Der hermaphroditische Adam und die ungeschlechtliche Seele

“Als Mann und Frau schuf er sie” – das liest sich in der Genesis  (Gen. 1, 27) recht klar und einfach. Doch schon mit der Bestimmung, Gott habe sie “zu seinem Bilde” erschaffen, wird es theologisch erheblich komplizierter. In mittelalterlichen Bibelhandschriften sieht man das besonders deutlich an den kleinen Erläuterungen, die sich zwischen den Zeilen ansammeln, den am Rand zu findenden Kommentartexten, die meist aus der patristischen Literatur stammen (“Glossen”) und den Kommentaren zu den Kommentaren.In der Abbildung hier ist z.B. das Wort “Masculum” […]

Quelle: http://intersex.hypotheses.org/137

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Die Kraft der Bilder: “Das Lied der Fischer” 漁光曲 (1934)

Anfang der 1930er Jahre unternahm die Regierung Chiang Kai-shek  [Jiǎng Jièshí] 蔣介石 alles, um den Einfluss der linksgerichteten Filmstudios in China zurückzudrängen. Waren es zunächst Zensurmaßnahmen, Aufführungsverbote und Verbote  linksgerichteter Vereinigungen., kam es 1934 zu einer Verhaftungswelle und zahlreichen Mordanschlägen.[1] Trotz der schwierigen Situation wurde in diesem Jahr ein Film eines linksgerichteten Filmemachers zum Publikumserfolg.

Still frame from: Song of the Fishermen (漁光曲)
Song of the Fishermen 漁光曲 (1934) Internet Archive

Yúguāng qū 漁光曲[“Das Lied der Fischer”/”Song of the Fishermen”] von Cài Chǔshēng  蔡楚生 (1906-1968)  erzählt die Geschichte einer Fischerfamilie nach dem Tod des Vaters. Cài Chǔshēng  蔡楚生 verzichtet auf plumpe Agitation und jede Form der Indoktrination, die Wirkung entsteht allein aus der Kraft der Bilder. Das Publikum soll sich mit dem Schicksal der dargestellten ‘einfachen’ Leute identifizieren.

Der Film steht zwischen Stummfilm und Tonfilm, der Film kommt ohne gesprochene Dialoge aus, doch die Filmmusik (vor allem das Titellied Yúguāng qū 漁光曲) trägt entscheidend zur Wirkung bei.[2]

Yúguāng qū 漁光曲 war der erste chinesische Film, der bei einem internationalen Festival einen Preis errang: einen Spezialpreis beim Moskauer Filmfestival 1935.[3]

Der Film im Internet Archive:

 

  1. Dazu einführend Stefan Kramer: Geschichte des chinesischen Films (Stuttgart/Weimar: Metzler 1997), 23 f.
  2. S. dazu: Dorothea Charlotte Rusch;  Ideologische Schlager in chinesischen Filmen der 1930er Jahre:  “Siji ge” 四季歌, “Yuguang qu” 渔光曲 und “Dalu ge” 大路歌 (Magisterarbeit, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, SS 2013), 64-68.
  3. Kramer (1997), 24. S. auch Rusch (2013)  8.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/2039

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Die Kraft der Bilder: “Das Lied der Fischer” 漁光曲 (1934)

Anfang 1930er Jahre unternahm die Regierung Chiang Kai-shek  [Jiǎng Jièshí] 蔣介石 alles, um den Einfluss der linksgerichteten Filmstudios in China zurückzudrängen. Waren es zunächst Zensurmaßnahmen, Aufführungsverbote und Verbote  linksgerichteter Vereinigungen., kam es 1934 zu einer Verhaftungswelle und zahlreichen Mordanschlägen.[1] Trotz der schwierigen Situation wurde in diesem Jahr ein Film eines linksgerichteten Filmemachers zum Publikumserfolg.

Still frame from: Song of the Fishermen (漁光曲)
Song of the Fishermen 漁光曲 (1934) Internet Archive

Yúguāng qū 漁光曲[“Das Lied der Fischer”/”Song of the Fishermen”] von Cài Chǔshēng  蔡楚生 (1906-1968)  erzählt die Geschichte einer Fischerfamilie nach dem Tod des Vaters. Cài Chǔshēng  蔡楚生 verzichtet auf plumpe Agitation und jede Form der Indoktrination, die Wirkung entsteht allein aus der Kraft der Bilder. Das Publikum soll sich mit dem Schicksal der dargestellten ‘einfachen’ Leute identifizieren.

Der Film steht zwischen Stummfilm und Tonfilm, der Film kommt ohne gesprochene Dialoge aus, doch die Filmmusik (vor allem das Titellied Yúguāng qū 漁光曲) trägt entscheidend zur Wirkung bei.[2]

Yúguāng qū 漁光曲 war der erste chinesische Film, der bei einem internationalen Festival einen Preis errang: einen Spezialpreis beim Moskauer Filmfestival 1935.[3]

Der Film im Internet Archive:

 

  1. Dazu einführend Stefan Kramer: Geschichte des chinesischen Films (Stuttgart/Weimar: Metzler 1997), 23 f.
  2. S. dazu: Dorothea Charlotte Rusch;  Ideologische Schlager in chinesischen Filmen der 1930er Jahre:  “Siji ge” 四季歌, “Yuguang qu” 渔光曲 und “Dalu ge” 大路歌 (Magisterarbeit, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, SS 2013), 64-68.
  3. Kramer (1997), 24. S. auch Rusch (2013)  8.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/2039

