Das Video zum Vortrag ist ab sofort online:
Rückmeldungen von Nachkriegskindern
Infolge der jüngsten Berichterstattung in Fernsehen, Radio und Zeitung haben sich viele Menschen wegen der “Suche nach den Nachkriegskindern” gemeldet. Teilweise kamen die Reaktionen per Email, per Telefon oder über die sozialen Medien. Klassische und soziale Medien ergänzen sich dabei.
Zwischen dem 1. und dem 15. Mai 2014 gab es insgesamt 17 Reaktionen, darunter 6 von ehemaligen Teilnehmern (im folgenden als “positive” Ergebnisse bezeichnet). Von den 6 positiven Ergebnissen kamen 4 per Email, 1 per Kommentar und 1 über die Facebook-Seite. Die 11 anderen Rückmeldungen entstanden aus Interesse am Thema, sei es durch die Arbeit als Psychotherapeut (3) oder als Kind der Kriegs- bzw. Nachkriegszeit mit dem Wunsch über die eigenen Erfahrungen zu erzählen.
Die Rückmeldungen entstanden durch die Berichterstattung von WDR Lokalzeit Bonn (2 positive), WDR5 “Neugier genügt” (2 positive), die Neuss-Grevenbroicher Zeitung (1 positive) und durch die Verbreitung auf der Facebook-Seite des Projekts “Gesichter Bonns” (1 positive Rückmeldung).
Schon vorher gab es mehrere Rückmeldungen infolge des Artikels des General-Anzeigers Bonn, der noch vor Ende des Crowdfundings berichtet hat. Dadurch meldeten sich ebenfalls 2 Teilnehmerinnen der Studie, darunter Frau. K. Später besuchten wir sie mit Kamerateam (für 3sat nano, wird bald gesendet) und mit der WDR Lokalzeit. So wurden weitere Journalisten und Redakteure aus anderen Medien auf das Thema aufmerksam, die ihrerseits wieder berichteten.
6 ehemalige Teilnehmer der Nachkriegskinder-Studie
Von den 17 Rückmeldungen kamen 6 von ehemaligen Studienteilnehmern. Bei 2 hatten wir bereits die aktuelle Adresse durch die Einwohnermeldeamtsrecherche gefunden, 4 weitere konnten wir nur durch ihre eigene Rückmeldung finden.
Manche haben die Kommentarfelder des Blogs als Kontaktformular (miss-)verstanden, daher habe ich die entsprechenden Kommentare nur dann veröffentlicht, wenn mir deutlich schien, dass es auch zur Veröffentlichung gedacht war. Trotzdem habe ich alle persönlichen Angaben in den Kommentaren und den nachfolgenden Einzelfällen weitestgehend anonymisiert.
Renate aus Bonn, geb. 1951
Sie hat uns per Email geschrieben, dass sie den Bericht in der Lokalzeit Bonn gesehen hatte. Sie erinnerte sich, dass sie mehrmals in der Kindheit untersucht worden sei. Aufgrund des späten Geburtsjahrs konnte sie jedoch nicht selbst Teilnehmerin der Studie sein (Teilnehmer waren nur 1938/39 und 1944/45 Geborene). Zufälligerweise fand ich aber den Namen ihres Bruders in der Datenbank, bei dem sie selbst nachfragte. Er schrieb uns per Email an, nachdem ihn die Schwester informiert hatte: “Ich kann Ihnen jetzt schon sagen, dass ich sehr gerne an Ihrer Studie teilnehmen würde.” So haben wir einen weiteren Studienteilnehmer gefunden, der bisher noch nicht in der Datenbank aktualisiert war.
Christa aus Bonn, geb. 1945
Ihr Sohn hat sich über die Facebook-Seite bei uns gemeldet, da das Projekt bei Gesichter Bonns vorgestellt wurde und er sich an die Erzählungen der Mutter erinnerte. Die Adresse hatten wir jedoch bereits über die Einwohnermeldeämter gefunden.
Horst-Werner aus Bonn, geb. 1946
Er hat sich aufgrund des Beitrags in der WDR Lokalzeit per Email an die Redaktion gewandt. Wir hatten seine Adresse jedoch bereits gefunden. Er war tatsächlich ein Studienteilnehmer.
Heidi aus Frankfurt, geb. 1946
Sie meldete sich per Email bei uns, da sie den Radiobericht in WDR5 gehört hatte. Tatsächlich hatten wir ihre aktuelle Adresse noch nicht gefunden, obschon sie an der Studie teilgenommen hatte. Das hat uns besonders gefreut.
Alfred aus Frankfurt am Main
Er hat einen Kommentar im Blog geschrieben, nachdem er den Beitrag bei WDR5 gehört hatte. Tatsächlich gehörte er zu den untersuchten Nachkriegskindern und konnte bisher nicht über die Einwohnermeldeamtsrecherche gefunden werden. Ich habe ihm per Email weitere Informationen zugesandt.
Heinrich aus Grevenbroich, geb. 1946
Er hat den Artikel in der Neuss-Grevenbroicher Zeitung am 15.05.2014 gelesen und sich daraufhin per Email bei uns gemeldet. Seine Adresse hatten wir bisher noch nicht gefunden und er konnte sich gut daran erinnern, dass er und seine Mitschüler teilgenommen haben. Möglicherweise kennt er noch weitere Teilnehmer.
Andere Interessenten und Rückmeldungen
Abgesehen von den “positiven” Ergebnissen, also Rückmeldungen von ehemaligen Teilnehmern, ist das Thema “Nachkriegskindheit” auch für Therapeuten interessant.
