Gemalte Ambivalenz
Eine Begebenheit aus der Französischen Revolution: Die Herrschaft des Wohlfahrtsausschuss unter Robespierre hat seinen Höhepunkt erreicht, der Terreur wütet und die Guillotinen verrichten ihre Arbeit. Im Winter 1793 wird der Maler François-Elie Corentin beauftragt, ein Gemälde der elf Mitglieder des Wohlfahrtsausschusses anzufertigen. Selbstredend ist es das Ziel dieses Gruppenportraits, das schließlich die riesigen Ausmaße von vier mal drei Metern annehmen sollte, Geschichte zu machen, soll heißen: die Sicht der Nachwelt auf das Wirken des Wohlfahrtsausschusses zu bestimmen. Die Geschichte dieses Gemäldes wird in dem jüngst ins Deutsche übersetzten Buch von Pierre Michon mit dem schlichten Titel „Die Elf“ erzählt. Die andauernde Faszination von Corentins Gemälde resultiert aus der Ambivalenz möglicher Deutungen. Man kann darin sowohl einen Robespierre als Halbgott der Revolution als auch einen Robespierre als machthungrigen Tyrannen entdecken.
In seiner Schilderung stellt Pierre Michon den Maler Corentin, der im französischen Limousin aufwuchs und beim Historienmaler Jacques-Louis David ausgebildet wurde, in eine Reihe mit keinen Geringeren als Giotto, Leonardo, Rembrandt, Goya oder van Gogh. Auch der französische Historiker Jules Michelet hat in seiner immer noch bedeutsamen „Geschichte der Französischen Revolution“, die in sieben Bänden zwischen 1847 und 1853 erschien, diesem riesigen Gemälde ein eigenes Kapitel gewidmet. Sie sollten sich also bei ihrem nächsten Besuch des Pariser Louvre Michons Buch unter den Arm klemmen, seiner Wegbeschreibung folgen (er gibt genau an, wo das Bild – geschützt von dickem Panzerglas – hängt) und sich diese gemalte Form der Geschichtsproduktion näher ansehen.
Die Wirklichkeit des Erfundenen
Seien Sie aber nicht zu enttäuscht, wenn Sie nichts finden. Denn das Gemälde gibt es nicht. In seinem meisterlichen Stück Prosa, das eine Mischung aus Essay, Künstlerportrait und literarischer Augenwischerei ist, hat Michon eine Gestalt mit einer erfundenen Biographie und den Louvre mit einem nie gemalten Bild ausgestattet. Zugegeben, er will uns hier kein Schelmenstück vorführen, weshalb recht schnell klar wird, dass wir Leser einer Erfindung sind. Michon hat also nicht den Weg Wolfgang Hildesheimers eingeschlagen, der seinen „Marbot“ im Stil einer klassischen Biographie mit so viel Plausibilität belegte, dass man unweigerlich zum Lexikon greifen möchte, um sicherzugehen, dass Marbot tatsächlich nie lebte.
Aber selbst wenn wir durchschauen, dass es sich um Fiktion handelt, dass der Maler Corentin niemals existierte und das Gemälde „Die Elf“ auch nach intensiver Suche im Louvre nicht aufzufinden ist – sollte uns das tatsächlich die historischen Schultern zucken lassen und Gemälde samt Maler der völligen Bedeutungslosigkeit überantworten? Wenn Corentin und „Die Elf“ nie Wirklichkeit waren, haben sie dann auch mit unserer (historischen) Wirklichkeit nichts zu tun?
Man kann die Beantwortung dieser Frage vom jeweiligen kulturhistorischen Status fiktionaler Texte oder vom Wirklichkeitsverständnis abhängig machen, mit dem man zu hantieren bereit ist. Die naheliegende Unterscheidung nähme eine klare Trennung zwischen Faktizität und Fiktionalität vor. Die erfundenen Geschichten mögen als nette Unterhaltung dienen, mögen sogar erkenntnisfördernd sein und uns die Augen öffnen für die Zustände der Wirklichkeit – aber sie sind keine Wirklichkeit! Menschen, Objekten und Ereignissen, die allein in der Form von Druckerschwärze und Papier, Celluloid oder Pixeln existieren, darüber hinaus aber keine außermediale Existenz besitzen, streiten wir üblicherweise den Wirklichkeitsstatus ab. Problematisch an einer solchen Auffassung ist nur, dass wir zumindest die Bücher, Filme oder Bilder, die diese Fiktionen enthalten, als Teil unserer Wirklichkeit anerkennen müssen. Wenn sie aber schon einmal da sind, könnte es dann nicht sein, dass sie mitsamt ihren Geschichten auch Wirksamkeiten entfalten, also in unsere Wirklichkeit hineinwirken?