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Zugriff auf Joseph Daniel von Hubers Vogelschauansicht von Wien über Albertina und…

Dank Klaus Grafens Posting zu den Österreichischen Museums- und Bilddatenbanken bin ich auf die online zugänglichen Digitalisate aus den Sammlungen der Albertina aufmerksam geworden und habe gleich mal nachgesehen, ob die in der Albertina aufbewahrte Federzeichnung der famosen Vogelschauansicht von Joseph Daniel von Huber (mit Konskriptionsnummern!) verfügbar ist: Und fürwahr, sie ist es, allerdings sind die insgesamt 42 Zeichnungen nicht von vornherein leicht zugänglich, daher habe ich als kleines Servie für Wien-Freaks auf meiner Homepage eine Übersicht zusammengestellt, von der aus die zoombaren Dateien aus leicht abgerufen werden können:

Huber-Albertina
http://tantner.net/Huber_Vogelschauansicht-Wien_1769-1773_Albertina.html

Und weil's so schön ist, habe ich das gleiche auch für das Digitalisat der in der Biblioteca Nazionale Centrale di Firenze aufbewahrte Exemplar des Huberschen Kupferstich gemacht:

Huber-Florenz
http://tantner.net/Huber_Vogelschauansicht-Wien_1769-1773_Florenz.html

Weitere Adresscomptoir-Postings zu Wienplänen hier: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/219046159/

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/1022400832/

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Fritz Brill – Wissenschaftliche Fotografie in der Werbung

Fritz Brill: Wärmeentwicklung in einer Bügeleisenschnur kurz vor dem Kabelbrand
Fritz Brill mit selbstkonstruierter Aufnahmeapparatur

Fritz Brill mit selbstkonstruierter Aufnahmeapparatur, 1957 (Foto: © Deutsches Museum München)

Der Name des Fotografen Fritz Brill ist vielen ein Begriff, sowohl aus dem Kulturfilm „Schöpfung ohne Ende“ aus dem Jahr 1956 als auch aus aktuellerem Anlass im Rahmen der Berliner Ausstellung „Mikrofotografie. Schönheit jenseits des Sichtbaren“ (2010).[1] Im Gegensatz zu den meisten der dort ausgestellten Künstler und Wissenschaftler bediente Brill jedoch auch eine eher ungewöhnliche Kundschaft für wissenschaftliche Fotografie: die Werbeindustrie.[2]

Mikroaufnahme Penicillin

Mikroaufnahme Penicillin im Prospekt „Antibiotika“ der Bayer AG, 1956 (Foto: © Deutsches Museum München)

Fritz Brill (1904-1997) kam über Umwege zur Fotografie. Nach einer kaufmännischen Ausbildung studierte er in Berlin Gebrauchsgrafik und besuchte die Schule des ehemaligen Bauhauslehrers Johannes Itten. Danach arbeitete er ein Jahr lang als Werbegrafiker für Herbert Bayer im Studio Dorland. Hier begann er auch die Fotografie für sich zu entdecken. Mit seiner späteren Ehefrau Hedwig Bornemann gründete er 1932 ein „Atelier für Werbegestaltung“ in Berlin. Trotz spärlicher Ausrüstung und fast ohne Startkapital gelang es ihnen, Aufträge von großen Firmen wie AEG, Mondamin und Pharma Bauer & Co zu erhalten. Zudem fertigte er schon ab 1933 Farbfotografien als Pinatypien an und ergänzte sein Arbeitsspektrum sehr bald um die Mikrofotografie, wie sich schon 1938 im neuen Namen der Firma erkennen lässt: „Chemisch-Physikalisches Institut für Industrie-Mikroskopie“.[3]

Nach der Unterbrechung durch die Kriegsjahre stellte Brill 1949 die ersten Nachkriegsaufnahmen in Kassel aus. Ein Jahr später fand er durch einen Großauftrag für die Druckfarben-Fabrik Celle einen Neueinstieg in die wissenschaftliche Fotografie für die Industrie – in seinem Fall die Mikro-, Makro- und Hochgeschwindigkeitsfotografie. Er selbst bezeichnete sein Arbeitsgebiet als „Photoanalyse“, eine Vorgehensweise, die „durch Methodik, Fotografie, Kinematographie und spezielle Entwicklung von Hilfsapparaturen Analysen technischer und biologischer Vorgänge erarbeitet“ wurde.[4] Diese Hilfsapparaturen waren oft sehr aufwändige Versuchsaufbauten, die für seine ungewöhnlichen Aufnahmen notwendig waren, da Brill den Anspruch hatte, genau das sichtbar zu machen, was für nicht fotografisch belegbar gehalten wurde.

