Zwei Wissenschaftler. Ein hochspannender Austausch über aktuelle Forschungsthemen. Und die digitale Aufzeichnung dieses Austausches. So sieht das Konzept des Blogs von Prof. Dr. Udo Thiedecke aus. Der Professor der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz lässt in seiner Audiopodcast-Reihe „Das soziologische Duett“ Wissenschaftler ihre … Continue reading
Fromme Kirchendiebe in Paris. Warum 1528 einige Hostien der Zerstörung entgehen
Im Jahr 1528 brechen Diebe in die Kirche des Augustinerstifts St. Victor vor den Toren von Paris ein. Sie rauben heilige Wertgegenstände – aber entfernen zuvor andächtig die Hostien und legen sie mit großen rituellen Vorkehrungen auf den Altar. Das versetzt auch zeitgenössische Beobachter in Erstaunen. Was sagen diese Handlungen über die Glaubenswelt der Räuber zu einer Zeit, als sich in Paris bereits evangelische Ideen ausbreiten? Und wie reagieren die Augustinerchorherren auf den ungeheuerlichen Vorgang? Der Vorfall ereignet sich in der Nacht vom 28. Mai. Es gibt keine Zeugen, nur die Spuren der Verwüstung werden den Chorherren am Morgen danach ersichtlich. Einer der Augustiner, der 46-jährige Kämmerer Pierre Driart, berichtet in seinen tagebuchartigen Aufzeichungen über den Raub: “In der Nacht von Donnerstag, dem 28. Tag des genannten Monats, eine Woche nach Christi Himmelfahrt, drangen mehrere diebische Übeltäter, nachdem die Matutin des Festes von Saint-Germain, Bischof von Paris, gebetet worden war, mit einer bewaffneten Gruppe über die Mauern des Kirchhofs in die Kirche ein und zwar über eine der Kapellen auf der Seite des Kirchturms, in der noch keine Fenster eingebaut waren. Sie nahmen den Tabernakel und den Kelch dort, wo der kostbare Leib unseres Herrn auf dem Altar war, hinter […]
Zwei Tagungen zu Parlamenten, Wahlen und Parteien
Zu zwei dieses Jahr stattgefundenen Veranstaltungen mit wichtigen Beiträgen zur Kulturgeschichte der Politik im 19. und 20. Jahrhundert sind eben auf H-Soz-u-Kult ausführliche Tagungsberichte erschienen:
Unter dem Titel „Politische Kommunikation vor Ort. Demokratische Kulturen und lokaler Raum in Europa, 1870–1990“ veranstaltete das Institut für Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin (Lehrstuhl für Europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts, Prof. Thomas Mergel) in Zusammenarbeit mit der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien vom 4. bis zum 6. April 2013 eine internationale Tagung, auf der sich Forschende aus Deutschland, Italien, Frankreich, Dänemark, den Niederlanden und den USA über das Verhältnis lokaler politischer Kulturen zum „politischen Massenmarkt“ austauschten. Zur Sprache kamen unter anderem Wahlen und Wahlkämpfe, lokale Parteiorganisation, der Einfluss von Kirchen auf die lokale Politik, Gewalt als Medium politischer Konflikte und immer wieder die Frage, was unter dem Lokalen überhaupt zu verstehen sei und wie es als Raum, Bezugsrahmen und Identität auf vielfältige Weise konstruiert wurde. Der behandelte Zeitraum reichte vom späten 19. Jahrhundert bis in die 1970er Jahre. Teilgenommen hat im übrigen auch eine Veranstalterin der kommenden Tagung „Culture and Practice of Elections“, über die hier schon berichtet wurde. Den Tagungsbericht von Felicia Kompio gibt es unter
http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=5034
„The Ideal Parliament: Perception, Interpretation and Memory of Parliaments and Parliamentarism in Europe“ hieß die zweite Tagung, die vom 30. Mai bis zum 1. Juni 2013 in Den Haag stattfand. Organisiert wurde sie von deutschen und niederländischen Partnerinstitutionen im Rahmen des European Information and Research Network on Parliamentary History, darunter wiederum die Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Auch hier gab es ein breites internationales Feld von Vortragenden, die nicht nur zu den „klassischen“ Untersuchungsfällen Großbritannien und Frankreich, sondern auch etwa zu Spanien, Belgien, Italien, Ungarn, Polen oder der Tschechoslowakischen Republik sprachen. Es ging um Modelle und Ideale des Parlamentarismus, um Begeisterung für die parlamentarische Demokratie, aber auch um Kritik an ihr und die Suche nach Alternativen, nicht zuletzt auch um historiographische Traditionen der Deutung der Parlamentsgeschichte. Von den chronologisch gruppierten vier Sektionen ist aus der Perspektive unseres Blogs die erste zum 19. Jahrhundert besonders zu beachten, in der auch von Willibald Steinmetz (Bielefeld) ein Vortrag über die Frankfurter Nationalversammlung von 1848/49 im Spannungsfeld transnationalen Kulturtransfers und spezifisch-situativer Einflüsse gehalten wurde: „A New Design? The Frankfurt National Assembly of 1848/49 and ‘Western’ Parliamentary Culture“. Alles Weitere finden Sie im Tagungsbericht von Juliane Brandt (München) unter
http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=5029
Für längere Dauern, größere Räume und materiellen Determinismus?