Absolute Wahrheit
Fiktionen zeichnen sich ja nicht zuletzt dadurch aus, dass sie innerhalb ihres eigenen Referenzrahmens in einer Art und Weise auf Wirklichkeit und Wahrheit pochen können, wie dies in der Welt außerhalb des fiktionalen Rahmens niemals möglich wäre. In der Welt der erfundenen Geschichten haben alternative Wirklichkeitsentwürfe nur insofern Platz, als sie durch die Schöpfer der Fiktion zugelassen werden. Die Wahrheit der Fiktion ist absolut. Ein solcher Grad an Wirklichkeitsverdichtung lässt sich nicht einmal in der totalitärsten aller Diktaturen erreichen.
Interessant wird es dann, wenn die unterschiedlichen Sphären der Wirklichkeit, die faktischen und die fiktionalen, miteinander in Kontakt treten und sich überschneiden. Denn die Fiktionen sind beständig dabei, unsere Wirklichkeit zu verändern und zu infizieren: Nicht nur kommt die nicht-fiktionale Welt in der fiktionalen vor, ebenso werden fiktionale Deutungsangebote in unsere außerfiktionalen Lebens- und Weltentwürfe importiert.
Dann ist es nicht mehr so einfach, zwischen Erfindung und Realität zu unterscheiden. Aber das ist wohl weniger ein Problem der mangelnden Trennschärfe, vielmehr ein Problem unseres unzureichenden und eingeschränkten Wirklichkeitsverständnisses. Es gehört zum Standardrepertoire von Romanen, dem Leser zu versichern, es handele sich um wahrheitsgemäße Darstellungen, die vom Autor nur in seiner Funktion als Herausgeber veröffentlicht würden. (Auch Michon bemüht die beständige Ansprache an den Leser als Realitätsevokation, so als befände man sich bei einer Museumsführung.) Die Fiktion imitiert und desavouiert die Wirklichkeit in ihrem Realitätsverständnis – gleichzeitig gelingt es der außerfiktionalen Realität aber nicht in der gleichen Weise, ihre fiktionalen Gehalte ernst zu nehmen.
Muss es aber nicht so erscheinen, als seien Figuren wie Don Quijote, Robinson Crusoe, Faust oder Dracula selbstverständliche Bestandteile unseres Lebens? Zumindest muss man sie als Elemente unserer historischen Wirklichkeit akzeptieren, weil sich einerseits in ihnen vergangene Realität verdichtet und weil sie andererseits auf diese Wirklichkeiten unübersehbaren Einfluss ausgeübt haben. Dabei handelt es sich bei diesen und vielen weitere Figuren um Beispiele, die ihre Fiktionalitätsmarkierung noch eindeutig mit sich herumtragen. Etwas mulmiger wird die Angelegenheit schon, wenn man erfährt, dass das US-Verteidigungsministerium kurz nach dem 11. September 2001 Renny Harlin engagierte, um Untergangsszenarien für mögliche weitere Anschläge zu entwerfen. Harlin war aber nicht Mitglied eines politikstrategischen think-tanks, sondern Drehbuchautor und Regisseur von „Die Hard 2“. [1]
Aber haben wir auch nur eine ungefähre Vorstellung davon, wie viele Erfindungen wir als selbstverständliche historische Wahrheit mit uns herumschleppen? Eine Märchengeschichte, die beispielsweise bis zum heutigen Tag in historischen Darstellungen und Schulbüchern wiederholt wird, handelt von der mittelalterlichen Überzeugung, bei der Erde handele es sich um eine Scheibe anstatt um eine Kugel. Dass diese „Geschichte“ eine Mittelalter-Fiktion des 19. Jahrhunderts ist, wurde schon längst erwiesen. [2] Scheint aber fast niemanden zu interessieren. Als Fiktion ist sie so mächtig, dass sie allenthalben nachgeplappert wird.
Die Frage danach, wer oder was denn nun Geschichte macht, lässt sich erwartungsgemäß auch nicht mit Blick auf die Fiktion letztgültig beantworten. Aber wie auch immer die Antwort ausfallen sollte, die fiktiven Geschichten und Figuren dürfen dabei nicht vergessen werden. Es wäre interessant zu erfahren, wie viele Menschen inzwischen im Louvre nachgefragt haben, wo denn nun das Gemälde der „Elf“ zu finden sei.
[1] David Shields: Reality Hunger. Ein Manifest, München 2011, 92
[2] Peter Aufgebauer: „Die Erde ist eine Scheibe“. Das mittelalterliche Weltbild in der Wahrnehmung der Neuzeit, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 57 (2006) 427-441
[Pierre Michon: Die Elf. Übersetzt von Eva Moldenhauer, Berlin 2013]
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Quelle: http://achimlandwehr.wordpress.com/2013/05/26/08-michon-und-die-faktizitat-des-fiktionalen/