Skizzen von Fritz Brill zur Realisierung von Backszenen

Skizzen von Fritz Brill zur Realisierung von Backszenen für den Film „Das Steckenpferd der Hausfrau“ von Dr. August Oetker, ca. 1954 (© Deutsches Museum München)

Schon sehr früh begann er das Medium Film einzusetzen, da viele seiner Arbeiten gerade auf die Darstellung von Prozessen abzielten, die am besten im bewegten Bild eingefangen werden konnten. Fritz Brills erster komplett eigenständig realisierter Film war eine Auftragsarbeit für die Doktor August Oetker GmbH mit dem Arbeitstitel „Zur Entstehung des Rührkuchens“, der später in „Das Steckenpferd der Hausfrau“ abgewandelt wurde.[5] Die meisten Aufnahmen mussten gedreht werden, während sich der Teig im Backofen befand, was Brill vor einige Schwierigkeiten stellte. Um eine ausreichende Belichtung der Szene zu erreichen, fertigte er einen Spezialbackofen mit vielen Fenstern an. Diese beschlugen jedoch aufgrund der hohen Backtemperaturen, was wiederum nur durch den Einbau eines Kühlwasserkreislaufs in die Glasscheibe zu beheben war. Ein weiteres Problem waren die Filmaufnahmen an der Teigoberfläche, die im Makrobereich aufgenommen werden sollten. Die Brennweite der Kameraoptik erfasste einen Tiefenschärfebereich von ca. 17 mm, der Teig ging jedoch durch das Backpulver um 7 cm nach oben auf. Brill baute daraufhin eine Abtastapparatur in den Ofen, welche die Kuchenform in dem Maße, wie der Teig aufging, auf einer Plattform nach unten fuhr, so dass die Teigoberfläche im Schärfenbereich der Kamera blieb. Diese Vorrichtung musste zudem die hohen Temperaturen im Backofen aushalten.[6]

Oftmals ging Brill bei seinen Aufträgen große finanzielle Risiken ein, da das Honorar von der erfolgreichen Realisierung seiner Ideen abhing, er jedoch im Vorfeld in technische Gerätschaften investieren musste. Ab 1961 konnte er einen lang gehegten Wunsch verwirklichen und sich fortan auf fotografische Arbeiten im Dienste der Forschung konzentrieren, insbesondere für die Druckindustrie. Allerdings nahm Brill auch weiterhin vereinzelt Aufträge im Bereich Werbung an. Seine Versuchsaufbauten im eigens gebauten Institut für Photoanalyse in Hofgeismar waren nicht weniger aufwändig als seine früheren Arbeiten, wie die Aufnahme aus seinen Arbeitsnotizen zeigt.[7]

Fritz Brill: Aufnahmestand Kurzzeitszene mit LacktropfenLacktropfen

Fritz Brill: Aufnahmestand Kurzzeitszene mit Lacktropfen für die Bayer AG, 1977 (Foto: © Deutsches Museum München)

Trotz der überwiegend auf Technik und Forschung ausgerichteten Fotografien überzeugen viele Ausführungen der Werbeaufträge auch durch ästhetische Qualitäten. So gelingt es ihm nicht nur, die Schönheit von Penicillin-Kristallen hervorzuheben, sondern er zaubert auch beeindruckende Effekte aus einem von Natur aus eher profanen Kabelbrand.

Brills wissenschaftlicher Nachlass befindet sich seit 2011 im Archiv des Deutschen Museums in München und umfasst neben etwa 300 Fotografien auch Filme, Arbeitsskizzen und Notizen Brills sowie diverse Unterlagen zu seinen Aufträgen.[8]

Fritz Brill: Wärmeentwicklung in einer Bügeleisenschnur kurz vor dem Kabelbrand

Fritz Brill: Wärmeentwicklung in einer Bügeleisenschnur kurz vor dem Kabelbrand, ca. 1977 (Foto: © Deutsches Museum München)

[1]    Ludger Derenthal und Christiane Stahl (Hrsg.), Mikrofotografie. Schönheit jenseits des Sichtbaren, Ostfildern: Hatje Cantz Verlag 2010.

[2]    Katharina Scholz: Wissenschaftliche Fotografie in der Werbung. Eine Untersuchung an Beispielen von Fritz Brill und Manfred P. Kage. Master-These, München 2013.

[3]    Fritz Brill, Rückblickend, in: Berlinische Galerie (Hrsg.), Fritz Brill. Grafik – Fotografie – Analyse, Berlin: Albert Heutrich 1982.

[4]    Ders., Die optische Photoanalyse. Sinn – Aufgabe – Technik, 1960, Deutsches Museum, München, Archiv (DMA), NL 240/Vorl.Nr. 0011.

[5]    Ders., Erläuterungen zum Backfilm-Auftrag Dr. Oetker, ca. 1954, DMA, NL 240/Vorl.Nr. 0279.

[6]    Ders., Fotoanalyse, 1958, DMA, NL 240/Vorl.Nr. 0016.

[7]    Ders., Arbeitsnotizen 1977-1983, DMA, NL 240/Vorl.Nr. 0504.

[8]    http://www.deutsches-museum.de/archiv/bestaende/nachlaesse/verzeichnis/b/brill-fritz-1904-1997/

Quelle: http://www.visual-history.de/2015/02/23/fritz-brill-wissenschaftliche-fotografie-in-der-werbung/

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Stadtpatrone und Heraldik als Elemente städtischer Identität: Überlegungen in Anlehnung an den Sammelband ‘Santi, patroni, città: immagini della devozione civica nelle Marche’

