheidungen ("judicial activism").  Dies sollte sich unter dem nächsten Vorsitzenden Roger B. Taney, der die Position bis 1864 innehatte, ändern.

Roger B. Taney
Taney empfand eine zurückhaltendere Rechtsprechung, die mehr Kompetenzen bei den Einzelstaaten beließ und die Entscheidungen möglichst untergeordneten Gerichten überließ, für angebracht ("judicial restraint"). Entsprechend gab es unter Taney weniger einschneidende Entscheidungen. Eine allerdings war von geradezu epochaler Bedeutung, da sie das Land einen entscheidenden Schritt in Richtung Bürgerkrieg brachte. Diese Entscheidung war "Dredd Scott v. Sandford" von 1857. Der Sklave Dredd Scott klagte vor dem Supreme Court, dass er frei sein müsse, da er sich lange in einem sklavenfreien Staat aufgehalten habe. Hintergrund ist der Missouri-Compromise von 1820, der vorsah, dass neue Territorien südlich des 36. Breitengrads Sklavenhalter-, die nördlich sklavenfreie Staaten sein sollten. Dred Scott argumentierte, dass er durch den Aufenthalt in einem Land, in dem Sklaverei verboten war, selbst frei geworden sei. Taneys Gericht dagegen wies die Klage mit einer bemerkenswerten Begründung ab: 1) Schwarze könnten keine Bürger der USA sein und seien somit nicht klageberechtigt 2) Der Missouri-Compromise sei verfassungswidrig 3) Der Staat könne keine Sklaven befreien, da dies ein Eingriff in das Recht auf Eigentum (fünftes Verfassungszusatz) sei. Taney hatte gehofft, mit dieser Entscheidung für Klarheit zu sorgen und den Graben, der sich wegen der Sklavenfrage in der Union aufgetan hatte, schließen zu können. Schließlich lieferte er ja eine rechtlich einwandfreie Regelung ab. Stattdessen wurde das Dred-Scott-Urteil zum rallying cry des abolitionistischen Nordens. Im Bürgerkrieg selbst traten solche Fragen deutlich in den Hintergrund. Es ist jedenfalls nicht anzunehmen, dass Lincoln sich allzuviel um Taneys Gedanken scherte, als er 1862 mit der Emancipation Proclamation die Sklaverei in allen aufständischen Staaten abschaffte.

Mitten im Bürgerkrieg ernannte Lincoln einen neuen, entschieden abolitionistischen Vorsitzenden, Salmon P. Chase. Chase war unter anderem für mehrere Entscheidungen verantwortlich, die die Ansicht Lincolns bestätigten, dass die Union unteilbar sei und zementierten so die rechtliche Auffassung des siegreichen Nordens, eine juristische Ansicht, die bis heute nicht revidiert worden ist und die auch keine entschiedenen Gegner kennt. Sowohl Chase als auch seine Nachfolger Morrison Waite und Melville Fuller waren zudem hauptsächlich mit der Herausforderung konfrontiert, den vierzehnten Verfassungszusatz, der die Diskriminierung aufgrund von Rasse untersagt, mit Leben zu füllen. Diese Zeit des Supreme Court ist die wohl schändlichste bislang, fällt in diese doch die "Plessy v. Furgeson"-Entscheidung, die wohl besser unter dem berühmt-berüchtigten Zitat des "seperate but equal" bekannt ist. Nicht nur entschied der Supreme Court, dass der Staat Privatpersonen die rassistische Diskriminierung nicht verbieten könne. Mit "seperate but equal" legte er fest, dass die Ungleichbehandlung keine Verletzung des Gleichheitsanspruchs darstelle - eine Entscheidung, die heute nur noch Kopfschütteln auslöst. Das direkte Resultat waren getrennte Sitze in Bussen, unterschiedliche öffentliche Toiletten, getrennte Schulen, und so weiter und so fort. Die Rassentrennung stellte die effektivste Möglichkeit der Diskriminierung der Schwarzen für Jahrzehnte dar und feierte in Südafrika auch nach ihrem Ende in den USA eine ganz eigene Blüte, die erst in den 1990er Jahren ihr Ende fand. In den USA sollte es noch 70 Jahre dauern, bis diese Entscheidung revidiert wurde. Ein interessantes Detail am Rande ist, dass „Plessy v. Ferguson“ mit 8:1 Stimmen gefällt wurde - die häufige Kritik am Supreme Court, dass entscheidende Fragen mit 5:4-Mehrheiten kaum legitimiert seien, verliert angesichts einer solchen mit klarer Mehrheit getroffenen schlimmen Entscheidung deutlich an Überzeugungskraft. Die von John Marshall Harlan verfasste Minderheitenmeinung zum Urteil wurde darüberhinaus zur Inspirationsquelle für die Bürgerrechtsbewegung - er war der Einzige, der gegen das Urteil gestimmt hatte.