Turns gibt es viele in der Geschichtswissenschaft. Ihr Rhythmus scheint sich mit der Beschleunigung der globalisierten Welt selbst zu beschleunigen. Wir erleben “Gleichzeitigkeiten” (Achim Landwehr) von Wenden bezüglich der Interessenschwerpunkte, Theorien und Methoden.
Mir scheint aber, dass diese turns mehr gemeinsam haben, als es auf den ersten Blick scheint. Nicht immer, wenn in der Historiographie eine neue Seite aufgeschlagen wird, beginnt auch immer ein neues Kapitel. An vier Punkten will ich versuchen, die Gleichartigkeiten der turns seit der kulturalistischen Wende der 1970er Jahre (in Frankreich und Italien) bzw. der 1990er Jahre (in Deutschland) zu bezeichnen. Meine Einlassungen zu diesen vier Merkmalen der aktuellen Kulturgeschichte sind freilich nur flüchtige Überlegungen – zumal auch ich eigentlich auf der kulturwissenschaftlichen Methodenseite stehe.
1. Mikrostudien. Der große räumliche Wurf wird nur mehr selten gewagt. Die Skalierung von Studien bezieht sich auf kleinteilige Räume: Städte, Landgerichte, kleine und mittlere Reichsterritorien oder Regionen, einzelne Klöster oder Zwischenräume wie Fenster, Brücken und Türen. Freilich gibt es Ausnahmen, die mir in der französischen Forschung mit ihrer alten Tradition der grands espaces noch am häufigsten scheinen. Aber auch dort herrscht der Mikrotrend. Friaul mit Käse und Würmern statt totaler Mittelmeergeographie.
2. Eher kurze Dauer.
100 Jahre sind lang, länger werden nur Minimalthemen oder (quellenmäßg) rare Phänomene behandelt. Thesen, die mehrere Jahrhunderte umfassen, werden seltener – abgesehen von den wild wuchernden Epochen-Überblicksbänden für Studienanfänger. Ein zeitlicher und auch konzeptuell fassbarer Großblick à la temps des réformes eines Pierre Chaunu würde womöglich nicht mehr ernst genommen werden.
3. Materialität und Grundbedingungen. Eigentlich erlebt Materialität gerade wieder ein Comeback, allerdings in einer kulturalisierten theoretischen Form. Es geht heute um die Wahrnehmungen und Bedeutungszuschreibungne zu Artefakten, deren “Materialität und Präsenz” in Ding-Raum-Mensch-Geflechten. Was ich aber meine, ist eine andere Art von Materialität: natürliche, geographische, ökonomische, klimatische Bedingungen für die Lebenswelt der Menschen. Grundbedingungen im eigentlichen Sinne, die menschliches Handeln und Wahrnehmen prägen, möglich machen, formen und konditionieren. So unkonstruktivistisch wie möglich!
4. Wehe den Determinsimen…! rufen dann viele. Der Mensch sei der Ort der Geschichte und allen Handelns, Wahrnehmens, aller Bedeutung und Sinnhaftigkeit. Aber müsste die Postmoderne nicht ein wenig von diesem anthropozentrischen Geschichtsbild abrücken? Ist es nicht tatsächlich so, dass Berge mit ihren klimatisch-geographischen Bedingungen die Landwirtschaft, Ökonomie und sogar die Zahl der Menschen dort stärker beeinflussen als umgekehrt? Präzise gefragt: Konstruiert der Mensch den Berg oder nicht doch der Berg den Menschen? Ist Geschichte bis zur Moderne nicht eine der langen Zeit und starren (da, ja, determinierten) faktischen Strukturen?
So sind doch die meisten aktuellen turns keine historiographischen Wenden, die in Bedeutung und Umbruch dem Wandel von der Politik- zur Sozial- zur Kulturgeschichte gleichen würden. Seit der kulturalistischen Wende, beginnend mit den mental und linguistic turns, schwanken Interessen. Die Grundausrichtungen aber bleibt.
Kann es überhaupt etwas anderes geben als die aktuelle kulturalistisch-anthropologische Geschichtsschreibung? Vielleicht täte es gut, mal wieder einen Blick in seinen Braudel oder – für die Deutschen – ihren Wehler zu werfen. Was mir vorschwebt ist freilich keine Rückkehr zur alten Sozialgeschichte der 1950er und 60er Jahre. Aber ein verstärkter Rückgriff auf längere Dauern, größere Räume, essentiell-materielle Lebensbedingungen und Determinismen für das menschliche Leben in der Vormoderne wäre womöglich eine Perspketive. Nicht zuletzt, um mal wieder einen fundierten und fruchtbaren Theorie- und Methodenstreit in der forschenden Zunft zu provozieren. Denn der vergangene Historikertag in Mainz war doch arg harmonisch.
Fernand Braudel, der Entdecker der longue durée und des Mittelmeers.