Punk-Doku auf Arte

Die Geschichte wird von denen gemacht, die Nein sagen, und die utopischen Ketzereien von Punk bleiben sein Geschenk an die Welt. (*)

Kommenden Samstag (28.2.2015, 22:00) zeigt Arte die Doku No Future! Als der Punk Wellen schlug.

(*) Savage, John: England's Dreaming. Anarchie, Sex Pistols, Punk Rock. (=Critica Diabolis; 100). Berlin: Bittermann/Edition TIAMAT CD 100, 2. Aufl., 2003, S. 472.

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/1022400784/

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Der adlige “Eremit” Theodor von Hallberg-Broich und der Erfolg einer konstruierten Familiengeschichte

Von Martin Otto Braun

Nachdem der Bonner Professor für Heraldik Christian Samuel Theodor Bernd1 in den 1830er Jahren damit begonnen hatte, die Wappen adliger Familien für sein „Wappenbuch der preußischen Rheinprovinz“ zu sammeln, erreichte ihn im April des Jahres 1832 ein Brief aus Jülich. In diesem Brief bekundete der Freiherr Franz Joseph Hubert von Hallberg zu Broich mit folgenden Worten sein Interesse an der Arbeit Bernds:2

„Hochverehrtester Herr Professor! Benachrichtigt durch die Zeitung, dass euer Hochwohlgeboren ein Wappenbuch der Preußischen Rheinprovinzen und derjenigen adeligen Herren geben wollen, welche in die Adels-Matrikel der Rheinprovinz aufgenommen sind, bitte ich meinen Namen auf die Liste der Unterzeichner zu setzen und zur Zeit ein Exemplar übersenden zu wollen.“3

Unterzeichnet war dieser Brief, der sich heute mit anderen heraldischen und genealogischen Unterlagen Theodor Bernds in der Autographen-Sammlung der Bonner Universitätsbibliothek befindet, mit Hallbergs Namen und Adelstitel sowie der Ergänzung „Obristleutnant in königlich Spanischen Diensten, Ritter etc.“.

Tatsächlich findet sich in Theodor Bernds Unterlagen auch die von Franz von Hallberg-Broich angebotene „Geschichte der Grafen und Freiherren von Hallberg zu Pesch und zu Broich“, deren Richtigkeit – so der Wortlaut ihrer Einleitung – „die Familienpapiere authentisch beweisen“. Am Rand dieses Schriftstücks können jedoch auch einige mit Bleistift angebrachte Bemerkungen entziffert werden, die offenbar von Theodor Bernd stammen und den Wahrheitsgehalt der durch Franz von Hallberg-Broich zur Familiengeschichte getroffenen Aussagen kritisch kommentieren.

Bevor der Inhalt dieses Manuskripts und die Bemerkungen Theodor Bernds hierzu in einem späteren Blogbeitrag Gegenstand der Untersuchungen sein werden, soll zunächst überblicksartig der bisherige Kenntnisstand über die im 18. und frühen 19. Jahrhundert auf dem bei Jülich gelegenen Schloss Broich ansässige Familie der Freiherren von Hallberg-Broich nachgezeichnet werden. Der Fokus wird hiernach insbesondere auf den bereits im 19. Jahrhundert weit über die Grenzen Jülichs hinaus bekannten „Eremiten von Gauting“, Theodor von Hallberg-Broich (1768–1862),4 aber auch auf zwei seiner Brüder, nämlich den bereits oben erwähnten Franz Joseph Hubert (1784–1850)5 und Carl Ernst von Hallberg-Broich (1774–1836)6 gelegt werden.

Von Ferdinand Freiherr von Lütgendorff-Leinburg (1785-1858) [Public domain], via Wikimedia,
Titelbild aus Johanns Gistels “Leben des preußischen General’s Freiherrn Theodor von Hallberg-Broich, genannt “Eremit von Gauting”, Berlin 1863. (Bild: Von Ferdinand Freiherr von Lütgendorff-Leinburg (1785-1858) [Public domain], via Wikimedia).

Zeitlich wird das Hauptaugenmerk sich dabei auf die Kernphase der revolutionären Umbrüche, also die Periode zwischen 1789 und 1815, richten. Die Beiträge verstehen sich in direktem Anschluss an die bisherigen Artikel dieses Blogs, der Netzbiographie Joseph zu Salm-Reifferscheidt-Dyck sowie der in Kürze erscheinenenden Dissertation “An den Wurzeln der Tugend. Rheinischer Adel und Freimaurerei 1765-1815″ als weitere Mosaiksteine in der Erforschung der Selbstsicht sowie des Anpassungsvermögens rheinischer adliger Familien in der koselleckschen “Sattelzeit”.

Zur richtigen Einordnung der späteren Ausführungen scheint es – wie bereits erwähnt – sinnvoll, sich zunächst die bisher bekannte Familiengeschichte der Freiherren von Hallberg zu Broich skizzenartig vor Augen zu führen.

Skizze der Familiengeschichte

Die ältesten Zeugnisse der Familie des Freiherren Theodor von Hallberg zu Broich lassen sich in die Stadt Mühlheim am Rhein zurückführen. Hier hatte Christian Hallberg (gestorben 1661) in den Jahren 1657 und 1659 das Amt des Bürgermeisters inne.7 Mit Hilfe von Ernst von Oidtmans genealogisch-heraldischer Sammlung lässt sich die spätere Linie der Freiherren von Hallberg zu Broich von einem Enkel dieses Christian Hallberg, genannt Peter Diederich Hallberg (1691–1752), herleiten. Dieser erlangte das Amt eines jülichschen Hofkammerrates und Schultheißen zu Aldenhoven. Seit 1721 trug er den Beinamen „Edler von Hallberg“. Oidtman vermutet, dass Peter Diederich das Gut Broich bei Jülich nach 1741 erworben hat.8

Der Freiherren-Titel wird bei Oidtman erstmals für die beiden Brüder Tillmann Peter (1729–1793)9 und Bernhard Josef10 von Hallberg zu Broich angeführt. Hierbei ist es wichtig, zu erwähnen, dass der Freiherren-Titel wohl ursprünglich nach anderen Linien usurpiert worden ist.11 Eine Wiederanerkennung des Freiherrenstandes durch ein preußisches Ministerial-Reskript ist für die Frau des Tillmann Peter, Rosa von Hallberg, und deren Söhne Carl, Theodor und Franz für das Jahr 1826 nachweisbar. Tillmann Peter war zu Lebzeiten nicht nur kurpfälzischer Truchsess und Besitzer des Gutes Broich, sondern auch Herr des Gutes Obbendorf bei Hambach (im heutigen Kreis Düren gelegen), das um 1763/1764 in den Besitz der Familie kam.12

Der Freiherrentitel wird ebenfalls für den 1752 geborenen, späteren königlich bayerischen Generalmajor Karl Theodor von Hallberg zu Broich erwähnt, wobei unklar ist, ob dieser ein Sohn des Bernhard Josef war.13 Im Folgenden wird die Familien-Konstellation, insbesondere aber dieser königlich bayerische Generalmajor noch von Bedeutung sein. Im Fokus der Betrachtungen steht jedoch der Familienzweig des Tillmann Peter von Hallberg-Broich.