For an English summary, see below. Am 30.11.1377 wurde das Städtchen San Ginesio in der italienischen Provinz der Marken von Truppen der nahen Stadt Fermo angegriffen. Dabei, so will es die Legende, soll der Heilige Andreas über der Stadt erschienen sein und die Angreifer in die Flucht geschlagen haben. Ein Altarbild des Nicola von Siena aus der Mitte des 15. Jahrhunderts zeigt diese Schlacht um San Ginesio samt himmlischem Erretter. Auffällig ist das große, rot-weiße Banner, welches der Apostel in der linken Hand hält. Es zeigt das Wappen der Stadt, welches auf den Stadttürmen noch zweimal abgebildet ist. Der Heilige tritt hier nicht als Schutzherr und Fürsprecher in eschatologischer, sondern in ganz irdischer Hinsicht auf. Er wird über das städtische Wappen mit der Stadt verbunden, er zeigt sprichwörtlich Flagge für sie. Solche Verbindungen zwischen städtischer Heraldik und Patronsverehrung stehen im Mittelpunkt dieses Beitrags. An das Gemälde könnte man bereits zahlreiche Fragen anschließen, die auf das weite Feld der Stadtpatrone und städtischen Heraldik als Zeichen städtischer Identität verweisen: Was genau bedeutet das Tragen des Wappens in diesem Zusammenhang? Ist Andreas damit bereits ein „offizieller“ Stadtpatron [1], oder doch eher ereignisgebunden als „defensor civitatis“ anzusehen [2], der sich in eine Reihe von […]

Quelle: http://heraldica.hypotheses.org/2808

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Stadtpatrone und Heraldik als Elemente städtischer Identität: Überlegungen in Anlehnung an den Sammelband ‘Santi, patroni, città: immagini della devozione civica nelle Marche’

For an English summary, see below. Am 30.11.1377 wurde das Städtchen San Ginesio in der italienischen Provinz der Marken von Truppen der nahen Stadt Fermo angegriffen. Dabei, so will es die Legende, soll der Heilige Andreas über der Stadt erschienen sein und die Angreifer in die Flucht geschlagen haben. Ein Altarbild des Nicola von Siena aus der Mitte des 15. Jahrhunderts zeigt diese Schlacht um San Ginesio samt himmlischem Erretter. Auffällig ist das große, rot-weiße Banner, welches der Apostel in der linken Hand hält. Es zeigt das Wappen der Stadt, welches auf den Stadttürmen noch zweimal abgebildet ist. Der Heilige tritt hier nicht als Schutzherr und Fürsprecher in eschatologischer, sondern in ganz irdischer Hinsicht auf. Er wird über das städtische Wappen mit der Stadt verbunden, er zeigt sprichwörtlich Flagge für sie. Solche Verbindungen zwischen städtischer Heraldik und Patronsverehrung stehen im Mittelpunkt dieses Beitrags. An das Gemälde könnte man bereits zahlreiche Fragen anschließen, die auf das weite Feld der Stadtpatrone und städtischen Heraldik als Zeichen städtischer Identität verweisen: Was genau bedeutet das Tragen des Wappens in diesem Zusammenhang? Ist Andreas damit bereits ein „offizieller“ Stadtpatron [1], oder doch eher ereignisgebunden als „defensor civitatis“ anzusehen [2], der sich in eine Reihe von […]

Quelle: http://heraldica.hypotheses.org/2808

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Punk-Doku auf Arte

Die Geschichte wird von denen gemacht, die Nein sagen, und die utopischen Ketzereien von Punk bleiben sein Geschenk an die Welt. (*)

Kommenden Samstag (28.2.2015, 22:00) zeigt Arte die Doku No Future! Als der Punk Wellen schlug.

(*) Savage, John: England's Dreaming. Anarchie, Sex Pistols, Punk Rock. (=Critica Diabolis; 100). Berlin: Bittermann/Edition TIAMAT CD 100, 2. Aufl., 2003, S. 472.

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/1022400784/

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Der adlige “Eremit” Theodor von Hallberg-Broich und der Erfolg einer konstruierten Familiengeschichte

Von Martin Otto Braun

Nachdem der Bonner Professor für Heraldik Christian Samuel Theodor Bernd1 in den 1830er Jahren damit begonnen hatte, die Wappen adliger Familien für sein „Wappenbuch der preußischen Rheinprovinz“ zu sammeln, erreichte ihn im April des Jahres 1832 ein Brief aus Jülich. In diesem Brief bekundete der Freiherr Franz Joseph Hubert von Hallberg zu Broich mit folgenden Worten sein Interesse an der Arbeit Bernds:2

„Hochverehrtester Herr Professor! Benachrichtigt durch die Zeitung, dass euer Hochwohlgeboren ein Wappenbuch der Preußischen Rheinprovinzen und derjenigen adeligen Herren geben wollen, welche in die Adels-Matrikel der Rheinprovinz aufgenommen sind, bitte ich meinen Namen auf die Liste der Unterzeichner zu setzen und zur Zeit ein Exemplar übersenden zu wollen.“3

Unterzeichnet war dieser Brief, der sich heute mit anderen heraldischen und genealogischen Unterlagen Theodor Bernds in der Autographen-Sammlung der Bonner Universitätsbibliothek befindet, mit Hallbergs Namen und Adelstitel sowie der Ergänzung „Obristleutnant in königlich Spanischen Diensten, Ritter etc.“.

Tatsächlich findet sich in Theodor Bernds Unterlagen auch die von Franz von Hallberg-Broich angebotene „Geschichte der Grafen und Freiherren von Hallberg zu Pesch und zu Broich“, deren Richtigkeit – so der Wortlaut ihrer Einleitung – „die Familienpapiere authentisch beweisen“. Am Rand dieses Schriftstücks können jedoch auch einige mit Bleistift angebrachte Bemerkungen entziffert werden, die offenbar von Theodor Bernd stammen und den Wahrheitsgehalt der durch Franz von Hallberg-Broich zur Familiengeschichte getroffenen Aussagen kritisch kommentieren.

