Eine Bestellung im Aphorismen-Sweatshop

Gestern war ich bei der Präsentation von Richard Schuberths Neuem Wörterbuch des Teufels, vgl. dazu auch die Besprechung samt Video auf DaStandard.at.

Ob Richard Schuberth auch Aufträge für Aphorismen entgegennimmt, so als eine Art Aphorismen-Sweatshop? Ich hätte jedenfalls drei Bestellungen, denn diese Einträge fehlen mir in seiner Sammlung und ich brenne darauf zu erfahren, was er zu diesen zu sagen hat:

*Adresse
*Geschichte
*Historiker/Historikerin

Ambros Bierce hatte diese im Angebot:

Adresse Ort, an dem man die feinfühligen Aufmerksamkeiten von Gläubigern entgegennimmt

Geschichte meist falscher Bericht über meist unwichtige Ereignisse, die von meist kriminellen Herrschern und meist närrischen Soldaten bewirkt worden sein sollen.

Historiker Breitspur-Klatschmaul

Schuberth, Richard: Das neue Wörterbuch des Teufels. Ein aphoristisches Lexikon mit zwei Essays zu Ambrose Bierce und Karl Kraus sowie aphoristischen Reflexionen zum Aphorismus selbst. Wien: Klever, 2014. [Verlags-Info]

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/706567988/

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Der Weltkrieg der Bilder

Cover_Fotogeschichte, Heft 130

 

Fotogeschichte, Heft 130, Titel " L´Illustration" vom 11. November 1916

Fotogeschichte, Heft 130, Titel „ L´Illustration“ vom 11. November 1916

 

In ihrer aktuellen Ausgabe widmet sich die Zeitschrift Fotogeschichte thematisch dem „Weltkrieg der Bilder“. Der Erste Weltkrieg setzte medienhistorisch, was die propagandistische und illustrative Nutzung von Bildern betraf, neue Maßstäbe. Die illustrierte Presse war zwischen 1914 und 1918 eines der wichtigsten Bildmassenmedien überhaupt und spielte dementsprechend auch für die Kriegspropaganda eine zentrale Rolle.

Bisher beschäftigte sich die Bild- bzw. Fotoforschung primär mit einzelnen Abbildungen, ohne den ursprünglichen Entstehungs- und Veröffentlichungskontext gebührend zu berücksichtigen. Dieser Forschungslücke hat sich nun der renommierte Fotohistoriker Ulrich Keller angenommen und mit seiner aktuellen Untersuchung einen wichtigen Beitrag zur Analyse von Presse und Propaganda im Ersten Weltkrieg geleistet. Keller hat in jahrelanger Recherchearbeit die Geschichte, Produktion und Funktionsweise der illustrierten Presse während der Kriegszeit analysiert und den bisherigen Referenzrahmen damit entscheidend erweitert. Die Ergebnisse seiner Arbeit stellt er nun in Fotogeschichte erstmals vor.

Zunächst stellt der Autor den „Weltkrieg der Bilder“ vor und beschreibt die „Organisation, Zensur und Ästhetik der Bildreportagen“. Am Beispiel der Schlacht von Verdun 1916 veranschaulicht er zudem, wie Bilder propagandistisch benutzt wurden und wie dies im internationalen Vergleich aussah. Das Neue an Ulrich Kellers Ansatz ist, dass er einen größeren Kontext schafft und wichtige Bezüge und Beziehungen herstellt und analysiert. Die Intention für die Produktion bestimmter Bilder ist dabei genauso evident wie deren Rezeption durch die Zeitgenossen. Keller greift dabei nicht nur auf die Fotoberichte zurück, sondern betrachtet vielmehr das gesamte Spektrum an Bildern sowie deren Berührungspunkte zum Beispiel mit den Bereichen Zeichnung und Grafik.

Fotogeschichte, Heft 130, Titel "BIZ" vom 3. Juni 1917

„Fotogeschichte“, Heft 130, Titel „BIZ“ vom 3. Juni 1917

Der Fotohistoriker konzentriert sich neben dem Einzelbild insbesondere auf die Bildreportagen, also die Anreihung mehrerer Bilder und deren textliche Einbettung. Zusätzlich dazu wählt Keller einen konsequent internationalen Ansatz und vergleicht die Bildberichterstattung bzw. den Umgang mit dem Medium in den am Krieg teilnehmenden Ländern.

Ulrich Keller stellt seine Untersuchung in Form von zwei Aufsätzen vor, die den Großteil des aktuellen Hefts ausmachen. Fotogeschichte gesteht Ulrich Kellers Arbeit eine auffällige Bedeutung zu, sodass die Zeitschrift ihm und seinen Forschungsergebnissen einen ungewöhnlich großen Raum einräumt.

Quelle: http://www.visual-history.de/2014/02/27/der-weltkrieg-der-bilder/

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Neu aufgefundene Makulatur aus den Beständen des Stadtarchivs Reutlingen

Dass als Makulatur verwendete Teile von mittelalterlichen und neuzeitlichen Handschriften und Drucken in Archiven und Bibliotheken in einem gewissen Umfang quasi jedes Jahr neu auftauchen, vermag jeder leidgeprüfte Archivar und Bibliothekar zu bestätigen. Von den Fachleuten zwar mit großem Interesse registriert, landen die Fragmente häufig in Kartons und Schubern im besten Fall aus säurefreiem Papier und harren ihrer Erschließung. Inzwischen gibt es dennoch eine nicht unerhebliche Anzahl an Archiven und Bibliotheken, die ihren Fragmentbestand so erschlossen haben, dass er von einer interessierten, wissenschaftlichen Öffentlichkeit benutzt werden kann.[1]

Vor über 20 Jahren, im Jahr 1991, hat auch das Stadtarchiv Reutlingen diesen Weg beschritten, indem es die dortigen Fragmente durch ein Findbuch erschließen ließ.[2] Nach dem Abschluss des Bandes tauchten weitere Fragmente auf, so dass 1994 eine erweiterte und aktualisierte Version des Findbuches angefertigt wurde. Inzwischen wurden einige wenige weitere Fragmente gefunden, die an dieser Stelle vorgestellt werden sollen.

Die im Reutlinger Fragmentbestand bisher vorherrschenden liturgischen Fragmente behaupten ihre herausragende Stellung auch bei den jetzt neu aufgefundenen. Da die Reichsstadt Reutlingen 1519 evangelisch wurde, waren die bisher verwendeten liturgischen Handschriften überwiegend in relativ kurzer Zeit makuliert worden und sowohl für Drucke des 15. und 16. Jahrhunderts als auch für die städtischen Rechnungsbücher zweitverwendet worden. Je zwei unterschiedlich umfangreiche Fragmente stammen aus zwei Missalia bzw. aus zwei Brevieren.

Foto: Stadtarchiv Reutlingen

Abb. 1
Foto: Stadtarchiv Reutlingen

An dem Band der Reichsstädtischen Urkunden und Akten 2644 befindet sich ein zweispaltiges Pergamentfragment in situ.[3] (Abb. 1) Die Ausstattung ist einfach, lediglich eine zweizeilige rote Lombarde markiert den Beginn des Glaubensbekenntnisses. Die Textualis formata stammt aus der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts. Es handelt sich hier um einen Ausschnitt aus einem Missale Romanum mit dem Ende des Canon missae. Auf den Hymnus angelicus Qui tollis peccata mundi folgt das Credo. Damit endet der Canon missae in der b-Spalte. Die ursprünglich leere Spalte wurde dann sehr zeitnah in einer eher flüchtigen Textualis, die noch Einflüsse einer spätgotischen Minuskel aufweist, mit einer Lesung aus dem Epheser-Brief (Unicuique nostrum) aufgefüllt.[4] Diese Epistellesung, die üblicherweise an der Vigil zu Ascensio domini gelesen wird, endet auf der ansonsten leeren Verso-Seite.

