Von Menschen und Monstern in der Rechtgeschichte

Zu den Missverständnissen, die einer “langen Geschichte” uneindeutiger Körper im Weg stehen, gehört die Vorstellung, dass Menschen mit untypischen Genitalien lange Zeit, wenn nicht gar immer, als “Monster” wahrgenommen worden seien. In der neueren Literatur gehen diese Vorstellungen oft auf Foucault zurück. Eine durchaus typische Formulierung dieser Position lautet z.B. so: Since ancient times intersexed bodies were literally constructed as mythical monsters and have been seen as such in the medical discourse until today. The enduring influence of the mythical and religious literary imagery […]

Quelle: http://intersex.hypotheses.org/255

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Viele Geschlechter, viele Begriffe: Zur Semantik von “intersexuell”, “hermaphroditisch”, “bisexuell”

Über uneindeutiges körperliches Geschlecht wird auf viele Weisen und mit vielen Begriffen gesprochen. Es ist ziemlich offensichtlich, dass dabei die Begriffe oft sehr durcheinandergehen und die Diskussionen von ungenauen, verwirrenden und verletztenden Begriffen geprägt sind. Der historische Sprachgebrauch ist selbst für das 20. Jahrhundert einigermaßen kompliziert. Das, was heute als “Intersexualität” bezeichnet oder mehr oder minder umständlich als “Varianz der als normal definierten körperlichen Geschlechtlichkeit” o.ä. umschrieben wird, wurde historisch mit vielen Begriffen bezeichnet. Dazu gehören außer “Intersexualität” vor allem “Hermaphroditismus”, “Androgynie” und “Bisexualität”, […]

Quelle: http://intersex.hypotheses.org/165

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Die Fallstricke des kunsthistorischen Publizierens. Was kostet eine Architekturzeichnung? #1

Aus aktuellem Anlass, der bevorstehenden Publikation meiner Dissertationsschrift, bin ich mit der Frage konfrontiert, was eigentlich eine Architekturzeichnung kostet, sofern man diese publizieren möchte. Im Laufe meiner Rechrechen hatte ich mit bundesweiten Archiven, Graphischen Sammlungen und Bibliotheken zu tun. Dabei … Continue reading

Quelle: http://archidrawing.hypotheses.org/345

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Gesundheit durch Magie. Marsilio Ficinos De vita libri tres

1000 Worte Forschung: Dissertation Philosophiegeschichte, Universität Wien

Im Jahr 1489 erscheint eine lateinische Inkunabel mit dem Titel De vita libri tres. Der Autor ist der aus Figline stammende Arzt, Philosoph und Priester Marsilio Ficino (1433-1499). Er war kein Unbekannter im Quattrocento: Protegiert von Cosimo de’Medici, galt Marsilio Ficino als intimer Kenner der Antike. Er übersetzte nicht nur das gesamte platonische Corpus vom Griechischen in die lateinische Sprache, sondern machte auch die Übersetzungen anderer spätantiker Schriften, darunter Texte von Iamblichus, Synesius, Priscian, Proklus und Psellus der gelehrten Leserschaft zugänglich.[i] Jedoch waren es die Drei Bücher über das Leben, mit denen Marsilio Ficino ein „Bestseller“ seiner Zeit gelang, wie über 26 Auflagen bis zum Jahr 1647 belegen.[ii]

Ficinos Intention war es, mit De vita libri tres ein medizinisches Werk für den Erhalt der Gesundheit zu verfassen. Primäre Adressaten waren die Gelehrten seiner Zeit. Das erste Buch De vita sana, thematisiert die Reinigung des Körpers und Geistes mithilfe von Diäten, Kuren und Arzneimischungen. Das zweite Buch, De vita longa enthält therapeutisch-pharmazeutische Maßnahmen, die dabei helfen sollen, die Gesundheit zu bewahren und zu verlängern. De vita coelitus comparan­da, der Abschluss der Trilogie, war als Kommentar zu Plotins Enneaden (Enn. IV, 3, 11 und IV, 4, 26–44) konzipiert.[iii]