Teil 2 folgt.  

Bildnachweise: 
Siegel -  SCOTUS (gemeinfrei)
Marshall - Henry Inman (gemeinfrei)
Marbury - unbekannt (gemeinfrei)
Capitol - John Plumbe (gemeinfrei)
Taney - George Peter Alexander Haley (gemeinfrei)

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2012/07/die-geschichte-des-supreme-court-of.html

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Einblicke in die Strafvollzugsgeschichte

So lange es Verbrechen gibt, so lange gibt es auch Gefängnisse. Weit gefehlt! Das Gefängniswesen so wie wir es in unserer heutigen Zeit kennen, ist relativ neu. Gewisse Ansätze des Gefängniswesens sind zwar schon in der Antike bekannt: Zum Beispiel wird in der Bibel von mehreren Gefängnissaufenthalten von Paulus gesprochen, jedoch waren das keine Freiheitsstrafen, die vom Staat vollzogen wurden. Solche Haftaufenthalte dienten vielmehr zur Aufbewahrung des Täters bis zur Aburteilung oder Hinrichtung.1

Auch im Mittelalter wurden keine Freiheitsstrafen durchgesetzt, denn das Strafsystem sah ausschließlich sogenannte Leib- und Lebensstrafen (Prügel- und Todesstrafe) vor. Auch den heutigen Grundgedanken der Besserung und Wiedereingliederung von Straftätern gab es nicht. Zwar gab es Gefängnisse in Klöstern, aber  auch diese dienten keiner Besserung, sondern allein der Sanktion durch Umkehr und Buße von Nonnen und Mönchen. Weiterhin dienten andere Gefängnisse allein zu Folter- oder Hinrichtungszwecken.

Erst im späten 16. Jahrhundert entstanden in vielen europäischen Ländern Arbeits- und Zuchthäuser, in denen unter anderem Bettler und Landstreicher eingesperrt wurden. Eines der ersten und „modernen“ Zuchthäuser war das Amsterdamer Tuchthuis von 1596, welches das Gefängniswesen revolutionierte. Hier traf zum ersten Mal die Besserung der Straftäter in den Vordergrund und verdrängte den Vergeltungsgedanken.2Durch harte Arbeit sollten die Gefangenen an ein anständiges Leben in Freiheit gewöhnt werden. Des Weiteren erteilte man den Gefangenen Unterricht um ihre Chancen auf ein späteres gesellschaftlich-angesehenes Leben zu erhöhen. Die Ursache für diese Entwicklung „war im Wesentlichen die soziale, religiöse und  wirtschaftliche Situation. Die stetig wachsende Kleinkriminalität konnte nicht mehr nur durch die Vollstreckung von Leibesstrafen begegnet werden – gefordert war eine andere Reaktionsform“3.