Ein weiteres Missale-Fragment findet sich als Kopert an dem Band der Reichsstädtischen Urkunden und Akten 3247b.[5] Der Text ist in einer gleichmäßigen Textura aus dem 2. Drittel des 15. Jahrhunderts geschrieben. Alternierende ein- bis zweizeilige rote und blaue Lombarden markieren jeweils die unterschiedlichen Textteile. Dieses Missale Romanum weist Ausschnitte aus dem Proprium de tempore auf und zwar zur Dominica quarta et quinta post epiphaniam sowie zur Feria quarta post dominicam quintam post epiphaniam. Inhaltlich bietet dieses Blatt keine Besonderheiten.

Foto: Stadtarchiv Reutlingen

Abb. 2
Foto: Stadtarchiv Reutlingen

Das erste Fragment aus dem Bereich des Offiziums umfasst zwei kleine Stücke aus einem Brevier, die am oberen und unteren Bindungsrand des Koperts als Verstärkung dienen.[6] (Abb. 2) Die ursprüngliche Zeilenzahl lässt sich nicht mehr feststellen. Wahrscheinlich war der Text zweispaltig angelegt. Auch hier ist die Ausstattung recht schlicht: Rubriken sowie  alternierende rote und blaue einzeilige Initialen. Bei der Schrift handelt es sich um eine gleichmäßige Textualis aus dem 2. Drittel des 14. Jahrhunderts. Die gesungenen Texte weisen einen kleineren Schriftgrad auf. Von einer anderen, wohl zeitgleichen, Hand in Buchkursive wurden Marginalien vorgenommen. Auch hier sind die Texte dem Temporale entnommen und zwar zum Sabbato ante dominicam primam in quadragesima. Inhaltliche Besonderheiten sind keine vorhanden. Lediglich die Hand der Marginalien vermisste im Text offensichtlich die Antiphon Fili tu semper zur Prim und trug diese auf dem linken Rand nach.[7] Demselben Schreiber fiel auch auf, dass der Hymnus Jesu quadragenarie zur Laudes fehlte und ergänzte das Initium auf dem unteren Rand.[8]

Das zweite Brevierfragment ist abgelöst und wird in der Sammlung S 201 aufbewahrt. Ein Trägerband ist nicht bekannt. Der Streifen umfasst eine komplette und eine an der Seite abgeschnittene Spalte. Sein Erhaltungszustand ist relativ schlecht, Löcher und nachgedunkelte Stellen schränken die Lesbarkeit ein. Die alternierenden zwei- bis dreizeiligen roten und blauen Lombarden sind mit Fleuronnée verziert. Das Fragment stammt aus dem 1. Drittel des 14. Jahrhunderts. Sein Inhalt besteht aus den Formularen zur Feria tertia post dominicam V post pascham, sowie zu Ascensio domini.

Bis auf das zuletzt genannte Fragment, von dem ein genauer Fundzusammenhang nicht ermittelt werden konnte, sind die drei zuvor genannten mit einem teilweise großen zeitlichen Abstand makuliert oder zumindest als Makulatur verarbeitet worden. Die Schneiderordnung stammt aus dem Jahr 1564, die Artikel der Gerber aus dem Jahr 1574, der Band mit den Zunftprotokollen der Tucher umfasst die Jahre 1614 bis 1739. Eine Weiterverwendung der Liturgica im Gottesdienst scheidet für eine protestantische Reichsstadt wie Reutlingen zwar prinzipiell aus, in der Praxis dürfte es sich aber weitaus schwieriger gestaltet haben, den Gottesdienst gänzlich ohne die „alten“ Schriften durchzuführen, bevor nicht adäquater Ersatz vorhanden gewesen war. Insofern ist zu vermuten, dass ein Teil der Liturgica eventuell weiter benutzt wurde. Die städtischen Buchbinder erwarben gewiss sehr zeitnah eine große Anzahl liturgischer Handschriften wohl zu einem günstigen Preis, aber auch später waren ausgesonderte liturgische Handschriften auf dem Markt, in die dann entsprechende städtische Bände teilweise erst Jahrzehnte später eingebunden werden konnten.

Bei den beiden weiteren, neu aufgefundenen Fragmenten handelt es sich um Drucke. Von dem 1. Fragment ist lediglich ein schmaler Streifen aus einem nicht mehr zu eruierenden Trägerband mit den Resten einiger Zeilen vorhanden.[9] Im Text sind die Namen von mindestens zwei sehr interessanten Persönlichkeiten erkennbar, Henricus Grave und Sebastian Wolff zu Todenwarth. Henricus Grave konnte auf eine steile Karriere zurück blicken. Als promovierter Jurist wurde er kaiserlicher Kammergerichtsadvokat und Syndicus der Stadt Minden. Später brachte er es zum schwedischen Kanzler im Fürstentum Verden und Geheimen Rat.[10] Der ebenfalls genannte Sebastian Wolff zu Todenwarth, geboren um 1548 in Schleusingen, war wie Grave promovierter Jurist.[11] 1563 studierte er an der Universität Erfurt, anschließend an den Universitäten in Jena und Wittenberg. Im Jahr 1578 ist er als Advokat nachweisbar, später hatte er eine Stellung als Prokurator am Reichskammergericht in Speyer inne.[12] Dort ist er auch nach 1616 gestorben. Noch eine dritte Person lässt sich in dem Streifen erkennen, die die beiden oben genannten verbindet. Hier handelt es sich vermutlich um Anna Maria Wolff zu Todenwarth, die Tochter von Sebastian Wolff zu Todenwarth, die mit Henricus Grave verheiratet war.[13] Möglicherweise könnte es sich bei der genannten mater Anna aber auch um Anna Maria Löscher, die 1. Frau des Sebastian Wolff von Todenwarth, handeln, was aus den wenigen Zeilen nicht genauer hervorgeht.

Der geringe Umfang vermittelt, dass es sich um eine Art Lebensbeschreibung bzw. –widmung handeln muss. Eine Leichenpredigt, der im 17. Jahrhundert häufig biographische Partien angehängt waren, scheidet in diesem Fall aus. Zwar erhielt ein Henricus Grave im Jahr 1669 eine umfangreiche gedruckte Leichenpredigt, aber hier handelt es sich um den gleichnamigen Sohn.[14]

Abb. 3. Foto: Stadtarchiv Reutlingen

Abb. 3
Foto: Stadtarchiv Reutlingen

Noch ein letztes Fragment ist hier zu besprechen, ebenfalls neuzeitlich und zugleich das inhaltlich interessanteste, das unter der Sammlungssignatur S 201 aufbewahrt wird. (Abb. 3 und 4) Durch die Verwendung als Kopert-Außenseite ist das Fragment vor allem im unteren Teil stark beschädigt. Dort fehlt ein Teil des Textes, außerdem ist der oberer Rand gleichfalls mit Textverlust abgerissen. Als Inhalt ergibt sich zunächst sehr schnell ein Einblattkalender für das Jahr 1603: So man zelt nach Christi geburt M. DC. III. Der Kalender zeigt im Frontispiz eine Darstellung der Grundfesten des christlichen Staates: ganz links die Gerechtigkeit, daneben die drei Stände. [15] Der dritte Stand (ganz rechts) wird hier verkörpert durch einen Waldarbeiter mit Axt und Haumesser. In der linken Leiste sind verschiedene Wappen abgebildet, identifizierbar sind die des deutschen Königs sowie der Erzbistümer Mainz, Köln, Trier und der Königreiche Böhmen, Frankreich, England, Ungarn, Polen, Dalmatien sowie Kroatien. In der rechten Leiste können Teile von sieben Fischpaaren erkannt werden.

