Die Transformationsprozesse Ende der 1980er Jahre in Osteuropa führten nicht nur zu einer Öffnung der Grenzen, sondern begünstigten den allmählichen Zugang zu den Archiven in den ost- und nordosteuropäischen Staaten. Gleichsam wurde die Welt mit einem neuen Phänomen bereichert: dem World Wide Web. Heute bieten Web 2.0 und die sozialen Medien den Kultureinrichtungen ein neues Spektrum der Öffentlichkeitsarbeit und ermöglichen es ihnen, mit dem Nutzer zu kommunizieren. Darüber hinaus nutzen viele Kultureinrichtungen die Möglichkeit, ihre Bestände digital zu präsentieren und stoßen immer mehr Projekte an. Die ersten großen Projekte basierten vor allem auf der Digitalisierung, z. B. von Personenstandsunterlagen und Kirchenbüchern, die somit auch die Möglichkeit bieten, diese Kulturgüter zu bewahren und zu schützen. Weiter folgende Internetprojekte basierten darauf, diese digitalisierten Bestände dem Nutzer online zur Verfügung zu stellen. Darüber hinaus bietet diese neue Form der Öffentlichkeitsarbeit mit Hilfe von Web 2.0 und den sozialen Medien, in unserem Fall den Archiven, den Institutionen die Chance, sich mit all ihrem Repertoire national sowie international zu präsentieren. Im folgenden Beitrag soll ein Einblick in die digitale Arbeit der ost- und nordosteuropäischen Archive gegeben werden.
Insbesondere schufen die baltischen Staaten Portale zur Präsentation ihrer Digitalisate. Das Estnische Historische Archiv (EHA / Ajalooarhiiv) bewahrt umfassende Unterlagen der ehemaligen staatlichen Verwaltungsorgane des estnischen Gebiets sowie die Akten der Gerichts- und Polizeibehörden, der Ritterschaften und der Selbstverwaltungen der Städte und Gemeinden auf. Außerdem befinden sich in der Verwahrung die Unterlagen von Kirchen und Schulinstitutionen, Gutsbestände und Nachlässe, Archivalien verschiedener Vereine und Unternehmen. Auch befinden sich dort wertvolle Urkunden, Siegel, Originalbriefe der Herrscher, Pergamente, Kupferstiche und Fotos sowie Estlands größte Sammlung der historischen Karten. Das EHA enthält insgesamt 20 000 Regalmeter Archivgut bzw. rund 2 Millionen Archiveinheiten. Interessant in diesem Zusammenhang sind die Projekte SAAGA http://www.ra.ee/dgs/explorer.php und AIS http://ais.ra.ee/. Das Projekt SAAGA besteht seit 2004 und ist eine Kollektion von digitalisierten Archivbeständen des Estnischen Nationalarchivs und des Stadtarchivs Tallinns. Das Projekt umfasst gegenwärtig mehr als 9 Millionen Bilder. Das Projekt AIS ist eine elektronische Datenbank des Estnischen Nationalarchivs und des Stadtarchivs Tallinn, welche die Möglichkeit bietet, in den Beständen online zu suchen, um so eine etwaige Benutzung im hiesigen Lesesaal vorzubereiten. Weitere Projekte sind FIS (Filmiarhiivi Infosüsteem) http://www.filmi.arhiiv.ee/fis/, FOTIS (Fotode Infosüsteem) http://www.ra.ee/fotis/, Rahvusarhiivi kaaride infosüsteem http://www.ra.ee/kaardid/. Auch die Nutzung von Social Media ist beim Ajalooarhiv allgegenwärtig. Besonders durch die Nutzung von Facebook gibt das Archiv Einblick in seine Arbeit und seine Bestände, welche es regelmäßig präsentiert https://www.facebook.com/ajalooarhiiv.
Auch die lettischen Nationalarchive (Latvijas Nacionālais arhīvs) http://www.arhivi.lv/index.php?&2 bieten ein umfangreiches Angebot digitalisierter Bestände im Web. Ein für jeden Familienforscher wichtiges Projekt ist das digitale Archiv „Rakuraksti“ http://www.lvva-raduraksti.lv/en.html, in welchem man umfangreiche Bestände von Kirchenbüchern und Personenstandsunterlagen sowie Listen über Seelenrevisionen und Volkszählungen vorfindet. Das Projekt „Baltic connections“ http://www.balticconnections.net/index.cfm?article=Archival+guide bietet wiederum eine Datenbank zur Geschichte der Ostseeprovinzen in der Zeit von 1450 bis 1800. Kooperationspartner hierbei sind neben dem Estnischen Nationalarchiv, auch die Nationalarchive aus Dänemark, Finnland, Lettland, Litauen, Niederlande, Schweden sowie das Staatsarchiv in Danzig und das Staatsarchiv in Niedersachsen. Des Weiteren bietet das lettische Staatsarchiv einen großen Fundus an Beständen sowie virtuellen Präsentationen, wie z. B. die Ausstellungen „The First Mass Deportation of Latvian Citizens, June 14, 1941“ http://www.itl.rtu.lv/LVA/dep1941/index.php?id= oder „The Aftermath of Prague Spring and Charter 77 in Latvia / the Baltics“ http://www.itl.rtu.lv/LVA/Praga68/index.php. Auch erscheint vierteljährlich die Zeitschrift „Latvijas Arhīvi”, welche das lettische Nationalarchiv publiziert http://www.arhivi.lv/index.php?&293, um insbesondere wissenschaftliche Artikel über die Probleme der Archivwissenschaft zu veröffentlichen. Das Historische Staatsarchiv Lettlands http://www.arhivi.lv/index.php?&16 verwaltet zudem in seinen Beständen eine umfangreiche Urkundensammlung zur Geschichte Lettlands von 1220 bis zum Jahre 1945. Hierbei verfügt das Archiv insgesamt über 6311 Bestände mit 6 349 095 Archiveinheiten.
Die litauischen Staatsarchive (Lietuvos Vyriausiojo Archyvaro Tarnyba) in Vilnius präsentieren sich über ihre Homepage http://www.archyvai.lt/lt/lvat.html. Das Litauische Historische Staatsarchiv http://www.archyvai.lt/en/archives/historicalarchives.html verfügt in seinen Beständen über umfassende Personenstandsunterlagen, wie z. B. Volkszählungen, Hausbücher oder Hypothekenbücher sowie Kirchenregister bis 1940 und Personenstandsregister bis 2008, aber auch über Dokumente verschiedener Adelsfamilien von Vilnius und Kowno. Bisher sind wenige Bestände der litauischen Archive online einsehbar. Dennoch entwickeln sich auch in Litauen zahlreiche Digitalisierungsprojekte, die nun dem Nutzer zur Verfügung gestellt werden, wie z. B. eine Übersicht der Bestände der katholischen Kirchenbüchern, welche bereits einsehbar sind unter http://www.epaveldas.lt/vbspi/changeResultsPage.do?pageNo=1. Das Litauische Zentrale Staatsarchiv zählt zu seinen Beständen u. a. staatliche Dokumente, Aufzeichnungen von Unternehmen, Religionsgemeinschaften, öffentliche Organisationen, nicht-staatlichen Institutionen und Einzelpersonen aus dem Jahr 1918 bis 1990. Des Weiteren verfügen sie über eine umfangreiche Fotosammlung seit 1850, eine Videosammlung seit 1919 und Tonaufnahmen seit 1950 sowie zahlreiche Videobänder seit 1988 bis zum heutigen Tage. Insgesamt umfassen die Unterlagen rund 31000 lfd. Meter. Ebenso arbeitet dieses Staatsarchiv an dem Projekt MIDAS“ mit, welches „Filmarchives online – Finding Moving Images in European Collection“ http://www.filmarchives-online.eu/welcome-to-2018filmarchives-online2019/view?set_language=en beinhaltet und von 18 Partnern, unter der Leitung des Deutschen Filminstituts – DIF, unterstützt wird. Die beteiligten Institutionen verfassen ihre Beiträge selbstständig, bestimmen ausgewählte Bestände ihrer Archivdatenbanken, die dem Nutzer zur Verfügung gestellt werden soll. Das Ziel dieser Kooperation soll die Schaffung einer zentralen Datenbank sein, mit deren Hilfe es möglich wird, nach Filmen in europäischen Archiven zu recherchieren.