Bei eingehender Lektüre von De vita coelitus comparanda wird jedoch deutlich, dass es Marsilio Ficino um mehr ging, als einen Kommentar zu den Plotinischen Enneaden zu verfassen. Vielmehr verbindet er kosmologische, naturphilosophische und medizinische Wissensbestände mit astrologischen und astral-magischen Überlegungen aus unterschiedlichen Traditionenlinien. Dabei stellt er seinen ZeitgenossInnen nicht nur eine Kollektion diverser, bis dahin wenig bekannter antiker und mittelalterlicher Magietheorien vor, sondern verknüpft auch ägyptische, arabische, lateinische und griechische Quellen zu einer neuen synkretistischen Philosophie. Aus der Verbindung von aristotelischen, platonischen, neu-platonischen und scholastischen Traditionszweigen, entsteht die charakteristische Tradition der gelehrten Renaissancemagie, die sich in Werken wie Cornelius Agrippasʾ De occulta philosophia libri tres (1531) oder Giambattista della Portasʾ Magiae Naturalis (1558) fortsetzte. Sie behauptet von sich, im Einklang mit den Lehren des Christentums zu stehen.

Ficinos „kulturelle Synthese“ erzeugt aber auch Spannungen, die vor allem auf divergierende naturphilosophische und empirische Modelle zurückgehen und die sich anhand der heterogenen Entwürfe von natürlicher und dämonischer Magie beschreiben lassen. Sie bilden zugleich den Untersuchungsgegenstand meines Promotionsprojektes, das den Titel „Saturn und Talisman. Die widersprüchlichen Begriffe der Magie am Beispiel von Marsilio Ficinos De vita libri tres“ trägt.

Den Ausgangspunkt der natürlichen Magie  bilden die „wunderbaren“, aber der Wahrnehmung verborgenen Kräfte der Natur, etwa der Magnetismus oder die astralen Einwirkungen der Gestirne auf natürliche Objekte wie Steine, Pflanzen und Tiere sowie auf den untersten – den vegetativen Teil – der Seele. All diese Kräfte haben ihren Ursprung in Gott. Dieser Theorie zufolge verwendet bzw. kanalisiert der Akteur der natürlichen Magie lediglich die auf universellen Sympathien und Antipathien basierenden natürlichen Stoffe, um mit ihnen, die organische, das heißt, die sterbliche Seele in bestimmter Weise zu konditionieren. Diese Vorstellung bildet einen integralen Bestandteil von Ficinosʾ Darstellung der auf Astrologie basierenden Medizin: Gold, Honig und Safran beispielsweise, können zum richtigen Ort und Zeitpunkt den Strahlen der Sonne ausgesetzt werden. Ausgehend von der Idee  einer verwandtschaftlichen Ähnlichkeit, ziehen diese Stoffe, die solaren Qualitäten verstärkt an. Durch Einnahme bzw. äußerliche Anwendung, helfen sie, die Kraft der Sonne in sich aufzunehmen und den Körper dadurch zu stärken.[iv]

Dem entgegengesetzt konzentriert sich die dämonische Magie auf das Verhältnis zwischen Menschen und Dämonen – manche von ihnen sind als Planetendämonen verkörpert. Sie sind aktiv und können willentlich auf die höheren Seelenteile und den Geist wirken. Der Magus benützt daher artifizielle Objekte wie Talismane, um die von den Dämonen emittierte kosmische Strahlung durch bestimmte Zeichen anzuziehen und sie auf den Träger des Talismans zu fokussieren. Diese Praxis der Dämonenbeschwörung widersprach jedoch christlichen Lehren, unter anderem deswegen, weil mithilfe von künstlichen Objekten versucht wird, aktiv in den göttlichen Kosmos einzugreifen sowie bestehende Wirkungen zu stören und zu verändern. Hier finden sich auch Ideen bezüglich der Mechanisierung der Welt, die noch Jahrhunderte später in den Naturwissenschaften eine große Rolle spielen sollen.

Marsilio Ficino bedient sich der Stimmen von Autoritäten wie Iamblichus, Psellus und Pietro d’Abano, um über astrologische Talismane zu „berichten“. Dies geschieht in der Absicht, die mentalen Qualitäten des Menschen positiv zu beeinflussen, also z. B. die durch den Planetendämon Saturn hervorgerufene Melancholie durch den apollinischen Sonnendämon zu vertreiben.[v] Ficino suchte daher nach Wegen, die antiken Traditionen in sein kulturelles Umfeld zu integrieren – auch und gerade weil er vom therapeuti­schen Potenzial und der Effektivität dieser Praxis der Dämo­nenbeschwörung überzeugt war.