Bevor der Inhalt dieses Manuskripts und die Bemerkungen Theodor Bernds hierzu in einem späteren Blogbeitrag Gegenstand der Untersuchungen sein werden, soll zunächst überblicksartig der bisherige Kenntnisstand über die im 18. und frühen 19. Jahrhundert auf dem bei Jülich gelegenen Schloss Broich ansässige Familie der Freiherren von Hallberg-Broich nachgezeichnet werden. Der Fokus wird hiernach insbesondere auf den bereits im 19. Jahrhundert weit über die Grenzen Jülichs hinaus bekannten „Eremiten von Gauting“, Theodor von Hallberg-Broich (1768–1862),4 aber auch auf zwei seiner Brüder, nämlich den bereits oben erwähnten Franz Joseph Hubert (1784–1850)5 und Carl Ernst von Hallberg-Broich (1774–1836)6 gelegt werden.

Von Ferdinand Freiherr von Lütgendorff-Leinburg (1785-1858) [Public domain], via Wikimedia,
Titelbild aus Johanns Gistels “Leben des preußischen General’s Freiherrn Theodor von Hallberg-Broich, genannt “Eremit von Gauting”, Berlin 1863. (Bild: Von Ferdinand Freiherr von Lütgendorff-Leinburg (1785-1858) [Public domain], via Wikimedia).

Zeitlich wird das Hauptaugenmerk sich dabei auf die Kernphase der revolutionären Umbrüche, also die Periode zwischen 1789 und 1815, richten. Die Beiträge verstehen sich in direktem Anschluss an die bisherigen Artikel dieses Blogs, der Netzbiographie Joseph zu Salm-Reifferscheidt-Dyck sowie der in Kürze erscheinenenden Dissertation “An den Wurzeln der Tugend. Rheinischer Adel und Freimaurerei 1765-1815″ als weitere Mosaiksteine in der Erforschung der Selbstsicht sowie des Anpassungsvermögens rheinischer adliger Familien in der koselleckschen “Sattelzeit”.

Zur richtigen Einordnung der späteren Ausführungen scheint es – wie bereits erwähnt – sinnvoll, sich zunächst die bisher bekannte Familiengeschichte der Freiherren von Hallberg zu Broich skizzenartig vor Augen zu führen.

Skizze der Familiengeschichte

Die ältesten Zeugnisse der Familie des Freiherren Theodor von Hallberg zu Broich lassen sich in die Stadt Mühlheim am Rhein zurückführen. Hier hatte Christian Hallberg (gestorben 1661) in den Jahren 1657 und 1659 das Amt des Bürgermeisters inne.7 Mit Hilfe von Ernst von Oidtmans genealogisch-heraldischer Sammlung lässt sich die spätere Linie der Freiherren von Hallberg zu Broich von einem Enkel dieses Christian Hallberg, genannt Peter Diederich Hallberg (1691–1752), herleiten. Dieser erlangte das Amt eines jülichschen Hofkammerrates und Schultheißen zu Aldenhoven. Seit 1721 trug er den Beinamen „Edler von Hallberg“. Oidtman vermutet, dass Peter Diederich das Gut Broich bei Jülich nach 1741 erworben hat.8

Der Freiherren-Titel wird bei Oidtman erstmals für die beiden Brüder Tillmann Peter (1729–1793)9 und Bernhard Josef10 von Hallberg zu Broich angeführt. Hierbei ist es wichtig, zu erwähnen, dass der Freiherren-Titel wohl ursprünglich nach anderen Linien usurpiert worden ist.11 Eine Wiederanerkennung des Freiherrenstandes durch ein preußisches Ministerial-Reskript ist für die Frau des Tillmann Peter, Rosa von Hallberg, und deren Söhne Carl, Theodor und Franz für das Jahr 1826 nachweisbar. Tillmann Peter war zu Lebzeiten nicht nur kurpfälzischer Truchsess und Besitzer des Gutes Broich, sondern auch Herr des Gutes Obbendorf bei Hambach (im heutigen Kreis Düren gelegen), das um 1763/1764 in den Besitz der Familie kam.12

Der Freiherrentitel wird ebenfalls für den 1752 geborenen, späteren königlich bayerischen Generalmajor Karl Theodor von Hallberg zu Broich erwähnt, wobei unklar ist, ob dieser ein Sohn des Bernhard Josef war.13 Im Folgenden wird die Familien-Konstellation, insbesondere aber dieser königlich bayerische Generalmajor noch von Bedeutung sein. Im Fokus der Betrachtungen steht jedoch der Familienzweig des Tillmann Peter von Hallberg-Broich.

Von N.N., zeitgenössischer Stecher (Ebay Angebot) [Public domain], via Wikimedia Commons on zeitgenössischer Stecher (Ebay Angebot) [Public domain], via Wikimedia Commons.
Wappen Theodor von Hallberg-Broichs (Bild: N.N., zeitgenössischer Stich (Ebay Angebot) [Public domain], via Wikimedia Commons).