Die Zusammenarbeit der polnischen Staatsarchive ist sehr umfassend auf dem Gebiet der Digitalisierung. Über verschiedene Datenbanken findet der Nutzer Zugang zu den Beständen der jeweiligen Archiv, die bereits sehr umfangreich online einsehbar sind. Unter dem Projekt SEZAM http://baza.archiwa.gov.pl/sezam/sezam.php?l=en findet der Nutzer Informationen über die nationalen Archivbestände von den Staatsarchiven (ohne die Bestände von Lublin und Posen) sowie seiner Institutionen, wie z. B. die Polnische Akademie der Wissenschaften in Warschau und seine Niederlassung in Posen, das Archiv der Wissenschaften der polnischen Akademie der Wissenschaften und der polnischen Akademie der Künste und Wissenschaften in Krakau, das Archiv der Mikołaj-Kopernik-Universität in Thorn, die Kardinal-Stefan-Wyszynski-Universität in Warschau, die Bibliothek der Universität in Warschau u.a. Das Projekt PRADZIAD http://baza.archiwa.gov.pl/sezam/pradziad.php?l=en, welches im 2011 abgeschlossen wurde, enthält Daten über Pfarr- und Personenstandsregistern in allen staatlichen Archiven sowie aus den Beständen der Pommerschen Bibliothek in Stettin (Książnica Pomorska im. Stanisława Staszica), die Erzdiözesanarchive in Lodsch, Posen, Stettin, Plock und Leslau, von den Niederlassungen der Diözesanarchive in Drohiczyn, Plock und Leslau sowie von den in Warschau erhalten gebliebenen jüdischen und römisch-katholischen Pfarrregistern. PRADZIAD enthält zudem weder Listen von Namen noch Angaben zu bestimmten Personen. Eine weitere Datenbank in Zusammenarbeit der Staatsarchive in Lublin, Posen, Warschau sowie der Niederlassung des Staatsarchivs Posen in Gnesen findet man unter www.szukajwarchiwach.pl, auf der der Nutzer auf gescannte Inhalte sämtlicher Archivbestände zugreifen kann. Darüber hinaus nutzen die Staatsarchive verschiedene Möglichkeiten der Präsentation ihrer Institutionen im Internet. Während das Staatsarchiv Warschau die „klassische“ Homepage unter http://www.warszawa.ap.gov.pl/ bevorzugt, nutzen andere Staatsarchive, wie z. B. das Staatsarchiv Lublin und Posen, darüber hinaus die Möglichkeiten des Social Media unter https://www.facebook.com/APwLublinie bzw. https://www.facebook.com/APPoznan. Auch hier macht Facebook einen Teil ihrer Öffentlichkeitsarbeit aus, um immer wieder Informationen und interessante Funde für den Nutzer bereit zu stellen.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die nord- und osteuropäischen Staaten an umfassenden Digitalisierungsprojekten arbeiten. Die Nutzung von Web 2.0 sowie sozialen Netzwerken, als eine neue Form der Öffentlichkeitsarbeit und Interaktivität mit den Nutzern betrachtend, wird bisher von den Archiven nur zögernd aufgenommen. Hierbei dominiert eher die „klassische“ Variante der Homepage. Wie eingangs bereits angesprochen, arbeiteten die ost- und nordosteuropäischen Archive vorrangig an verschiedenen Digitalisierungsprojekten, die insbesondere die „Onlinestellung“ umfassender Personenstandsunterlagen und Kirchenbücher beinhalteten.
Autor: Doreen Kelimes M.A. (Stadtarchiv Speyer)
Virtuelle Rekonstruktion historischer Klosterbibliotheken mit Digitalisaten
Im Juni 2011 veröffentlichte ich in Archivalia einen kurzen Beitrag “Virtuelle Rekonstruktion historischer Handschriftenbibliotheken”. Im Mittelpunkt standen Kloster- und Stiftsbibliotheken. Es sollte auf Anhieb einleuchten, dass bei verstreuten Beständen eine virtuelle Rekonstruktion mit Digitalisaten jedem noch so schön gedruckten Buch vorzuziehen ist. Es wäre dringend wünschenswert, dass in einem Wiki Handschriftendigitalisate auch nach Provenienzen erschlossen würden. Unbrauchbar ist der nur einen winzigen Bruchteil aller Digitalisate erfassende Catalogue of Digitized Medieval Manuscripts, auch wenn man in ihm nach Provenance suchen kann. Es wäre schon hilfreich, [...]
Aufruf zur Mitarbeit: Das Frühneuzeit-Blog der RWTH Aachen ist ein Gemeinschaftsblog, in dem alle an der Frühen Neuzeit Interessierten mitschreiben können
Schon das AGFNZ-Blog war ein Gemeinschaftsblog:
“Es ist als Gemeinschaftsweblog konzipiert und für AutorInnen offen, die dieses Format im thematischen Rahmen der Frühen Neuzeit nutzen wollen.” (Erster Eintrag vom 23. September 2010)
Es führt das AGFNZ-Weblog weiter, dessen Beiträge importiert wurden (siehe “Abschied vom AGFNZ-Blog” vom 12. September 2011).
Getragen seit Ende 2011 vom Lehr- und Forschungsgebiet Frühe Neuzeit an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen, Professur Christine Roll, ist es offen für alle Beiträge, die zu dem Profil passen, das im ersten Eintrag vom 23. September 2010 skizziert wurde: “Digitales wird einen besonders hohen Stellenwert in diesem Blog haben. Wir wollen keine Buchbesprechungen und kommerzielle Werbung, weisen aber gern auf (seriöse) kostenlose Online-Publikationen hin. Wir wollen nicht das Rad neu erfinden: Was H-SOZ-U-KULT besser leistet, etwa das Ankündigen von Veranstaltungen und die Mitteilung der Tagungsberichte, wollen wir nicht kopieren. Was dort fehlt, beispielsweise Hinweise zu neuen Ausstellungen oder zu einem Frühneuzeit-Video auf Youtube, ist schon eher für uns relevant.”
Anders als das von der Regensburger Frühneuzeit-Historikerin Maria Rottler im Herbst 2012 gegründete Gemeinschaftsblog Ordensgeschichte, über dessen beispiellosen Erfolg wir uns sehr freuen, registrieren wir keine AutorInnen “auf Vorrat”. Wer einen Beitrag für uns hat, sendet diesen bitte an fnzblog at histinst.rwth-aachen.de und erhält dann eine Zusage (und einen Account für weitere Beiträge) oder eine Absage mit Begründung/Bitte um Überarbeitung.
Wir freuen uns auf Beiträge!
Der veſte Buchſtab. Digitale Editionen, ihre Erstellung und Darbietung
Am 29. und 30. November 2012 fand in der Geschäftsstelle der Max Weber Stiftung das Arbeitstreffen „digital humanities. Wissenschaftliche Datenbanken und Editionsprojekte“ statt. Zwar gibt es gibt noch keinen Königsweg, der in diesem weiten Bereich zu allen Zielen führt. Umso wichtiger sind Übergangsmöglichkeiten von einem Weg zum anderen.