Von N.N., zeitgenössischer Stecher (Ebay Angebot) [Public domain], via Wikimedia Commons on zeitgenössischer Stecher (Ebay Angebot) [Public domain], via Wikimedia Commons.
Wappen Theodor von Hallberg-Broichs (Bild: N.N., zeitgenössischer Stich (Ebay Angebot) [Public domain], via Wikimedia Commons).

Heute taucht der Name dieses Zweigs der Familie gelegentlich in lokalhistorischen Beiträgen auf. Es handelt sich hierbei zumeist um Abhandlungen über den bereits erwähnten sogenannten „Eremiten von Gauting“, Theodor von Hallberg zu Broich. Dieser war eines der insgesamt elf Kinder, die aus der Ehe zwischen Tillmann Peter von Hallberg zu Broich und seiner Frau Rosa, einer geborenen Freiin Quadt von Wykrath zu Alsbach, hervorgingen.14

Über Theodor von Hallberg-Broich, der unter anderem als Verfasser des gemeinsam mit seinen Brüdern im Jahre 1819 veröffentlichten antiklerikalen und preußenkritischen „Deutschen Kochbuchs für Leckermäuler und Guippees“, diverser Reisebeschreibungen und durch ein öffentliches Heiratsgesuch in einer bayerischen Zeitung aus dem Jahr 1840 einen nachhaltigen Eindruck bei den Zeitgenossen hinterließ,15 kursierten bereits im 19. Jahrhundert zahlreiche, zum Teil kuriose Geschichten. Diese finden bis in die jüngste Zeit ihren Niederschlag in historischen Veröffentlichungen.16

Der „Eremit von Gauting“, dessen eigenartig anmutendes Pseudonym sich aus Hallbergs späterem, zwischen München und dem Starnberger See gelegenen Schloss Fußberg in Gauting herleitet und u.a. zur Unterzeichnung kritischer Beiträge in bayerischen Zeitschriften verwandt wurde,17 erscheint nicht nur ob seines bis in die heutige Zeit nachwirkenden Charismas, sondern auch wegen seiner angeblich fanatischen Gegnerschaft zu Napoleon als Schlüsselfigur, will man sich der Geschichte der Familie der Freiherren von Hallberg-Broich im frühen 19. Jahrhundert und ihrem Verhältnis zur französischen Besatzung des Rheinlands nähern.

Im nächsten Beitrag der Blogserie soll der bishergie Stand der Forschungen hierzu kurz umrissen werden.

Anmerkungen:

1 Christian Samuel Theodor Bernd (1775-1854) wurde 1822 in Bonn zum Universitätsprofessor für Diplomatik, Sphragistik und Heraldik ernannt. Zu seiner Person sowie weiteren bibliographischen Hinweisen siehe Eckart Henning, Auxilia Historica – Beiträge zu den Historischen Hilfswissenschaften und ihren Wechselbeziehungen, Köln/Weimar/Wien 2000, S. 173-174.

2 Die im Folgenden wiedergegebenen Transkriptionen wurden in Rechtschreibung und Zeichensetzung dem heutigen Schriftbild weitestgehend angepasst.

3 Franz von Hallberg-Broich, Briefe an Theodor Bernd, Handschriftenabteilung der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn, Signatur S 2548. Die im folgenden Absatz gemachten Angaben und Zitate beziehen sich auf ebenfalls auf dieses Dokument. Im 1835 erschienenen Werk Theodor Bernds ist Franz von Hallberg-Broich mit dem Titel eines spanischen Orbistleutnants unter den Subskribenten aufgeführt. Vgl. Christian Samuel Theodor Bernd, Beschreibung der im Wappenbuche der Preussischen Rheinprovinzen gelieferten Wappen, nebst einer Farbentafel, VIII. Heft, Bonn 1835, S. X. 

4 Herbert M. Schleicher, Ernst von Oidtman und seine genealogisch-heraldische Sammlung in der Universitäts-Bibliothek zu Köln (= Veröffentlichungen der Westdeutschen Gesellschaft für Familienkunde e.V., Bd. 7), Köln 1994, Mappe 551, S. 482.

5 Das Sterbedatum des Franz von Hallberg-Broich ist in der Oidtmanschen Genealogie nicht angegeben. Für die hier verwendete Angabe, die als Ort des Ablebens des Franz von Hallberg-Broich die Stadt Wiesbaden angibt, siehe August Kurtzel, Rudolf von Gottschall, Friedrich Bienemann (Hrsg.), Unsere Zeit: Deutsche Revue der Gegenwart. Monatsschrift zum Conversations-Lexikon, Bd. 6, Leipzig 1862, S. 700–706, hier S. 704.

6 Schleicher 1994 (wie Anm. 4) , Mappe 551, S. 483.

7 Schleicher 1994 (wie Anm. 4), Mappe 551, S. 478.

8 Schleicher 1994 (wie Anm. 4), Mappe 551, S. 482.

9 Schleicher 1994 (wie Anm. 4), Mappe 551, S. 482.

10 Geburts- und Sterbedatum des Bernhard Josef sind unbekannt. In der an Theodor Berndt gesandten Familiengeschichte wird Bernhard Josef von Hallberg-Broich nicht erwähnt. Vgl. Hallberg-Broich (wie Anm. 3), S 2548.

11 Zur Usurpation des Freiherrentitels siehe Schleicher 1994 (wie Anm. 5), Mappe 551, S. 481. Zur Re-Privilegierung des rheinischen Adels im Zeitalter der Restauration siehe Christof Dipper, Der rheinische Adel zwischen Revolution und Restauration, in: Helmuth Feigl, Willibald Rosner (Hrsg.), Adel im Wandel. Vorträge und Diskussionen des 11. Symposions des Niederösterreichischen Instituts für Landeskunde, Horn 2.-5- Juli 1990,  (=Studien und Forschungen des Niederösterreichischen Instituts für Landeskunde, Bd. 15), Wien 1991, S. 91-116, hier S. 106. 

