Tagungsbericht: Wittelsbach, Bayern und die Pfalz: das letzte Jahrhundert

800 Jahre nach der Übertragung der Pfalzgrafschaft bei Rhein an die Familie der Wittelsbacher durch Kaiser Friedrich II., die über 700 Jahre währen sollte, befasste sich die wissenschaftliche Tagung „Wittelsbach, Bayern und die Pfalz: das letzte Jahrhundert“ mit zentralen Aspekten der Stellung der Pfalz im Königreich Bayern. Ausgewiesene Experten referierten am 28. und 29. März 2014 auf Schloss Villa Ludwigshöhe bei Edenkoben in drei Sektionen über das besondere Verhältnis der Pfalz zum Königreich Bayern zwischen deren Angliederung im Jahre 1816 und dem Ende der Wittelsbacher Herrschaft 1918. Ein besonderes Anliegen der von Prof. Dr. Karsten Ruppert, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, initiierten Tagung war die Belebung des Dialoges zwischen den bayerischen und pfälzischen Historikern über diese Epoche der gemeinsamen Geschichte.

Die Veranstaltung war ein gemeinsames Projekt der Generaldirektion Kulturelles Erbe (GDKE) des Landes Rheinland-Pfalz, der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und der Hambach-Gesellschaft für historische Forschung und politische Bildung. Eine Unterstützung gewährte die Stiftung Bayern-Pfalz. Nach der Begrüßung durch die Direktorin der Sektion „Burgen, Schlösser, Altertümer“ der GDKE, Dr. Angela Kaiser-Lahme, die über die Geschichte und Bedeutung des Tagungsortes informierte, führte Prof. Dr. Karsten Ruppert in die Konzeption der Tagung ein: Von allen neu erworbenen Gebieten habe sich Bayern mit der Pfalz am schwersten getan. Dass die Integration dennoch gelungen sei, sei einer Politik zu verdanken gewesen, die so viel Einheitlichkeit wie nötig eingefordert und so viel Selbständigkeit wie möglich gewährt habe. So sei bis zum Vorabend des Weltkriegs der Beweis erbracht worden, dass ein starker Staat sich durchaus mit lebendigen Regionen vereinbaren ließ.

Den Auftakt zur Sektion „Politik, Verfassung, Recht“ machte Prof. Dr. Hans Fenske, Universität Freiburg, mit einem Referat über „Die pfälzische Sonderkultur in der politischen Entwicklung Bayerns bis zur Revolution von 1848/49“. Darin betonte er sowohl die populäre Zustimmung zur Beibehaltung der verfassungspolitischen Errungenschaften aus der französischen Zeit („Rheinische Institutionen“) wie auch die Bereitschaft der bayerischen Regierung und der führenden Verwaltungsbeamten zur „Verbürgung des pfälzischen Sonderstatus“. Mit der im Anschluss an die Pariser Julirevolution 1830 einsetzenden „konservativen Wende“ Ludwigs I., die vom Hambacher Fest 1832 verstärkt wurde, kam diese Phase zu einem vorläufigen Ende. Im Verlauf der Revolution 1848/49 wurde durch die liberalen Reformen jedoch eine Angleichung der rechts- an die linksrheinischen Verhältnisse erzielt, weshalb „von einer Sonderkultur dann kaum noch die Rede sein“ konnte.

Dr. Wilhelm Kreutz, Privatdozent an der Universität Mannheim, porträtierte „Die politische Entwicklung Bayerns und der Pfalz von 1848/49 bis 1918“. Hatte das Jahr 1849 mit der Lossagung der Pfalz von Bayern durch die Provisorische Regierung im Rahmen der Reichsverfassungskampagne den „Tiefpunkt des bayerisch-pfälzischen Verhältnisses“ markiert, so endete damit auch die geschlossene oppositionelle Blockhaltung durch Betonung der (französisch geprägten) politischen Autonomie. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sei ein Streben nach einer „historischen Kulturlandschaft ‚Pfalz’“ durch die Umdeutung der Pfälzer in einen „eigenen deutschen Stamm“ neben Franken, Schwaben und Altbayern unter Betonung der Einheit von politischem Territorium und geographischem Gebiet erkennbar. Gleichzeitig wurde neben dieser „kulturellen Transformation der Identität“ unter Dominanz der nationalliberal orientierten „Flaschenbarone“ die Annäherung an die deutsche Kultur und das ‚Reich’ wichtiger.