Heute taucht der Name dieses Zweigs der Familie gelegentlich in lokalhistorischen Beiträgen auf. Es handelt sich hierbei zumeist um Abhandlungen über den bereits erwähnten sogenannten „Eremiten von Gauting“, Theodor von Hallberg zu Broich. Dieser war eines der insgesamt elf Kinder, die aus der Ehe zwischen Tillmann Peter von Hallberg zu Broich und seiner Frau Rosa, einer geborenen Freiin Quadt von Wykrath zu Alsbach, hervorgingen.14

Über Theodor von Hallberg-Broich, der unter anderem als Verfasser des gemeinsam mit seinen Brüdern im Jahre 1819 veröffentlichten antiklerikalen und preußenkritischen „Deutschen Kochbuchs für Leckermäuler und Guippees“, diverser Reisebeschreibungen und durch ein öffentliches Heiratsgesuch in einer bayerischen Zeitung aus dem Jahr 1840 einen nachhaltigen Eindruck bei den Zeitgenossen hinterließ,15 kursierten bereits im 19. Jahrhundert zahlreiche, zum Teil kuriose Geschichten. Diese finden bis in die jüngste Zeit ihren Niederschlag in historischen Veröffentlichungen.16

Der „Eremit von Gauting“, dessen eigenartig anmutendes Pseudonym sich aus Hallbergs späterem, zwischen München und dem Starnberger See gelegenen Schloss Fußberg in Gauting herleitet und u.a. zur Unterzeichnung kritischer Beiträge in bayerischen Zeitschriften verwandt wurde,17 erscheint nicht nur ob seines bis in die heutige Zeit nachwirkenden Charismas, sondern auch wegen seiner angeblich fanatischen Gegnerschaft zu Napoleon als Schlüsselfigur, will man sich der Geschichte der Familie der Freiherren von Hallberg-Broich im frühen 19. Jahrhundert und ihrem Verhältnis zur französischen Besatzung des Rheinlands nähern.

Im nächsten Beitrag der Blogserie soll der bishergie Stand der Forschungen hierzu kurz umrissen werden.

Anmerkungen:

1 Christian Samuel Theodor Bernd (1775-1854) wurde 1822 in Bonn zum Universitätsprofessor für Diplomatik, Sphragistik und Heraldik ernannt. Zu seiner Person sowie weiteren bibliographischen Hinweisen siehe Eckart Henning, Auxilia Historica – Beiträge zu den Historischen Hilfswissenschaften und ihren Wechselbeziehungen, Köln/Weimar/Wien 2000, S. 173-174.

2 Die im Folgenden wiedergegebenen Transkriptionen wurden in Rechtschreibung und Zeichensetzung dem heutigen Schriftbild weitestgehend angepasst.

3 Franz von Hallberg-Broich, Briefe an Theodor Bernd, Handschriftenabteilung der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn, Signatur S 2548. Die im folgenden Absatz gemachten Angaben und Zitate beziehen sich auf ebenfalls auf dieses Dokument. Im 1835 erschienenen Werk Theodor Bernds ist Franz von Hallberg-Broich mit dem Titel eines spanischen Orbistleutnants unter den Subskribenten aufgeführt. Vgl. Christian Samuel Theodor Bernd, Beschreibung der im Wappenbuche der Preussischen Rheinprovinzen gelieferten Wappen, nebst einer Farbentafel, VIII. Heft, Bonn 1835, S. X. 

4 Herbert M. Schleicher, Ernst von Oidtman und seine genealogisch-heraldische Sammlung in der Universitäts-Bibliothek zu Köln (= Veröffentlichungen der Westdeutschen Gesellschaft für Familienkunde e.V., Bd. 7), Köln 1994, Mappe 551, S. 482.

5 Das Sterbedatum des Franz von Hallberg-Broich ist in der Oidtmanschen Genealogie nicht angegeben. Für die hier verwendete Angabe, die als Ort des Ablebens des Franz von Hallberg-Broich die Stadt Wiesbaden angibt, siehe August Kurtzel, Rudolf von Gottschall, Friedrich Bienemann (Hrsg.), Unsere Zeit: Deutsche Revue der Gegenwart. Monatsschrift zum Conversations-Lexikon, Bd. 6, Leipzig 1862, S. 700–706, hier S. 704.

6 Schleicher 1994 (wie Anm. 4) , Mappe 551, S. 483.

7 Schleicher 1994 (wie Anm. 4), Mappe 551, S. 478.

8 Schleicher 1994 (wie Anm. 4), Mappe 551, S. 482.

9 Schleicher 1994 (wie Anm. 4), Mappe 551, S. 482.

10 Geburts- und Sterbedatum des Bernhard Josef sind unbekannt. In der an Theodor Berndt gesandten Familiengeschichte wird Bernhard Josef von Hallberg-Broich nicht erwähnt. Vgl. Hallberg-Broich (wie Anm. 3), S 2548.

11 Zur Usurpation des Freiherrentitels siehe Schleicher 1994 (wie Anm. 5), Mappe 551, S. 481. Zur Re-Privilegierung des rheinischen Adels im Zeitalter der Restauration siehe Christof Dipper, Der rheinische Adel zwischen Revolution und Restauration, in: Helmuth Feigl, Willibald Rosner (Hrsg.), Adel im Wandel. Vorträge und Diskussionen des 11. Symposions des Niederösterreichischen Instituts für Landeskunde, Horn 2.-5- Juli 1990,  (=Studien und Forschungen des Niederösterreichischen Instituts für Landeskunde, Bd. 15), Wien 1991, S. 91-116, hier S. 106. 