Simone Willig aus Herborn, Musiktherapeutin
Supervisorin für das Kriegs- und Nachkriegskinder-Projekt von Mario Wallner „Menschen die ich kannte“: http://vimeo.com/88132007
„Ich habe in meinem Beruf tagtäglich mit Kriegskindern zu tun und der Wunsch, sich mitzuteilen sowie die Ahnung, dass Erlebnisse von damals in ihrem Leben eine größere Bedeutung hatten, als sie bisher angenommen haben, wächst. Vor allem Männer, die als jugendliche Soldaten in den letzten Kriegstagen verheizt wurden oder als Kinder auf der Flucht und danach den Vater ‘ersetzen’ sollten, mehren sich in meinen Therapien und kommen mit dem Wunsch, darüber sprechen zu dürfen. Im Kontext der Arbeit mit Menschen mit Demenz schule ich Pflegefachkräfte im sensiblen Umgang mit dem Thema, sind doch oft unüberlegte oder ‘gut gemeinte’ Handlungen im Alltag Auslöser für Re-Traumatisierungen, deren Reaktionen dann der Demenz zugeschrieben werden, mit der Erkrankung jedoch nichts zu tun haben.“
Claudia, geb. 1955, Psychotherapeutin
Sie hat bis 1983 Psychologie studiert, hat zuerst in einer Klinik, danach in eigener Praxis als Psychotherapeutin gearbeitet und freut sich, „dass eine solche Langzeitstudie ‚aus der Versenkung’ geholt wird und zu Forschungszwecken dient.“
Herr B., geb. 1951
Er arbeitet als Psychotherapeut und hat sich auf den Traumabereich spezialisiert. In seiner Praxis hat er manchmal mit traumatisierten Kriegskindern, Nachkriegskindern und Kriegsenkeln zu tun. Das Thema wird unter Traumatherapeuten häufig besprochen. Einen Therapieplatz für Betroffene kann er aufgrund langer Wartelisten nur selten anbieten.
Weitere Interessenten
Auch in unseren Rückmeldungen zeigt sich, dass viele Menschen dieser Generation Redebedarf haben, ob Sie Teilnehmer der damaligen Studie waren oder nicht.
Susanne aus Bonn, geb. 1953
Sie schickte uns aufgrund des Lokalzeit-Berichts Zeitungsausschnitte der Studie zu, die mit unserer Studie übereinstimmen (siehe Bildergalerie). Leider konnte ich Sie noch nicht als Studienteilnehmerin identifizieren, da Sie erst später geboren wurde. Vermutlich diente sie als Fotomodell zur Illustration der Untersuchungen. Die Zeitschrift erhielt sie später von ihren Eltern, schrieb sie mir.
Quelle: Scope Weekly (hrsg. von der Upjohn Company), Vol. 5 No. 39, erschienen am 28.9.1960.
Jürgen aus Bonn, geb. 1945
Tatsächlich gehört er zum richtigen Jahrgang und ist auch in Bonn zur Schule gegangen, jedoch konnte ich ihn nicht als Teilnehmer der damaligen Studie identifizieren.
Heinz aus Krefeld, geb. 1933
Er meldete sich bei WDR5 und wurde von uns zurückgerufen. Er habe nicht an der Studie teilgenommen, würde allerdings gerne etwas über seine Erfahrungen erzählen.
Gerda aus Aachen, geb. 1946
Auch sie hat sich beim WDR5 zugehört und würde gerne mitteilen, was sie erlebt hat.
Anita aus Düsseldorf, geb. 1933
Sie meldete sich nach der WDR5 Sendung per Telefon. Sie sei durch die vom Krieg geprägte Kindheit belastet und habe viele Erinnerungen aufgeschrieben, die sie uns gerne anbieten würde. Leider suchen wir nur die Teilnehmer der damaligen Studie, mussten wir ihr, wie auch den anderen Anrufern leider mitteilen.
Frau L., geb. 1943
Nach der WDR5-Sendung rief sie dort an. Sie sei durch die vom Krieg geprägte Kindheit belastet und vermute, dass die 9-jährige Gefangenschaft ihres Vaters nachhaltig Auswirkungen auf ihre Psyche und ihren Lebensweg habe. Wir dankten Ihr für den Anruf und ihr Interesse.
Uwe L.
Er hat die Radiosendung bei WDR5 gehört und fragte sich, ob es im Internet eine Liste der Gesuchten gibt. Per Email antwortete ich ihm, dass wir diese nicht veröffentlichen dürfen, ich aber seinen Namen in der Datenbank suchen würde. Er war leider kein Teilnehmer der Nachkriegskinder-Studie.
Wally B.
Er hat einen Kommentar im Blog geschrieben. Er wurde nach der Flucht in Dänemark geboren, hat aber nicht an der Untersuchung teilgenommen. Ich habe ihm per Email geantwortet und für seine Interesse gedankt.
Was tun, wenn Redebedarf besteht?
Bei den positiven Rückmeldungen fällt es mir leicht zu antworten. Wir können schreiben oder sagen, dass wir uns möglichst noch dieses oder nächstes Jahr postalisch melden, sobald eine umfangreiche Nachfolgestudie finanziert und vorbereitet ist. Auch wenn es im Vergleich zu den über 4000 ehemaligen Teilnehmern nur kleine Zahlen sind, freue ich mich sehr über jeden weiteren, den wir so finden können. Ich vermute, dass viele sich auch nicht selbst melden, aber Bescheid wissen, dass wir weiter an der Nachfolgestudie arbeiten.
Doch auch hier ist deutlich zu spüren, dass viele Menschen Redebedarf haben. Sie würden gerne über die Zeit und ihre Erfahrungen sprechen und melden sich deswegen bei uns, ohne selbst Teilnehmer gewesen zu sein. Doch für eine Nachfolgestudie brauchen wir nur die damaligen Teilnehmer. Was macht man in den anderen Fällen?
Natürlich hören wir am Telefon etwas zu. Auch diese Auflistung ist eine Form, den Geschichten Platz zu geben. In extremen Fällen könnten wir auf Psychotherapeuten verweisen, doch auch diese haben lange Wartelisten, die Hemmschwelle ist hoch. Deswegen gibt es vielerorts Gesprächskreise, wie beispielsweise in Bonn. Für die meisten geht es ja nur darum jemanden zu haben, der zuhören möchte. Wo gibt es diese Orte, die Zeit und den Raum für die Geschichten? Ist es Aufgabe des Forschers, auch dafür zu sorgen? Irgendwie schon, denn unser Forschungsgegenstand “menschelt” eben.