Beide Formen der Magie finden sich in Marsilio Ficinos De vita libri tres wieder und verzahnen sich geradezu ineinander. Wir finden dabei dämonische Elemente in der Beschreibung der natürlichen Magie und vice versa. Dieses spannungsgeladene Verhältnis, das sich einerseits durch formale Trennung und andererseits als instabile Einheit zwischen den beiden Magietheorien beschreiben lässt, bildet den Schwerpunkt meines Promotionsprojektes, und wird exemplarisch an Ficinos Entwürfen von Saturn und dem Talisman veranschaulicht. Die Analyse verdeutlicht nicht nur Paradoxien in Ficinos philosophisch-magischem Denken, sondern sie thematisiert darüber hinaus auch das komplexe Verhältnis von theoretischer Untersuchung und praktischer Anwendung von Magie insgesamt.

[i] vgl. James Hankins: Plato in the Italian Renaissance, Leiden/New York/Köln 1994, S. 267–299; Paul Oskar Kristeller: Acht Philosophen der Italieni­schen Renaissance – Petrarca, Valla, Ficino, Pico, Pomponazzi, Telesio, Patrizi, Bruno, Weinheim 1986, S. 33–36.

[ii] vgl. Dieter Benesch: Marsilio Ficino’s ’De triplici vita’ (Florenz 1489) in deutschen Bearbeitungen und Übersetzungen – Edi­tion des Codex palatinus germanicus 730 und 452, Frankfurt am Main/Bern/Las Vegas 1977, S. 8.

[iii] vgl. Brian P. Copenhaver: Renais­sance Magic and Neoplatonic Philosophy: «Ennead» 4, 3–5 in Ficino’s “De Vita Coelitus Comparanda”; in Gian Carlo Gar­fagnini (Hg.): Marsilio Ficino e il ritorno di Platone – Studi e documenti, Florenz 1986, S. 351–369.

[iv] vgl. Marsi­lio Ficino: Opera Omnia, 2. Bde., hg. von Paul Oskar Kristel­ler, Torino 1983 (Nachdruck der Gesamtausgabe Basel 1576), Ficino: Opera Omnia, De vita libri tres, Lib. III, Cap. IV, S. 535 [S. 565] – 536 [S. 566], Cap. XIII, S. 550 [S. 580].

[v]  ebda. Lib. III, Cap. XIII, S. 548 [S. 578]; Cap. XVIII.

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/3387

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CfA: Studienkurs “Horae Bambergenses. Latein in Europa von der Spätantike bis zur Renaissance”. Bamberg 03/2014


Horae Bambergenses

Latein in Europa von der Spätantike bis zur Renaissance

Kompakter Studienkurs in Bamberg (10 ECTS) – 17. März bis 22. März 2014

Das lateinische Erbe prägte Europas Kulturwelt noch Jahrhunderte nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches. Latein ist die Sprache der Kirche (Heiligenviten, Liturgie), der Naturwissenschaften und Medizin sowie der Literatur (Dichtung, Prosa), und es ist das einzige internationale Idiom bis in die Frühe Neuzeit hinein. Die Horae Bambergenses führen in die lateinische Sprache bis zur Zeit des Humanismus ein. Der Kurs vermittelt fundierte Kenntnisse der nachklassischen Latinität und stellt die wichtigsten Hilfsmittel für alle Fachrichtungen der mediävistischen und frühneuzeitlichen Studien in Seminaren und Übungen vor. Dabei werden auch kulturhistorische Zusammenhänge nicht zu kurz kommen. Ziel ist eine umfassende Einführung in das Mittellatein bis zum 15. Jahrhundert und in den jeweiligen kulturellen Kontext. Der Kompaktkurs richtet sich sowohl an Studierende der Universitäten Bamberg und Erlangen (Bachelor und Master), wo er in die Studiengänge MA Interdisziplinäre Mittelalterstudien / Medieval Studies (Bamberg) und BA/MA Mittellatein und Neulatein sowie MA Mittelalter- und Renaissancestudien (Erlangen) integriert ist, als auch an Auswärtige, welche das international einzigartige Angebot in der historischen Stadt Bamberg nutzen möchten. Der Kurs wird vom Lehrstuhl für Lateinischen Philologie des Mittelalters und der Neuzeit an der Friedrich-Alexander-Universität (Prof. Dr. Michele C. Ferrari) und vom Zentrum für Mittelalterstudien der Otto-Friedrich-Universität Bamberg (Verantwortliche: Prof. Dr. Andrea Schindler) organisiert und mit einem Diplom (max. 10 ECTS) abgeschlossen.