12 In der von Freiherr Franz von Hallberg-Broich an den Bonner Genealogen Theodor Berndt gesandten Familiengeschichte wird zudem die Herrschaft des Peter Tillmann über die Güter Brachelen, Lohmar, Algard, Menden, Rauschendorf, Meindorf und Mundt angegeben. In der Oidtmanschen Genealogie sind die Güter Lohmar und Brachelen als Herrschaften des Bruders Bernhard Josef verzeichnet. Siehe hierzu Hallberg-Broich (wie Anm. 3), S 2548; Schleicher 1994 (wie Anm. 4), Mappe 551, S. 482.

13 Schleicher 1994 (wie Anm. 4), Mappe 551, S. 481 und 490.

14 Theodor, Franz und Carl von Hallberg-Broich besaßen vier Schwestern und drei Brüder: Maria Elisabeth (1762-?), Maria Theresia (1764 – ?), Eva Bernhardina (1767-?), August Adolf (1770–1792), Alexander August (1776–1814), Bernhard Johannes (1779–1781) sowie Caroline Josephina (1781–1859). Der noch zur Zeit der französischen Besatzung lebende Alexander August wird im vorliegenden Aufsatz nicht behandelt. Dieser war im Jahr 1793 als Capitular der Benediktinerabtei in Siegburg beigetreten und demnach für den geistlichen Stand vorgesehen. Dass dieser sich an kriegerischen Ereignissen oder der Verwaltung der Familiengüter beteiligte, konnte nicht nachgewiesen werden und ist daher unwahrscheinlich. Er verstarb, laut der Familiengeschichte, die in der Autographensammlung der Universität Bonn vorhanden ist, bereits am 6. Juli 1814. Hier heißt es über ihn: „Er lebte ganz für die Wissenschaften.“ Zu allen Angaben vgl. Schleicher 1994 (wie Anm. 4), Mappe 551, S. 482–483; Willi Dovern, Broicher Familienbuch 1668 – 1944 (=Veröffentlichungen des Jülicher Geschichtsvereins 4), Jülich 1985, S. 151; Erich Wisplinghoff, Die Benediktinerabtei Siegburg (= Germania Sacra – Neue Folge 9, Erzbistum Köln Bd. 2), Berlin 1973, S. 235; Hallberg-Broich (wie Anm. 3), S 2548.

15 Zum Heiratsinserat siehe Wolter von Egan-Krieger, Zwischen Weitsicht und Widersinn: Theodor Freiherr von Hallberg-Broich – Eine Lebensbeschreibung, Norderstedt 2007, S. 235–246. In Bezug auf die Reisebeschreibungen sind zu nennen: Theodor von Hallberg-Broich, Reise durch Skandinavien im Jahr 1817, Leipzig 1818; ders., Reise-Epistel durch den Isar-Kreis, Augsburg 1822; ders., Reise durch Italien, Augsburg 1830; ders., Ueber den Rhein-Donau-Kanal und den alten Handelsweg nach Indien, Augsburg 1831; ders., Frankreich-Algier, München 1837; ders., Reise nach dem Orient: zum Besten der Kolonie Hallberg im Freisinger Moos, Stuttgart 1839; ders., Deutschland, Russland, Caucasus, Persien: 1842-1844, Stuttgart 1844.

16 Siehe u.a. Egan-Krieger 2007 (wie Anm. 15); Dominique Müller-Grote, Freiherr von Hallberg-Broich – Geckenhafter Sonderling mit wohltätiger Gesinnung, in: Jahrbuch des Rhein-Sieg-Kreises 2008, (2007), S. 58 – 61; Werner Bülow, Der Eremit von Gauting – Theodor Freiherr von Hallberg-Broichs Leben, Ansichten und Reisen, Rosenheim 1991.

17 Zur Verwendung des Pseudonymns siehe Egan-Krieger 2007 (wie Anm. 15), S. 198–207. Theodor und Carl von Hallberg-Broich waren ebenfalls als Autoren für die 1819 durch die preußische Zensur verbotene Zeitschrift „Hermann – Eine Zeitschrift von und für Westfalen“ tätig. Siehe hierzu Adolf Dressler, Die Entwicklung des Pressewesens in der Stadt Hagen in Westfalen von seinen Anfängen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, Hagen 1932, S. 5–59; Egan-Krieger 2007 (wie Anm. 15), S. 57-78.

Quelle: http://rhad.hypotheses.org/559

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Moderne Ahnenverehrung?

Wohl in fast jedem (bildungsbürgerlichen) Haushalt wird man beim Durchstöbern der Bücherregale auf mindestens ein bis zwei Bücher zur lokalen Geschichte stoßen. Die Geschichte einer Heimatstadt ist zwar oft kein alltäglich präsentes Thema, doch viele Menschen wissen etwas, einige etwas mehr, über den Ort, an dem sie leben, und dessen Geschichte.
Woher kommt das Interesse daran, die Geschichte des Wohnortes zu kennen, das Bedürfnis, etwas über frühere Bewohner der Stadt zu erfahren? Vielleicht ist es bloßes Geschichtsbewusstsein, Interesse an Faktenwissen, oder das diffuse Gefühl, man müsse dem nächsten Besucher von auswärts doch zumindest ein paar Dinge über die Geschichte der Stadt erzählen können. Ich möchte hier einen etwas anderen Gedankengang ausprobieren und vorschlagen, im lokalen Geschichtsbewusstsein des modernen Bildungsbürgers ein Beispiel für die Existenz des ‚Vormodernen‘ im ‚Modernen‘ zu sehen.

Weshalb ist das so? In ‚vormodernen‘ oder ‚traditionellen‘ Gesellschaften spielen die Beziehungen zu den verstorbenen Ahnen eine wichtige Rolle, viel mehr als es in ‚modernen‘ Gesellschaften der Fall ist bzw. der Fall zu sein scheint. In Südostasien beispielsweise ist die rituelle Ahnenverehrung ein Bestandteil des alltäglichen Lebens, wie unter anderem die Forschungen von Josephus Platenkamp in Indonesien und Laos gezeigt haben.1 Und schon 1907 hat einer der ‚Vorväter‘ der Religionswissenschaft, Robert Hertz, in seinem heute klassischen Aufsatz zur Totenverehrung auf Borneo demonstriert, welch zentrale Rolle die Toten im Leben der Menschen dort spielen.2
Für das Fortbestehen und die Existenz von Familie und Dorfgemeinschaft, so verdeutlichen diese ethnologischen Arbeiten, ist es zentral, dass die Beziehungen zu den Toten gepflegt werden. Dies geschieht durch Rituale. Die Toten ‚leben weiter‘, in gewissem Sinne, wenn sie exhumiert und unter dem Dachgiebel aufbewahrt werden oder wenn ihnen im Ahnenschrein Opfer gebracht werden. Krankheiten und Unglücke werden darauf zurückgeführt, dass man die Beziehung zu den Ahnen nicht entsprechend gepflegt hat.
Und selbst wenn man sich nicht mehr namentlich an seine Vorfahren erinnern kann, sind diese immer noch Teil des sozialen Ganzen, so in der Kosmologie der Tobelo (Nord-Halmahera, Indonesien), wo die Vorfahren, die im kollektiven Gedächtnis aufgehen, mit den Plejaden gleichgesetzt werden, einem Sternbild, dass ungefähr ein halbes Jahr am Nachthimmel sichtbar ist und dessen Verschwinden den Termin für die Reisaussaat setzt.3