Um 1790 entstand in den Vereinigten Staaten ein neues Gefängnissystem: Das Pennsylvanisches System oder auch „Separate System“ genannt. Dies bedeutete für alle Insassen strenge Einzelhaft, ohne Möglichkeit zu arbeiten. Es wurde daraufhin auch das „solitary-system“ genannt.4 Jeder Häftling war komplett abgeschottet und getrennt von anderen Insassen. (Architektonisch stand dieses Modell konträr zum Modell des Panoptikums, bei dem der Wärter aus der Mitte des kreisförmigen Gefängnisbaus Augenkontakt zu jedem der Häftlinge hatte, weil die Zellen sich im Kreis um den Wärterposten formierten). Weiterhin hatten im Pennsylvanischem System  die einzelnen Insassen nur Kontakt zu den Wärtern, mit denen es jedoch verboten war zu reden. Insgesamt hatten die Insassen immer zu schweigen. Die Wärter kannten auch weder die Namen noch die verübten Straftaten der Insassen. In den Zellen gab es jeweils nur die Bibel zu lesen (andere Bücher waren verboten). So sollte den Insassen zur inneren Einkehr geholfen werden. Allerdings wurde damit oftmals das Gegenteil erreicht: Viele Insassen wurden apathisch und psychisch krank und versuchten Suizid zu verüben. Dieses System wurde später von ca. 300 anderen Gefängnissen weltweit nachgeahmt, jedoch musste es im Laufe der Jahre modifiziert werden, da es dem Staat zu teuer wurde Insassen in Einzelhaft ihre Strafe abbüßen zu lassen.

Eine Modifizierung dessen ist das sogenannte „Auburn System“: Es folgte eine gemeinsam verrichtete Arbeit mit Schweigegebot,5  bei sonstiger Isolation. Diese Methode wurde auch das „silent system“6 genannt. Nicht die Stille und die Einsamkeit sollen den Straftäter zur Einkehr bewegen, sondern die schwere Arbeit.  Zwei weitere Merkmale des Systems waren die einheitlichen Uniformen, die jeder Häftling tragen musste und der „Lockstep“, das bedeutet, dass die Füße der Häftlinge mit seinen vorderen und hinteren Nachbarn verbunden wurden und sie sich nur im Gleichschritt fortbewegen konnten.

Doch auch dieses System wurde als unmenschlich angesehen und zum Ende des 19. Jahrhunderts in den USA fast vollständig abgeschafft. Eine neue Art des Gefängniswesens brachte der „Stufenstrafvollzug“ oder auch „Englisches Progressivprogramm“ genannt. Dieser sah drei Stufen für den Häftling vor. Als erstes neun Monate Einzelhaft mit harter Arbeit, aber auch Unterricht und Zuspruch. Bei guter Führung kam der Häftling in die Gemeinschaftshaft, auch dort musste er weiterhin Arbeit verrichten. Zudem konnte er durch ein „Mark-System“ sich weitere Marken verdienen oder sie wurden ihm bei schlechtem Benehmen entzogen, das heißt dass er auch wieder in die unterste Stufe degradiert werden konnte. Die dritte Stufe sah eine frühzeitige Entlassung vor. In Deutschland wurde der Stufenstrafvollzug aufgrund der Machtübernahme Hitlers nicht mehr eingeführt.7

Heutzutage wird in den meisten westlichen Ländern der „Individualvollzug“ durchgeführt, der im Gegensatz zum Stufenmodell noch variabler ist und auf jeden einzelnen Gefangenen genau abgezielt werden kann, zumindest in der Theorie.

Was aus der sogenannten früheren Zeit der Strafvollzugsgeschichte geblieben ist, ist die Tatsache, dass das Gefängnis auch heute noch als Hinrichtungsort dient.