Teilnahmegebühr: 80 € (für regulär eingeschriebene Studierende der Otto-Friedrich-Universität Bamberg und der FAU Erlangen-Nürnberg entfällt die Teilnahmegebühr)

Bewerbungen mit vollständigem Lebenslauf senden Sie bitte an:

Prof. Dr. Michele C. Ferrari

Friedrich-Alexander-Universität

Mittellatein und Neulatein

Kochstr. 4/3

91054 Erlangen

E-Mail: michele.c.ferrari@as.phil.uni-erlangen.de

Die Bewerbungsfrist endet am 31. Januar 2014

Für die Informationen danken wir Dr. Stefan Weber, Akademischer Rat am Lehrstuhl für Lateinische Philologie des Mittelalters und der Neuzeit an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

 

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/1914

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Thinking without Vitruvius? Diagrams as Design Tools for Garden Architecture in the Northern Renaissance

As it is generally understood the design process of gardens and garden architectures in the Northern Renaissance relies on ground plans, elevations, profiles and perspectives. But considering the complexity of gardens and their architectures I am interested just how these … Continue reading

Quelle: http://archidrawing.hypotheses.org/249

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Thinking without Vitruvius? Diagrams as Design Tools for Garden Architecture in the Northern Renaissance

As it is generally understood the design process of gardens and garden architectures in the Northern Renaissance relies on ground plans, elevations, profiles and perspectives. But considering the complexity of gardens and their architectures I am interested just how these … Weiterlesen

Quelle: http://archidrawing.hypotheses.org/249

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Funktion und Bildlichkeit der Architekturzeichnung – ein Dissertationsprojekt

Die Motivation für das Blog ist vor allem auch durch mein laufendes Dissertationsvorhaben zu Architekturzeichnungen der deutschen Renaissance. Funktion und Bildlichkeit zeichnerischer Produktion 1500–1650 bestimmt. Immer wieder werde ich einzelne Aspekte aus meinen aktuellen Forschungen posten. Hier zunächst die grundlegenden Ideen und Thesen:

Nordalpine Architekturzeichnungen der Zeit von 1500–1650 sind kein tradierter Forschungsgegenstand der Kunstgeschichte und gelangen erst seit jüngster Zeit in den Fokus wissenschaftlicher Untersuchungen. Das Dissertationsvorhaben versteht sich demnach als Beitrag zu einer grundlegenden Erschließung von Architekturzeichnungen der deutschen Renaissance.

Die zahlreich in verschiedenen Archiven und Sammlungen des gesamten Bundesgebietes überlieferten Zeichnungen stellen nicht nur wichtige Primärquellen für die Erforschung der Architekturgeschichte der Frühen Neuzeit dar, sondern gewinnen mit Blick auf neue kulturwissenschaftliche Überlegungen zur nordalpinen Renaissance und der jüngst etablierten Wissenschaftsgeschichte der Architektur („epistemic history of architecture“) wie der bildwissenschaftliche Wende an besonderer Relevanz.

Ziel des Dissertationsvorhabens ist es, die Architekturzeichnung der deutschen Renaissance hinsichtlich ihrer Medialität zu beschreiben, um so erstmals einen Überblick über die unterschiedlichen Darstellungstypen und die Entwurfs- und Planungspraxis der Zeit von 1500–1650 zu erhalten. Um das vielfältig überlieferte, jedoch stark heterogene Quellenmaterial architektonischer Zeichnungen in angemessener Weise zu typologisieren und zu analysieren wird für eine methodologische Neuausrichtung architekturhistorischer Verfahren der Medien- und Bildwissenschaft plädiert.