Die Überlieferung von Worten ist das wertvollste Kulturgut überhaupt. Bauten und Bilder, Geschmeide, Melodien und Maschinen können uns nützen, uns freuen, uns staunen und schaudern lassen ‒ aber sie reden nie so zu uns wie Worte, von Mensch zu Mensch. Kein Wunder, dass wir gerade auch dieser Überlieferung digitale Dauer zu geben bestrebt sind, kein Wunder aber auch, dass bei der Ausführung des Vorhabens Schwierigkeiten begegnen. Lösungen solcher Schwierigkeiten war das Arbeitstreffen gewidmet, freilich mit Schwerpunktsetzung: Es ging um schriftliche Überlieferung und das Eingeben, Abspeichern, Aufbereiten und Anzeigen von zugehörigen Metadaten (im weiteren Sinn verstanden, worunter auch schon das Transkript zu einer Abbildung fällt). Und es war wirklich fesselnd zu sehen, wie vielfältige und ausgefeilte Lösungsansätze vorgestellt, gelegentlich auch ‒ freundlich und erfreulich lebhaft ‒ gegenübergestellt wurden und wie sie einander ergänzen oder befruchten konnten.
Aus einer Hölderlinhandschrift mit der im Titel angeführten Stelle. Die Transkription (d oder D oder …?) ist ein primär philologisches, nur sekundär technisches Problem. Dazu unten etwas. (Quelle: Württembergische Landesbibliothek Stuttgart: Hs. Homburg.G,2-7: Blatt 6v: Zeile 6. http://digital.wlb-stuttgart.de/purl/bsz346526833. Lizenz CC BY-NC-ND.)
FuD, vertreten von Marina Lemaire und Gisela Minn vom Trierer Kompetenzzentrum, zeigte sich als System mit einem erprobten Kern und einer Vielzahl von entwickelten oder in Entwicklung befindlichen Schnittstellen, um so gut wie alle Editionsschritte zu unterstützen ‒ von der kollaborativen Erfassung in einer MySQL-Datenbank der Uni Trier bis zur Veröffentlichung im Netz oder Druck ‒, aber auch den Wechsel hin zu anderen Systemen anbieten zu können. So gab Sebastian Felten vom DHI London einen interessanten Einblick ins Projekt „Pauper Letters and Petitions for Poor Relief in Germany and Great Britain, 1770 – 1914“ und wie dort sowohl FuD als auch das ‒ noch zu erwähnende ‒ DENQ zusammen genutzt werden, das eine zur Eingabe, das andere zur Anzeige im Netz.
BASYS-Invenio, vorgestellt von Thekla Kleinschmidt und Branimir Kolev vom Bundesarchiv, wurde und wird auf der Grundlage von Islandora entwickelt, um Archivalien in einem riesigen Gesamtbestand von einigen hundert Terabytes rasch finden und anzeigen zu können. Eingebaut ist eine sehr lesefreundliche Anzeige in Gestalt des Internet-Archive-Viewers, zudem mit einer maschinellen Texterkennung über Tesseract, was eine Suche im Text der jeweils angezeigten Abbildung ermöglicht. Bei den meisten Bundesarchivalien, gedruckt im 20. bis 21. Jahrhundert, zeitigt eine maschinelle Texterkennung gute Ergebnisse.
Peter Stadler stellte die Carl-Maria-von-Weber-Gesamtausgabe vor, die in bewunderungswürdig konsequenter und harmonischer Verbindung von philologischen Kardinaltugenden und modernen XML-Techniken erarbeitet wird: Mit Gründlichkeit und Genauigkeit und der echt philologischen Liebe zum Wort wird aus der sichtbaren Überlieferung, dem Bild, ein lesbarer, und zwar maschinenlesbarer Text, der bis zur Anzahl der Striche bei Unterstreichungen alles von der Überlieferung aufhebt, was irgendwie sinnunterscheidend sein könnte.
Ruth und Borries von dem Bussche vom Düsseldorfer Unternehmen Fafalter skizzierten dagegen eine Lösung auf der Grundlage von HTML5, das mit RDF-Annotation angereichert wird ‒ eine Verbindung von Sinn- und Gestaltebene, die früher gemieden wurde, jetzt aber im Verlagswesen und überhaupt im geschäftlichen Umfeld mehr und mehr Anklang findet. Auch, um Netzseiten mit mehr maschinenlesbarem Inhalt im Sinne des „semantic web“ zu erstellen, ist HTML5 mit RDF-Anzeichnung die fortgeschrittenste Lösung.
Charlotte Schubert von der Universität Leipzig führte eAQUA vor und machte anhand von Beispielen aus ihrer eigenen Forschung deutlich, welchen außerordentlichen Nutzen ein Korpus von diesem Umfang und Lemmatisierungsgrad, zudem versehen mit den Anzeigemöglichkeiten der Kookkurrenzanalyse und der raumzeitlichen Belegverteilung haben kann.
Torsten Schrade von der Digitalen Akademie Mainz stellte einen editorischen Arbeitsablauf vor, der von Ausgangsdokumenten in verschiedenen (und nicht immer günstigen) Formaten hin zum Content-Management-System Typo3 führt. Eine besondere Herausforderung ist im Fall des Beispielprojektes „Medieval Ashkenaz“ die Mischung hebräischer und deutscher Teile, also links- und rechtsläufiger Schriftrichtung, was in besonders schweren Fällen mit einem Zusammenspiel aus weicher Auszeichnung (mit <span dir=”rtl”> … </span>) und harten Steuerzeichen (U+202B für ‘ab hier linksläufig’ und U+202A für ‘ab hier rechtsläufig’) gelöst wird. Die Steuerzeichen werden elegant über das CSS, nämlich über eine an die Anzeichnung dir gebundene content-Eigenschaft eingefügt.
DENQ, vorgestellt von Jörg Hörnschemeyer (dem Entwickler) und Jan-Peter Grünewälder vom DHI Rom, ist ebenda entwickelt worden, also gleichsam innerhalb der Max Weber Stiftung. Ein Kernbestandteil ist die XML-Datenbank eXist. Gezeigt wurden eine Suche über mehrere Korpora, auch als Ähnlichkeitssuche auf der Grundlage des Lewenstein-Algorithmus, ferner die Anzeige von Belegen in räumlicher Verteilung, unterlegt mit einer geographischen Karte, sowie die Möglichkeit, die Abbildung eines Textes in Ausschnitte zu zerlegen, die im SVG-Format gespeichert und den je entsprechenden Textausschnitten zugeordnet werden können, was noch in Entwicklung ist. Es konnte aber bereits eine gerade für diese Aufgabe äußerst nützliche maschinelle Vorsegmentierung gezeigt werden, die schon erstaunlich gut war. Zur Dateneingabe sonst: In DENQ wurde oder wird für jedes gewünschte Format eine Überführung in eXist entwickelt. Unter anderem möglich ist die Nutzung eines vertrauten Editors wie Word, in dem dann über Formatvorlagen recht bequem eine semantische Auszeichnung bis auf die Ebene des Zeichens hinab vorgenommen werden kann. Es ist bewundernswert, wie viel Funktionalität und Flexibilität auf schmaler Personalbasis entwickelt und ermöglicht worden ist.
TextGrid, vorgestellt von Oliver Schmid von der Technischen Universität Darmstadt, ist vielleicht das komplexeste der vertretenen Systeme und bietet einen zumal gemessen am Projektalter großen Umfang an Funktionen sowie Teilprogrammen, die modular entwickelt und vom Nutzer modular eingebunden werden können. Die Eingabeumgebung, TextGridLab, funktioniert als reines Java-Programm ohne Installation (wenn das Java-Runtime-Environment auf dem Rechner installiert ist, was ja meist zutrifft) und auch offline. Das TextGridRep wiederum dient sowohl der gemeinsamen Arbeit an derselben Datenbank, als auch der Langzeitarchivierung und der Veröffentlichung im Netz mit Suchmöglichkeiten.
Zwei vielleicht miteinander zusammenhängende Eindrücke vom Arbeitstreffen:
Erstens. Es gibt noch keinen Königsweg, der zu allen Zielen führt; umso wichtiger sind Übergangsmöglichkeiten von einem Weg zum anderen.