Dr. Franz Maier vom Landesarchiv Speyer bestätigte die Befunde der Vorredner. Die Vereinheitlichung auf staatlicher Ebene sei bis 1862 nahezu vollständig vollzogen worden und Neuerungen aus der französischen Zeit seien nicht nur belassen worden, sondern sie seien vielfach auch im rechtsrheinischen Bayern übernommen worden. Auf der kleinsten Verwaltungsebene, die Maier in seinem Vortrag über „Die Entwicklung der Verwaltung und Kommunalverfassung in der Pfalz und im rechtsrheinischen Bayern“ besonders im Blick hatte, ist es hingegen bis zum Ende der Monarchie zu keiner Angleichung gekommen; die erweiterten Selbstverwaltungskompetenzen wurden nicht berührt. Zu groß wären die Eingriffe in das alltägliche Leben der Menschen gewesen.

Den Vorbildcharakter der pfälzischen Freiheitsrechte für das rechtsrheinische Bayern, besonders für das aufgeklärte Milieu, untermauerte auch Prof. Dr. Dr. Reinhard Heydenreuther in seinem Referat über die „Rechtsordnung und Justizverfassung der Pfalz“. Mit der Übernahme respektive Garantie der Freiheit und Sicherheit der Person sowie des Eigentums, der Gleichheit vor dem Gesetz, der Freiheit des Gewerbes, der Trennung von Justiz und Verwaltung, der Öffentlichkeit der Gerichtssitzungen und der Trennung des Geistlichen vom Weltlichen wurde im Kernland jedoch erst 1848 begonnen.

Der Beitrag Prof. Dr. Alois Seidls von der Hochschule Weihenstephan über „Die pfälzische Landwirtschaft des 19. Jahrhunderts im Spiegel des bayerischen Stammlandes“ beleuchtete die großen Unterschiede in den landwirtschaftlichen Verhältnissen als Auftakt zur Sektion „Wirtschaft und Gesellschaft“. Die seit der französischen Zeit bestehende moderne Agrarverfassung („Bauernbefreiung“) machte die Bauern in der Pfalz zu Eigentümern und Unternehmern gleichermaßen; die Realteilung hatte allerdings die Ausbildung einer kleinbetrieblichen Agrarstruktur („Parzellierung“) und im Verein mit der Bevölkerungsexplosion des 19. Jahrhunderts mehrere Ernährungskrisen zur Folge. Auch auf die Entwicklung moderner Produktionstechniken wirkte sich die Dominanz der Parzellenbetriebe nachteilig aus. Durch die korporativ betriebene Agrarbildung fand jedoch eine gegenseitige Befruchtung zwischen dem Stammland und der Pfalz statt.

Prof. Dr. Dirk Götschmann, Universität Würzburg, schloss mit seinem Vortrag über „Industrialisierung und Gewerbe der Pfalz“ daran an. Die agrarische Pfalz (bis zur Mitte des Jahrhunderts waren rund 70 % der Beschäftigten in der Landwirtschaft tätig) mit überwiegend Subsistenzwirtschaft habe nur wenig Produktivkraft entfaltet. Andererseits habe die Abhängigkeit von einem – oft häuslich betriebenen – Zuerwerb, der aufgrund der liberalen Gewerbeverfassung ohne Restriktionen aufgenommen werden konnte, der Pfalz gegenüber dem rechtsrheinischen Bayern einen Vorsprung bei der aufkommenden Industrialisierung und Globalisierung verschafft. Die Erweiterung der Absatzmöglichkeiten durch den Deutschen Zollverein von 1834, der Anschluss an die Eisenbahn und die Schifffahrt seit den 1840er Jahren machten die Klein- und Kleinstbetriebe (heute: „Mittelstand“) der Pfalz zu Profiteuren auf dem Binnen- und Weltmarkt.