Im Hauptfeld befindet sich der Kalender, der Teile der Monate Januar, Februar, Mai, Juni, Juli, September, Oktober sowie November umfasst und der inhaltlich prinzipiell dem Bistum Konstanz zuzuordnen ist. Dies zeigt sich an der Eintragung von entsprechenden Heiligen. So sind zwar bedingt durch das junge Alter gegenüber dem bei Hermann Grotefend gedruckten, für das Bistum Konstanz gültige Kalendarium wesentlich mehr Heilige eingetragen, worunter sich spezifische Konstanzer Feste befinden.[16] Am aussagekräftigsten ist hier zunächst das als Hochfest rot eingetragene Fest der Konstanzer Kirchweihe am 9. September. Einige weitere typische Konstanzer Heilige, wie Konrad oder Gebhard, fehlen aufgrund der fragmentarischen Überlieferung.[17]

Abb. 4. Foto: Stadtarchiv Reutlingen

Abb. 4. Foto: Stadtarchiv Reutlingen

Dieser Kalender alten Stils war aber für und in eine/r evangelischen Stadt mit entsprechendem Umland gedruckt worden.[18] Unter Einbeziehung des Konstanzer Kalenders, des evangelischen Umfelds sowie von Frontispiz und Seitenleisten kommt den Fischpaaren in der rechten Seitenleiste eine besondere Bedeutung zu. In einem Einblattkalender von 1571 findet sich genau dieses Frontispiz mit den entsprechenden Seitenleisten und bei den Fischen handelt es sich um Fische des Zürichsees. [19] Dieser Druck von 1571 stammt aus der Offizin von Christoph Froschauer d. J. in Zürich.[20] Noch ein weiterer Kalender mit den Fischpaaren ist von Christoph Froschauer d. J. aus dem Jahr 1573 bekannt.[21] Nach dessen Tod 1585 wurde die Werkstatt von den Brüdern Escher übernommen und weitergeführt.[22] Doch bereits 1591 verkaufte Anna Escher, die Witwe von Hans Escher, die Offizin an Johann Wolf, der sie bis zu seinem Tod im Jahr 1627 weiter betrieb. Von Johann Wolf sind bislang sechs Einblattdrucke bekannt, unter denen sich der jetzt im Stadtarchiv Reutlingen aufgefundene jedoch nicht befindet.[23]

Ein Vergleich der beiden Kalendarien ergab eine weitest gehende Übereinstimmung. Bedauerlicherweise ist gerade bei dem Eintrag der Züricher Kirchweihe am 12. September das Reutlinger Exemplar nicht mehr lesbar. Es könnte sein, dass das im Kalender von 1571 rot eingetragene Fest im Reutlinger Exemplar nicht durch die Farbe als Hochfest herausgehoben wurde, mit Sicherheit lässt sich dies aufgrund der Zerstörung allerdings nicht sagen.

Es ist für Einblattkalender nicht ungewöhnlich, dass sich aus einzelnen Jahren mehrere Exemplare überliefert haben, aus anderen Jahren jedoch kein einziger. Das Reutlinger Exemplar dieses Züricher Kalenders von 1603 dürfte somit das einzig bekannte Stück sein.[24]

Zu den 1991/1994 bearbeiteten Fragmenten lassen sich in einigen Fällen genauere Angaben machen. Bei Nr. 62 handelt es sich um Ausschnitte aus dem Jesaja-Kommentar des Hieronymus (Buch III, cap. 7, Verse 11-14 sowie 20-21).[25] Der Text des Fragmentes Nr. 199 konnte inzwischen als Auszug aus einer Biblia latina, Act 11,21-30 identifiziert werden.[26] Weiterhin handelt es sich bei dem Fragment Nr. 195 um einen Auszug aus der Legenda aurea des Jacobus de Voragine mit Ausschnitten aus der Vita des Gregorius sowie der Legende zum Fest Purificatio Mariae.[27]

[1] Die neueste Publikation aus Bibliotheken: Katalog der lateinischen Fragmente der Bayerischen Staatsbibliothek München, Bd. 3: Clm 29550-29990, beschrieben von Hermann Hauke und Wolfgang-Valentin Ikas (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monancensis IV, pars 12.3), Wiesbaden 2013. Eine Übersicht unter Berücksichtigung der Fragmente demnächst bei Maria Gramlich: Die Bibliothek der Abtei Ottobeuren, VIII. – XIII. Jahrhundert.
[2] Stadtarchiv Reutlingen, Findbuch zur Sondersammlung S 201: Abgelöste Bucheinbände, Reutlingen 1991, Reutlingen 21994; Dazu Anette Löffler, Das unscheinbare Kleid alter Bücher. Die Reutlinger Sondersammlung „Abgelöste Bucheinbände“, in: Reutlinger Geschichtsblätter NF 33 (1993), S. 1-87.
[3] Es handelt sich bei dem Trägerband  um die Artikel der Gerber von 1574.
[4] Eph 4,7-13.
[5] Der Trägerband beinhaltet die Zunftprotokolle der Tucher von 1614-1739.
[6] Die Signatur des Trägerbandes lautet RUA 3132, dies ist die Schneiderordnung von 1564.
[7] Réne-Jean Hesbert, Corpus antiphonalium officii, Bd. 3: Invitatoria et antiphonae (Rerum ecclesiasticarum documenta, Series maior, Fontes 9), Rom 1968, Nr. 2875.
[8] Analecta Hymnica Medii Aevi, Bd. 51: 51. Thesauri hymnologici hymnarium : Die Hymnen des Thesaurus hymnologicus H. A. Daniels und anderer Hymnen-Ausgaben, hg. von Clemens Blume, Leipzig 1908, Nr. 58; Ulysse Chevalier, Repertorium Hymnologicum. Catalogue des chants, hymnes, proses, tropes en usage dans l’église latine depuis les origines jusqu’à nos jours, Band 2, Löwen 1897, ND Brüssel 1959, Nr. 9607.
[9] Er wird aufbewahrt unter der Sammlungssignatur S 201.
[10] Fritz Roth, Auswertung von Leichenpredigten, Bd. 1: R 1 – R 1000, Boppard 1959, S. 396.
[11] Eckhart G. Franz (Bearb.), Familienarchiv Wolff von Todenwarth (Bestand O 4). Repertorien des Hessischen Staatsarchivs Darmstadt, Darmstadt 1984/2006, S. V.
[12] Friedrich Battenberg (Hg.), Das Reichkammergericht im Spiegel seiner Prozessakten. Bilanz und Perspektiven der Forschung (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 57), Köln 2010.
[13] Franz (wie Anm. 11), S. V.
[14] Roth (wie Anm. 10), R 762, S. 395-396. Zu seiner Leichenpredig: Güldener Trost-Löwe [..], gedruckt bei Johann Walther, [Lüneburg] 1669; eingesehen in SUB Göttingen, Sign.: Alv. T 172 (1).
[15] Hellmut Rosenfeld, Kalender, Einblattkalender, Bauernkalender und Bauernpraktiken, in: Bayrisches Jahrbuch für Volkskunde 1962, S. 7-24, hier S. 16.
[16] Hermann Grotefend, Zeitrechnung des deutschen Mittelalters und der Neuzeit, Bd. I, Hannover 1891, S. 86-90. Das Kalendarium bei Grotefend geht auf Handschriften des 15. und frühen 16. Jahrhunderts zurück.
[17] Wolfgang Müller, Studien zur Geschichte der Verehrung des heiligen Konrad, in: Freiburger Diözesanarchiv 95 (1975), S. 150-314, hier S. 212-224.
[18] Freundliche Mitteilung von Josef H. Biller (München) vom 15. Dezember 2013.
[19] Rosenfeld (wie Anm. 15), S. 16 mit Abb. 6.
[20] Ursula Baumgartner, Einblattkalender aus der Offizin Forschauer in Zürich. Versuch einer Übersicht, in: Gutenberg-Jahrbuch 1975, S. 122-135, hier Nr. 28, S. 133. Von dem Druck von 1571 befinden sich Exemplare in der UB Bern sowie der BSB München. Letztere besitzt kein Exemplar des Drucks von 1603, freundliche Mitteilung von Helga Tichy (München) vom 8. Januar 2014.
[21] Ursula Baumgartner, Vier Wandkalender aus der Offizin Froschauer, in: Gutenberg-Jahrbuch 1976, S. 152-157.
[22] Christoph Reske / Josef Benzing, Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 51), Wiesbaden 2007, S. 1040-1045.
[23] Paul Leemann-van Elck, Die zürcherische Offizin Wolf 1591-1626, in: Schweizer graphischer Zentralanzeiger 50 (1944), S. 1-3. Manfred Vischer, Züricher Einblattdrucke des 16. Jahrhunderts, Baden-Baden 2001.
[24] In der Kalendersammlung des ZB Zürich ist kein Exemplar bekannt, freundliche Mitteilung von Anikó Ladány (Zürich) vom 19. Dezember 2013.
[25] Hieronymus, Commentariorum in Esaiam libri I-XI, hg. von Marinus Adriaen (Corpus Christianorum Series Latina 73), Turnhout 1963, S. 100-188.
[26] Robert  Weber, Biblia sacra iuxta Vulgatam versionem, Stuttgart 52007.
[27] Johanne Georg Theodor Graesse (Hg.), Jacobi a Voragine Legenda aurea, vulgo Historia Lombardica dicta, Leipzig 1890, cap. 37, S. 160-161 und cap. 46, S. 197-198.