Zweitens. Gerade als Austauschformat ist XML noch immer und bis auf weiteres „die reine Lehre“, wie Gregor Horstkemper von der Bayerischen Staatsbibliothek in seiner Moderation scherzte. Andererseits wurden hin und wieder die Unzulänglichkeiten von XML in den Randbereichen seiner Verwendung deutlich: Wann immer man Geltungsbereiche auszeichnen will, die unterbrochen sind oder einander überlappen, also nicht in die hierarchische Verschachtelung von XML-Dokumenten passen, muss man zu Behelfen greifen, von denen keiner der Standard ist ‒ die TEI-Richtlinien stellen mehrere gleichberechtigt nebeneinander. Und schlimmer: Um die Behelfslösung einzulesen, etwa bei Abfragen, muss man einen eigenen Parser schreiben (adé Standardkonformität) oder auf Reguläre Ausdrücke zurückgreifen (was sonst als blankes Versagen bei der XML-Verarbeitung gilt) oder XPointer verwenden, was noch kaum umgesetzt und überdies mit einem Patent belastet ist, das bei Sun lag, jetzt also bei Oracle liegen müsste (vgl. http://www.w3.org/TR/xptr-framework/, http://www.w3.org/2002/06/xptr_IPR_summary.html). Oracle hat bekanntlich schon wegen eines anderen von Sun geerbten Patentes einen Rechtsstreit begonnen.
Dennoch: Stadler, Leiter der TEI-Interessengruppe „Correspondence“, hat XML mit pädagogischem Impetus hochgehalten: Geisteswissenschaftler sollen mit XML umgehen können, weil der Umgang mit Texten, Textstruktur und Textsemantik zum Kernbereich der Geisteswissenschaft gehört, weil die dabei anfallenden Entscheidungen auch nur der Fachwissenschaftler, kein hilfreich herbeieilender Techniker treffen kann und weil der Umgang mit XML auch gar nicht so schwierig ist wie die wirklich harten Probleme ‒ die sind bei einer Edition stets philologischer Natur. Wenn man von der XML-Frage verallgemeinernd absieht, wird der Impetus ein aufklärerischer: Es geht dann um den Ausgang des Geisteswissenschaftlers aus einer selbstverschuldeten Unmündigkeit, was Datenverarbeitung angeht. Besteht diese Unmündigkeit? Und ist sie selbstverschuldet ‒ aus denselben Ursachen, die Kants berühmter Aufsatz nennt? Hier liegt ein Problem, das unangenehmer ist als etwa das vergleichsweise harmlose Ansinnen, die Geisteswissenschaften im Social Web zu verankern.
Dr. Stefan Müller ist Referent für Datenbanken in der Geschäftsstelle der Max Weber Stiftung in Bonn, Redaktion Perspectivia.
Quelle: http://mws.hypotheses.org/1571
Historische Überlieferung und ihre archäologische Glaubwürdigkeit
Archäologische Forschung beschäftigt sich mit den materiellen Hinterlassenschaften vergangener Kulturen. Es ist nun das Anliegen eines jeden Archäologen dabei so „interdisziplinär“ wie nur irgend möglich zu arbeiten. Als Mittelalterarchäologe greift man dabei naturgemäß zuerst zu den Schriftquellen. Das Heranziehen dieser Quellen ist aber an sich noch keine Interdisziplinarität, sondern erst das in Beziehung setzen von archäologischen Befunden mit der schriftlichen Überlieferung. Einer der Gründe für die geschichtsschreibende Aufgabe der Mittelalterarchäologie ist, dass es einen Grund gibt, warum sich das eine Schriftstück erhalten hat und das andere nicht, zudem sind sie nicht als Selbstzweck verfasst worden. So weit, so selbstverständlich.
Das Umfeld der Elisabethkirche in Marburg betreffend, interessiert mich als Bearbeiter natürlich die Überlieferung des Elisabeth-Hospitals, die Quellen zum Bau der Elisabethkirche und die Überlieferung des Deutschen Ordens in Marburg. Im Rahmen dieses Postes beschränken wir uns auf die Quellen zum „Elisabeth-Hospital“.[1]
Ein Teil der Schriften dazu ist im Zuge des Heiligsprechungs-Verfahrens entstanden. So eine Heiligsprechung ist ein geregeltes Verfahren, in dem geprüft wird, ob der/die potenzielle Heilige auch ein heiliges Leben geführt hat und ob auch genügend verbürgte Wunder auf sein/ihr Wirken zurückgehen. Papst Gregor IX hat noch zu Lebzeiten Elisabeths die Autorität, so ein Verfahren durchzuführen, auf sich und seine Nachfolger beschränkt. Was heißt, dass bei Elisabeths Heiligsprechung penibel auf die Einhaltung der Formalien geachtet wurde, was die Zahl und die Art der Urkunden und der anderen Schriftstücke erklärt.[2]
Bevor so ein Prozess aber in Gang kommt, muss jemand den Antrag auf Eröffnung des Verfahrens nach Rom schicken. In diesem Fall schickte Elisabeths Beichtvater und Mentor ein Schreiben nach Rom, dem noch eine Lebensbeschreibung Elisabeths, bekannt als summa vitae, und eine Zusammenstellung von 60 Wundern beigefügt wurde.[3] Papst Gregor IX ernannte daraufhin eine Kommission mit der Aufgabe, Zeugen von Wundern zu verhören, welche auf Elisabeth zurückzuführen seien. Als die „Untersuchungen“ abgeschlossen waren, wurde ein zweites „Antragspaket“ nach Rom geschickt, bestehend aus einem Anschreiben, der oben genannten „summa vitae“ und einem Wunderbericht, in dem die bereits bekannten 60 um 46 weitere Wunder ergänzt wurden. Mit diesem Antrag hätte das Verfahren in Rom seinen ganz normalen Gang nehmen können, hat es aber nicht. Konrad von Marburg, der Antragsteller, wurde in der Zwischenzeit ermordet. Also kommt der Prozess ins Stocken und muss neu aufgenommen werden. Es werden also neue Kommissare eingesetzt, die noch einmal das heiligmäßige Leben Elisabeths aufrollen und vier ehemalige Dienerinnen über ihre Kindheit, Ehe und ihr Leben im Marburger Hospital befragen. Dieses Protokoll ist zusammen mit einer wiederum ergänzten Wunderauflistung nach Rom geschickt worden und der Heiligsprechung konnte nichts mehr im Weg stehen.[4]
Damit ist die Quellenlage noch lange nicht vollständig dargelegt, aber das soll hier erst einmal genügen.
Summa vitae
Konrad erzählt darin, wie sie zunächst unterhalb der Wartburg ein Hospital gründete, in dem sie Kranke und Schwache aufnahm und wie sie während einer Hungersnot in Thüringen sogar all ihren Schmuck und ihre Gewänder verkaufen ließ zur Speisung der Armen. Nach dem Tod ihres Mannes ging sie gegen seinen Willen nach Marburg und: „Ibi in oppido construxit quoddam hospitale, infirmos et debiles recolligens.“ „Dort erbaute sie sich in der Stadt ein Hospital und gewährte darin Kranken und Schwachen Aufnahme.“[5] Von dem Bau selbst oder von seiner Baugestalt erfahren wird nichts, obwohl das den Archäologen brennend interessieren würde. Solche Informationen spielen in diesem Zusammenhang für den damaligen Verfasser einfach überhaupt keine Rolle.