Dr. Markus Raasch, Privatdozent an der Universität Mainz, relativierte mit seinem Beitrag zu „Adel und Bürgertum. Bayern und die Pfalz aus gesellschaftshistorischer Perspektive“ die weitverbreitete Auffassung, wonach in der Pfalz feudale Lebensformen keine Rolle gespielt hätten. Durch zahlreiche Nobilitierungen habe sich zwar durchaus eine sehr heterogene Adelslandschaft mit zahlreichen Zerfallserscheinungen ergeben; allerdings seien diese Beleg für eine „ausgeprägte Kontinuität in der Diskontinuität“. Auch seien die Verfassung von 1818 sowie die Revolution von 1848/49 wichtige Zäsuren, doch sei der Abbau von Vorrechten stets mit staatlichen Konzessionsangeboten einhergegangen. Überdies zeuge der überproportionale Anteil des Adels in Bürokratie und Politik von Erfolgen im „Kampf ums Obenbleiben“. Dem Wandel der Besitzverhältnisse konnte der Adel ferner durch Allianzen mit dem Besitzbürgertum entgegenwirken, das mit der Adaption adliger Lebensformen diese weiterführte.

Das Referat Prof. Dr. Hermann Rumschöttels über „Die Pfalz um gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel Bayerns in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts“ musste aus persönlichen Gründen entfallen, wird aber in den Tagungsband aufgenommen werden.

In die dritte Sektion, „Religion und Kultur“, führte Prof. Dr. Werner K. Blessing, Universität Erlangen-Nürnberg, mit dem Vortrag „Pfälzer ‚Eigen-Sinn’ – Der Unionsprotestantismus im Königreich Bayern“ ein. Die pfälzische Kirche könne insofern als „Seismograph des Zeitgeschehens“ gelten, als sie gegen die reaktionäre Kulturpolitik Ludwigs I. durch eine starke rationalistische Gegenbewegung Widerstand leistete. Politische Bedeutung erlangte die speziell auf gemeindlicher Ebene praktizierte „protestantische Freiheit“ dadurch, dass sie sich mit der frühliberalen Kritik an der konservativen Staatsführung verband; der Kampf um die Unabhängigkeit der Unierten Kirche der Pfalz vom orthodoxen „Neuluthertum“, welches das Oberkonsistorium in München dominierte, sollte auch die politische Autonomie befördern. Die Unionskirche wirkte als „geistig neutrales Band“ entscheidend an der Entwicklung einer gemeinsamen Identität mit.

Die andere große Konfession hatte Prof. Dr. Klaus Unterburger, Universität Regensburg, im Blick, als er zum Thema „Zwischen bayerischem Staatskirchentum und Milieubildung: Strukturelle Rahmenbedingungen und spezifische Eigenheiten des Pfälzer Katholizismus“ referierte. Er strich heraus, dass die beiden aus dem Mainzer Kreis kommenden Bischöfe, Geissel und Weis, sich für eine Stärkung und Reform des Katholizismus nach dem Niedergang in der „Franzosenzeit“ im Sinne des Ultramontanismus eingesetzt hätten. Unter dem Einfluss des frühliberal-rationalistischen Protestantismus und der kleinstädtischen Struktur der Pfalz sei die Ausbildung eines praktizierenden katholischen Milieus erschwert worden. Letzteres sei in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts daher einen anderen Weg zur politischen Partizipation gegangen als der pfälzische Protestantismus: statt vornehmlich über den Parlamentarismus über Vereine, eine katholische Presse, Parteien und karitative Orden.

Dr. Lenelotte Möller, Speyer, machte in ihrer Betrachtung über „Schulwesen und höhere Bildungsanstalten der Pfalz im Rahmen des bayerischen Bildungssystems“ deutlich, dass im gesamten Jahrhundert ein beeindruckender Fortschritt erkennbar ist und eine massive, vor allem von den Gemeinden getragene Aufbauarbeit geleistet wurde: Nachdem die Beschulung zur öffentlichen Aufgabe eines territorial und bildungssystemisch weitgehend homogenisierten Staates geworden war, konnte eine ebenso verbesserte Eliten- wie Breitenförderung und damit ein großer Anstieg der Alphabetisierung verzeichnet werden. Eine Besonderheit der Pfalz blieb der große Anteil der bis ins 20. Jahrhundert hinein bestehenden kommunalen Gemeinschaftsschulen.

Abschließend stellte Dr. Jürgen Vorderstemann, Speyer, die Frage „Pfälzische Kulturlandschaft oder kulturelle Provinz?“ Zwar hätten die bayerischen Könige, vor allem unter Ludwig I. und in der Prinzregentenzeit, einige kulturelle Aktivitäten entfaltet, doch seien diese weit hinter denen in München und anderen Teilen Bayerns zurückgeblieben. Umso mehr Gewicht sei daher den erfreulich zahlreichen Initiativen der Bürgergesellschaft zuzumessen. Zur Provinzialisierung habe schließlich noch beigetragen, dass kein Pfälzer Künstler von Rang in seiner Heimat geblieben sei. Die Zurücksetzung der Pfalz gegenüber dem Kernland, die während der Tagung in verschiedenen Referaten angeklungen war, in der Kulturpolitik war sie am deutlichsten.