Es gilt ein Instrumentarium zu entwickeln, mit dem die Architekturzeichnung hinsichtlich selbstreflexiver, memorierender und kommunikativer Aspekte der Konzeption, Produktion und Vermittlung von Architektur kritisch diskutiert werden kann.

Quelle: http://archidrawing.hypotheses.org/67

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Bibliotheken – Eine Ausstellung über ihre Architektur, Geschichte und Zukunft

Bibliothèque nationale de France, site Richelieu (salle ovale)

Jahrhundertelang waren Bibliotheken und Archive die wichtigsten Speicher des Geschriebenen. Vor allem die Bibliotheken waren die zentralen Sammelpunkte für das abstrakte Wissen und die Kondensate menschlichen Denkens. Doch mit dem Web haben diese Einrichtungen eine Konkurrenz bekommen. Man könnte sagen, die Basiliken der Bücher werden unaufhaltsam vom digitalen Basar abgelöst.

Anlass genug, um über die künftige Rolle von Bibliotheken neu nachzudenken. Da kommt die Münchener Ausstellung  Die Weisheit baut sich ein Haus. Architektur und Geschichte von Bibliotheken gerade recht. Sie widmet sich der Geschichte von Bibliotheken zunächst aus architekturgeschichtlicher Sicht.

Dabei lassen sich auch neue Ideen gewinnen, wie Orte aussehen können, an denen Wissen für alle bereitgestellt werden soll. Und am Ende ging ich mit dem Gedanken hinaus, dass nicht nur das Web die Bibliotheken, sondern auch die Bibliotheken das Web verändern werden.

1. Versuche, die Welt zu ordnen

Diderot - Œuvres complètes, éd. Assézat, XIII - 175

Die schematische Darstellung der menschlichen Wissensgebiete der Enzyklopädisten wurde oft zum Modell einer Bibliotheksordnung erkoren

Die erste Abteilung der Ausstellung macht dem Besucher klar, wie intensiv sich der Architekt (seltener: die Architektin) einer Bibliothek mit der „Ordnung der Dinge“ (Michel Foucault)  auseinandersetzen muss. Natürlich haben die „Baumeister“ der Bibliotheken viele praktische Probleme zu lösen: Licht, Zugänge, Deckenbelastungen. Aber die Architektur der Bibliotheken ist von Beginn an eng mit dem Welt- und Menschenbild der Bauherren und Architekten in ihrer Epoche verzahnt. Das kommt schon in den Raumkonzepten oder in den  Bildprogrammen zum Ausdruck.

Bibliotheken versuchen dabei nicht nur den jeweils aktuellen Kenntnisstand zu erfassen und zu ordnen, sie weisen auch immer über ihre Zeit hinaus. Man könnte sagen, Bibliotheksbau ist immer eine Weltinterpretation oder eine Weltaneignung mit einem Fahrplan wohin die Reise gehen soll und einer Idee, wie diese Reise zu organisieren ist. Der Bibliotheksbau ist ein ganz besonderer Erkenntnisweg für die Beteiligten.  Wenn man beispielsweise als Architekt des 17. Jahrhunderts davon ausgeht, dass die Welt einer göttlichen Ordnung entspricht, dass sie ein „Kosmos“ ist, den es zu entdecken gilt, dann wird der Bau einer Klosterbibliothek zur Gottsuche.

Ich glaube, dass die anhaltende Attraktivität von Bibliotheken – gerade die der modernen und bürgerlichen – viel damit zu tun hat, dass sie verallgemeinerbare Utopien zum Ausdruck bringen. Man findet zumindest in den in Bibliotheken seit dem Mittelalter mehr als nur Wissen. Man muss sich nur umsehen.

In jedem Fall eröffnet sich ein interessantes Forschungsgebiet für diejenigen, der sich ideologiekritisch an das Thema heranwagen. Und dieses Forschungsgebiet ist sogar sehr relevant, weil sich täglich Milliarden von Menschen in der größten Bibliothek der Welt – dem Web – aufhalten. Diese digitale Bibliothek nutzen und ergänzen sie jeden Tag, verändern und ordnen sie; wenn auch nicht mit den Methoden der Bibliothekare der Papier-Bücher. Hier wird jeden Tag konkret bestimmt, was Wissen ist, was wichtig und was aufhebenswert. Dieser Gedanke schwingt bei Blick auf die historischen Bibliotheken in dieser Ausstellung immer mit.