D O W N L O A D  (pdf)

Empfohlene Zitierweise

Anette Löffler: Neu aufgefundene Makulatur aus den Beständen des Stadtarchivs Reutlingen, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 27. Februar 2014, http://mittelalter.hypotheses.org/3118 (ISSN 2197-6120).

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/3118

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Restaurierung städtischer Verwaltungsakten aus dem Stadtarchiv Rheine – auch ein strategisches Projekt.

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Der Westfälische Archivtag am 11. und 12. März in Bielefeld hat das Oberthema Strategien. Aber was hat sich die Kollegin oder der Kollege genau unter Strategien vorzustellen? Ein gutes Beispiel dafür befindet sich gerade in unserer Werkstatt. Der Stadtarchivar von Rheine sah sich mit einem Berg von schimmeligen Akten konfrontiert. Was tun und wie geht man vor?

Bereits im Jahre 2007 hat Dr. Thomas Gießmann, Leiter des Stadtarchivs Rheine die ersten von 1032 Verwaltungsakten aus den Jahren 1813 bis 1935 nach Münster in die Restaurierungswerkstatt im LWL-Archivamt gebracht. Die Akten waren durch die Lagerung in einem feuchten Keller des alten Rathauses bereit beschädigt, als sie 1952/53 in das Stadtarchiv übernommen wurden; im Sommer 2006 blühte der Schimmel wieder auf und drohte die Archivalien zu zerfressen. Inhaltlich sind und waren sie von höchster Bedeutung für die Stadt Rheine. In der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es zu wichtigen Entwicklungsprozessen in der Geschichte der Stadt. Auch die Ratsprotokolle – per se eine der wichtigsten Quellen in einer Stadt – waren unter den zu restaurierenden Stücken.

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Schritt für Schritt machten sich die Damen und Herren der Restaurierungswerkstatt daran unter der Leitung von Werkstattleiterin Birgit Geller die Akten zu säubern und wieder herzustellen. In der Natur der Sache lag es, dass diese Prozesse nur langsam voran gehen können. Bei den 700 am stärksten in Mitleidenschaft gezogenen Akten hat der Schimmel das Papier bereits soweit angegriffen, das es zum Substanzverlust führen muss. Das bedeutet: Nach einer ausführlichen Reinigung müssen die Akten angefasert werden, um das Papier wiederherzustellen. Teilweise müssen auch Fehlstellen ganz ergänzt werden.  Ein Prozess, der dauert. Bisher sind 163 Akten fertig gestellt.

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Auch wenn es lange Zeit brauchen wird, Dr. Thomas Gießmann ist zuversichtlich. Die Akten müssen gereinigt werden und dies geschieht Schritt für Schritt. Es ist auch eine Frage der strategischen Planung, denn genau wie die Werkstatt im LWL-Archivamt nicht alle der 1032 Akten auf einmal wiederherstellen kann, kann das Stadtarchiv Rheine nicht die Restaurierung aller Akten auf einmal bezahlen. Im Schnitt die Kosten für rund 34 Akten pro Jahr einzuplanen, bedeutet den Aktenberg langsam aber stetig abzuarbeiten und damit dem Ziel, diese für die Stadtgeschichte höchst wichtigen Akten zu erhalten näher zu kommen. Zur Strategieplanung gehört auch in regelmäßigen Abständen öffentlichkeitswirksam auf die Wiederherstellung aufmerksam zu machen, wie aktuell in der Münsterschen Volkszeitung für Rheine geschehen:

http://www.mv-online.de/Region-Rheine/Rheine/LWL-Archivamt-restauriert-vom-Schimmel-befallene-Archivbestaende-aus-Preussenzeit-Rheines-historisches-Gedaechtnis-wird-muehsam-rekonstruiert

 

(Dank an Paul Nienhaus, MV Zeitung)

Quelle: http://archivamt.hypotheses.org/194

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Frankreich im centenaire 2014: 100 Jahre Erster Weltkrieg

 

Der 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs wirft seine Schatten voraus. Das gilt selbstverständlich nicht nur für Frankreich. Auch in Deutschland bereitet sich eine Interessenkoalition der „üblichen Verdächtigen“, bestehend aus Museen, Medien und Wissenschaft mit Ausstellungen, Fernseh-Dokus, Tagungen, Publikationen etc. auf den großen Moment vor, dem die Logik eines runden Jahrestages in der Aufmerksamkeitsökonomie der Öffentlichkeit einen besonderen Platz verschafft.

Doch in nur wenigen Ländern sind die Jahre 1914–1918 so im kollektiven Bewusstsein verankert wie in Frankreich, wo der Erste Weltkrieg nicht einfach nur histoire, sondern viel stärker noch mémoire ist und damit eine diskursive Sinnressource darstellt, die für Gegenwart und Zukunft gleichermaßen Orientierung gibt.

Verschiedene Faktoren haben dazu beigetragen, dass sich der Erste Weltkrieg in den letzten 30 Jahren geradezu zum Ursprungsmythos des modernen Frankreich entwickelt hat: Im Kontext des alle westlichen Länder betreffenden memory booms, in dessen Folge „Erinnerung“ – mit den Worten Martin Sabrows – die „Pathosformel der Gegenwart“ geworden ist, entstand vor allem, wenngleich keinesfalls nur in den dreizehn vom Krieg betroffenen départements im Nordosten des Landes, ein regelrechter „activisme 14–18“ (Nicolas Offenstadt), der sich aus ganz unterschiedlichen Motivationen heraus dem Erhalt der Spuren des Krieges verschrieb. Ebenfalls eine Rolle spielte das ansteigende Interesse an der Familiengeschichte (Genealogie-Forschung), die den Ersten Weltkrieg mit seinen in Frankreich signifikant höheren Opferzahlen als stärkeren Einschnitt erscheinen ließ als die Jahre 1939–1945. Parallel dazu schwächte sich durch die sich durchsetzende kritischere Sicht auf das Verhalten der Franzosen in den Jahren des Zweiten Weltkriegs die Bindekraft des résistance als französische Master-Erzählung ab.