Quelle: http://achtundvierzig.hypotheses.org/553

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Die Regierungspolitik des Königreiches Bayern gegenüber der Provisorischen Zentralgewalt von 1848/49: Forschungsprojekt Sabine Thielitz

 

Sabine Thielitz studierte seit dem Wintersemester 2005/06 an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt Deutsch, Geschichte und Sozialkunde für das Gymnasiallehramt. Im Winter 2011/12 legte sie in diesen Fächern das 1. Staatsexamen ab. Seit 2010 war sie am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte als studentische Hilfskraft und Tutorin tätig. Nach dem Abschluss ihres Studiums arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei dem DFG-Projekt „Edition der Akten der Provisorischen Zentralgewalt von 1848/49“. In diesem Rahmen beschäftigt sie sich mit der Regierungspolitik Bayerns gegenüber der Provisorischen Zentralgewalt. Darüber hinaus ist sie seit 2012 als Lehrbeauftragte für Neuere und Neueste Geschichte an der KU tätig.

Als die Provisorische Zentralgewalt im Juni 1848 per Gesetz durch das Frankfurter Parlament dazu berufen wurde, in dem staatsrechtlichen Interim der Revolutionszeit die Regierungsgeschäfte zu übernehmen und für den Vollzug der von der Nationalversammlung erlassenen Gesetze zu sorgen, stellte der für die Regierungstätigkeit notwendige Umgang mit den fürstlichen Partikulargewalten eine grundlegende Voraussetzung dar. Dieser Aspekt soll im Rahmen des Forschungsprojektes im Hinblick auf das Königreich Bayern genauer untersucht werden.

König Maximilian II. von BayernKönig Maximilian II. von Bayern. Photographie von Franz Hanfstaengl, ca. 1860

Ein Blick auf die vielfältige Forschungsliteratur zur Revolution 1848/49 verdeutlicht die Forschungsrelevanz des Themas. Bei der regional- und lokalgeschichtlichen Aufarbeitung der Revolutionsjahre zeigt sich ein starkes Süd-Nord- und West-Ost-Gefälle. Der Revolution in Baden und Württemberg wurde vergleichsweise verstärkte Aufmerksamkeit zuteil, während die Untersuchungen über andere Staaten und Regionen des Deutschen Bundes überschaubar sind1. Hinsichtlich der bayerischen Regierungspolitik liefern für diese Zeit wenige ältere Forschungen einen ersten Einblick2. Das Verhältnis der Münchner Regierung zu der Provisorischen Zentralgewalt wurde dabei nur peripher behandelt. Demnach liegt für diesen Themenkomplex bisher keine modernen wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Untersuchung vor. Das Forschungsprojekt versucht diese Forschungslücke zu schließen.

Mit der Politik des Königreiches Bayern wird das Vorgehen eines Bundesstaates untersucht, welcher sich besonders durch seine ablehnende Haltung in der Reichsverfassungsfrage auszeichnete und sich damit letztlich den revolutionären gesamtdeutschen Gewalten dezidiert und offen entgegenstellte. Es wird versucht, auf reziproker Basis, die Entwicklung der politischen Strategie der bayerischen Regierung gegenüber den revolutionären Institutionen von dem Ausbruch der Februarrevolution des Jahres 1848 in Frankreich bis zu dem Scheitern der Nationalversammlung und der Provisorischen Zentralgewalt im Jahre 1849 zu erhellen: In welchen Bereichen und unter welchen Umständen kooperierte Bayern mit den Frankfurter Institutionen und welchen Aspekten der Politik der Reichsregierung begegnete die bayerische Regierung mit Kritik und Ablehnung? Welche Motive und Ziele verfolgte die bayerische Staatsführung dabei mit ihrer jeweiligen Haltung und mit welchen Mitteln versuchte sie diese Ziele gegenüber der Provisorischen Zentralgewalt und der Paulskirchenversammlung durchzusetzen? Schließlich bleibt die Frage nach dem Erfolg der bayerischen Bemühungen und deren Folgen für das Scheitern der Revolution.