Martina Wehrli-Johns macht in ihrem Artikel zur Summa vitae klar, dass dieser Bericht kein für sich stehender kurzer Lebensabriss Elisabeths darstellt sondern eine: „Sammlung von exempla aus der zeitgenössischen Bußliteratur, die, umgeformt zur Heiligenvita, gleichsam lehrbuchartig den Weg des Sünders zu seiner Rechtfertigung aufzeigt.“[6]
Der „Libellus“
Spannender wird es bei der Überlieferung des sogenannten „Libellus“. Er liegt uns in zwei Fassungen vor, einer kürzeren, welche die ältere darstellt und eine jüngere ausgeschmückte Variante. [7] Die beiden überlieferten Fassungen sind nicht Teil der Prozessakten gewesen, sondern für die Verbreitung gedachte Überarbeitungen. Der ursprüngliche Text war mutmaßlich ein klar strukturiertes Protokoll, das der Beweisaufnahme für das Heiligsprechungsverfahren gedient hat und ist uns nicht überliefert.[8] Der Unterschied zwischen der kürzeren und der längeren Version ist in der Beschreibung von Baulichkeiten besonders gut zu erkennen. Darauf machte bereits Lothar Vogel 2008 aufmerksam, als er diese Stelle hier aus der längeren Version zitierte:
“Aber nach der Bestattung ihres Gemahls kümmerte sich niemand um ihr Wohlergehen. So sah sie sich wieder in der früheren Not und Bettelarmut ausgesetzt, bis sie sich auf Geheiß von Magister Konrad nach Marburg begab. Wenn sie diese Stadt auch als Morgengabe von ihrem Gemahl erhalten hatte, so machten ihre Verwandten ihr doch durch ungerechtes und gehässiges Verhalten eine angemessene Lebensweise dort unmöglich. Notgedrungen siedelte sie daher in ein kleines Landgut über, wo sie – um keinem zur Last zu fallen – ein verfallenes Hofgebäude bezog. Darin nahm sie in Ermangelung eines wohnlicheren Platzes mit einem Raum unter der Treppe zu einer Kemenate vorlieb. Die Speisen, die sie sich beschaffen konnte, bereite sie mit ihrem Gesinde selbst zu. Unter der Sonnenglut, den stürmisch wehenden Winden und dem ihren Augen überaus lästigen Rauch litt sie in dem engen Raum zwar sehr, aber sie ertrug alles mit Freude und Dank gegen Gott, bis ihr in Marburg ein niedriges Häuschen aus Holz und Lehm erbaut worden war.“[9]
In der kürzeren Version geht Elisabeth nach Marburg und gründet ein Hospital. Das ist alles.
Offenbar ist hier die Beschreibung von Baulichkeiten, beziehungsweise die Beschreibung des jämmerlichen Wohnzustandes, ein hagiografisches Stilelement und nicht als Beschreibung einstiger Baulichkeiten anzusehen.
[1] Einen guten Quellenüberblick findet man bei: O.Reber, Die Gestaltung des Kultes weiblicher Heiliger im Spätmittelalter (Hersbruck 1963)
[2] J. Leinweber, Das kirchliche Heiligsprechungsverfahren bis zum Jahre 1234. Der Kanonisationsprozeß der hl. Elisabeth von Thüringen, in: Philips-Universität Marburg in Verbindung mit dem Hessischen Landesamt für geschichtliche Landeskunde (Hrsg.), Sankt Elisabeth. Fürstin Dienerin Heilige (Sigmaringen 1981) 128-136
[3] Editiert bei: A. Huyskens, Quellstudien zur Geschichte der Hl Elisabeth. Landgräfin von Thüringen (Marburg 1908) 151-239
[4] J. Leinweber, Das kirchliche Heiligsprechungsverfahren bis zum Jahre 1234. Der Kanonisationsprozeß der hl. Elisabeth von Thüringen, in: Philips-Universität Marburg in Verbindung mit dem Hessischen Landesamt für geschichtliche Landeskunde (Hrsg.), Sankt Elisabeth. Fürstin Dienerin Heilige (Sigmaringen 1981) 128-136
[5] E. Könsgen (Hrsg.), Caesarius von Heisterbach. Das Leben der heiligen Elisabeth und andere Zeugnisse, Veröff. Hist. Kommission Hessen 67,2 = Kleine Texte mit Übersetzungen 2 (Marburg 2007), 132-133 Übersetzung nach Könsgen
[6] M. Wehrli-Johnes, Armenfürsorge, Spitaldienst und neues Büßertum in den frühen Berichten über das Leben der heiligen Elisabeth, in: D. Blume- M. Werner, Elisabeth von Thüringen. Eine europäische Heilige (Petersberg 2007) 158
[7] L. Vogel, Der Libellus der vier Dienerinnen, in: Elisabeth von Thüringen und die neue Frömmigkeit in Europa. Kulturgeschichtliche Beiträge zum Mittelalter und der frühen Neuzeit 1 (Frankfurt 2008) 176 / In diesem Band, der eher der erbaulichen Elisabethliteratur zuzurechnen ist, ist eine Libellusübersetzung abgedruckt, in der die Ausschmückungen der längeren Version kursiv hervorgehoben sind: W.Nigg-W.Schamoni (Hrsg.), Elisabeth von Thüringen (Düsseldorf 1963) 69-107
[8] I.Würth, Die Aussagen der vier Dienerinnen im Kanonisationsverfahren Elisabeths von Thüringen (1235) und ihre Überlieferung im Libellus, in: Zeitschr. d. Vereins für Thüringische Gesch.59/60, 2006, 24-32
[9]Editiert bei: E. Könsgen (Hrsg.) Caesarius von Heisterbach. Das Leben der heiligen Elisabeth und andere Zeugnisse, Veröff. Hist. Kommission Hessen 67,2 = Kleine Texte mit Übersetzungen 2 (Marburg 2007), 161-163 Übersetzung nach Könsgen
Destroy when done: Ein Fallbeispiel aus der wissenschaftlichen Praxis über die Auswirkungen von Open Access auf misstrauische Menschen
Neue digitale Technologien und vor allem das Internet ermöglichen die freie Zirkulation und Verfügbarkeit von Wissen und Daten. Das herkömmliche Urheberrecht hält mit dieser Entwicklung nicht Schritt und der Ruf nach Open Access für wissenschaftliche Werke und andere Wissensbestände wird lauter. Die Zukunft verheißt eine globale Wissenschaft, in der Wissen nicht mehr monopolisiert werden kann, sondern allen Menschen an jedem Ort der Erde zugänglich ist. (Für eine postkoloniale Perspektive dazu siehe Artikel über library.nu.)
Diese Entwicklung stößt jedoch nicht bei allen Produzenten von wissenschaftlichen Arbeiten auf Zustimmung, sondern führt bei manchen zu Verfolgungswahn und völliger Abschottung von Wissen, wie ich bei der Jagd nach einer abgeschlossen jedoch unveröffentlichten Dissertation feststellen musste.
Meine Jagd begann mit dem Hinweis eines Mitarbeiters eines Oral History Archivs, dass in Kalifornien ein Historiker eine Dissertation verfasst hat, die sich mit dem Untersuchungsgegenstand meiner eigenen Dissertation beschäftigt. Aus Interesse an meiner Untersuchung und selbstverständlich auch, um eine Doppeldissertation zu vermeiden, musste ich diese Arbeit sehen. Da die Dissertation an einer amerikanischen Universität eingereicht wurde, führte mich mein erster Weg zu ProQuest, einem Internetportal, das fast alle amerikanischen Master-Abschlussarbeiten und Dissertationen auflistet und entweder zum Download oder Kauf anbietet. Die gesuchte Arbeit war auch dabei, jedoch war es weder möglich sie herunterzuladen noch zu kaufen, was mich verwunderte, da nur wenige Werke in dieser Weise eingeschränkt sind. Mein zweiter Versuch führte mich direkt zu der Homepage der University of Michigan, die ProQuest beheimatet und Dissertationen in gedruckter Form ausschließlich zum Kauf anbietet. Aber auch hier hatte ich keinen Erfolg. Mein dritter Anlauf war die Homepage der Universität, an der die Dissertation eingereicht worden war. Die Arbeit hier zu finden war kein Problem. In der Detailanzeige stand, dass die Arbeit 2009 eingereicht und 2011 veröffentlicht worden war. Ich atmete auf: Anfang 2012 sollte es also kein Problem sein, sie zu lesen. Der Link führte mich zu einer weiteren Seite, die aus einem einzigen Satz bestand: „The digital asset is restricted until July 2014. Please contact archives if you have any questions.“ Als vierten Versuch were ich somit meine E-Mail an das Archiv der Universität, die ich umgehend verfasste und auf die ich keine Antwort erhielt. Die weitere Suche brachte mich auf eine Seite, die nur durch das Login von Mitgliedern der Uni zugänglich ist. Durch Zufall machte ich die Bekanntschaft mit einem Studenten der Uni. Er loggte sich ein und hatte – richtig geraten – keinen Erfolg. Dies war der fünfte Streich. Als Nächstes versuchte ich, den Autor direkt zu kontaktieren. Auf meine E-Mails erhielt ich jedoch keine Reaktion. Alle Off-Site-Möglichkeiten hatte ich ausgeschöpft, also führte kein Weg daran vorbei, es selbst vor Ort zu versuchen – es gibt Schlimmeres, als nach Los Angeles fahren zu müssen.