Demgegenüber zeichnet sich das Erste-Weltkriegs-Gedenken durch eine weitgehende Anschlussfähigkeit aus. Das gilt einerseits für tendenziell eher linke Diskurse, die z. B. um die fusillés pour l’exemple, d. h. die von der Militärjustiz während des Krieges hingerichteten französischen Soldaten, kreisen und auf einer allgemeinen Ebene die vollkommene Unterwerfung des Individuums unter den totalen Staat der Kriegsjahre beklagen. Ebenso lassen sich andererseits eher rechte Deutungen integrieren, welche die cohésion nationale der Kriegsjahre, also den solidarischen Zusammenhalt der Nation in den langen Jahren des Kriegs grundsätzlich positiv bewerten. Unabhängig von diesen Differenzen lässt sich aber festhalten, dass eine opferzentrierte Sicht bei weitem dominiert. Der Krieg gilt als nationale und europäische Katastrophe und nicht das Ende, d. h. der Sieg, steht im Vordergrund, sondern das Gedenken an seine Schrecken, stets verbunden mit einem emotionalen Plädoyer für Frieden und Völkerverständigung und – auf der politischen Ebene – einem klaren Bekenntnis zur europäischen Integration.

Der centenaire ist also wichtig, er ist nicht einfach nur ein runder Jahrestag wie in Deutschland, er ist ein Schlüsselmoment, an dem sich lokale, regionale wie auch nationale Identitäten kristallisieren. Ein Moment der Selbstreflexion, an dem die großen Fragen gestellt (und idealerweise beantwortet) werden, was es eigentlich heißt, citoyen in Frankreich und Franzose in Europa zu sein. Der häufige Vergleich des centenaire 2014 mit dem bicentenaire der Französischen Revolution von 1989 illustriert jedenfalls eindringlich den zentralen Stellenwert des Ersten Weltkriegs in der politischen Kultur im Frankreich der Gegenwart.

Es überrascht daher nicht, dass die französischen Planungen für das kommende Jahr schon seit einiger Zeit auf Hochtouren laufen. Bereits im März 2011 gab Präsident Nicolas Sarkozy den Auftrag, mit den Programmüberlegungen zu beginnen, und ein daraufhin entstandener, nach seinem Verfasser Joseph Zimet benannter Bericht definierte im September des gleichen Jahres die großen Linien der Gedenkfeierlichkeiten. Im „Rapport Zimet“ werden die folgenden Weichenstellungen vorgenommen: Zum einen erfolgt eine grundsätzliche Einteilung der Gedenkfeierlichkeiten in verschiedene Phasen. Während im Jahr 2014 der (Zentral-)Staat die Federführung übernimmt, sollen in den ja ebenfalls mit zahlreichen centenaires gesättigten Jahren 2015–2017 collectivités territoriales (régions, départements) und Zivilgesellschaft die Initiative übernehmen, um z. B. der symbolisch wichtigen Schlachten von Verdun, der Somme und dem Chemin des Dames zu gedenken. Zum Ende des Gedenkzyklus, 2018/2019, soll dann Paris wieder das Heft in die Hand nehmen, wobei es für diese Phase noch keine konkreteren Vorstellungen gibt. Diese Arbeitsteilung ist sicher auch vor dem Hintergrund einer angespannten Kassenlage zu verstehen. In erster Linie spiegelt sie aber die Tatsache wider, dass der centenaire keinesfalls eine von oben verordnete Angelegenheit ist, sondern dass es ganz im Gegenteil auf der lokalen wie regionalen Ebene eine Vielzahl von Initiativen und Projekten gibt, die in der Summe das Engagement des Zentralstaats bei weitem überschreiten.

Zum anderen setzt der Rapport Zimet sehr stark auf die Internationalisierung des Gedenkens im Allgemeinen und auf einen deutsch-französischen Schwerpunkt im Besonderen. So wird ein „solider erinnerungskultureller deutsch-französischer Sockel“ geradezu zur Voraussetzung des Gelingens des centenaire stilisiert – ein angesichts des vollkommenen Fehlens eines öffentlichen Weltkriegs-Gedenkens in Deutschland wohl nicht unproblematisches Postulat, das gleichwohl die hohe symbolpolitische Bedeutung des Kriegsgedenkens verdeutlicht: Vor dem Hintergrund der aktuellen Finanzkrise stellt der centenaire  aus französischer Sicht eine hervorragende Gelegenheit dar, die Solidität und Dynamik der deutsch-französischen Beziehungen in Szene zu setzen.

Gedenkstätte auf dem Militärfriedhof Notre- Dame-de-Lorette in Ablain-Saint-Nazaire.Gedenkstätte auf dem Militärfriedhof Notre-Dame-de-Lorette in Ablain-Saint-Nazaire.

Zur operativen Umsetzung dieser Überlegungen wurde im April 2012 mit der Mission du centenaire de la Première Guerre mondiale 1914–2014 eine interministerielle Struktur ins Leben gerufen, die den Auftrag hat, die verschiedenen pädagogischen, kulturellen, wissenschaftlichen und im engeren Sinne gedenkpolitischen Aktivitäten zu koordinieren und in Abstimmung mit dem Élysée die großen Gedenkveranstaltungen des Jahres 2014 zu organisieren. Aktuell sieht das Programm, das Anfang November 2013 vom Staatspräsidenten offiziell verkündet werden wird, vier Großveranstaltungen auf französischem Boden vor: Einen 14-Juillet im Zeichen des Ersten Weltkriegs, dezentrale Gedenkfeierlichkeiten zur  Mobilmachung vom 1.–3. August, eine eher klassisch, d. h. militärisch gefasste Veranstaltung zum Gedenken an die Marne-Schlacht (12. September) und als Höhepunkt den 11-Novembre, mit der Einweihung eines großen Denkmals in Notre-Dame-de-Lorette (siehe Bild), das die Namen der im Nord-Pas-de-Calais gefallenen Soldaten aller Nationen, soweit sie bekannt sind, alphabetisch auflistet. Darüber hinaus ist die Mission du centenaire eine der treibenden Kräfte hinter dem europäischen Projekt „Sarajevo, coeur de l’Europe“, das um den Jahrestag des Attentats von Sarajevo im Juni vor Ort ein umfangreiches Kulturprogramm vorsieht.

Dies ist jedoch nur die Spitze des Eisbergs. Allein für 2014 haben 900 Einzelprojekte (Tagungen, Konzerte, Ausstellungen etc.) das offizielle Label der Mission, eine Art Gütesiegel, erhalten und es ist zu erwarten, dass sich diese Zahl in weiteren Labellisierungs-Runden noch deutlich erhöht. Schließlich sind so manche für 2016 bzw. 2017 geplante Projekte noch nicht in die konkrete Planungsphase eingetreten.