Es wäre schön eine Übersicht für diese Gesprächskreise anzulegen, so dass wir darauf verweisen könnten. Doch meine eigene Zeit ist begrenzt und ich möchte mich auf die Suche fokussieren. Vielleicht gibt es jemanden, der sich für diese Geschichten interessiert, die Orte aufschreiben möchte, eine Liste kennt oder einfach nur selbst anbieten möchte zuzuhören.
#e1414 – der HistoryCampus in Berlin
Unter dem Titel “Look back, think forward” veranstaltete die Bundeszentrale für Politische Bildung gemeinsam mit der Körber-Stiftung und der Robert Bosch Stiftung in Kooperation mit dem Maxim Gorki Theater Berlin und zahlreichen weiteren Partnern in der vergangenen Woche einen History Campus für Jugendliche aus 40 Ländern. Ziel des History Campus war es, den Ersten Weltkrieg aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Die etwa 400 Teilnehmer im Alter von 18 bis 25 Jahren setzten sich in insgesamt 22 Workshops mit dem Thema auseinander. Fragen wie “Warum ist es für junge Menschen überhaupt wichtig, sich mit dem Ersten Weltkrieg auseinanderzusetzen? Wie wird in den einzelnen Ländern an den Ersten Weltkrieg erinnert? Welche Debatten zur Geschichte gibt es in Europa und welche aktuellen Bezüge gibt es zu heute?” sollten beantwortet werden.
Bundeskanzlerin Angela Merkel eröffnete den History Campus und charakterisierte den Ersten Weltkrieg in Anlehnung an George F. Kennan als
“die so oft zitierte sogenannte Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Er zeigte, welches Zerstörungspotenzial das industrielle Zeitalter in sich barg. Die Welt erlebte eine bis dahin nie dagewesene Mobilisierung von Menschen, Ökonomien und Medien. Bald sollten noch größere Schrecken als in den Jahren 1914 bis 1918 folgen, so furchtbar damals schon alles war. Wie konnte es dazu kommen? Diese Frage steht auch 100 Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs immer wieder aufs Neue im Raum. Wie konnte es passieren, dass Nationen einander den Krieg erklärten, deren Volkswirtschaften schon damals eng miteinander verflochten waren? Wie konnte es passieren, dass die verantwortlichen Politiker und Militärs ein aufblühendes Europa geradewegs in den Abgrund der Gewalt führten? Wie konnte es sein, dass dies so viel Rückhalt in der Bevölkerung fand? Das Motto Ihres Geschichtsfestivals ist angesichts dieser wichtigen Fragen ausgesprochen treffend: ‘Blick zurück nach vorn’ heißt es. Damit weist es darauf hin, dass die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit immer auch eine Auseinandersetzung mit der Gegenwart zur Gestaltung der Zukunft ist.”1
Nach dem Opening Event am Mittwoch, starteten am Donnerstagmorgen dann die Workshops für die sich die Teilnehmer im Vorfeld angemeldet hatten. Die 22 Workshops waren in die Kategorien “Geschichte analysieren”, “Geschichte – erinnern und gedenken”, “Geschichte digitalisieren” und “Geschichte inszenieren” unterteilt. So gab es beispielsweise Workshops, die Computerspiele zum Ersten Weltkrieg programmierten, Improvisationstheater zum Ersten Weltkrieg inszenierten, sich mit den Denkmälern des Ersten Weltkriegs auseinander setzten oder in fiktiven Friedenskonferenzen die Friedensverträge von 1919 neu verhandelten.
Neben den Workshops bot der HistoryCampus auch Führungen durch die Ausstellung des Deutschen Historischen Museums, Videobustouren an Berliner Schauplätze des Ersten Weltkriegs und zahlreiche kulturelle Veranstaltungen. So versuchte Dietmar Lupfer mit seiner Skateperformance “Skate 14|14″
“sich provozierend mit der Verbindung von Technik und Krieg auseinander [zu setzen], indem sie das »harmlose« spielerische Skaten mit den Bild-und Klangwelten des Krieges verknüpft.”2
Während einer weiteren Veranstaltung im Rahmen des HistoryCampus diskutierte Außenminister Frank Walter Steinmeier mit drei TeilnehmerInnen des HistoryCampus über die verschiedenen Aspekte des Ersten Weltkriegs und bemerkte:
“Wenn ich die Geschichte von 1914 betrachte, dann schockiert mich das Versagen einer Diplomatie, der die Fähigkeit zu Verständnis und Verständigung abhandengekommen war. Max Weber hat das brutal auf den Punkt gebracht, als er 1914 schrieb: ‘Die Hunderttausenden bluten für die entsetzliche Unfähigkeit unserer Diplomatie’.”3
Die Workshops zum Themenblock “Geschichte digitalisieren” setzten sich auf unterschiedlichste Weise mit dem Ersten Weltkrieg auseinander. Im Workshop “World War One – I LIKE!?” erstellten die TeilnehmerInnen fiktive facebook-Seiten für Soldaten oder am Krieg teilnehmende Länder, im kreativen Experimentierlabor “World War One meets Web 2.0″ beschäftigten sich die TeilnehmerInnen neben historischen Karikaturen auch mit der Frage, welche visuellen Mittel heute zur Meinungsäußerung genutzt werden.
Darüber hinaus wurde der Workshop unter dem Hashtag #e1414 auf Twitter, mit einer eigenen Facebookseite und mit einem Blog begleitet. Weitere Eindrücke des HistoryCampus lassen sich darüber hinaus in der Sonderausgabe des Magazins PolitikOrange zum HistoryCampus finden.