Neben der Erforschung des Verhältnisses der königlich-bayerischen Regierung zu den revolutionären Institutionen sollen auch die diplomatischen Beziehungen zu den anderen Bundesstaaten, vor allem zu den Königreichen Hannover, Sachsen und Württemberg sowie zu den Vormächten Österreich und Preußen, berücksichtigt werden. Dabei stehen besonders die Versuche Bayerns, in dieser revolutionären politischen Situation etwaige Bündnisse und Koalitionen im Sinne der eigenen Politik zu schließen, im Zentrum des Forschungsprozesses.

Das Forschungsvorhaben eröffnet neue Erkenntnisse im Hinblick auf die politischen Wechselbeziehungen der revolutionären gesamtdeutschen Institutionen in Frankfurt mit dem bayerischen Königreich. Den Einzelregierungen kam bei der etwaigen Umsetzung der auf der Gesamtreichsebene durch die Nationalversammlung beschlossenen und durch die Provisorische Zentralgewalt angeordneten Maßnahmen generell eine zentrale Funktion zu. Zudem war die Zentralgewalt in Frankfurt auf die Berichte aus den Einzelstaaten angewiesen, um die politische, wirtschaftliche und soziale Lage vor Ort beurteilen zu können. Daher stellten die bundesstaatlichen Exekutiven eine Schaltstelle zwischen National- und Regionalpolitik dar. Die Untersuchung der politischen Strategie der bayerischen Regierung gegenüber den Frankfurter gesamtdeutschen Institutionen und der Wahl der politischen Mittel zur Durchsetzung der einzelstaatlichen Interessen kann demnach wichtige Erkenntnisse hinsichtlich der Effektivität der Tätigkeit der Gesamtreichsregierung liefern. Auf diese Weise dient eine solche Untersuchung auch der differenzierteren Herausstellung möglicher Gründe für das Scheitern der Revolution von 1848/49. Zudem ist mit weiteren Einsichten in die Bündnispolitik des Königreiches Bayern sowohl zu den deutschen Vormächten Preußen und Österreich als auch zu den übrigen Mittelstaaten zu rechnen.

Im ersten Jahr des Forschungsvorhabens stand zunächst die Erfassung der für die bayerische Regierungspolitik relevanten Quellensammlungen und der Darstellungsliteratur im Vordergrund. Zudem erfolgte die Recherche der privaten und offiziellen Aufzeichnungen der maßgeblichen politischen Akteure. Dabei standen besonders die bayerischen Bevollmächtigten bei der Provisorischen Zentralgewalt sowie die bayerischen Außenminister und Monarchen dieser Zeit im Fokus des Interesses. Derzeit nimmt die Recherche und Aufarbeitung der in München lagernden Gesandtenberichte und Ministerialakten der königlich-bayerischen Regierung breiten Raum ein.

 

  1. An diesem von Rüdiger Hachtmann Ende der 1990er Jahre festgestellten Befund hat sich bis heute kaum etwas geändert: HACHTMANN, Rüdiger: 150 Jahre Revolution von 1848: Festschriften und Forschungserträge, in: Archiv für Sozialgeschichte 39 (1999) 447–493; 40 (2000) 337–401, hier Bd. 39, 465.
  2. DOEBERL, Michael: Bayern und Deutschland, Bd. 1: Bayern und die Deutsche Frage in der Epoche des Frankfurter Parlaments, München – Berlin 1922; DEUERLEIN, Ernst: Bayern in der Paulskirche. Reden und Tätigkeiten der bayerischen Abgeordneten in der ersten Deutschen Nationalversammlung 1848/49, Altötting 1948.

 

 

Quelle: http://achtundvierzig.hypotheses.org/340

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Tagungsbericht: Editionsreihen von Regierungsakten im internationalen Vergleich

Unter dem vielsagenden Titel „Zwischen Unverzichtbarkeit und Ungewissheit: Editionsreihen von Regierungsakten im internationalen Vergleich“ fand am 22. Oktober 2013 am Österreichischen Staatsarchiv in Wien ein Workshop statt, zu dem dieses zusammen mit dem Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung (INZ) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften eingeladen hatte. Ziel der Veranstaltung war vor allem die Bestandsaufnahme und Bewusstseinsbildung zu Stand und Perspektiven der Regierungsakteneditionen in Österreich, wozu auch der Vergleich mit derartigen Unternehmen in Deutschland und der Schweiz beitragen sollte.