Vor Ort wurde ich zunächst von einer Bibliothek zur nächsten geschickt. Letztendlich wurde mir die Telefonnummer des Archivs gegeben (bis jetzt hatte ich nur dessen Email-Adresse). Von dort wurde ich an die Abteilung Special Collections weitergeleitet. Hier schickte man mich zu einem weiteren Reference Desk. (Nach meiner Berechnung die Versuche sieben bis elf). Hier machte ich die Bekanntschaft von zwei Bibliothekarinnen, Kate und Mary, die, nachdem ich Ihnen mein Problem geschildert hatte, der Ehrgeiz ergriff, die Arbeit aufzuspüren. Sie riefen zunächst noch einmal im Archiv und bei den Spezial Collections an, wo ich schon vergeblich vorgesprochen hatte. Aber auch sie hatten keinen Erfolg. Respektsbezeugungen wurden dem Verfasser der gesuchten Dissertation von den Bibliothekarinnen entgegengebracht, denn er musste einigen Aufwand betrieben haben, um die Arbeit so gänzlich unzugänglich zu machen, selbst für Universitätsmitglieder und Angestellte der Bibliothek. Die Unmöglichkeit eine Arbeit zu finden, die als Dissertation an derselben Stelle eingereicht worden war, sorgte jedoch für Unmut bei den Bibliothekarinnen und sie waren gewillt, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um mir zu helfen. Sie empfanden es als Unverschämtheit und Heuchelei, eine wissenschaftliche Arbeit, für die jemandem ein Ph.D. verliehen worden war, der wissenschaftlichen Gemeinschaft vorzuenthalten. Schließlich handelte es sich um eine historische Arbeit und nicht um geheime CIA-Dokumente, merkte Kate an. Da bin ich mir allerdings nicht mehr sicher, wie das Ende der Geschichte zeigt. Dass dieses Versteckspiel überhaupt möglich war, erklärten sie mir, lag daran, dass die Universitätsbibliothek seit 2009 keine ausgedruckten Exemplare ihrer Dissertationen mehr aufbewahrt, sondern lediglich digitale Versionen. Eine Praxis, die zunehmend von amerikanischen Universitäten angewandt wird. Ein ausgedrucktes Exemplar hätte ich somit jederzeit vor Ort einsehen können. Die digitale Version ließ sich verstecken, selbst an der Universität. Wir hatten eine längere Diskussion über Open Access und den Wert von Wissenschaft. Im nächsten Anlauf wurde direkt das digitale Archiv kontaktiert, das für die Digitalisierung der Abschlussarbeiten zuständig ist. James, der Archivar, konnte dann nähere Einblicke in diesen Fall bieten. Generell wird Doktorand(inn)en die Möglichkeit gegeben, den Zugang zu ihrer Arbeit für zwei Jahre zu unterbinden. Dies erlaubt den Autor(inn)en, einen großen Verlag zu finden, der die Arbeit veröffentlicht, ohne dass die Ergebnisse bereits zugänglich sind. Unter bestimmten Voraussetzungen kann eine Verlängerung dieser Frist um weitere drei Jahre erreicht werden. Hierzu muss jedoch ein begründeter Antrag gestellt und vor einem Komitee verteidigt werden. In meinem Fall hat der Autor anscheinend argumentiert, dass nicht nur seine wissenschaftlichen Erkenntnisse geschützt werden müssten, sondern dass seine Arbeit auch als kreatives Werk besonderen Schutz verdient. Diese Argumentation ist reichlich absurd, da wissenschaftliche Arbeiten stets eine kreative Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsgegenstand darstellen. Der Archivar des digitalen Archivs betonte, dass der Autor mit großem Getue (big stink) die Veröffentlichung 2011 verhindert hat. Er erklärte sich jedoch bereit, mir die Arbeit zur Verfügung zu stellen. Unter zwei Voraussetzungen: „Do not distribute. Destroy when done.“ Also doch CIA – ich fühlte mich an den Film Burn After Reading erinnert. Die Vorgabe wurde mir noch als persönliche Absicherung der Bibliothekarin („I do not want to get fired for this!“) als E-Mail zugeschickt.
Letztendlich habe ich die Arbeit nach einigen Anstrengungen also doch noch bekommen. Durch viel Beharrlichkeit, etwas Glück und vor allem dadurch, dass ich mich mit den Mitarbeiter(inne)n der Universität gut gestellt habe. Die ganze Angelegenheit erinnert mich an die Geschichten, die mir Kolleg(inn)en über Archive in Osteuropa erzählen, wo man erst die Archivare „befrienden“ muss, (wie soll das gehen, wenn sie nicht bei facebook sind?), bevor man die Möglichkeit erhält, an die gesuchten Archivalien zu kommen.
Die Digitalisierung führt offensichtlich bei einigen Wissenschaftler(inne)n zu Verfolgungswahn ungeahnten Ausmaßes, was sie dazu veranlasst, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um ihre Arbeit vor jeglichem Zugriff zu schützen. Gewissermaßen ist dies die Gegenbewegung zu Open Access. Die Erkenntnis ist, dass es unter bestimmten Umständen einfacher ist, ein digitales Dokument völlig von der Außenwelt abzuschotten, als ein gedrucktes Werk in einer Bibliothek oder einem Archiv. Es zeigt zudem, dass es nicht um die Existenz von Wissen geht, sondern um dessen Auffindbarkeit und Verfügbarkeit. Was sich nicht auffinden lässt, existiert nicht. Und ein Buch lässt sich mitunter leichter lokalisieren als eine Datei. Dies bedeutet keinesfalls, dass nicht auch gedruckte Dokumente verschwinden können. Dieser Effekt ist gerade für die Geschichtswissenschaft bedeutsam, die ihre Quellen deswegen auch Überreste nennt, was das notwendige Verschwinden von Dokumenten und Artefakten – und somit von Wissen – impliziert, um die Voraussetzungen zu schaffen, die Vergangenheit überhaupt in einer komplexitätsreduzierten und sprachlichen Form zu konstruieren. Für Arbeiten aus dem Jahr 2009 kommt dieser Schritt jedoch etwas zu früh.
Mein Hauptkritikpunkt ist allerdings nicht, dass jemand besorgt ist, um seine oder ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse gebracht zu werden und deswegen dass Internet meidet; sondern vielmehr, dass Doktorarbeiten gar nicht mehr in gedruckter Form verfügbar sind. Die Arbeit, die ich suchte, wurde 2009 abgeschlossen. Wäre sie wenige Monate zuvor – im Jahr 2008 – eingereicht worden, wäre ich heute ebenso wenig in der Lage gewesen, sie online zu beziehen. Ich hätte sie jedoch als gedrucktes Exemplar in der Universitätsbibliothek lesen können.
Um die hilfsbereiten Menschen auf meiner Suche nicht in Schwierigkeiten zu bringen, habe ich eindeutig zuordenbare Namen und Ortsangaben vermieden.