Fünf Minuten mit Hartmut Rosa (3/2014)
Hartmut Rosa ist Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er ist Begründer der Beschleunigungstheorie und viel gefragter Gesprächspartner im deutschen Feuilleton. Daniel Meyer vom Studentenmagazin Akrützel stellt dem renommierten Gesellschaftstheoretiker nicht nur Fragen rund um seine Person und … Continue reading
Digitale Spuren der Soncino-Gesellschaft
Das Jahr 1932 brachte die letzte Versammlung der Soncino-Gesellschaft, die NS-Zeit erzwang ihr sang- und klangloses Ende. Bis dahin aber, in kaum zehn Jahren, hatten die »Soncinos« weit über hundert nachgewiesene, meist kleinere, aber auch etliche stattliche Drucke befördert, heute rare und gesuchte Stücke — und damit eine den eigenen Zielen mehr als entsprechende Wirksamkeit entfaltet. Am 15. Mai 1924 hatte sich in Berlin diese Soncino-Gesellschaft der Freunde des jüdischen Buches gegründet. Angeregt von dem Studenten Herrmann Meyer machte es sich der bibliophile Verein zum Ziel, das Buchwesen als Kulturleistung zu fördern und dem anspruchsvollen jüdischen Buch zur adäquaten Form zu verhelfen. Das Wirken dieser Gesellschaft hat naturgemäß zu (Buch-) Drucken geführt, mittlerweile können wir aber auch online und frei zugänglich ihren Spuren nachgehen.
Im redaktionellen Teil des Jüdischen Adressbuchs für Groß-Berlin 1931 (S. 89) lesen wir einen Eintrag über die Soncino-Gesellschaft (siehe nachstehende Abbildung) und, in aller Kürze, das Programm: »Der Verein erstrebt die Förderung des guten und schönen jüdischen Buches. Er fordert die Beobachtung der Postulate moderner Buchkultur bei der Herstellung jüdischer Bücher.«
Der Verein brachte es in nur wenigen Jahren auf ca. 800, nicht selten namhafte Mitglieder, auch international, so gehörten ihm etwa aus Palästina der Schriftsteller Chaim Bialik oder Salman Schasar (der spätere Präsident Israels) an. Besonderes zahlreich waren die Mitglieder natürlich aus Berlin, und so finden wir viele von ihnen im Jüdischen Adressbuch. Es ist auch für die Provenienzforschung, insbesondere im Zusammenhang anderer Quellen von Interesse, etwa der mehrfach gedruckten (1924, 1927), aber heute kaum zu beschaffenden Mitgliederlisten der Soncino-Gesellschaft — die aber leider (noch) nicht digital zu finden sind. Mit einer bemerkenswerten Ausnahme: In den Digital Collections des Center for Jewish History New York (CJH) können wir einen Archivbestand betrachten, der einen maschinenschriftlichen Entwurf (mit handschriftlichen Bearbeitungen) des ersten Mitgliederverzeichnisses und etliche weitere Raritäten enthält.
Ulrich Heider hat 2006 ein ansprechendes und sympathisches Büchlein herausgegeben1 — in seiner Anmutung den Soncino-Notizen nachempfunden, selbst ein bibliophiles Kleinod (auch wenn es gelegentliche Druckfehler enthält und ein hebräisches Titelblatt auf den Kopf stellt).2 Es enthält die bisher umfangreichste Bibliografie der Drucke der Soncino-Gesellschaft.3 Rainer Fürst und Klaus Schreiber haben dies Bändchen zu recht ernst genommen — aus ihrer (bibliothekarisch geprägten) kritischen Perspektive hat es dabei allerdings manche Feder lassen müssen. Empfehlens- und nachlesenswert ist ihre Rezension, online als PDF erhältlich, weil sie für den interessierten »Soncino-Forscher« sehr kundige und weiterführende Hinweise bietet. Interessant ist auch die Einschätzung, dass noch »keineswegs die definitive Bibliographie der Publikationen der Soncino-Gesellschaft vorliegt«.
Zu den Überraschungen (und zum digitalen Fortschritt) gehört, dass man heute vom Desktop aus zu dieser wünschenswerten Bibliografie noch etwas beitragen könnte. Denn wiederum in der Sammlung des CJH stoßen wir auf das folgende Buch als Soncino-Publikation, das man dort betrachten und sogar als PDF herunterladen kann:
Der Prophet Jona. Zweiter in der Judith-Type hergestellter Druck der Ernst Ludwig Presse. Übertragung von Martin Luther. Holzschnitte von [Adam] Antes. Darmstadt: Kleukens 1924. Von diesem Werk wurden einhundert Exemplare und zwar die Nummern 41 bis 90 und 191 bis 240 als erste Sonderpublikation der Soncino-Gesellschaft … ausgegeben.
»Jona« ist nicht nur optisch, sondern auch herstellungstechnisch (die Lettern sind in die Holzdruckplatte geschnitten), sehr interessant, anschauen lohnt sich. Heider führt allerdings nur den Judith-Band (1923/1925) unter Sonderpublikationen auf, für den eine in jeder Hinsicht eigene Type entworfen und entsprechend benannt worden war. Beide Drucke scheinen in der Gesamtschau eher untypisch für die Soncino-Gesellschaft, aber sie waren ja in dieser frühen Phase aus der Produktion der Ernst Ludwig Presse »nur« übernommen.
1929 aber hatte die Soncino-Gesellschaft mit der Ausgabe des Buches Sirah eine eigene Linie gefunden. Abraham Horodisch notierte zur neuesten Publikation, dass nun »zum ersten Male das Hauptgewicht auf graphische Schöpfungen eines zeitgenössischen jüdischen Künstlers gelegt« war. Jeweils auf Doppelseiten finden wir darin die Illustrationen, die »prägnanten« Holzschnitte von Jakob Steinhardt, gruppiert mit den hebräischen Lehrsprüchen und ihren deutschen Übersetzungen. »Nur wer die Technik des Setzens kennt, vermag zu Ermessen, welche Schwierigkeiten zu überwinden waren, wieviele Versuche verworfen werden mussten, bis das erwünschte Seitenbild erreicht war.«4
Selbst heute, mit digitalen Methoden, ist ein solches Unterfangen eine keineswegs leichte Aufgabe, und Software, die hochwertigen und ohne Einschränkung auch hebräischen Satz unterstützt, keine Selbstverständlichkeit. Auch dieses Werk können wir bei CJH in Farbe betrachten und als PDF (schwarzweiß) herunterladen (und noch ein weiteres, Noemi, ebenfalls von Jakob Steinhardt illustriert, der 1929 zudem Mitglied des Vereins wurde).