Insgesamt erkennt man die sich ständig veränderte Funktion des Gefängnisses. Zunächst als Ort der Verwahrung vor der Verhandlung oder Hinrichtung entwickelte sie sich zum zentralen Strafinstrument. Dies geschah oftmals aus gesellschaftlichen und ökonomischen Gründen. Erst relativ spät setzte die Entwicklung hin zum Resozialisierungsvollzug ein. Auch heute noch wird die Institution Strafvollzug modernisiert und entwickelt. In Deutschland wurde 2007 in Hessen das erste Gefängnis (teil-)privatisiert8. Was in den Vereinigten Staaten völlig normal scheint, ist in Deutschland umstritten. Natürlich wirft diese Entwicklung der Privatisierung von Gefängnissen viele Fragen auf. Allen voran jedoch die Frage danach inwieweit dadurch der Grundgedanke der Besserung und Wiedereingliederung für die Produktivität und Effizienz der Gefängnisanstalten aufgehoben werden soll?

Exkurs: Eine Welt ohne Gefängnisse?

Aktuell gibt es auch einige Befürworter der Abschaffung der Gefängnisse.  In der Sozialkriminologie nennt man diesen theoretischen Ansatz Abolitionismus (lat. für Abschaffung). Damit ist der absolute Verzicht auf Gefängnisse und totale Institutionen gemeint. Des Weiteren wird auch die Abschaffung des Strafrechts gefordert. Zu ihren bedeutendsten Vertretern gehören u.a der deutsche Kriminologe Sebastian Scheerer sowie der niederländische Soziologe Louk Hulsman.

Als totale Institution definiert Erving Goffman eine Anstalt in der alle Lebensäußerungen eines Menschen von außen geregelt und zu kontrolliert werden. Als Beispiel nennt er dabei Klöster oder eben Gefängnisse.

Der Mensch wird in der Institution für eine bestimmte Zeit isoliert und muss somit mit seiner früheren sozialen Rolle brechen.

Eine Totale Institution weist nach Goffman folgende Merkmale auf9:

  • Eine Totale Institutionen umfasst das ganze Leben des sozialen Akteurs. Das bedeutet, dass das Leben aller Mitglieder ausschließlich an einem Ort stattfindet und ist einer einzigen zentralen Autorität unterworfen ist.
  • Alle Mitglieder der Institution führen ihre alltägliche Arbeit mit anderen Schicksalsgefährten aus.
  • Alle Tätigkeiten und sonstigen Lebensäußerungen sind exakt geplant und vorgeschrieben.
  • Die verschiedenen Tätigkeiten und Lebensäußerungen werden beobachtet und überwacht dienen dazu offizielle Ziele der Institution zu erreichen.

Weitere Kritiker sind natürlich Michel Foucault mit seinem Werk „Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses.“ Hierbei wird in Gefängnissen durch Wärter (am effektivsten durch die Organisation wie im Panoptikum10) Wissen produziert , welches als Machtinstrumentarium gegen den Gefangenen angewendet werden kann. Das Panoptikum in dem der Wärter jeden Gefangenen immer und von überall überwachen und beobachten kann, kann laut Foucault auch auf weitere, aktuellere Gesellschaftsformen angewendet werden. Genau diese subtilen Machtmechanismen sind eine Bedrohung für andere Gesellschaftsformen, wie zum Beispiel die Disziplinargesellschaft11.

Auch der französische Soziologe  Loïc Wacquant steht dem Gefängniswesen kritisch gegenüber. Laut Wacquant werden (vornehmlich in US-Gefängnissen) keine Kriminellen eingeschlossen, um zu verwahren und Gerechtigkeit zu erlangen, sondern aus vollkommen anderen Gründen:

„Wir müssen daher die Funktionen des Gefängnisses in den Blick nehmen, die mit Bestrafen und Kontrolle von Kriminalität nichts zu tun haben. Das Gefängnis dient nicht dazu, Verbrechen zu bekämpfen, sondern dazu, die Armen zu regulieren, soziale Unruhen einzudämmen und diejenigen zu verwahren, die durch die neue gesellschaftliche Arbeitsteilung, den technologischen Wandel und die Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse überflüssig gemacht worden sind. Darüber hinaus hat das Gefängnis den Nutzen, die Souveränität und Autorität des Staates zur Schau zu stellen“12.