Für das Deutsche Historische Institut (DHI) Paris ist die hohe Intensität des centenaire eine spannende Herausforderung und eine willkommene Gelegenheit, seine Expertise als zentraler deutschfranzösischer Mittler im Bereich der Geisteswissenschaften einzubringen. Dabei ist klar, dass trotz der kultur- oder gedenkpolitischen Relevanz des Themas eine ausschließlich wissenschaftliche Agenda verfolgt wird. Seit gut zwei Jahren gibt es einen Forschungsschwerpunkt zum Ersten Weltkrieg und das Institut ist hervorragend in die französische wie internationale Forschungslandschaft integriert. Die Tatsache, dass das DHI Paris u. a. im Wissenschaftlichen Beirat der Mission du centenaire, des Mémorial de Notre-Dame-de-Lorette und im comité directeur des Centre de recherche de l’Historial de la Grande Guerre Péronne vertreten ist, spricht eine deutliche Sprache. Im kommenden Jahr wird es neben einer Reihe von kleineren Veranstaltungen fünf große Tagungen geben, an denen sich das DHI Paris federführend oder als Partner beteiligt. Genannt seien hier lediglich eine in Zusammenarbeit mit den Universitäten Paris-Est Créteil und Marne-la-Vallée organisierte Tagung zum Thema „Les défenseurs de la paix 1898–1917“ und eine einwöchige Sommeruniversität, die gemeinsam mit dem Centre de recherche de l’Historial de la Grande Guerre, der École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS) und den Universitäten von Amiens und Clermont-Ferrand durchgeführt wird. Darüber hinaus arbeitet das Institut zusammen mit der Mission du centenaire an einer Sammlung besonders aussagekräftiger deutscher und französischer Quellen zum Ersten Weltkrieg, die von jeweils einem deutschen und französischen Historiker kommentiert und kontextualisiert werden und die auf der Webseite der Mission (centenaire.org) einem interessierten Publikum den Mehrwert einer deutsch-französischen histoire croisée demonstrieren.

 

 

Quelle: http://grandeguerre.hypotheses.org/1437

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Von der “Gamification” der Geschichte

MoRa_Hawlitschek_Scheffler

“Spielen macht klug. Warum Computerspiele besser sind als ihr Ruf” titelte der SPIEGEL im Januar 2014. Ist diese Botschaft im Bildungsbereich angekommen? Welche Segnungen hält die Digitalisierung für den Bereich der historisch-politischen Bildung bereit? Und wo liegen die Grenzen der “Gamification”?

Wir haben auf der  7. Geschichtsmesse in Suhl mit Dr. Anja Hawlitschek (Zentrum für multimediales Lehren und Lernen, MLU Halle-Wittenberg) und Franziska Scheffler (BStU, Außenstelle Leipzig) über Adventurespiele im Geschichtsunterricht und Geocaching mit Stasiakten gesprochen. Fazit: Die historisch-politische Bildung muss im 21. Jahrhundert ankommen, aber nicht auf jeden Zug aufspringen.

Anja Hawlitschek hat die multimediale Lernumgebung “1961″ entwickelt (Veröffentlichung: Sommer 2014), Franziska Scheffler betreut das History Caching Projekt “Untold Stories”. Das Gespräch führten Miriam Menzel und Patrick Stegemann.

In der Reihe “MONTAGSRADIO – Vor Ort in Suhl”, gefördert von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, werden im März 2014 zwei weitere Gespräche zu diesen Themen veröffentlicht:

Mit dem Regisseur und Schauspieler Stefan Weinert sprechen wir über seinen mittlerweile preisgekrönten Dokumentarfilm “Die Familie”.

Mit Dr. Thomas Schleper, Leiter des Projektverbunds “1914 – Mitten in Europa”, diskutieren wir über neue Zugänge zur “Urkatastrophe” des 20. Jahrhunderts, die Vielfalt der europäischen Erinnerung an den Ersten Weltkrieg und Möglichkeiten der Synthese.

 

Für einen schnellen Überblick: die Timeline zum Gespräch mit Anja Hawlitschek und Franziska Scheffler

01:00 Kurzvorstellung „Zentrum für multimediales Lehren und Lernen“

02:30 Das Projekt “Untold Stories”

04:45 Modernes Lernen / Mobile Learning

06:05 Geocaching – so geht‘s

09:00 Zielgruppen von Geo- und Histocaching

11:10 Macht Spielen klug?

13:00 Das Adventurespiel “1961″

13:45 Gamification: Aufschrei, positive Resonanz, Grenzen

20:00 Noch einmal: Machen Computerspiele klug?

22:15 MONTAGSRADIO-Fragebogen

 

Foto (v.l.n.r.): Patrick Stegemann regelt noch Etwas. Franziska Scheffler und Anja Hawlitschek haben gute Laune mitgebracht (Kooperative Berlin / CC BY-NC-SA 2.0).

Quelle: http://www.montagsradio.de/2014/02/27/von-der-gamification-der-geschichte/

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Fide, sed cui, vide. Wie “wahr” kann Geschichte sein?

 

Glaubwürdigkeit ist ein neues boomendes Forschungsfeld der Kultur- und Sozialwissenschaften. Auch beim historischen Lernen, sei es in Schule, Akademie oder vor dem Monitor, geht am Ende immer nur darum, auf gute Argumente oder Urteile, die besser Wissende fällen, zu vertrauen. Denn jede fachliche (Nach-)Prüfung bleibt hier notgedrungen unvollkommen, und irgendwann müssen wir schließlich mit dem Deuten aufhören, um mit dem Handeln anzufangen. Doch zum rechten Glauben darf niemand gezwungen werden.

 

Die Geschichte muss nicht neu geschrieben werden

Die römische Landstadt Pompeji wurde im Jahr 79 n. Chr. vom Ascheregen des Vesuvs verschüttet. Allerdings existierten schon lange Indizien dafür, dass die von Plinius d. J., einem Augenzeugen, berichtete und allseits für wahr erachtete Tagesangabe des 24. August nicht zutreffe. Im Zuge aktueller Ausgrabungen gemachte Funde von jungem Wein und reifen Früchten lassen nunmehr keinen anderen Schluss zu, als dass die schreckliche Naturgewalt den Ort erst im vorangeschrittenen Jahreslauf auslöschte.1 So haben wir uns von der tragisch-erhabenen Geschichte zu verabschieden, dass die Menschen damals am Ende eines langen, drückenden Sommers just in dem Augenblick von der tödlichen Katastrophe überfallen wurden, als die lähmende Hitze einem lebensfrohen Herbst zu weichen versprach. Doch ist das eigentlich wichtig? Noch kein Latein-Schüler oder Althistoriker hat, überzeugt vom irrigen Datum, Schaden genommen oder wäre daran zugrunde gegangen. Und das charakterisiert zunächst einmal den Unterschied im Glaubwürdigkeitsproblem zwischen der Geschichte und, sagen wir, der Medizin, Technik oder Jurisprudenz.

Ein neuer Historikerstreik?

Nicht immer jedoch bleibt falsches Vertrauen in die Erzählung vergangener Wirklichkeit harmlos. In seinem fulminanten Werk „The Sleepwalkers“ etwa möchte der renommierte australische Historiker und Deutschland-Kenner Christopher Clark jetzt glauben machen, das Deutsche Reich, da kaum militaristischer als seine Nachbarn, habe unmöglich jene ihm früher zugeschriebene herausgehobene Verantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges vor einhundert Jahren getragen.2 Das ist als These nicht mehr ganz so explosiv, wie es jetzt in den Gazetten gefeiert wird. Aber eine bemerkenswerte Änderung der Tonlage ist es schon, dazu mit der schrillen Coda, dass, gerade so wie im verhetzten (Ex-)Jugoslawien der 1990er Jahre, letztlich die übernationalistischen Serben Schuld am Schlamassel von 1914 gewesen wären. Wurde da unter der Hand ein Sach- zu einem Werturteil?