Die buchkünstlerischen Eigenschaften wird man am Digitalisat allerdings kaum erahnen, geschweige denn erfahren können: So liest man gern auf der Seite des Jüdischen Museums Berlin die Beschreibung der dort »nahezu vollständig« vorhandenen Soncino-Sammlung, und dass sie im Lesesaal zugänglich ist. Das ist auch deshalb ein besonderer Bestand, weil er aus dem Nachlass des Gründers selbst, Herrmann Meyer (Mitgliedsnummer 1), stammt.
Nicht weniger wichtig ist die Judaica-Sammlung Frankfurt. Auch sie hält einige bemerkenswerte Ausgaben der Soncino-Gesellschaft bereit, die insbesondere mit dem aktiven und wegweisenden Wirken von Aron Freimann im Verein zusammenhängen: Dazu zählen die Fabeln des Kuhbuches, die Satzungen der Soncino-Gesellschaft (1924), die Festschrift für Aron Freimann. Ebenfalls vorrätig ist das Lesebuch für jüdische Kinder. Zum Besten der jüdischen Freyschule (ursprünglich Berlin 1779) von David Friedländer (Titelvignette nebenstehend). Es galt in den 1920er Jahren weithin als verschollen, bis es Moritz Stern 1927 als Faksimile für die Soncinos neu herausbrachte. Wer in der Frankfurter Sammlung einfach mal stöbert, der stellt fest, dass sich die Recherche als Volltextsuche auf die mittlerweile integrierten Bestände jüdischer Periodika von compactmemory ausdehnt — prima!
Ernst Fischer hat 2002 festgestellt, online nachzulesen: »Viele Fragen stehen unbeantwortet im Raum: Was ist aus den Bücherschätzen der 700 bis 800 Mitglieder der Soncino-Gesellschaft der Freunde des jüdischen Buches geworden«?5. In diesem Zusammenhang fällt besonders das vorbildliche Unterfangen Provenienz-Wiki6 auf: es bietet eine von Michaela Scheibe verfasste Seite zu dem Sammler Moritz Simon, Schatzmeister der Soncino-Gesellschaft, der auch zwei Drucke zum Soncino-Bestand beisteuerte.
Schließlich findet sich eine Festrede von Abrahm Horodisch (PDF) auf der Jahresversammlung des Vereins in Berlin 1926 wieder in der Zeitschrift Kalonymos (Steinheim-Institut), ebenso (m)ein Beitrag Freude am schönen Buch …. Nicht zuletzt wurde es wohl Zeit, einen Artikel über die Soncino-Gesellschaft für die Wikipedia zu schreiben — der Anfang ist gemacht.
(Verfasst anlässlich des Gründungstages der Soncino-Gesellschaft vor neunzig Jahren am 15. Mai 1924).
- Ulrich Heider: Die Soncino-Gesellschaft der Freunde des jüdischen Buches e. V. (1924–1937) (Schriftenreihe der Kölner Antiquariatstage, Heft 1), Köln: Privatdruck 2006.
- Was daran erinnert, dass eine digitale Fassung ja auch die Verbesserung erlaubte.
- Basierend auf Abraham Horodisch: Ein Abenteuer im Geiste. Die Soncino-Gesellschaft der Freunde des jüdischen Buches, in: Bibliotheca docet – Festgabe für Carl Wehmer, Amsterdam: Verlag der Erasmus-Buchhandlung 1963, S. 181–208.
- Abraham Horodisch: Jakob Steinhardt. Neun Holzschnitte zum Buche Sirah, in: Mitteilungen der Soncino-Gesellschaft, Nr. 4, Februar 1929, S. 9.
- Ernst Fischer: Zerstörung einer Buchkultur. Die Emigration jüdischer Büchersammler aus Deutschland nach 1933 und ihre Folgen, in: Imprimatur. Ein Jahrbuch für Bücherfreunde. Neue Folge XVII. Juni 2002.
- ProvenienzWiki – Plattform für Provenienzforschung und Provenienzerschließung
Quelle: http://djgd.hypotheses.org/223
Vortrag zu „Schlurfs“, Wien 22.5.2014
Und, auch in Wien tut sich was, im Rahmen von SOHO in Ottakring haben Alfred Burzler und Irma Denk die Rauminstallation "Schlurfs in der Tanzschule Schwarzer Panther" erstellt, die diesen Samstag, 17.5.2014 um 19 Uhr eröffnet wird.
Ich selbst werde dort kommende Woche einen Vortrag zum Thema "'Schlurfs' und die internationale Jazz-Jugendsubkultur" halten.