Das Web aktualisiert damit die alte Utopie einer umfasssenden Universalbibliothek. Seit der Bibliothek von Alexandria träumt die Menschheit von einer kompletten Sammlung des Wissens, zumindest träumt sie davon, Zugriff auf dieses Wissen an einem einzigen Ort zu haben. Doch das wurde spätestens mit  Erfindung des Buchdrucks völlig unmöglich. Das rapide Anwachsen des globalen Buchbestands hat noch jeden Versuch, diesen an einem Ort verfügbar zu machen, ad absurdum geführt.

Schon Gottfried Wilhelm Leibniz Leibniz (1646-1716) erwog in der Not die Einrichtung einer „Kernbibliothek“ mit den wichtigsten Werken. Paul Otlet (1868 – 1944) und Henri La Fontaine (1854 – 1943) gründeten 1894 das Mundaneum, das bis 1930 über sechzehn Millionen bibliographische Einträge aufwies. Und auch Vannevar Bush (1890 – 1974) griff mit dem Hypertext-Konzept Memex die Idee auf, dass man den Wissensbestand der Menschheit wenigstens verzettelbar machen könnte.

Und nun scheinen diese Utopien des Vollzugriffs über das Web wirklich erreichbar. Dabei könnte man aus der langen Geschichte der Bibliotheken den Schluss ziehen, sich nicht mit Vollständigkeitsvorstellungen und der Suche nach universalen Ordnungsmustern zu belasten. Es ist einfach sinnvoller, die Wissensproduktion in Bewegung zu denken. In diesem Sinn will die heutige Bibliotheksordnung vor allem „praktisch“ sein. Winfried Nerdinger plädiert in der Aufsatzsammlung zur Ausstellung für eine dynamische, stets in Bewegung befindliche und der Bibliothek angemessene Ordnung (S. 31).

Bei der Betrachtung der dynamischen Wissensproduktion und der Bücherbewegungen sind nicht zuletzt die Lücken interessant. Worüber wird nicht gesprochen? Welches Wissen wird nicht in Büchern festgehalten und bereitgestellt? Welche Disziplinen und Themen treten wann und warum in den Hintergrund? Was ging dabei verloren? Die wissenschaftlichen Ordnungsversuche und Lernprozesse sagen erstaunlich viel über die Gesellschaft, über Kulturen und Klassen einer Epoche aus. Damals wie heute.

2. Weltaneignung und kulturelle Hegemonie


Der zweite Teil der Ausstellung ist sicher der visuell interessanteste. Hier rekonstruieren Baumodelle und erstklassige Aufnahmen die Entwicklungsgeschichte von Bibliotheken seit der Antike. Nur langsam entwickelte sich aus Archiven erste Bibliotheken.

Auch wenn der Fokus der Ausstellung auf der Baugeschichte liegt, erfährt man vor allem in der Aufsatzsammlung immer wieder Interessantes in Nebensätzen. Die Palastbibliothek des Assyrischen Herrschers Assurbarnipal (668-627 v.Chr.) hatte den Zweck, sich die Kultur der unterworfenen Babylonier anzueignen (S. 263). Auch in Rom waren größere Büchersammlungen zuerst Beutestücke aus Kriegen im Osten. Die Geschichte von Bibliotheken erweist sich nicht selten als Geschichte einer Sammlung von Herrschaftswissen, ist Ergebnis von Beutezügen oder Aneignung fremder Kulturgüter – von der Antike bis heute.

Im europäischen Mittelalter waren Bücher vor allem Gebrauchsgegenstände. Sie wurden dort aufgestellt, wo sie täglich benötigt werden. Die Idee, mit Bibliotheken ein kulturelles Gedächtnis zu schaffen, entwickelte sich in der frühen Neuzeit. Es entstanden Kloster-, Universitäts- oder Fürstenbibliotheken. Sie dienten unter anderem der Repräsentation der Auftraggeber, brachten ihren Herrschaftsanspruch und ihre Ordnungsvorstellungen zum Ausdruck.
Bibliothek.Admont gesamt

Das machen nicht zuletzt die barocken Kloster-Bibliotheken deutlich. Sie wurden als palastartige Anlagen geplant und waren im Unterschied zu ihren mittelalterlichen Vorläufern zentrale Gebäude im gesamten Bau-Ensemble.