Grenzen der historischen Sinnbildung

Gleich ob eine Petitesse aus grauer Vorzeit oder eine geschichtspolitische Volte: Beschrieben wird mit alldem ja nichts anderes als das everyday life der Geschichtswissenschaft: Da in unserer Disziplin jede gut belegte Behauptung auf eine widersprechende, nur eben anders gut belegte und genauso unbeweisbare Behauptung stoßen kann, ist es eben – wie mein Kollege Martin Lücke und ich in der Einleitung zum Handbuch „Praxis des Geschichtsunterrichts“ schrieben – allen, deren Geschichtsbewusstsein mit modernen Standards Schritt halten soll, unbedingt erlaubt, „sich sogar von guten Argumenten ohne Schaden nicht überzeugen zu lassen“.3 Gemeint ist damit nichts anderes als jenes „Überwältigungsverbot“ des Beutelsbacher Konsenses, der als zivilgesellschaftliche Errungenschaft mit sehr guten Gründen vornehmlich die Politische Bildung, daneben das historische Lernen seit den 1970er Jahren anleitet. Hinter die didaktische Einsicht, dass junge Lernende in der Schule zu selbstverantwortlichen Ko-Konstrukteuren ihrer Welt (und damit auch von historischen Hypothesen) werden, tritt jedes noch so wohl gemeinte idealistische Bildungsanliegen zurück. Deswegen ist die Kritik, die der langjährige Vorsitzende des Geschichtslehrerverbandes NRW Rolf Brütting in seiner Besprechung des Handbuchs anbringt, missverständlich und unterkomplex: Er argwöhnt, die gewährte Glaubensfreiheit höre mindestens auf, wo „im Rahmen von Schule“ „mit Rechts- oder Linksradikalen [umzugehen]“ sei.4 Ein unnötiger Reflex, denn bei der auf terroristische Diktaturen bezogenen Benennung von Verbrechen und der Aufzählung von Opfern handelt es sich ja gar nicht um historisch-narrative Argumente, sondern um theorielose, referentielle (nach Ankersmit: „durchsichtige“) Befunde, die schwerlich in den Gefahrenbereich der Überwältigung fallen.

Das Argument (er-)zählt

Argumente als Auffassungsvorschläge (bei Frank Ankersmit daher: „proposals“) werden im Diskurs immer dort benötigt, wo die theoretische und empirische Prüfung des in Rede stehenden Sachverhalts unvollständig geblieben ist oder bleiben muss (im Falle der Geschichtswissenschaft also quasi überall). Der Glaube an sie ist damit nicht unbegründet, daher weder bloße Vermutung noch spekulative Annahme, er scheint aber müßig. Um als „historisch“ (und nicht politisch, ideologisch etc.) apostrophiert zu werden, benötigen Argumente indes die narrative Form: Es sind Teil- oder Ersatz-Erzählungen noch vor dem prosaisch gefügten Endprodukt. Wie an jede historische Erzählung können an sie, mit Jörn Rüsen, Ansprüche der empirischen, normativen und narrativen Triftigkeit gestellt werden. Anders also: Sind die beweisthematischen Narrative jeweils zuverlässig, zulässig und eingängig zugerichtet? Das Problem dabei ist, dass niemals alle drei Prüfkriterien gleichermaßen erfüllt sein können. Das pompejanische August-Erlebnis las sich traurig schön, doch war die Überlieferung offenbar unzuverlässig. Christopher Clark, der die Quellenlage zur balkanfixierten Juli-Krise von 1914 möglicherweise genauer kennt und konsequenter nutzt als manche vor ihm, liefert doch nur eine passend für den Jubiläumsanlass arrangierte Geschichte, deren Zulässigkeit bezweifelt werden mag. Meinem Vernehmen nach formieren sich jedenfalls schon namhafte (deutsche) Weltkriegsforscher, um den Schlafwandlern in die Parade zu fahren. Wo kämen wir hin, wenn in einem solchen Gefecht nicht auch die jungen Lernenden eine eigene Überzeugung besitzen dürften!

Gute Argumente und sichere historische Urteile

Lieber sollten wir FachdidaktikerInnen, statt zu verfügen, was SchülerInnen unbedingt und absolut von der Vergangenheit zu halten haben bzw. wo die pluralistische Meinungsvielfalt ausnahmsweise zu unterbinden sei, uns lieber Gedanken darum machen, wie die Gratwanderung zwischen vorschlagendem Argument und hingebungsvollem Glauben (vulgo: historische Urteilsbildung) mit den beschränkten Mitteln des Geschichtsunterrichts ohne Sturz in den Kraterschlund abzusichern sei. Voraussetzung für den Gang wäre, dass sich Pulverdampf wie Eruptionsrauch verzogen und den klaren Blick vom Kap wieder frei gegeben haben. Plinius übrigens hätte gesagt: Fide, sed cui, vide.

 

Literatur

  • Ankersmit,Frank:  Meaning, Truth, and Reference in Historical Representation. Cornell 2012.
  • Becker, Axel : Historische Urteilsbildung. In: Barricelli, Michele / Lücke, Martin (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd. 1. Schwalbach/Ts. 2012, S. 316-325.

Externe Links

 



Abbildungsnachweis © Michele Barricelli. Sophistik oder Dekadenz am Fuße des Vesuvs? Studierende der Leibniz Universität Hannover auf ihrer Grand Tour (September 2012).

Empfohlene Zitierweise Barricelli, Michele: Fide, sed cui, vide. Wie wahr muss Geschichte sein? In: Public History Weekly 2 (2014) 8, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-1517.

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Ellis Island: Island of Hope, Island of Tears – Ein Praktikumsbericht (Teil 1)

Für viele Studierende geisteswissenschaftlicher Fachrichtungen gehört ein Praktikum zum festen Bestandteil ihres Studiums. Immer häufiger werden Praktika als obligatorische Station im Studienplan verankert, besonders an Fachhochschulen. Doch auch wenn die Studienordnung kein Praktikum vorschreibt, wie es besonders an Universitäten häufig noch der Fall ist, kann heute kaum jemand darauf verzichten, bereits während des Studiums praktische Erfahrungen zu sammeln und einen Einblick in den beruflichen Alltag zu erhalten. Auch Auslandsaufenthalte erweitern den Blickwinkel, ermöglichen neue Perspektiven und können neue Impulse für das Studium geben. Warum […]

Quelle: http://musermeku.hypotheses.org/978

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Warum sollten Archive worüber wie bloggen? Oder: Die Herausführung der Archive aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit.

 

(Ein Beitrag zur Blogparade anlässlich des zweiten Geburtstages von siwiarchiv)

Natürlich ist es vermessen, für das Thema Archive und Bloggen einen der ganz großen Sätze der deutschen Geistesgeschichte zu bemühen. Einerseits. Andererseits lässt sich mit Blick auf den digitalen Auftritt der Archive durchaus eine selbstverschuldete Unmündigkeit von Kant’schen Dimensionen konstatieren: Unmündigkeit meint hier das Unvermögen, sich der immensen Möglichkeiten der digitalen Welt zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, weil die Ursache derselben nicht am Mangel der Möglichkeiten, sondern an der Entschließung und dem Mut liegt, sich dieser Medien zu bedienen. Wir erleben gegenwärtig einen derartig allumfassenden Medienbruch, wie er wohl zuletzt mit der Erfindung des Buchdrucks zu erleben gewesen war, aber so richtig ist das bei den Archiven nicht angekommen. Gut, die Mail hat weithin den Brief ersetzt und die Homepage (wenn auch keineswegs allerorten) die gedruckten Flyer und Beständeübersichten. Und die ganz Mutigen sind jetzt sogar schon bei Facebook dabei. Aber die Konzepte hinter diesen neuen, den sozialen Medien sind kaum einmal rezipiert, geschweige denn umgesetzt worden: Interaktivität, Kommunikation, Offenheit, Vernetzung. Archive haben es geschafft, ihren analogen Arbeits- und Denkstrukturen ein digitales Mäntlein umzuhängen ohne aber ihre Arbeit digital zu definieren. Das ist misslich, langfristig wird daran aber kein Weg vorbeiführen. Und allerspätestens dann wird es eine Basis in der digitalen Welt brauchen. Und an dieser Stelle kommt die obige Frage ins Spiel: Warum sollten Archive worüber wie bloggen?

Archive sollten bloggen, um wahrgenommen zu werden.