Zeit: Donnerstag 22.5.2014, 19 Uhr
Ort: Gomperzgasse 1-3, Souterrain, 1160 Wien (Straßenbahnlinie 44, Station Liebknechtgasse)
Ankündigung des Ausstellungsprojekts:
Die Jahre 1933 bis 1945 markieren die goldene Ära der großen amerikanischen Swingbands. Genau im selben Zeitraum regierte in Deutschland - und während der Kriegsjahre fast in ganz Europa - der Faschismus. So waren Jazzmusik und die dazugehörigen Tänze Lindy Hop bzw. Jitterbug - gerade am Höhepunkt ihrer Bedeutung als amerikanische Populärkultur - in weiten Teilen Europas offiziell als "entartet" diffamiert. Aber Jazz ließ sich nicht einfach abstellen. Es scheint fast als wären die amerikanische Kulturprodukte durch ihre Ächtung für junge Menschen noch anziehender geworden. Jedenfalls entwickelten sich in größeren deutschen Städten, aber auch im besetzten Frankreich oder im Gebiet des heutigen Tschechien Jugendsubkulturen, die im Hinblick auf die NS-Propaganda resistent blieben und ihre Haltung mit der demonstrativen Begeisterung für die anglo-amerikanische Musik- und Tanzkultur befestigten. In Wien hießen diese Jugendlichen Schlurfs. Die Schlurfs waren Teenager aus den Arbeiterbezirken, die in den Jahren des Zweiten Weltkriegs einen hedonistisch geprägten Dandy-Stil etablieren wollten. Durch diese Lebensart gerieten sie mehr und mehr in Opposition zum NS-Regime, das seinerseits besonders rigide Jugendschutzverordnungen erlassen hatte. Als Stil-Vorbilder dienten den männlichen Schlurfs amerikanische Jazz- Jugendkulturen wie z. B. die "Zoot-Suiters", die das Haar lang trugen, im Nacken zum "Ducktail" frisiert und dazu überlange Sakkos. Die Mädchen - die "Schlurfkatzen" bzw. die "Modepuppen" - gaben sich dazu so amerikanisch wie möglich. Die Schlurfs verweigerten sich weitgehend den NS-Jugendorganisationen und erklärten die Lokale im Prater quasi zu ihrem Hoheitsgebiet. Dabei scheuten sie auch wiederholte Raufhändel mit HJ-Angehörigen nicht, die dann in größeren Gruppen wiederum Jagd auf Schlurfs machten. Aber auch unter den verschiedenen "Platten" (Gangs der Schlurfs) gab es Revierkämpfe, die mit Springmessern und Schlagringen ausgetragen wurden. Gegen Kriegsende spitzte sich die Lage zu und kurz vor seinem Zusammenbruch verschärfte das Nazi-Regime seine Gangart: Im Herbst 1944 wurden Jugendliche in einer Tanzschule von der Gestapo aufgegriffen und in Lagerhaft verbracht. Tanzschulen waren typische Schlurf-Treffs. Trotz des generellen Tanzverbots blieben die "Lehreinrichtungen für Tanz" bis Kriegsende geöffnet und besonders bei den sogenannten "Perfektionen" am Wochenende konnten Schlurfs auf amerikanische Tanzmusik hoffen. Auf einer HJ-Arbeitstagung im Jahr 1942 wurde daraufhin diskutiert, wie man "Schlurfs und Modepuppen" von den Tanzschulen fernhalten könne. Die auf derselben Veranstaltung geforderte "Tanzschule der Hitlerjugend" gelangte aber nie zur Ausführung. Die Rauminstallation "Schlurfs in der Tanzschule Schwarzer Panther". ("Schwarzer Panther" ist der deutsche Titel der Jazznummer und Schlurf-Hymne "Tiger Rag") versucht mit Musik und Tanz an diese Wiener Jugendsubkultur der 1940er Jahre zu erinnern. Im fingierten Ambiente von damals tanzen "Schlurf" und "Schlurfkatz" den Lindy Hop und sind bereit interessierten BesucherInnen ein paar Grundschritte des Swing-Tanzes beizubringen. Und wer sich noch an die Schlurfs von Ottakring erinnern kann oder wer sonst Geschichten über die Schlurfs zu erzählen weiß, ist herzlich eingeladen, diese mitzuteilen.
Weitere Informationen:
http://www.sohoinottakring.at/de/2014/04/schlurfs/
Ich darf alle herzlich dazu einladen!
Soziale Arbeit in Sozialen Unternehmen als Bindeglied einer funktional differenzierten Gesellschaft – Die politische Aktivierungsprogrammatik als Leviathan der sozialen Sicherheit – von Joschka Sichelschmidt und Ino Cramer
Abstract: Gesellschaftliche Modernisierungsphänomene lassen den Bedarf an sozialen Hilfeleistungen ansteigen. Soziale Unternehmen, die eine intermediäre Stellung zwischen Subjekt(en) und Staatsform einnehmen und der Aufgabe nachgehen, soziale Risiken zu beseitigen oder zu mindern, bilden in der flexiblen und dynamischen Gesellschaft einen Ort … Continue reading
Von den Mühen der Regionalisierung
Das Bildungswesen ist bekanntlich eine beliebte Spielwiese der Politik. “Bologna” und “G 8″ lauten die Chiffren für die beiden jüngsten großen Reformvorhaben; selten, vielleicht überhaupt noch nie in der deutschen Bildungsgeschichte sind derart ambitionierte und tiefgreifende Veränderungen so unvorbereitet und dilettantisch angegangen worden. Eine deutsche Spezialität stellt die Kultushoheit der Bundesländer dar. Sie hat im Laufe der Zeit dazu geführt, dass sich in Deutschland höchst unterschiedliche Schulsysteme entwickelt haben.
Regionalisierung im Schulbuch
Aber nicht nur die Strukturen, auch die inhaltlichen Vorgaben für den Unterricht unterscheiden sich von Bundesland zu Bundesland erheblich. Geschichte zählt zu jenen Fächern, in denen die Abweichungen zwischen den jeweiligen Curricula besonders gravierend sind. Schon seit den achtziger Jahren können deshalb die Schulbuchverlage nicht mehr in ganz Deutschland ein und dasselbe Buch verkaufen. Sie müssen „regionalisieren“, also spezielle Ausgaben für die einzelnen Bundesländer anbieten.1 Das ist nicht nur konzeptionell aufwändig, sondern auch ökonomisch schwierig, weil mit kleineren Auflagen kalkuliert werden muss. Eine Folge davon ist, dass für Bundesländer wie das Saarland oder Mecklenburg-Vorpommern kaum noch spezielle Bücher angeboten werden. Gewiss gibt es inhaltliche Unterschiede, die sinnvoll und nachvollziehbar sind, nämlich dann, wenn es tatsächlich um regionale Aspekte von Geschichte geht: Die “Römer am Rhein” sind für Rheinland-Pfalz bedeutsamer als für Brandenburg, umgekehrt steht es mit der slawischen Siedlungsgeschichte. Beim Thema Industrialisierung liegt in Nordrhein-Westfalen das Beispiel Krupp nahe, in Berlin eher Borsig. Davon abgesehen gibt es aber eine Vielzahl von unterschiedlichen Akzentuierungen, die eher beliebig anmuten und im Einzelfall vielleicht besonderen Interessen und Neigungen innerhalb von Lehrplankommissionen geschuldet sind.
Nützliche Standardisierung?