Heinfried Wischermann meint allerdings in seinem Aufsatz, Barockbibliotheken wären gar keine Demonstration der Macht gewesen. Die Bücherbestände der barocken Klosterbibliotheken hätten einerseits eine praktische Funktion für Studium, Seelsorge, Predigt und Schule gehabt. Sie wurden andererseits als „Heilmittel“ für „Gemüths-Kranckheiten“ und „für die Seele“ betrachtet. (S.113) Ich glaube Wischermann hat recht, wenn er darauf drängt, in der Interpretation nicht zu kurz zu springen. Aber sein Hinweis provoziert gleich weitere Fragen: Heilmitttel wovon? Aus welchen Verhältnissen konnte man dort ausbrechen? Welche Funktion haben Klosterbibliotheken im 18. Jahrhundert? Im Zeitalter von Konfessionskriegen und Aufklärung? Die historischen Gegenbewegungen bleiben wie so oft ausgeblendet.

Es ist eine Schwäche der Ausstellung, dass die sozial- und kulturgeschichtlichen Einordnungen sehr blass bleiben. In der Aufsatzsammlung scheinen zwar Zusammenhänge durch, doch man findet nur wenige Ansatzpunkte, welche Auseinandersetzungen die Geschichte der Bibliotheken vorantrieb und welche Rolle die inhaltlich sehr unterschiedlichen Bibliotheken mit ihren jeweiligen Trägern und spezifischen Sammlungsschwerpunkten darin spielten.

Ist das von einer Ausstellung über Architektur auch zu erwarten? Eigentlich schon. Denn die großen Anstrengungen, Bibliotheken zu bauen und betreiben, erklären sich nicht aus der Zeit heraus („in der Zeit des Humanismus“) oder aus der Laune eines Fürsten. Die Errichtung der Laurenziana in Florenz, der Bibliotheca Apostolica Vaticana in Rom oder des Bibliotheksaals im Escorial waren sehr konkrete Maßnahmen in einer anhaltenden Geschichte des Kampfes um kulturelle Hegemonie und politische Herrschaft.

Annahof corvinus stadtbibliothek allein

Nicht zufällig betrat mit dem Annahof in Augsburg die erste öffentliche kommunale Bibliothek die weltgeschichtliche Szenerie (S. 176ff.). Mit dem städtischen Bürgertum waren in der frühen Neuzeit neue Eliten, Kulturen und Klassen entstanden, die sich aus unterschiedlichen Motiven vom Wissensmonopol der Kirche emanzipierten. So auch in Augsburg. Eigene Bibliotheken ermöglichten diese Emanzipation. (Die Bedeutung der Sammlung des Wissens in Bibliotheken für die Rationalisierung der Herrschaft,  für eine effizientere Verwaltung, Ökonomie und Kriegsführung wäre Mal ein eigenes Thema.)

Die frühneuzeitlichen Bibliotheken popularisierten in jedem Fall den Gedanken, dass Wissen ohne Ständeschranken verfügbar sein sollte. Wissen als etwas „Öffentliches“? Nun meinte öffentlich in der frühen Neuzeit nur für das Bürgertum zugänglich, und es bedeutete schon gar nicht im Besitz der Öffentlichkeit. Dennoch werden die Traditionslinien bis zur heutigen Auseinandersetzungen um „Open Access“ im Web erkennbar: Hier wurde ein Programm formuliert, das bis heute nicht realisiert ist.