12 In der von Freiherr Franz von Hallberg-Broich an den Bonner Genealogen Theodor Berndt gesandten Familiengeschichte wird zudem die Herrschaft des Peter Tillmann über die Güter Brachelen, Lohmar, Algard, Menden, Rauschendorf, Meindorf und Mundt angegeben. In der Oidtmanschen Genealogie sind die Güter Lohmar und Brachelen als Herrschaften des Bruders Bernhard Josef verzeichnet. Siehe hierzu Hallberg-Broich (wie Anm. 3), S 2548; Schleicher 1994 (wie Anm. 4), Mappe 551, S. 482.

13 Schleicher 1994 (wie Anm. 4), Mappe 551, S. 481 und 490.

14 Theodor, Franz und Carl von Hallberg-Broich besaßen vier Schwestern und drei Brüder: Maria Elisabeth (1762-?), Maria Theresia (1764 – ?), Eva Bernhardina (1767-?), August Adolf (1770–1792), Alexander August (1776–1814), Bernhard Johannes (1779–1781) sowie Caroline Josephina (1781–1859). Der noch zur Zeit der französischen Besatzung lebende Alexander August wird im vorliegenden Aufsatz nicht behandelt. Dieser war im Jahr 1793 als Capitular der Benediktinerabtei in Siegburg beigetreten und demnach für den geistlichen Stand vorgesehen. Dass dieser sich an kriegerischen Ereignissen oder der Verwaltung der Familiengüter beteiligte, konnte nicht nachgewiesen werden und ist daher unwahrscheinlich. Er verstarb, laut der Familiengeschichte, die in der Autographensammlung der Universität Bonn vorhanden ist, bereits am 6. Juli 1814. Hier heißt es über ihn: „Er lebte ganz für die Wissenschaften.“ Zu allen Angaben vgl. Schleicher 1994 (wie Anm. 4), Mappe 551, S. 482–483; Willi Dovern, Broicher Familienbuch 1668 – 1944 (=Veröffentlichungen des Jülicher Geschichtsvereins 4), Jülich 1985, S. 151; Erich Wisplinghoff, Die Benediktinerabtei Siegburg (= Germania Sacra – Neue Folge 9, Erzbistum Köln Bd. 2), Berlin 1973, S. 235; Hallberg-Broich (wie Anm. 3), S 2548.

15 Zum Heiratsinserat siehe Wolter von Egan-Krieger, Zwischen Weitsicht und Widersinn: Theodor Freiherr von Hallberg-Broich – Eine Lebensbeschreibung, Norderstedt 2007, S. 235–246. In Bezug auf die Reisebeschreibungen sind zu nennen: Theodor von Hallberg-Broich, Reise durch Skandinavien im Jahr 1817, Leipzig 1818; ders., Reise-Epistel durch den Isar-Kreis, Augsburg 1822; ders., Reise durch Italien, Augsburg 1830; ders., Ueber den Rhein-Donau-Kanal und den alten Handelsweg nach Indien, Augsburg 1831; ders., Frankreich-Algier, München 1837; ders., Reise nach dem Orient: zum Besten der Kolonie Hallberg im Freisinger Moos, Stuttgart 1839; ders., Deutschland, Russland, Caucasus, Persien: 1842-1844, Stuttgart 1844.

16 Siehe u.a. Egan-Krieger 2007 (wie Anm. 15); Dominique Müller-Grote, Freiherr von Hallberg-Broich – Geckenhafter Sonderling mit wohltätiger Gesinnung, in: Jahrbuch des Rhein-Sieg-Kreises 2008, (2007), S. 58 – 61; Werner Bülow, Der Eremit von Gauting – Theodor Freiherr von Hallberg-Broichs Leben, Ansichten und Reisen, Rosenheim 1991.

17 Zur Verwendung des Pseudonymns siehe Egan-Krieger 2007 (wie Anm. 15), S. 198–207. Theodor und Carl von Hallberg-Broich waren ebenfalls als Autoren für die 1819 durch die preußische Zensur verbotene Zeitschrift „Hermann – Eine Zeitschrift von und für Westfalen“ tätig. Siehe hierzu Adolf Dressler, Die Entwicklung des Pressewesens in der Stadt Hagen in Westfalen von seinen Anfängen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, Hagen 1932, S. 5–59; Egan-Krieger 2007 (wie Anm. 15), S. 57-78.

Quelle: http://rhad.hypotheses.org/559

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Moderne Ahnenverehrung?

Wohl in fast jedem (bildungsbürgerlichen) Haushalt wird man beim Durchstöbern der Bücherregale auf mindestens ein bis zwei Bücher zur lokalen Geschichte stoßen. Die Geschichte einer Heimatstadt ist zwar oft kein alltäglich präsentes Thema, doch viele Menschen wissen etwas, einige etwas mehr, über den Ort, an dem sie leben, und dessen Geschichte.
Woher kommt das Interesse daran, die Geschichte des Wohnortes zu kennen, das Bedürfnis, etwas über frühere Bewohner der Stadt zu erfahren? Vielleicht ist es bloßes Geschichtsbewusstsein, Interesse an Faktenwissen, oder das diffuse Gefühl, man müsse dem nächsten Besucher von auswärts doch zumindest ein paar Dinge über die Geschichte der Stadt erzählen können. Ich möchte hier einen etwas anderen Gedankengang ausprobieren und vorschlagen, im lokalen Geschichtsbewusstsein des modernen Bildungsbürgers ein Beispiel für die Existenz des ‚Vormodernen‘ im ‚Modernen‘ zu sehen.