Neben die divergierenden inhaltlichen Vorgaben sind in jüngerer Zeit noch andere Abweichungen getreten. Alle neuen Curricula verstehen sich als kompetenzorientiert. Sie weisen Kompetenzmodelle mit einzelnen Kompetenzbereichen aus, wobei sie sich mal mehr, mal weniger auf geschichtsdidaktische Vorarbeiten beziehen. Ein zweiter Punkt sind die Operatoren. Ausgehend von den durch die KMK definierten EPA2 enthalten die meisten neueren Curricula auch für die Sekundarstufe I Listen von Operatoren, die den Lehrkräften zur Orientierung dienen sollen – und natürlich zugleich eine Vorgabe für die Verlage darstellen.3 Beides, Kompetenzorientierung und Operatorenvorgaben, ist prinzipiell eigentlich eine positive Entwicklung. Freilich fallen auch hier erhebliche Unterschiede zwischen den Ländern ins Auge. Sie führen dazu, dass Verlage Regionalisierungen jetzt nicht nur in Bezug auf Inhalte, sondern auch auf die Bezeichnung von Kompetenzen und die Verwendung von Operatoren vornehmen müssen. So finden wir beispielsweise im aktuellen Curriculumentwurf für das Gymnasium in Baden-Württemberg die Kompetenzbereiche Fragekompetenz, Methodenkompetenz, Orientierungskompetenz, Reflexionskompetenz und Sachkompetenz aufgeführt.4 Im niedersächsischen Entwurf gibt es zunächst eine übergeordnete narrative Kompetenz, darunter dann die Bereiche Sachkompetenz, Methodenkompetenz und Urteilskompetenz, ergänzt durch Fachwissen.5 In Rheinland-Pfalz sind vorgesehen Fachkompetenz, Methodenkompetenz, Kommunikationskompetenz und Urteilskompetenz.6
Babylonische Verhältnisse
Am ehesten Übereinstimmung gibt es bei der Methodenkompetenz, bei der es in allen Fällen gewissermaßen klassisch um den adäquaten Umgang mit Quellen und Darstellungen geht. Ansonsten finden sich nicht nur unterschiedliche Benennungen, sondern auch abweichende Beschreibungen der einzelnen Bereiche.Was in Baden-Württemberg unter die Fragekompetenz gehört, würde in Rheinland-Pfalz wohl zur Methodenkompetenz zählen. Was in Niedersachsen und in Rheinland-Pfalz eher knapp unter der Urteilskompetenz angedeutet wird, entfaltet das baden-württembergische Curriculum breiter unter Orientierungskompetenz. Ähnlich steht es mit der baden-württembergischen Reflexionskompetenz. Keine Entsprechung in den anderen Ländern hat die Kommunikationskompetenz aus Rheinland-Pfalz. Ähnliche Verwerfungen gibt es bei den Operatoren. Ein Vergleich zwischen Baden-Württemberg und Niedersachsen zeigt, dass zum Teil ganz unterschiedliche Operatoren vorgesehen sind: “Bezeichnen”, “schildern”, “skizzieren”, “gliedern”, “wiedergeben”, “zusammenfassen”, “untersuchen”, “nachweisen”, “gegenüberstellen”, “in Beziehung setzen”, “widerlegen”, “diskutieren” und “interpretieren” gibt es nur in Niedersachsen, dafür bietet Baden-Württemberg “erstellen” und “gestalten” an. Einige Operatoren werden unterschiedlichen Anforderungsbereichen zugeordnet: “Herausarbeiten” und “charakterisieren” gehören in Baden-Württemberg in AFB I, in Niedersachsen in AFB II. “Darstellen” ist in Niedersachsen übergreifend von AFB I bis III gedacht, in Baden-Württemberg steht es in AFB II.
Bildungspluralismus als Herausforderung
Nun mag man – insbesondere im Hinblick auf die Kompetenzmodelle – einwenden, dass es ja schließlich auch die Geschichtsdidaktik nicht geschafft hat, sich auf ein einheitliches Konzept zu verständigen. Warum sollte man dies dann von den LehrplanmacherInnen erwarten und verlangen? Dieser Einwand ist sicherlich berechtigt. Allerdings haben Curricula eine unmittelbare Regelungswirksamkeit – oder sollen sie zumindest haben. Deshalb gilt es auch sehr sorgfältig darüber nachzudenken, wie verständlich, akzeptabel, orientierend und handlungsleitend sie für Lehrkräfte sein können – und vielleicht eben auch für SchulbuchmacherInnen, die Dienstleistungen für Lehrkräfte erbringen sollen. Weniger Varianzen zwischen den Bundesländern wären dabei hilfreich und könnten zu einer intensiveren Verständigung über Ländergrenzen hinweg (etwa auch im Bereich der Lehrerbildung) beitragen. Zugestanden: Eine genauere Abstimmung untereinander ist nicht leicht zu bewerkstelligen – ein erster Schritt immerhin wäre eine systematische wechselseitige Kenntnisnahme, die im Moment noch gar nicht stattzufinden scheint.
Literatur
- Bredol, Martin: Regionalisierung – Zauberformel oder Fluch? Die Entwicklung von Geschichtslehrwerken aus der Sicht eines Schulbuchverlages. In: Geschichte lernen H. 28 (1992), S. 4–7.
- Landesinstitut für Schulentwicklung Baden-Württemberg: Geschichte Orientierungsstufe, Arbeitsfassung zur Erprobung, Stuttgart 2013 (online, zuletzt am 28.4.2014).
Externe Links
- Niedersächsisches Kultusministerium (Hrsg.): Kerncurriculum für das Gymnasium, Schuljahrgänge 5–10 Geschichte, Anhörfassung, 2014: https://nline.nibis.de/cuvo/forum/upload/public/moderator/A333mode-kc-geschichte_anh-rfassung.01.2014.pdf (zuletzt am 28.4.2014).
- Lehrplan Geschichte Rheinland-Pfalz, Entwurfsfassung 2013, Vorwort: http://f.hypotheses.org/wp-content/blogs.dir/1510/files/2013/10/Vorwort_Lehrplan_Geschichte_Oktober.pdf, Lehrplan: http://f.hypotheses.org/wp-content/blogs.dir/1510/files/2013/10/Entwurfsfassung_20-08-13.pdf (zuletzt am 28.4.2014).