Eine solche ‚direkte‘ Beziehung zu den Ahnen ist hierzulande und in vielen anderen ‚modernen‘ Gesellschaften undenkbar. Die Toten werden bestattet, man erinnert sich ihrer, aber eine beeinflussbare und wirksame Beziehung zu ihnen mag es – abgesehen von alternativ-spirituellen Bereichen – nur in Einzelfällen geben.
Als Ersatzhandlung sozusagen – und hier folgt nun meine Idee der Existenz des ‚Vormodernen‘ in der ‚Moderne‘ – stellen Einzelne eine Beziehung zu abstrakten Vorfahren her, indem sie die Geschichte ihres Wohnortes kennenlernen; indem sie ‚Wurzeln schlagen‘ durch Stadtführungen und Lektüre der Lokalgeschichte.
Auch der moderne Mensch ‚braucht‘, so dürfte man weiter vermuten, eine wie auch immer geartete Beziehung zur Vergangenheit, um sich ‚heimisch‘ zu fühlen – daher vielleicht auch der unvergängliche Bezug auf ‚Tradition‘ in sämtlichen wertbehafteten Diskursen, von der Werbung bis hin zur leidvollen Leitkulturdebatte.

Doch wenn ich vermute, die Beschäftigung mit der Lokalgeschichte sei eine ‚quasi-prämoderne‘ Handlung, die dem modernen Menschen eine Verbindung zu abstrakten Ahnen ermöglicht, folgt ein nicht zu unterschätzendes erkenntnistheoretisches Problem. Denn allzu schnell kann die Argumentation darauf hinauslaufen, dass hinter den verschiedenen kulturellen und gesellschaftlichen Ausdrucksformen universale Muster stünden, die sich durch die Menschheitsgeschichte hinweg immer wieder in vielfältigen Formen zeigen.
Es ist jedoch empirisch schwer nachzuweisen, dass zum Menschsein immer und überall eine wie auch immer geartete Beziehung zu den Ahnen gehört. Mein Versuch ist hier eher vergleichend als verallgemeinernd zu verstehen. Eine haltbare These nach aktuellen religionswissenschaftlichen Maßstäben lässt sich aber (noch) nicht entwickeln. Doch die Idee, das Geschichtsbewusstsein heutiger Bildungsbürger als ‚moderne Ahnenverehrung‘ zu betrachten, durchbricht gängige Dichotomien von ‚modern‘ und ‚traditionell‘ oder ‚wir‘ und die ‚anderen‘ und zeigt vielmehr, dass ‚vormoderne‘ Charakteristika auch in der ‚modernen‘ Gesellschaft aufscheinen.

mr

  1. Platenkamp, Josephus (2000), Temporality and Male-Female Distinctions in the Tobelo Vocabulary of Relationships. In: Alés, C.: Sexe relatif ou sexe absolu?, 241–262; Platenkamp, Josephus (2010), Becoming a Lao Person. In: Berger, P. L. et al.: The Anthropology of Values, 180–200.
  2. Hertz, Robert (1907), Contribution à une étude de la représentation collective de la mort. Année Sociologique, Vol. X, 48–137.
  3. Platenkamp, Josephus (2015), On the Confrontation Between Perennial Models in 19th Century Halmahera (Indonesia). In: Hartmann, A., Murawska, O.: Repräsentationen der Zukunft – Representing the Future, 61–98.

Quelle: http://marginalie.hypotheses.org/45

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Moderne Ahnenverehrung?

Wohl in fast jedem (bildungsbürgerlichen) Haushalt wird man beim Durchstöbern der Bücherregale auf mindestens ein bis zwei Bücher zur lokalen Geschichte stoßen. Die Geschichte einer Heimatstadt ist zwar oft kein alltäglich präsentes Thema, doch viele Menschen wissen etwas, einige etwas mehr, über den Ort, an dem sie leben, und dessen Geschichte.
Woher kommt das Interesse daran, die Geschichte des Wohnortes zu kennen, das Bedürfnis, etwas über frühere Bewohner der Stadt zu erfahren? Vielleicht ist es bloßes Geschichtsbewusstsein, Interesse an Faktenwissen, oder das diffuse Gefühl, man müsse dem nächsten Besucher von auswärts doch zumindest ein paar Dinge über die Geschichte der Stadt erzählen können. Ich möchte hier einen etwas anderen Gedankengang ausprobieren und vorschlagen, im lokalen Geschichtsbewusstsein des modernen Bildungsbürgers ein Beispiel für die Existenz des ‚Vormodernen‘ im ‚Modernen‘ zu sehen.

Weshalb ist das so? In ‚vormodernen‘ oder ‚traditionellen‘ Gesellschaften spielen die Beziehungen zu den verstorbenen Ahnen eine wichtige Rolle, viel mehr als es in ‚modernen‘ Gesellschaften der Fall ist bzw. der Fall zu sein scheint. In Südostasien beispielsweise ist die rituelle Ahnenverehrung ein Bestandteil des alltäglichen Lebens, wie unter anderem die Forschungen von Josephus Platenkamp in Indonesien und Laos gezeigt haben.1 Und schon 1907 hat einer der ‚Vorväter‘ der Religionswissenschaft, Robert Hertz, in seinem heute klassischen Aufsatz zur Totenverehrung auf Borneo demonstriert, welch zentrale Rolle die Toten im Leben der Menschen dort spielen.2
Für das Fortbestehen und die Existenz von Familie und Dorfgemeinschaft, so verdeutlichen diese ethnologischen Arbeiten, ist es zentral, dass die Beziehungen zu den Toten gepflegt werden. Dies geschieht durch Rituale. Die Toten ‚leben weiter‘, in gewissem Sinne, wenn sie exhumiert und unter dem Dachgiebel aufbewahrt werden oder wenn ihnen im Ahnenschrein Opfer gebracht werden. Krankheiten und Unglücke werden darauf zurückgeführt, dass man die Beziehung zu den Ahnen nicht entsprechend gepflegt hat.
Und selbst wenn man sich nicht mehr namentlich an seine Vorfahren erinnern kann, sind diese immer noch Teil des sozialen Ganzen, so in der Kosmologie der Tobelo (Nord-Halmahera, Indonesien), wo die Vorfahren, die im kollektiven Gedächtnis aufgehen, mit den Plejaden gleichgesetzt werden, einem Sternbild, dass ungefähr ein halbes Jahr am Nachthimmel sichtbar ist und dessen Verschwinden den Termin für die Reisaussaat setzt.3