Das Programm der Veranstaltung finden Sie hier.

Protokolle des österreichischen Ministerrates 1848-1867, Bd. 2/4

Protokolle des österreichischen Ministerrates 1848-1867, Bd. 2/4

Nach Begrüßungsworten vom Direktor des INZ, Michael Gehler, wurde die Tagung mit einem Impulsreferat von Waltraud Heindl eröffnet. Die pensionierte Universitätsprofessorin, bekannt unter anderem für ihre Forschungen zur Geschichte der Bürokratie in Österreich1 und des Frauenstudiums, war auch lange Zeit Mitarbeiterin an der Edition der Ministerratsprotokolle der Habsburgermonarchie. Sie begann mit der Feststellung, Editionen seien „das ungeliebte Kind“ unter den wissenschaftlichen Großprojekten. Politische Ansprüche, die sich auf eine einseitig ökonomisch verstandene „Anwendbarkeit“ richteten, und organisatorische Paradigmen, die jede langfristige Bindung von Mitteln zu vermeiden suchten, hätten schon die Vorstellung von Langzeitvorhaben den Entscheidungsträgern „unbegreiflich“ gemacht. Demgegenüber stellte sie die kritische Textedition als wissenschaftliche Tradition heraus, die aus dem Historismus des 19. Jahrhunderts komme – einer Zeit, in der die Historie eine Leitwissenschaft der europäischen Gesellschaften und das allgemeine Bewusstsein der Gebildeten in weit höherem Maße historisch geprägt gewesen sei als gegenwärtig. Die damals entwickelten Standards und Methoden seien allerdings keineswegs ausschließlich für die Geschichtswissenschaft, sondern für den gesamten Bereich der Geistes-, Kultur- und Rechtswissenschaften gültig geblieben. Die Edition strebe einerseits danach, aus einer schwer zugänglichen Quelle einen leicht und zuverlässig abrufbaren „Wiedergebrauchstext“ zu machen, andererseits sei ein bloßer Abdruck keine Edition, sondern als unverzichtbarer Bestandteil gehöre zu dieser auch die wissenschaftliche Aufbereitung durch kritische Textgestaltung, Regestierung, Kommentierung und Einleitung. Das Vorgehen habe dabei nicht dem Ermessen zu unterliegen, sondern an Richtlinien gebunden zu sein, die im voraus festgelegt und auch den Benutzern deutlich gemacht werden. Dementsprechend, so Heindl, seien „nur die besten Historikerinnen und Historiker gut genug, um editorisch tätig zu sein“. Im Übrigen würden auch der cultural und der linguistic turn in der Geschichtswissenschaft das Bedürfnis nach solide ausgeführten Texteditionen keineswegs reduzieren, sondern im Gegenteil erhöhen – schließlich könne niemand Texte dekonstruieren, wenn keine zur Verfügung stehen. Sie schloss mit einem Plaidoyer erstens dafür, den Entscheidungsträgern in politischen Ämtern und Förderinstitutionen den Wert von Editionen verständlich zu machen, und zweitens dafür, auch an den Universitäten wieder mehr die Fähigkeiten in der Lehre zu berücksichtigen, die EditorInnen bräuchten.

Im Folgenden wurden zwei deutsche, ein schweizerisches und drei österreichische Großvorhaben jeweils von ihren Mitarbeiterinnen oder Mitarbeitern vorgestellt. Bärbel Holtz, Leiterin des Akademievorhabens „Preußen als Kulturstaat“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, sprach über die von 1994 bis 2003 durchgeführte Edition der Protokolle des Preußischen Staatsministeriums. Hier war eine durchgehende Überlieferung über mehr als ein Jahrhundert (1817–1934/38) zu bearbeiten, wobei die Vorgaben des Fördergebers – die Finanzierung erfolgte aus dem Akademienprogramm – von Beginn an klarstellten, dass eine limitierte Projektzeit einzuhalten und eine Volltextedition jedenfalls ausgeschlossen war. Zentral für die Lösung dieser Aufgabe war ein Editionskonzept, das eine Mischung aus überwiegend standardisierter regestenförmiger Wiedergabe und der Übernahme einzelner besonders signifikanter Ausdrücke aus dem Originalwortlaut vorsah. Dank dieser kompakten Präsentationsweise nimmt ein Protokoll in der Regel nur eine Druckseite ein. Der wissenschaftliche Wert liegt daneben aber auch in einem sehr eingehend gestalteten Anmerkungsapparat, der möglichst umfassend auf bezügliche Akten sämtlicher Ministerien verweist, und in den kommentierten Registern, wobei vor allem das Personenregister geradezu eine Prosopographie der bis dahin schlecht erforschten preußischen Beamtenschaft wurde und inzwischen gerne als solche benutzt wird. Die 12 Bände in insgesamt 17 Teilbänden sind heute vollständig und unentgeltlich online zugänglich.