 

 

Weitere interessante Literatur unter:

http://www.falk-bretschneider.eu/biblio/biblio-index.htm

 

Empfohlene Zitierweise: Goździelewska, Agnieszka (2012): Einblicke in die Strafvollzugsgeschichte. In: JBSHistoryBlog.de. URL: http://jbshistoryblog.de [Zugriff: DD:MM:YYYY]

 


Bibliographie:

  1. Rössner, Dieter: Geschichte des Strafvollzugs, Vorlesung Strafvollzug – Sommersemester 2008 am Institut für Kriminalwissenschaften der Philipps-Universität Marburg, S. 1. http://www.uni-marburg.de/fb01/lehrstuehle/strafrecht/roessner/roessner_vermat/roessner_archiv/ss08-0110400064vl/strafv_mat02 (Abrufdatum: 12.07.2012)
  2. Weitere Informationen unter: http://www.gr.ch/DE/institutionen/verwaltung/djsg/ajv/dienstleistungen/JVASennhof/Geschichtliches/Seiten/EntwicklungimStrafvollzug.aspx (Abrufdatum: 11.07.2012).
  3. Rössner, Dieter: Geschichte des Strafvollzugs, Vorlesung Strafvollzug – Sommersemester 2008 am Institut für Kriminalwissenschaften der Philipps-Universität Marburg, S. 2. http://www.uni-marburg.de/fb01/lehrstuehle/strafrecht/roessner/roessner_vermat/roessner_archiv/ss08-0110400064vl/strafv_mat02 (Abrufdatum: 12.07.2012).
  4. Laubenthal, Klaus: Strafvollzug, Springer-Verlag Berlin 2011, S. 55.
  5. Anm.: Dem Separate System wurde immer angekreidet, dass es zu einfach wäre in Einzelhaft zu schweigen. In Gruppen sei dies logischerweise schwieriger.
  6. Laubenthal, Klaus: Strafvollzug, Springer-Verlag Berlin 2011, S. 55.
  7. Laubenthal, Klaus: Strafvollzug, Springer-Verlag Berlin 2011, S. 56f.
  8. Reißman, Oliver: Die ziehen die Schrauben ganz schön an, Artikel vom 31.01.2007, Spiegel-Online unter: http://www.spiegel.de/wirtschaft/private-gefaengnisse-die-ziehen-die-schrauben-ganz-schoen-an-a-463009.html (Abrufdatum: 11.07.2012).
  9. Erving Goffman: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1973, S. 15f.
  10. Siehe dazu:  Bentham, Jeremy: Panopticon; Or, The Inspection-House: London 1791.
  11. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1994, S. 39 ff.
  12. Zitiert aus Heigl, Richard: Geschichte des Gefängnisses: Eine Bibliographie und eine aktuelle Diskussion, vom 31.10.2009 http://kritischegeschichte.wordpress.com/2009/10/31/geschichte-des-gefangnisses-eine-bibliographie/ (Abrufdatum: 12.07.2012).

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Quelle: http://jbshistoryblog.de/2012/07/einblicke-in-die-strafvollzugsgeschichte/

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Bachelorstudiengang Griechische Studien an der LMU München

http://www.uni-muenchen.de/studium/studienangebot/studiengaenge/studienfaecher/ griech_studien/bachelor Das BA Hauptfach Griechische Studien verwirklicht das Modell einer integrierten Gräzistik, die sich mit der griechischen Literatur der Antike, der byzantinischen Zeit und der Neuzeit befasst. Der Studiengang setzt bei der Vermittlung von grundlegenden Sprachkenntnissen an oder baut auf sie auf (je nach Vorkenntnissen), und zielt ab auf eine umfassende Erschließungskompetenz literarischer Texte [...]

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2012/06/2928/

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