Eine solche ‚direkte‘ Beziehung zu den Ahnen ist hierzulande und in vielen anderen ‚modernen‘ Gesellschaften undenkbar. Die Toten werden bestattet, man erinnert sich ihrer, aber eine beeinflussbare und wirksame Beziehung zu ihnen mag es – abgesehen von alternativ-spirituellen Bereichen – nur in Einzelfällen geben.
Als Ersatzhandlung sozusagen – und hier folgt nun meine Idee der Existenz des ‚Vormodernen‘ in der ‚Moderne‘ – stellen Einzelne eine Beziehung zu abstrakten Vorfahren her, indem sie die Geschichte ihres Wohnortes kennenlernen; indem sie ‚Wurzeln schlagen‘ durch Stadtführungen und Lektüre der Lokalgeschichte.
Auch der moderne Mensch ‚braucht‘, so dürfte man weiter vermuten, eine wie auch immer geartete Beziehung zur Vergangenheit, um sich ‚heimisch‘ zu fühlen – daher vielleicht auch der unvergängliche Bezug auf ‚Tradition‘ in sämtlichen wertbehafteten Diskursen, von der Werbung bis hin zur leidvollen Leitkulturdebatte.

Doch wenn ich vermute, die Beschäftigung mit der Lokalgeschichte sei eine ‚quasi-prämoderne‘ Handlung, die dem modernen Menschen eine Verbindung zu abstrakten Ahnen ermöglicht, folgt ein nicht zu unterschätzendes erkenntnistheoretisches Problem. Denn allzu schnell kann die Argumentation darauf hinauslaufen, dass hinter den verschiedenen kulturellen und gesellschaftlichen Ausdrucksformen universale Muster stünden, die sich durch die Menschheitsgeschichte hinweg immer wieder in vielfältigen Formen zeigen.
Es ist jedoch empirisch schwer nachzuweisen, dass zum Menschsein immer und überall eine wie auch immer geartete Beziehung zu den Ahnen gehört. Mein Versuch ist hier eher vergleichend als verallgemeinernd zu verstehen. Eine haltbare These nach aktuellen religionswissenschaftlichen Maßstäben lässt sich aber (noch) nicht entwickeln. Doch die Idee, das Geschichtsbewusstsein heutiger Bildungsbürger als ‚moderne Ahnenverehrung‘ zu betrachten, durchbricht gängige Dichotomien von ‚modern‘ und ‚traditionell‘ oder ‚wir‘ und die ‚anderen‘ und zeigt vielmehr, dass ‚vormoderne‘ Charakteristika auch in der ‚modernen‘ Gesellschaft aufscheinen.

mr

  1. Platenkamp, Josephus (2000), Temporality and Male-Female Distinctions in the Tobelo Vocabulary of Relationships. In: Alés, C.: Sexe relatif ou sexe absolu?, 241–262; Platenkamp, Josephus (2010), Becoming a Lao Person. In: Berger, P. L. et al.: The Anthropology of Values, 180–200.
  2. Hertz, Robert (1907), Contribution à une étude de la représentation collective de la mort. Année Sociologique, Vol. X, 48–137.
  3. Platenkamp, Josephus (2015), On the Confrontation Between Perennial Models in 19th Century Halmahera (Indonesia). In: Hartmann, A., Murawska, O.: Repräsentationen der Zukunft – Representing the Future, 61–98.

Quelle: http://marginalie.hypotheses.org/45

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auf der Recherche nach dem bespitzelten Volontariat der Bürgerpresse

Die Spitzelaffäre bei der taz hat Bov Bjerg dazu veranlasst, nachzufragen, ob die Bezeichnung der taz als ausgelagertes Volontariat der bürgerlichen Presse von Wiglaf Droste oder Hermann L. Gremliza stammt; Gremliza war meine spontane Antwort, ich nahm dies aber gleich zum Anlass zu einer Recherche auf der löblichen Konkret-CD, voilà das Ergebnis:

Seit 1989 wird das Zitat Gremliza zugeschrieben und taucht in folgenden Versionen auf:

Konkret 07/1989, S. 6 (Leserbrief Heini Nadalet/Benn Wagner)
"Aber warum dann ausgerechnet das »ausgelagerte Volontariat« (Gremliza) der bürgerlichen Presse"

Konkret 11/1991, S. 37 (Michael Schilling, Trotzköpfchens Wechseljahre):
"»Das ausgelagerte Volontariat der Bürgerpresse« hat sie wiederum mein Freund G. schon vor zehn Jahren genannt,"

Konkret 05/1994, S. 44 (Kunst & Gewerbe):
"die »Taz«, das ausgelagerte Volontariat der Bürgerpresse."

Konkret 06/2001, S. 66 (Gremlizas Express)
"in jenem ausgelagerten Volontariat der Bürgerpresse"

Und dies hier dürfte die 1985 gedruckte Originalversion des Zitats sein:

Konkret 06/1985, S. 8 (Kolumne Hermann L. Gremliza)
"So gewiß die kesse »Tageszeitung« auch das ausgelagerte Volontärsheim für »Spiegel«-, »Zeit«- und Privatfunk-Nachwuchs ist, so sicher werden die »politischen Talente« vom rechten Flügel der Grünen demnächst zu J. Rau »Genosse« sagen."

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/1022400299/

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Die Tegernseer Schlossbibliothek, keine Geschichtsquelle?

Florian Sepp hat im Weblog Geschichte Bayerns eine gründliche Dokumentation vorgelegt: ”Die Tegernseer Schlossbibliothek und ihr Ende” – zur Zerstreuung und Verscherbelung der vor allem im 19. Jahrhundert zusammengetragenen Bibliothek der Herzöge in Bayern, einer Wittelsbacher Nebenlinie, in dem in ihrem Eigentum stehenden Schloss Tegernsee (dem früheren Kloster). Der Beitrag ist ausgezeichnet belegt, wobei neben Online-Quellen vor allem Auskünfte des Kirchenhistorikers Dr. Roland Götz von Bedeutung waren.