Und für das Thema „öffentliches Wissen“ ist der Beitrag über die Pluralisierung des Wissens von Dietrich Erben (S.169ff.), aber auch der Beitrag Wissen für alle: Von der Volksaufklärung zur öffentlichen Bibliothek von heute von Peter Vodosek (S.195ff.) lesenswert. Sie setzen sich mit den Entwicklungen in der Neuzeit und Zeitgeschichte auseinander und lenken den Blick weg von den Bildungseliten. Vodosek erinnert unter anderem daran, dass während der Revolution von 1848/49 erstmals die Forderung nach Volksbibliotheken für die breite Masse erhoben wurde. Die später Bücherhallenbewegung griff den Gedanken auf und erweiterte die Forderung, dass Bibliotheken für alle Stände gleiche Inhalte haben müssten. Sie wandten sich gegen eine Zwei-Klassen-Bildung und die Bevormundung durch eine Bildungselite. Und natürlich gehören auch die Arbeiterbildungsvereine um die Sozialdemokratie in die Geschichte öffentlicher Bibliotheken.

3. Ausblick und Zukunft der Bibliotheken im Web 2.0

IKMZ

Der dritte Teil der Ausstellung beschäftigt sich mit der Zukunft. Hier setzt das Web die neuen Maßstäbe. Das Web ist der Ort, an dem zuerst recherchiert wird. Und es ist der Ort, an dem zuerst publiziert wird. Inhalte, die dort nicht zu finden und zu lesen sind, haben das Problem, überhaupt noch rezepiert zu werden. Deswegen werden Zeitschriften und Bücher digital zur Verfügung gestellt.

Durch die digitale Erschließung der heutigen Bibliotheken wird das Web inhaltlich reicher. Physikalisch müssen auch die digitalen Bücher irgendwo liegen, aber sie sind an keinen räumlichen Aufstellungsort mehr gebunden. Sie sind potenziell überall verfügbar.  Kategorisierungen und Gewichtungen werden nicht von wenigen Bibliothekaren, sondern über einen größeren Kreis engagierter Nutzer vorgenommen.

Für die Zukunft der Bibliotheken aus Stein und Beton sehen Caroline und Johann Leiß drei Trends:

  • Die extrovertierte Bibliothek. Hier verstehen sich die Bibliotheken als soziale Integrationsorte. Ihre Räume bieten sich etwa mit Cafés auch als Location für kulturelle Veranstaltungen (Lesungen, Konzerte, Workshops) an. Dort ließen sich beispielsweise auch Zukunftswerkstätten organisieren.
  • Die introvertierte Bibliothek. Als Gegenwelt zur Konsumgesellschaft schließt dieser Typus an eine jahrhundertelange Tradition des Umgangs mit dem Buch an. Lesen und stille Beschäftigung mit dem Buch stehen hier im Mittelpunkt. Sich vertiefen zu können, ist hier Luxus oder aber auch Befriedigung eines Bedürfnisses nach Einkehr und Orientierung.
  • Die virtuelle Bibliothek. Die Bibliotheken lösen sich von ihrer Örtlichkeit und werden immer mehr zu virtuellen Dienstleistern. In die Lesesäle ziehen Laptops ein. Print und Digital entwickeln ein produktives Nebeneinander.

Es geht also weiter.

LOC Main Reading Room Highsmith

Aber werden die digitalen und nicht-digitalen Bibliotheken dann warenförmig organisiert? Wird der Leser zum Kunden? Gibt es auch im Netz eine Verwertung des Intellectual Porperties? Das sind die Konflikte von heute. Und deshalb werden aktuell wieder Bibliotheken und Sammlungen errichtet. Digitale und nicht-digitale. Freie und unfreie. Und vielleicht steht am Ende dieses Konflikt ein Wertewandel, dass als intellektuelle Leistung nur etwas wert ist, was über die digitalen Bibliotheken überall verfügbar ist und letztlich allen gehört.

Ausstellung: Die Weisheit baut sich ein Haus. Architektur und Geschichte von Bibliotheken. Ausstellung des Architekturmuseum der TU München in Kooperation mit der Stiftung Bibliothek Werner Oechslin in der Pinakothek der Moderne. 14. Juli bis 16. Oktober 2011.

Der gleichnamige Tagungsband, hg. v. Winfried Nerdinger, erschien im Prestel-Verlag


Einsortiert unter:Ausstellung

Quelle: http://kritischegeschichte.wordpress.com/2011/09/03/bibliotheken-eine-ausstellung-zu-ihrer-architektur-geschichte-und-zukunft/

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