Weshalb ist das so? In ‚vormodernen‘ oder ‚traditionellen‘ Gesellschaften spielen die Beziehungen zu den verstorbenen Ahnen eine wichtige Rolle, viel mehr als es in ‚modernen‘ Gesellschaften der Fall ist bzw. der Fall zu sein scheint. In Südostasien beispielsweise ist die rituelle Ahnenverehrung ein Bestandteil des alltäglichen Lebens, wie unter anderem die Forschungen von Josephus Platenkamp in Indonesien und Laos gezeigt haben.1 Und schon 1907 hat einer der ‚Vorväter‘ der Religionswissenschaft, Robert Hertz, in seinem heute klassischen Aufsatz zur Totenverehrung auf Borneo demonstriert, welch zentrale Rolle die Toten im Leben der Menschen dort spielen.2
Für das Fortbestehen und die Existenz von Familie und Dorfgemeinschaft, so verdeutlichen diese ethnologischen Arbeiten, ist es zentral, dass die Beziehungen zu den Toten gepflegt werden. Dies geschieht durch Rituale. Die Toten ‚leben weiter‘, in gewissem Sinne, wenn sie exhumiert und unter dem Dachgiebel aufbewahrt werden oder wenn ihnen im Ahnenschrein Opfer gebracht werden. Krankheiten und Unglücke werden darauf zurückgeführt, dass man die Beziehung zu den Ahnen nicht entsprechend gepflegt hat.
Und selbst wenn man sich nicht mehr namentlich an seine Vorfahren erinnern kann, sind diese immer noch Teil des sozialen Ganzen, so in der Kosmologie der Tobelo (Nord-Halmahera, Indonesien), wo die Vorfahren, die im kollektiven Gedächtnis aufgehen, mit den Plejaden gleichgesetzt werden, einem Sternbild, dass ungefähr ein halbes Jahr am Nachthimmel sichtbar ist und dessen Verschwinden den Termin für die Reisaussaat setzt.3

Eine solche ‚direkte‘ Beziehung zu den Ahnen ist hierzulande und in vielen anderen ‚modernen‘ Gesellschaften undenkbar. Die Toten werden bestattet, man erinnert sich ihrer, aber eine beeinflussbare und wirksame Beziehung zu ihnen mag es – abgesehen von alternativ-spirituellen Bereichen – nur in Einzelfällen geben.
Als Ersatzhandlung sozusagen – und hier folgt nun meine Idee der Existenz des ‚Vormodernen‘ in der ‚Moderne‘ – stellen Einzelne eine Beziehung zu abstrakten Vorfahren her, indem sie die Geschichte ihres Wohnortes kennenlernen; indem sie ‚Wurzeln schlagen‘ durch Stadtführungen und Lektüre der Lokalgeschichte.
Auch der moderne Mensch ‚braucht‘, so dürfte man weiter vermuten, eine wie auch immer geartete Beziehung zur Vergangenheit, um sich ‚heimisch‘ zu fühlen – daher vielleicht auch der unvergängliche Bezug auf ‚Tradition‘ in sämtlichen wertbehafteten Diskursen, von der Werbung bis hin zur leidvollen Leitkulturdebatte.

Doch wenn ich vermute, die Beschäftigung mit der Lokalgeschichte sei eine ‚quasi-prämoderne‘ Handlung, die dem modernen Menschen eine Verbindung zu abstrakten Ahnen ermöglicht, folgt ein nicht zu unterschätzendes erkenntnistheoretisches Problem. Denn allzu schnell kann die Argumentation darauf hinauslaufen, dass hinter den verschiedenen kulturellen und gesellschaftlichen Ausdrucksformen universale Muster stünden, die sich durch die Menschheitsgeschichte hinweg immer wieder in vielfältigen Formen zeigen.
Es ist jedoch empirisch schwer nachzuweisen, dass zum Menschsein immer und überall eine wie auch immer geartete Beziehung zu den Ahnen gehört. Mein Versuch ist hier eher vergleichend als verallgemeinernd zu verstehen. Eine haltbare These nach aktuellen religionswissenschaftlichen Maßstäben lässt sich aber (noch) nicht entwickeln. Doch die Idee, das Geschichtsbewusstsein heutiger Bildungsbürger als ‚moderne Ahnenverehrung‘ zu betrachten, durchbricht gängige Dichotomien von ‚modern‘ und ‚traditionell‘ oder ‚wir‘ und die ‚anderen‘ und zeigt vielmehr, dass ‚vormoderne‘ Charakteristika auch in der ‚modernen‘ Gesellschaft aufscheinen.

mr

  1. Platenkamp, Josephus (2000), Temporality and Male-Female Distinctions in the Tobelo Vocabulary of Relationships. In: Alés, C.: Sexe relatif ou sexe absolu?, 241–262; Platenkamp, Josephus (2010), Becoming a Lao Person. In: Berger, P. L. et al.: The Anthropology of Values, 180–200.
  2. Hertz, Robert (1907), Contribution à une étude de la représentation collective de la mort. Année Sociologique, Vol. X, 48–137.
  3. Platenkamp, Josephus (2015), On the Confrontation Between Perennial Models in 19th Century Halmahera (Indonesia). In: Hartmann, A., Murawska, O.: Repräsentationen der Zukunft – Representing the Future, 61–98.

Quelle: http://marginalie.hypotheses.org/45

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