Frühestens seit dem Ende des 19. Jahrhundert lagerte im Tegernseer Psallierchor ein wertvoller Buchbestand von etwa 11.000 Bänden, der nach einem Gutachten von Zisska & Schauer in München 2010 von der Kreissparkasse Miesbach unter dem skandalträchtigen Vorstandsvorsitzenden Georg Bromme für 150.000 Euro erworben wurde. Das gleiche Auktionshaus hatte zuvor wertvolle Bestände aus der Bibliothek versteigert (mit der üblichen Provenienz-Verschleierung) – und zwar ohne ein Wort dazu im Gutachten zu sagen. Die Bewertung eines Bestands, ohne dass die frühere Gesamtheit in den Blick genommen wird, halte ich für unredlich. Inwieweit auch eine juristische Relevanz durch die Befangenheit besteht, vermag ich nicht zu sagen. In jedem Fall ist es nicht ganz abwegig anzunehmen, dass die Sparkasse vom Kauf abgesehen oder einen niederen Betrag bezahlt hätte, wäre ihr bekannt gewesen, dass ein Gutteil vorab aus dem Ensemble herausgebrochen wurde. Unter dem Gutachten steht der Name von Herbert Schauer, inzwischen berüchtigt durch die Girolamini-Affäre und weitere Unregelmäßigkeiten.

Die Kreissparkasse stellte zur Erschließung der geplanten “kulturhistorischen Perle” des Kreises einen “Archivar” ein. Was aus seinen Erschließungsbemühungen geworden ist, erfährt man nicht. 2012 wurde er wieder entlassen.

In einem Prüfungsbericht der Regierung von Oberbayern wurde auch der Erwerb der Bücher als unzulässig beanstandet. Mit Blick auf die verbreitete, jüngst durch die Kunstwerk-Verkäufe in Nordrhein-Westfalen wieder ins Rampenlicht geratene Praxis, Kunstwerke durch von der öffentlichen Hand beherrschte Wirtschaftsunternehmen ankaufen zu lassen, um sie für die Allgemeinheit zu sichern, darf man ein dickes Fragezeichen hinter diese Bewertung setzen.

Obwohl Bromme gegen die “Barbarei” lautstark protestierte, entschloss sich die Bank 2014, den Verkauf der Bände dem Antiquariat Hauff & Auvermann zu übertragen, das im Mai 2014 die erste Tranche unter den Hammer brachte – ohne Provenienzangaben! 65 Bücher, die noch aus der Klosterbibliothek stammen, wurden für den Altertumsverein Tegernsee und dessen Museum erworben.

Skandalös darf man die Ausführungen des Bayerischen Landesamts für Denkmalpflege nennen, soweit sie im Merkur greifbar sind:

“Der ehemals im Psallierchor verwahrte Buchbestand lässt weder einen Bezug zum ehemaligen Kloster und jetzigen Schloss noch zur ehemaligen Kloster- und jetzigen Pfarrkirche erkennen”, heißt es in der Stellungnahme. “Weder die Sammlungsgeschichte noch ein Sammlungsschwerpunkt steht im Bezug zu den beiden Baudenkmälern.” Die Sammlung für sich genommen lasse keine Bedeutung nach dem Denkmalschutzgesetz erkennen und “erfüllt damit nicht die Voraussetzungen für ein bewegliches Denkmal”.

Wieso legt das Landesamt sein Gutachten nicht offen? Man verschanzt sich dort gern, wie ich aus eigener leidiger Recherche-Erfahrung weiß, gern hinter den Eigentümerinteressen.

Einmal mehr versagt in Bayern die amtliche Denkmalpflege beim Schutz beweglicher Kulturdenkmale. Aus dem Jahr 2007 stammt meine Zusammenstellung “Bayern schützt seine Kulturgüter nicht”. Inzwischen ist es nicht besser geworden.

Nur auf Facebook1, nicht aber in seinem Blogbeitrag hat Sepp die in der Tat berechtigte Frage gestellt, wieso man denn nicht die Bayerische Staatsbibliothek als staatliche Fachbehörde für das Bibliothekswesen befasst habe. Aufgrund meiner bisherigen Erfahrungen mit der Bibliothek vermute ich aber, dass nichts besseres herausgekommen wäre. Vor kurzem hatte ja Falk Eisermann die unsägliche Aussage der Staatsbibliothek, das derzeit geprüfte Konvolut aus der Schweinfurter Schäfer-Sammlung enthalte kein national wertvolles Kulturgut, in INETBIB öffentlich kritisiert.

Adelsbibliotheken, auch wenn sie erst aus dem 19. Jahrhundert stammen, sind Geschichtsquellen2 und erfüllen daher die Definition des Kulturdenkmals. Sie sind eine Sachgemeinschaft, an deren Erhaltung ein öffentliches Interesse besteht. Es ist für diese Definition erst einmal irrelevant, ob sie “Ausstattung” eines anderen Kulturdenkmals sind. Diese Bestimmung bezieht sich auf den Konsens der Denkmalschutzgesetze der Länder und nicht auf die bayerische Landesgesetzgebung, die für bewegliche Kulturgüter inakzeptable Hürden errichtet hat. Die verkommene Praxis, die Artikel 141 der Bayerischen Landesverfassung ins Gesicht schlägt (“die Denkmäler der Kunst, der Geschichte und der Natur sowie die Landschaft zu schützen und zu pflegen”), darf hier kein juristischer Leitstern sein. Sepp trägt umsichtig Kriterien für die Bewertung des offenbar aufschlussreichen Ensembles, das Rückschlüsse auf die geistigen Interessen der Herzöge in Bayern und ihres Umkreises erlaubt, zusammen:

Demnach wurde der der Aufbau der Bibliothek von Herzog Wilhelm in Bayern begonnen (gest. 1837) und durch Pius in Bayern (1786-1837), Max in Bayern (1808-1888) und Carl Theodor in Bayern (1839-1909) fortgeführt. Dazu kamen kleinere Bestände aus dem Besitz von Vorfahren, der jeweiligen Prinzen und Prinzessinnen. Letzter größerer Beitrag waren die Bücher der letzten Königin von Bayern, Marie Therese von Österreich-Este (1849-1919). Die Bücher der Herzöge Wilhelm und Pius befanden sich ursprünglich in Banz (bis 1933 Eigentum der Herzöge) und wurden erst im 20. Jahrhundert nach Tegernsee gebracht. Der größte Teil des Bestandes kam aus der Bibliothek von Herzog Max in Bayern.

Wieso die Reste des Buchbestands der letzten bayerischen Königin, also einer hinreichend bedeutenden Persönlichkeit, keine sozialgeschichtlichen, kulturgeschichtlichen, adelsgeschichtlichen, mentalitätsgeschichtlichen, geistesgeschichtlichen, gendergeschichtlichen usw. Fragestellungen zulassen sollten, die nur mit den erhaltenen Büchern zu klären wären, leuchtet nicht ein. Wie oft führt man beim Abbruch von Häusern auf Geheiß der Denkmalpflege eine Baudokumentation durch, bei Funden Rettungsgrabungen – und wieso nie vor Zerschlagung einer Adelsbibliothek? Wenigstens die provenienzgeschichtlich wichtigen Daten wären so gesichert. Dass die merkantil motivierten Katalogbeschreibungen der Händler keine wirkliche Rekonstruktion erlauben, durfte man schon oft feststellen. Diverse Materialien zur Bibliotthek, darunter eine systematische Fotodokumentation, sind anscheinend in Privatbesitz – also nicht öffentlich zugänglich.