Hanns Jürgen Küsters, Professor an der Universität Bonn und Hauptabteilungsleiter Wissenschaftliche Dienste bei der Konrad-Adenauer-Stiftung, berichtete über die lange, aber keineswegs geradlinige Geschichte der Edition der „Dokumente zur Deutschlandpolitik“. Er hob hervor, wie unmittelbar dieses Unternehmen nicht nur in seiner Entstehung, sondern auch in Detailentscheidungen über Zielsetzungen und Editionsplan von konkreten politischen Darstellungs- und Legitimationsinteressen abhängig war und ist – ein Umstand, der zu einer (so Küsters wörtlich) „verkorksten“ Reiheneinteilung und Erscheinungsfolge der Bände geführt habe. Die Arbeitsgruppe unterstand direkt dem Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, später dem Bundesinnenministerium; andere Ministerien zeigten sich freilich nicht immer kooperativ bei der Bereitstellung amtlicher Schriftstücke. Küsters ging auch auf die großen Probleme der Auswahl der Dokumente ein, zumal auch ausländische Bestände nach Möglichkeit herangezogen werden; das „Zauberwort ‚Schlüsseldokumente‘ “, meinte er augenzwinkernd, stehe zwar in jedem Antrag und Projektbericht, eine Definition sei ihm aber noch nicht untergekommen.

Ursina Bentele präsentierte die Edition „Diplomatische Dokumente der Schweiz“. In den 1970er Jahren zunächst als interuniversitäre Initiative entstanden, ist sie heute ein Unternehmen der Schweizerischen Akademie für Geistes- und Sozialwissenschaften. Die erste Reihe mit 15 Bänden zum Zeitraum 1848–1945 ist abgeschlossen; die Edition der Dokumente ab 1945 erfolgt parallel in Form der Datenbank DODIS und gedruckter Bände, in die freilich nur ein Teil der in der Datenbank bearbeiteten Stücke im Volltext eingeht – die Bücher erhalten so die Funktion von „Wegweisern“ zur Datensammlung. Die Forschungsleistung der Editionsgruppe, so Bentele, bestehe aber auch noch unter diesen Umständen zu einem beträchtlichen Teil in der Reduktion des verfügbaren Materials auf die präsentierte Auswahl: Für einen Band, der drei Jahre Schweizer Außenpolitik abdeckt, würden etwa 600 Laufmeter Akten oder rund 1,5 Millionen Schriftstücke gesichtet.

Screenshot eines Rechercheergebnisses aus DODIS

Screenshot eines Rechercheergebnisses aus DODIS

Von österreichischer Seite wurde zunächst die Edition der Ministerratsprotokolle der Habsburgermonarchie von Stefan Malfèr und Thomas Kletečka vorgestellt. Als Gemeinschaftsunternehmen österreichischer und ungarischer HistorikerInnen nahm sie ihren Anfang in den späten 1960er Jahren; die erste Serie, enthaltend die Ministerratsprotokolle der Jahre 1848 bis 1867, ist heute mit insgesamt 26 Bänden nahezu abgeschlossen, die letzten zwei sind bereits in Vorbereitung. Ähnlich steht es um die in Ungarn edierten Protokolle des gemeinsamen österreichisch-ungarischen Ministerrats von 1867 bis 1918. Die dritte Serie mit den Protokollen des „cisleithanischen“ Ministerrats aus der Zeit der Doppelmonarchie ist auf lediglich elf Bände kalkuliert, weil ein erheblicher Teil der Vorlagen beim Brand des Wiener Justizpalastes am 15. Juli 1927 zerstört oder beschädigt wurde. Malfèr hob hervor, dass der hohe Standard – er bekannte sich insbesondere zur Volltextedition und zum ausführlichen wissenschaftlichen Kommentar einschließlich Verweisen auf Bezugsakten und Forschungsliteratur – zwar für die lange Bearbeitungsdauer mitverantwortlich sei, die immer wieder der Verteidigung bedurft habe, aber auch ein entscheidendes Kriterium für den Wert und die sehr positive Aufnahme der Edition in Fachkreisen. Die wissenschaftliche Aufarbeitung liefere unvermeidlich auch bereits erste Ergebnisse hinsichtlich einer Interpretation des Regierungshandelns, in diesem Fall etwa für eine Neubewertung der Leistungen und Versäumnisse des „Neoabsolutismus“ der 1850er Jahre oder des Oktoberdiploms von 1860. Die Arbeit der Gruppe verstehe sich damit auch als Beitrag zu einer von ideologischen Verzerrungen und Ressentiments „entrümpelten Erinnerungskultur“ zur Habsburgermonarchie, so Kletečka.