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Abbildungsnachweis
© Marco Zerwas
Empfohlene Zitierweise
Sauer, Michael: Von den Mühen der Regionalisierung. In: Public History Weekly 2 (2014) 18, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-1990.
Copyright (c) 2014 by De Gruyter Oldenbourg and the author, all rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial, educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact: julia.schreiner (at) degruyter.com.
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Abstract zum Vortrag: Voix perdues? Ungültige, verstreute und andere „sinnlose“ Stimmen bei Wahlen im Jahr 1848 (Thomas Stockinger)
Im Rahmen der auf diesem Blog bereits angekündigten Tagung „Kultur und Praxis der Wahlen. Eine Geschichte der modernen Demokratie“ / „Culture and Practice of Elections. A History of Modern Democracy“ am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald (veranstaltet von Hubertus Buchstein und Hedwig Richter) wird Thomas Stockinger am 16. Mai 2014 vortragen. Vorab wird hier ein Abstract zu seiner Präsentation verfügbar gemacht.
Das vollständige Tagungsprogramm gibt es als PDF-Datei hier.
Voix perdues? Ungültige, verstreute und andere „sinnlose“ Stimmen bei Wahlen im Jahr 1848 (Frankreich und Österreich)
Zweckrationales Handeln, das die Chancen maximiert, erwünschte Kandidatinnen oder Kandidaten die zu vergebenden Mandate erringen zu sehen, zählt seit langem zu den landläufigen, dabei aber durchaus fragwürdigen Erwartungen an Wählerinnen und Wähler. Abweichungen davon sind in dieser Perspektive in erster Linie als Zeichen demokratischer Inkompetenz zu interpretieren, allenfalls noch als Geste des Protests. Die meisten aktuellen Wahlrechte geben vor, dass alles, was auf einem Stimmzettel vermerkt ist, aber nicht als eindeutige Willensäußerung zugunsten einer der registrierten Kandidaturen gedeutet werden kann, ungültig ist, sofern es nicht den Stimmzettel selbst ungültig macht. Der „Wählerwille“ hat sich entweder nach den vorgezeichneten Alternativen zu richten, oder er kann nicht zur Kenntnis genommen werden.
Die frühesten Anwendungen des Massenwahlrechts waren Situationen, in denen diese Kanalisierung weniger effizient funktionierte als später, und in denen deshalb etliche Aspekte der damit verbundenen Problematik besonders deutlich hervortraten. Die Veranstalter und die Ausführenden dieser Wahlen sahen sich mit beträchtlichen Zahlen von Voten (zumeist materialisiert als Stimmzettel) konfrontiert, die sich aus verschiedenen Gründen nicht leicht in ein eindeutiges, numerisch exaktes Wahlresultat einrechnen ließen. Stimmen verteilten sich auf sehr viele verschiedene Personen, darunter solche, die nicht als Kandidaten aufgetreten waren oder nach Meinung der Wahlveranstalter gar nicht als solche in Frage kamen. Kandidaten wurden nicht deutlich genug für eine sichere Identifizierung bezeichnet, oder es wurden Angaben über sie vermerkt, die für eine solche nicht nötig gewesen wären. Die nach späteren Maßstäben oft noch recht unpräzisen rechtlichen Normen boten für den Umgang damit nur eine unzureichende Handhabe, weshalb auch die Entscheidungen der Wahlkommissionen vielfach sehr uneinheitlich ausfielen.
Der Vortrag nähert sich diesen Erscheinungen ausgehend von Stimmzetteln und Wahlprotokollen als Primärquellen und in Anknüpfung insbesondere an die Arbeiten von Yves Déloye und Olivier Ihl. Anhand konkreter Beispiele aus den Parlamentswahlen des Revolutionsjahres 1848 in Frankreich und in der Habsburgermonarchie (speziell Niederösterreich) soll gezeigt werden, dass zur Deutung dieser Phänomene die Kategorien „Ignoranz“ und „Protest“, obwohl beide relevant sind, nicht ausreichen. Sowohl in von Wahlnormen und Erwartungen abweichendem Verhalten der Wähler als auch in den voneinander divergierenden Reaktionen darauf spiegelte sich nicht bloß blindes Herantasten an eine ungewohnte politische Praxis, sondern vielmehr konkurrierende Vorstellungen davon, was Wählen und Repräsentation überhaupt zu bedeuten hatten, wie sie funktionierten und wie sich das Verhältnis zwischen Wählenden und Gewählten zu konstituieren hatte, welche Eigenschaften einen geeigneten Kandidaten machten, sowie auf welche geographischen Räume und sozialen Gruppen sich Repräsentation, Kandidatur und Wahl bezogen. Das scheinbar „Sinnlose“ erweist sich dabei als Teil älterer oder alternativer Logiken des Wählens, die sich nicht durchsetzten, sondern im Laufe der weiteren Entwicklung hin zu einem für die europäisch-atlantischen Gesellschaften zunehmend einheitlichen Grundmodell des Wahlvorgangs bis zur Unsichtbarkeit marginalisiert wurden.
Facebook hui / Twitter pfui? – Die Integration von Social Media in Kommunikationskonzepte kultureller Veranstaltungen
An Twitter scheiden sich die Geister. Während beispielsweise die ARD-Filmreihe „Tatort“ bereits frühzeitig zu einem Paradebeispiel dafür wurde, wie kollektiv via Hashtag (#tatort) auf Twitter zu einem Ereignis diskutiert wird, zielen heute immer mehr Medien, aber auch Kulturinstitutionen ganz bewusst auf die Einbindung des Publikums über diesen Social Media Kanal. Eines der jüngsten Beispiele ist der Digitalsender EinsPlus, der bei der Übertragung des Eurovision Song Contest 2014 die Twitter-Wall gleich mit auf den Bildschirm holte und so das Second Screen-Verhalten forcierte, um Zuschauer interaktiv […]