Wir brauchen auf lange Sicht eine gut ausgestattete Provenienz-Stiftung, die sich nicht nur für NS-Raubgut und Vergleichbares interessiert, sondern auch historische Bestände wie den hier zur Rede stehenden virtuell rekonstruiert.

Im Strudel eines lokalen Skandals konnte sich der an sich löbliche Impetus, ein kulturgeschichtlich bedeutsames Ensemble zu retten und für Forschung und Öffentlichkeit zugänglich zu machen, nicht durchsetzen. Die Gesamtheit wurde zerschlagen. Aus früheren Beispielen mir sattsam bekannt: die dubiose Rolle des Handels, die Ignoranz der Denkmalpflege. Über 20 Jahre, seit der Versteigerung der Inkunabeln der Hofbibliothek Donaueschingen, recherchiere ich über die Verluste von Adelsbibliotheken. Es freut mich, dass mit Florian Sepp nun auch jemand anderes sich in fundierter Weise an dieser “Trauerarbeit” beteiligt hat.

  1. Obwohl in einer öffentlichen Gruppe diskutiert, lässt sich der Link https://www.facebook.com/groups/1426956144186780/permalink/1534016486814078/ nur für registrierte Nutzer aufrufen. Friedrich Ulf Röhrer-Ertl (ebenfalls BSB) äußerte sich dort befremdet über die Zerschlagung der Bibliothek. Eine kleine Diskussion auch in Archivalia vom 20. August 2014.
  2. Siehe etwa meine “Oberschwäbischen Adelsbibliotheken”: http://eprints.rclis.org/7542/ (ungekürzte Fassung) und die Literaturhinweise in meinem Beitrag: Fiktion und Geschichte: Die angebliche Chronik Wenzel Grubers, Greisenklage, Johann Hollands Turnierreime und eine Zweitüberlieferung von Jakob Püterichs Ehrenbrief in der Trenbach-Chronik (1590). In: Frühneuzeit-Blog der RWTH vom 10. Februar 2015.

Quelle: http://kulturgut.hypotheses.org/426

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Die Tegernseer Schlossbibliothek, keine Geschichtsquelle?

Florian Sepp hat im Weblog Geschichte Bayerns eine gründliche Dokumentation vorgelegt: ”Die Tegernseer Schlossbibliothek und ihr Ende” – zur Zerstreuung und Verscherbelung der vor allem im 19. Jahrhundert zusammengetragenen Bibliothek der Herzöge in Bayern, einer Wittelsbacher Nebenlinie, in dem in ihrem Eigentum stehenden Schloss Tegernsee (dem früheren Kloster). Der Beitrag ist ausgezeichnet belegt, wobei neben Online-Quellen vor allem Auskünfte des Kirchenhistorikers Dr. Roland Götz von Bedeutung waren.

Frühestens seit dem Ende des 19. Jahrhundert lagerte im Tegernseer Psallierchor ein wertvoller Buchbestand von etwa 11.000 Bänden, der nach einem Gutachten von Zisska & Schauer in München 2010 von der Kreissparkasse Miesbach unter dem skandalträchtigen Vorstandsvorsitzenden Georg Bromme für 150.000 Euro erworben wurde. Das gleiche Auktionshaus hatte zuvor wertvolle Bestände aus der Bibliothek versteigert (mit der üblichen Provenienz-Verschleierung) – und zwar ohne ein Wort dazu im Gutachten zu sagen. Die Bewertung eines Bestands, ohne dass die frühere Gesamtheit in den Blick genommen wird, halte ich für unredlich. Inwieweit auch eine juristische Relevanz durch die Befangenheit besteht, vermag ich nicht zu sagen. In jedem Fall ist es nicht ganz abwegig anzunehmen, dass die Sparkasse vom Kauf abgesehen oder einen niederen Betrag bezahlt hätte, wäre ihr bekannt gewesen, dass ein Gutteil vorab aus dem Ensemble herausgebrochen wurde. Unter dem Gutachten steht der Name von Herbert Schauer, inzwischen berüchtigt durch die Girolamini-Affäre und weitere Unregelmäßigkeiten.

Die Kreissparkasse stellte zur Erschließung der geplanten “kulturhistorischen Perle” des Kreises einen “Archivar” ein. Was aus seinen Erschließungsbemühungen geworden ist, erfährt man nicht. 2012 wurde er wieder entlassen.

In einem Prüfungsbericht der Regierung von Oberbayern wurde auch der Erwerb der Bücher als unzulässig beanstandet. Mit Blick auf die verbreitete, jüngst durch die Kunstwerk-Verkäufe in Nordrhein-Westfalen wieder ins Rampenlicht geratene Praxis, Kunstwerke durch von der öffentlichen Hand beherrschte Wirtschaftsunternehmen ankaufen zu lassen, um sie für die Allgemeinheit zu sichern, darf man ein dickes Fragezeichen hinter diese Bewertung setzen.

Obwohl Bromme gegen die “Barbarei” lautstark protestierte, entschloss sich die Bank 2014, den Verkauf der Bände dem Antiquariat Hauff & Auvermann zu übertragen, das im Mai 2014 die erste Tranche unter den Hammer brachte – ohne Provenienzangaben! 65 Bücher, die noch aus der Klosterbibliothek stammen, wurden für den Altertumsverein Tegernsee und dessen Museum erworben.

Skandalös darf man die Ausführungen des Bayerischen Landesamts für Denkmalpflege nennen, soweit sie im Merkur greifbar sind:

“Der ehemals im Psallierchor verwahrte Buchbestand lässt weder einen Bezug zum ehemaligen Kloster und jetzigen Schloss noch zur ehemaligen Kloster- und jetzigen Pfarrkirche erkennen”, heißt es in der Stellungnahme. “Weder die Sammlungsgeschichte noch ein Sammlungsschwerpunkt steht im Bezug zu den beiden Baudenkmälern.” Die Sammlung für sich genommen lasse keine Bedeutung nach dem Denkmalschutzgesetz erkennen und “erfüllt damit nicht die Voraussetzungen für ein bewegliches Denkmal”.

Wieso legt das Landesamt sein Gutachten nicht offen? Man verschanzt sich dort gern, wie ich aus eigener leidiger Recherche-Erfahrung weiß, gern hinter den Eigentümerinteressen.