Quelle: http://fyg.hypotheses.org/29
Rezensieren als Prozess – Vom Ende des Einautorprinzips. Oder: Lobo und recensio.net
In seiner jüngsten Kolumne führt Sascha Lobo das mit der Insolvenz der FR soeben manifest gewordene Zeitungssterben auf einen generellen Rezeptionswandel zurück. Seine Theorie ist spannend und leuchtet unmittelbar ein (wobei ebendies immer die Ahnung nährt, dass eine Sache ganz so einfach denn doch nicht zu fassen sein wird, aber wohl das berühmte Körnchen Wahrheit transportiert). Laut Lobo befinden wir uns mitten in einer „sich selbst prozessualisierenden“ Gesellschaft. An die Stelle von Ergebnissen, etwa in Form von Artikeln, Büchern o.ä. tritt der öffentlich gemachte Entscheidungs- und Entwicklungsprozess. Informationen verflüssigen sich, weil sie vor ihrer Publikation in keine Form mehr gegossen werden und fragmenthaft bleiben. Mikroblogging wird zum flexibelsten aller Nachrichtenkanäle: Wenn es politisch ernst wird, verlässt man sich auf Twitter. Dabei ist der Trend zur Prozessualisierung nicht neu: Früher sorgte das Aufkommen der Tageszeitungen für einen Quantensprung; Artikel konnten binnen 24 Stunden vor aller Augen beantwortet werden. Das Tempo digitaler Medien aber ist schlichtweg nicht mehr steigerbar – also stellt sich das System um. Nachrichten und Diskussionen werden zum Puzzle – und alle puzzeln mit. Veränderte Produktionsgewohnheiten ändern Rezeptionsgewohnheiten und vice versa – am Ende der Kette stehen die Kaufgewohnheiten. Soweit Lobos Kolumne, sehr frei zusammengefasst.
Ich würde anfügen wollen, dass die beschriebene Entwicklung durch schwindendes Vertrauen in den „Experten“ beschleunigt wird. In den einen also, der ein Thema in einem dramaturgisch runden Artikel zur Gänze erfasst und zu objektivieren versteht. „Das Ende der Momentaufnahme“ stehe bevor, schreibt Lobo, und es lässt sich eventuell ergänzen, dass sich das nicht nur auf die zeitliche Dimension und das eben nicht mehr steigerbare Tempo bezieht, sondern auch auf die zwangsläufige Ausschnitthaftigkeit und Subjektivität des Einautorprinzips, dessen Akzeptanz schleichend zu Ende geht. Vorausgesetzt ist eine erhöhte Partizipationsbereitschaft beim Einzelnen, denn eine Synthese zu bilden aus all den verfügbaren Fragmenten, liegt anders als früher bei ihm, und je mehr das so ist, desto mehr wächst die Skepsis vor apodiktischen Aussagen (von Politikern, von Wissenschaftlern, vom Nachbarn).
Spannend finde ich für unseren Zusammenhang – die Geisteswissenschaften im Allgemeinen und die RKB-Tagung im Speziellen – die Übertragbarkeit auf das Konzept von recensio.net. Fast kam in mir das Gefühl auf, endlich eine Erklärung für unsere vor Jahren gefällte Entscheidung zu haben. Die Entscheidung nämlich, die bislang meistenteils eindimensionale (geschichts-)wissenschaftliche Buchrezension aufzubrechen: Das Web 2.0-Konzept von recensio.net versucht, ergänzend zur klassischen Rezension ein kommentarbasiertes, „lebendiges“ Rezensionsverfahren in die Wissenschaft zu tragen. Das ist nichts anderes als die Prozessualisierung eines bislang statischen Textgenres, dem seine Statik von der Alternativlosigkeit des Papiers in die Wiege gelegt wurde, denn methodisch betrachtet ist wohl kaum ein anderes wissenschaftliches Textgenre so gut geeignet für Fragmentisierung und Prozessualisierung wie die Rezension: Ziel ist Meinungsbildung und -austausch über Fachliteratur.
Kommentare sind in diesem Fall nicht ergänzender Teil des Bewertungsverfahrens, sie SIND das Bewertungsverfahren, ganz in Lobos Sinne, der eben nicht die Kommentarspalte unter dem weiterhin klassischen Artikel als Ausdruck von Prozessualisierung sieht, sondern den Live-Ticker, der den Artikel ersetzt. Und noch viel weniger als bei Blogs scheint mir dabei die Kommentarfrequenz entscheidend, die hier zuletzt angeregt diskutiert wurde – als Qualität und Intention des Kommentars. Geht es doch weniger darum, per Kommentar das Gegenüber von der eigenen Meinung zu überzeugen, als die eigene Meinung in ein im besten Sinne demokratisches Kaleidoskop einander ergänzender Meinungen einzufügen. Und das Ganze reiht sich dann ein in die gesamtgesellschaftliche Neigung zur Prozessualisierung…
Wieder Diskussionsstoff für Panel 3 der RKB-Tagung. Anmeldung läuft!
Quelle: http://rkb.hypotheses.org/349
Kulturelles Erbe online: Suchdienste und soziale Foren des Zentralamts für Denkmalpflege in Schweden
Ausgrabung bei Gödåker in Uppland, Schweden
Flickr Commons, Swedish National Heritage Board
Mal Hand aufs Herz: Was geht Ihnen bei dem Schlagwort “Geschichtswissenschaft im digitalen Zeitalter” und dem Nachdenken über online verfügbare Quellen als erstes durch den Kopf? Haben Sie zuerst an digitalisierte Textquellen gedacht wie ich auch? Das tun vermutlich die meisten Historikerinnen und Historiker – wir sind nun mal durch Studium und die eigene Forschung oft dahingehend geprägt worden. “Als Historiker arbeitet man mit Textquellen.” So oder ähnlich monolithisch werden viele das mal als Aussage mal gehört haben. Ich erinnere mich an einen Kurs im Geschichtsstudium, der sich dezidiert dem Bild als historische Quelle (und eben nicht als reine Illustration!) widmete. Das heißt nicht, dass Historiker für Artefakte blind sind, aber es gilt nicht unbedingt als kanonisiertes Verhalten, sich als Historiker/in mit materiellen Hinterlassenschaften hauptamtlich zu beschäftigen…
Könnte sich das dadurch ändern, dass es uns immer leichter gemacht wird, Bilder und zwar nicht nur digitalisierte Fotografien, sondern auch Abbildungen von dreidimensionalen Artefakten im Netz aufzufinden? Zunehmend werden auch historische Stätten, Denkmäler, Gebäude, Ausgrabungsfunde, aber auch in Museen verwahrte Objekte in Datenbanken eingespeist. Hier soll exemplarisch ein Blick auf einige solche Suchdienste in Schweden geworfen werden. Das Riksantikvarieämbetet (wörtlich übersetzt: Reichsantiquarenamt), das schwedische Zentralamt für Denkmalpflege also, ist gleich mit einer ganzen Reihe von verschiedenen Suchdiensten und Foren im Netz präsent. Aus der Vielzahl von Datenbanken sollen hier einige exemplarisch vorgestellt werden.
Da ist zum einen die Bilddatenbank Kulturmiljöbild (das versteht man wohl auch ohne Übersetzung), die über 100.000 Aufnahmen von Gebäuden, archäologischen Fundstätten und Kulturlandschaften verzeichnet, die man frei herunterladen und unter Nutzung einer Creative Commons-Lizenz bzw. wenn das Urheberrecht abgelaufen ist, dennoch unter Nennung der Quelle verwenden darf. Die Nutzung ist allerdings nur zu privaten und nichtkommerziellen (non-profit) Zwecken erlaubt. Der Hinweis, es handele sich bei den am Bildschirm einzusehenden und herunterladbaren Fotos um Versionen in niedriger Auflösung, erwies sich nach einer Stichprobe als nicht ganz korrekt: Vor allem Fotos neueren Datums sind tatsächlich mit niedrigeren Auflösungen (96 dpi) vorhanden, aber gerade historische Aufnahmen wie das hier eingebundene Bild (s.u.) sind hier mit 1100 dpi in druckfähigen Auflösungen vorhanden – nicht schlecht! Wo man es doch braucht, kann man für hochauflösende Versionen einen kostenpflichtigen Bestellservice nutzen und die Fotos als Abzüge oder in Dateiform erhalten.