Archive sind wie schwarze Löcher. Man weiß wenig über sie. Das gilt für den Großteil der Bevölkerung, die in einem Archiv allenfalls eine bibliotheksähnliche Einrichtung mit alten Dokumenten in unzugänglichen Kellerräumen vermutet. Das gilt für Behörden, denen häufig genug nicht klar ist, dass ihre eigenen Altakten nicht in den Papiermüll, sondern in ein Archiv gehören. Das gilt selbst für fortgeschrittene Nutzer, die wohl eher das vorhandene Archivgut als quasi gottgegeben nutzen als die Überlieferungsbildung nachzuvollziehen. Alle diese Gruppen müssen Archive als hermetisch abgeschlossene Räume wahrnehmen, deren Innenleben ihnen nur soweit offenbart wird, wie es für das sporadische Miteinander unvermeidlich ist. Das gilt aber auch für die Archivarinnen und Archivare, also für die Fachöffentlichkeit. Natürlich nicht in dem Sinne, dass man nicht weiß, was Archive im Allgemeinen machen, sondern in dem Sinne, dass man nicht weiß, was denn die Archivarinnen und Archivare andernorts im Speziellen denn so machen. Ich habe als nordrhein-westfälischer Archivar keine Ahnung, was denn die Kolleginnen und Kollegen in, sagen wir, einem bayerischen Staatsarchiv oder einem mecklenburg-vorpommerischen Kommunalarchiv machen. Und das, obwohl ich mir sehr sicher bin, dass wir vielfach vor ähnlichen Fragen und gleichen Problemen stehen. Wir haben aber kein reguläres Medium, um unsere Fragen publik zu machen, unsere Überlegungen zu teilen, unsere Lösungen zu entwickeln. Selbst als Kollege kann ich nicht hinter die fensterlose Mauer schauen, mit der sich Archive nicht nur physisch umgeben. Ein Blog löst diese hermetische Abschottung auf. Mit einem Blog können Archive ihre Arbeit begleiten und transparent machen. In einem Blog könnte man – zumindest ausschnittsweise – verfolgen, was Archive umtreibt. Über ein Blog lassen sich Zielgruppen erreichen, die vielleicht Interesse an Arbeit und Beständen eines Archivs haben, gegenwärtig aber keine Informationen vermittelt bekommen. Archive sind einzigartige Einrichtungen am Schnittpunkt von Verwaltung, Kulturpflege und Wissenschaft und verfügen (nach Prantl) sogar über „Systemrelevanz“. Ihre Bedeutung steht und fällt mit ihrer Wahrnehmung in der Öffentlichkeit. Wahrgenommen aber wird man zunehmend über soziale Medien – und Blogs sind das soziale Medium schlechthin, um Inhalte in den digitalen Raum zu vermitteln.

Archive sollten bloggen, um digital sprachfähig zu sein.

Das Internet ist ein gigantischer universaler Diskursraum. Im Internet bewegen sich Millionen von Menschen, die über Millionen von Themen diskutieren. Natürlich gehört auch Geschichte dazu und damit sind auch Archive berührt. Partizipieren können Archive aber nicht an einer einzigen dieser Diskussionen. Archive sind nämlich digital nicht sprachfähig. Ihre einzige Möglichkeit, ihren Interessenten im virtuellen Raum etwas mitzuteilen, ist die Homepage – ein hierarchisches und statisches Medium, dessen Struktur jeglichen Kommunikationsakt auf das einseitige Verkünden sakrosankter Verlautbarungen reduziert. Eine Homepage ist damit für die Präsentation persistenter Informationen prädestiniert, etwa für E-Texte oder Online-Findmittel inkl. Digitalisate. Ein soziales Medium ist sie allerdings nicht, sie erlaubt kein Miteinander, keinen Austausch, keinen Diskurs. Will man mit seinen Nutzern in einen Dialog eintreten, so kann nicht die Homepage das Medium der Wahl sein, wohl aber das Blog. Ein Blog verkündet keine unveränderlichen Fundamentalinformationen, sondern ist Teil eines allgegenwärtigen kontinuierlichen Diskurses, etwa über archivische, historische und kulturelle Themen. Mit einem Blog kann ein Archiv aktuelle Arbeiten, markante Themen oder spezifische Probleme an einen interessierten Adressatenkreis vermitteln. Mit einem Blog macht ein Archiv ein Gesprächsangebot: Es berichtet von seinen Aufgaben und Projekten, die Nutzer reagieren auf die gebotenen Informationen. Blogbeiträge werden rezipiert und mit Blogbeiträgen andernorts beantwortet. Manches wird Zuspruch ernten, anderes Widerspruch. Nutzerinteressen werden ersichtlich, Nutzerressourcen erschlossen, Nutzerbindungen geschaffen. Ein Blog führt Archiv und Nutzer in einem gemeinsamen Diskursraum zusammen. Wo die Homepage der Balkon ist, von dem ein Ausrufer die wichtigsten Informationen verkündet, da ist das Blog der Tisch, an dem Gesprächspartner auf Augenhöhe zusammenfinden und über ihre Anliegen diskutieren.

Archive sollten bloggen, um für die Zukunft gerüstet zu sein.

Niemand kann ernsthaft annehmen, dass das Internet, das Social Web, das Semantic Web nur eine Zeiterscheinung sein werden. Ganz im Gegenteil: Digitalisierung und Virtualisierung werden weiter zunehmen. Geschehen wird das auch und gerade dort, wo Archive tätig sind: im Bereich der Informationsdienstleistung. So werden bereits in den nächsten Jahren Millionen von Digitalisaten online vorliegen und die Nutzung von Archiven auf eine neue Grundlage stellen. Nutzer werden Archiven zunehmend virtuell begegnen. Solche veränderten Nutzungsgewohnheiten werden aber auch neue Strukturen bedingen, um miteinander zu kommunizieren. Archive brauchen nicht nur leistungsfähige Präsentationsplattformen (z.B. Archivportale), sie brauchen auch Kommunikationskanäle, um ihren Nutzern begleitende Informationen näher zu bringen. Die sozialen Medien eignen sich wunderbar, um den Kontakt zwischen Archiven und Nutzern herzustellen. Manche von ihnen sorgen für die Vernetzung (z.B. Facebook, Twitter), andere aber transportieren die Inhalte, insbesondere nämlich Blogs. Wer dieses Prinzip heute nicht versteht, wird es schwer haben, morgen seine Adressaten zu erreichen. Dabei sind Blogs (wie auch allen anderen soziale Medien) keineswegs die Zukunft, sie sind bereits die Gegenwart. Zukunft sind sie lediglich für die deutschen Archive, die sich ihrer Möglichkeiten bis jetzt noch nicht gewahr worden sind. Gerade deshalb sind die Pioniere gar nicht genug zu loben, die einer konservativen Branche den Weg zu neuen Medien und Möglichkeiten bereiten – alles Gute, siwiarchiv, auf viele weiter Jahre!

Und natürlich: Sapere aude!

 

 

Quelle: http://archive20.hypotheses.org/1244

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Getty: Art & Architecture Thesaurus als Linked Open Data verfügbar

lod_getty_logoDas Getty Research Institut stellt seit Ende letzter Woche sein Vokabular zu Art & Architecture (AAT) als Linked Open Data zur Verfügung. Der Art & Architecture Thesaurus beinhaltet über 250,000 Begriffe zu Kunst- und Architekturgeschichte, Stilen und Techniken. Er steht unter der Open Data Commons Attribution License (ODC BY 1.0) und kann unter vocab.getty.edu heruntergeladen werden.
In den nächsten eineinhalb Jahren sollen die weiteren drei Getty-Thesauri als LOD folgen: The Getty Thesaurus of Geographic Names (TGN)®, The Union List of Artist Names®, and The Cultural Objects Name Authority (CONA)®

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=3127

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