Einmal mehr versagt in Bayern die amtliche Denkmalpflege beim Schutz beweglicher Kulturdenkmale. Aus dem Jahr 2007 stammt meine Zusammenstellung “Bayern schützt seine Kulturgüter nicht”. Inzwischen ist es nicht besser geworden.

Nur auf Facebook1, nicht aber in seinem Blogbeitrag hat Sepp die in der Tat berechtigte Frage gestellt, wieso man denn nicht die Bayerische Staatsbibliothek als staatliche Fachbehörde für das Bibliothekswesen befasst habe. Aufgrund meiner bisherigen Erfahrungen mit der Bibliothek vermute ich aber, dass nichts besseres herausgekommen wäre. Vor kurzem hatte ja Falk Eisermann die unsägliche Aussage der Staatsbibliothek, das derzeit geprüfte Konvolut aus der Schweinfurter Schäfer-Sammlung enthalte kein national wertvolles Kulturgut, in INETBIB öffentlich kritisiert.

Adelsbibliotheken, auch wenn sie erst aus dem 19. Jahrhundert stammen, sind Geschichtsquellen2 und erfüllen daher die Definition des Kulturdenkmals. Sie sind eine Sachgemeinschaft, an deren Erhaltung ein öffentliches Interesse besteht. Es ist für diese Definition erst einmal irrelevant, ob sie “Ausstattung” eines anderen Kulturdenkmals sind. Diese Bestimmung bezieht sich auf den Konsens der Denkmalschutzgesetze der Länder und nicht auf die bayerische Landesgesetzgebung, die für bewegliche Kulturgüter inakzeptable Hürden errichtet hat. Die verkommene Praxis, die Artikel 141 der Bayerischen Landesverfassung ins Gesicht schlägt (“die Denkmäler der Kunst, der Geschichte und der Natur sowie die Landschaft zu schützen und zu pflegen”), darf hier kein juristischer Leitstern sein. Sepp trägt umsichtig Kriterien für die Bewertung des offenbar aufschlussreichen Ensembles, das Rückschlüsse auf die geistigen Interessen der Herzöge in Bayern und ihres Umkreises erlaubt, zusammen:

Demnach wurde der der Aufbau der Bibliothek von Herzog Wilhelm in Bayern begonnen (gest. 1837) und durch Pius in Bayern (1786-1837), Max in Bayern (1808-1888) und Carl Theodor in Bayern (1839-1909) fortgeführt. Dazu kamen kleinere Bestände aus dem Besitz von Vorfahren, der jeweiligen Prinzen und Prinzessinnen. Letzter größerer Beitrag waren die Bücher der letzten Königin von Bayern, Marie Therese von Österreich-Este (1849-1919). Die Bücher der Herzöge Wilhelm und Pius befanden sich ursprünglich in Banz (bis 1933 Eigentum der Herzöge) und wurden erst im 20. Jahrhundert nach Tegernsee gebracht. Der größte Teil des Bestandes kam aus der Bibliothek von Herzog Max in Bayern.

Wieso die Reste des Buchbestands der letzten bayerischen Königin, also einer hinreichend bedeutenden Persönlichkeit, keine sozialgeschichtlichen, kulturgeschichtlichen, adelsgeschichtlichen, mentalitätsgeschichtlichen, geistesgeschichtlichen, gendergeschichtlichen usw. Fragestellungen zulassen sollten, die nur mit den erhaltenen Büchern zu klären wären, leuchtet nicht ein. Wie oft führt man beim Abbruch von Häusern auf Geheiß der Denkmalpflege eine Baudokumentation durch, bei Funden Rettungsgrabungen – und wieso nie vor Zerschlagung einer Adelsbibliothek? Wenigstens die provenienzgeschichtlich wichtigen Daten wären so gesichert. Dass die merkantil motivierten Katalogbeschreibungen der Händler keine wirkliche Rekonstruktion erlauben, durfte man schon oft feststellen. Diverse Materialien zur Bibliotthek, darunter eine systematische Fotodokumentation, sind anscheinend in Privatbesitz – also nicht öffentlich zugänglich.

Wir brauchen auf lange Sicht eine gut ausgestattete Provenienz-Stiftung, die sich nicht nur für NS-Raubgut und Vergleichbares interessiert, sondern auch historische Bestände wie den hier zur Rede stehenden virtuell rekonstruiert.

Im Strudel eines lokalen Skandals konnte sich der an sich löbliche Impetus, ein kulturgeschichtlich bedeutsames Ensemble zu retten und für Forschung und Öffentlichkeit zugänglich zu machen, nicht durchsetzen. Die Gesamtheit wurde zerschlagen. Aus früheren Beispielen mir sattsam bekannt: die dubiose Rolle des Handels, die Ignoranz der Denkmalpflege. Über 20 Jahre, seit der Versteigerung der Inkunabeln der Hofbibliothek Donaueschingen, recherchiere ich über die Verluste von Adelsbibliotheken. Es freut mich, dass mit Florian Sepp nun auch jemand anderes sich in fundierter Weise an dieser “Trauerarbeit” beteiligt hat.

  1. Obwohl in einer öffentlichen Gruppe diskutiert, lässt sich der Link https://www.facebook.com/groups/1426956144186780/permalink/1534016486814078/ nur für registrierte Nutzer aufrufen. Friedrich Ulf Röhrer-Ertl (ebenfalls BSB) äußerte sich dort befremdet über die Zerschlagung der Bibliothek. Eine kleine Diskussion auch in Archivalia vom 20. August 2014.
  2. Siehe etwa meine “Oberschwäbischen Adelsbibliotheken”: http://eprints.rclis.org/7542/ (ungekürzte Fassung) und die Literaturhinweise in meinem Beitrag: Fiktion und Geschichte: Die angebliche Chronik Wenzel Grubers, Greisenklage, Johann Hollands Turnierreime und eine Zweitüberlieferung von Jakob Püterichs Ehrenbrief in der Trenbach-Chronik (1590). In: Frühneuzeit-Blog der RWTH vom 10. Februar 2015.

Quelle: http://kulturgut.hypotheses.org/426

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Forderung nach europäischem Web-Index

Die Schaffung einer EU-Suchmaschine als Alternative zu Google ist wahrscheinlich weder realistisch noch wünschenswert; sehr wohl möglich ist aber ein öffentlich finanzierter Web-Index, den dann Start-Ups, Softwareschmieden, Medienkonzernen usw. als Grundlage ihrer eigenen Suchmaschinen verwenden. Von diesem Vorschlag habe ich erstmals bei der Society of the Query # 2 in Amsterdam November 2013 gehört, geäußert hat ihn damals Dirk Lewandowski. Nun hat es diese Forderung in Spiegel Online geschafft und wird auch in EU-Gremien zumindest mal diskutiert.

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/1022399772/

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