“Mirakelspel”. Historienspiel in Gamla Uppsala, Schweden
Aufnahme: Berit Wallenberg, 25.5.1931 (PD/gemeinfrei)
Aus der Sammlung “Kulturmiljöbild”, Riksantikvarieämbetet
Die Bildunterschrift enthält bereits sämtliche in die Datenbank eingepflegten Informationen, die – einigermaßen unbefriedigend, muss man sagen – spärlich sind. Welchen Anlass das Historienspiel hatte, wer die Akteure dieser Re-Enactment-Aktion waren, wie lange das Ganze dauerte etc. – das muss man auf anderen Wegen herausfinden. Eine Sammlung von 100 000 und bald wahrscheinlich noch mehr Bildern zu annotieren, wäre allerdings auch kaum leistbar. Die Suche kann als Volltextsuche, nach Objekten (über eine alphabetische Liste) und mit einer fortgeschrittenen Suchfunktion mit verschiedenen Filtern durchgeführt werden. Die Bildsammlung enthält nicht nur Fotografien vom Ende des 19. Jahrhunderts bis heute, sondern auch Postkarten, Zeichnungen und Druckerzeugnisse.
Eine sehr umfangreiche Datenbank ist Fornsök, in der Informationen über 1,7 Millionen (!) archäologische Fundstätten an nahezu 600 000 Orten vorliegen. Man kann sich hier über alles Mögliche vom Runenstein über Felszeichnungen, Hinrichtungsstätten, Schiffswracks und Grabstätten informieren.
Beispiel für eine Fornsök-Objektmaske
Eine Eingabe im Suchfenster führt zu einer Karte, auf der die für den jeweiligen Ort oder die gewählte Region in der Datenbank aufgeführten Fundorte eingezeichnet und anklickbar sind. Ausführliche Informationen zum jeweiligen Fund und der Geschichte seiner Entdeckung sind ebenso vorhanden wie Begleitmaterial, etwa ein Scan aus dem Arbeitsjournal des Grabungsleiters als PDF-Datei oder historische Fotografien oder Kunstwerke wie im Fall des hier abgebildeten Teils der mittelalterlichen Stadtmauer von Visby. Solche Abbildungen stammen dann oft aus der oben schon erwähnten Sammlung Kulturmiljöbild.
Mit der Datenbank Kringlawird ein kombinierter Suchdienst angeboten, der Informationen einer Vielzahl schwedischer Museen, Archive und Register enthält. Verzeichnet sind Angaben über historische Objekte und Fotografien aus den Sammlungen dieser Institutionen sowie über Gebäude und Fundstätten von kulturhistorischer Bedeutung. Die Kategorien für einen Sucheinstieg sind Objekte (derzeit knapp 1,87 Millionen an der Zahl), Fotografien (derzeit knapp 792 000), Orte (Baudenkmäler, Monumente, Kulturlandschaften, knapp 900 000), Dokumente (archivalische Quellen und Kataloge, knapp 432 000), Printmaterial (etwa 22 800) und Sammlungen verschiedener Provenienz (an die 42 900).
Einstiegsseite von Kringla
Umfangreiche Filter erlauben eine detaillierte Suche nach Materialart, thematischer Zuordnung, Lizenzarten, man kann in einzelnen Regionen Schwedens suchen, in bestimmten Jahrhunderten sowie nach der Institution, aus der die Objekte stammen. Natürlich kann man die Filter auch weglassen und in der gesamten Datenbank suchen. Neben der klassischen Freitextsuche kann man eine detaillierte Suchfunktion nutzen, entscheiden, ob nur Ergebnisse mit Bildern angezeigt werden und man kann sich die Treffer auf einer Karte anschauen. Die Menge an Einträgen ist beeindruckend, gerade auch die Vielfalt verschiedenartiger Gegenstände. Seit Anfang 2012 hat man zudem begonnen, die Nutzer stärker in den Ausbau der Datenbank einzubinden. Allerdings beschränkt sich dies auf die Möglichkeit, Objekte miteinander zu verknüpfen und Links auf Wikipedia-Artikel zu setzen.
Deutlich mehr Web 2.0 gibt es hingegen bei Platsr, dessen Schreibweise ja schon mal etwas an Flickr erinnert. Eigentlich müsste es Platser heißen, also Plätze oder Orte. Diese deutlich an andere social media angelehnte Seite soll von den Nutzern mit ihren Berichten und Erinnerungen an historische Orte und Ereignisse bestückt werden. Man bedient sich hier der Puzzle-Metapher, nach der ‘ganz gewöhnliche Menschen’ weitere Stücke zu dem großen Puzzle der gemeinsamen Geschichte hinzufügen. Dies geschieht in Form persönlicher Erzählungen, welche hier als gleichberechtigte Stimmen verstanden werden: Subjektive oder alternative Fassungen von Geschichte in Form von ‘kleinen Geschichten’ könnten das von der professionellen Forschung gezeichnete Bild bereichern. In einem einleitenden Video (leider nur auf Schwedisch vorhanden) wird diese Puzzle-Metapher graphisch umgesetzt und auch auf den Unterschied zu früheren Zeiten verwiesen (hier durch die Jahreszahl 1898 vertreten), in denen man eine entsprechende Ausbildung sowie Anstellung (und obendrein einen Schnurrbart!) brauchte, um mitzubestimmen, was über Geschichte niedergeschrieben wird. Heute könne jeder mitmachen, so eine Kernaussage.
Da auf Platsr aber auch etablierte Organisationen für die Pflege des kulturellen Erbes (Museen, Archive etc.) aktiv sein dürfen, können wir ein weiteres Mal eine Egalisierung zwischen ‘professionellen Akteuren’ und ‘Amateuren’ beobachten, wie dies auf diesem Blog schon einmal für ein norwegisches Projekt festgestellt wurde. Sowohl für Platsr als auch für Kringla liegen im Übrigen Anwendungen für Smartphones vor, bisher nur für das Android-Betriebssystem. So wird dann die Möglichkeit, die reichhaltigen Informationen der Datenbanken am jeweiligen historischen Ort selbst abzurufen, eröffnet.
Fazit: Die schwedischen Denkmalpfleger haben eine beeindruckende Vielfalt an Online-Aktivitäten entwickelt und bieten ein für jedermann frei zugängliches Informationsportal mit verschiedensten Suchzugriffen an. Allein die Zahl der verfügbaren Objekte erschlägt einen – in der Praxis hier den Überblick zu behalten, ist gar nicht so einfach, aber wie immer gilt: Wer weiß, wonach er sucht, kann hier fündig werden, ohne in der Informationsflut zu ertrinken. Von dem Engagement, dass hier für online verfügbare archäologische und historische Informationen betrieben wird, könnte man sich andernorts so manches Byte abschneiden…
Abschied von der Gymnasialbibliothek Stralsund, einst im Katharinenkloster untergebracht
Nicht selten pflegen protestantische Institutionen pietätvoll das Erbe monastischer Vorgänger. Die gotische Bausubstanz des Stralsunder Dominikanerklosters St. Katharina wurde wohl auch deshalb so eindrucksvoll bewahrt, weil im Jahr 1560 die neu gegründete Lateinschule in den westlichen Teil des Areals einzog (auch das Waisenhaus wurde hier untergebracht). Erinnert sei auch daran, dass die württembergischen protestantischen Klosterschulen die Architektur der katholischen Klöster weitgehend beibehielten. An erster Stelle ist natürlich das UNESCO-Weltkuturerbe Kloster Maulbronn zu nennen (im Hermann-Hesse-Gedenkjahr liegt der Hinweis auf die Seminaristen-Erzählung “Unterm Rad” nahe). [...]
Europa bauen?
Telse Först, Thorsten Logge: „Die Nationalisierung der Massen“, schrieb Thorsten Logge in seinem Beitrag „Mediale Leuchtfeuer im Nationsdiskurs“ vom 1. Juni 2012 an dieser Stelle, „ging einher mit und ist abhängig von der Entwicklung und Verbreitung der technischen Verbreitungsmedien. Sie … Weiterlesen