Gertrude Enderle-Burcel überschrieb den von ihr gemeinsam mit Hanns Haas und Alexandra Neubauer-Czettl vorgetragenen Bericht über die Ministerratsprotokoll-Edition zur Republik Österreich bewusst provokativ mit „Blick zurück im Zorn“. Bei Beginn des Unternehmens in den 1970er Jahren habe zwar seitens des Bundeskanzlers Bruno Kreisky und der Wissenschaftsministerin Hertha Firnberg ein klares politisches Bekenntnis zur Notwendigkeit der Bearbeitung bestanden, die Finanzierung und Ausstattung der Arbeitsgruppe sei jedoch von Beginn an unzulänglich gewesen, und dies habe sich im Laufe der Zeit nur noch verschärft. Nie habe es mehr als einen festen Dienstposten für das Vorhaben gegeben; die zwischen Bundeskanzleramt und Wissenschaftsministerium geteilte Zuständigkeit habe es beiden Behörden immer wieder erleichtert, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Die Basisfinanzierung wurde schließlich nach jenem desaströsen Regierungsbeschluss von Oktober 2010, der zur Einstellung jeglicher Förderung des Bundes für außeruniversitäre Forschung führte, gestrichen. Derzeit gebe es noch eine Finanzierung durch die Gemeinde Wien in Form jährlicher (!) Förderverträge sowie eine Projektfinanzierung des Bundeskanzleramtes für die Digitalisierung und Transkription der Unterlagen. Dabei handle es sich – was im Grunde selbstverständlich sein müsste – um Quellen von höchster Wichtigkeit und großer Aussagekraft, deren Bearbeitung allerdings hohe Ansprüche stelle, da auch die Originalmitschriften zu berücksichtigen sind, in denen vieles enthalten ist, was in die Reinschriften keine Aufnahme fand. Diese Mitschriften freilich sind in Gabelsberger Kurzschrift aufgezeichnet worden, die heute nur noch von wenigen ExpertInnen gelesen wird. Die Zukunft des Unternehmens sei derzeit höchst ungewiss; nach den 23 erschienenen Bänden wären noch 29 weitere nötig, um auch nur die Erste Republik abzuschließen, eine zweite Reihe zur Zweiten Republik steht noch in den Anfängen.

Etwas versöhnlicher klang die Präsentation der „Außenpolitischen Dokumente der Republik Österreich“ durch Klaus Koch, Walter Rauscher und Elisabeth Vyslonzil. Dieses Gegenstück zu den „Diplomatischen Dokumenten der Schweiz“ wurde um 1990 – lange nach dem Einsetzen ähnlicher Projekte in vielen anderen europäischen Staaten2 – angestoßen. Der von Beginn an schlanke Editionsplan, der für den gesamten Zeitraum der Ersten Republik 12 Bände vorsah, ist durchgehalten worden; acht Bände sind erschienen, zwei im Druck, die letzten beiden in Vorbereitung.

Der durch diese Präsentationen geschaffene Überblick zeigte zwar, dass auch in Deutschland und der Schweiz für langfristige Editionsprojekte der Himmel nicht immer voller Geigen hängt, dass aber doch die Situation in Österreich besonders unbefriedigend ist. Während die preußischen Staatsministeriumsprotokolle von fünf Promovierten bearbeitet wurden und DODIS acht wissenschaftliche MitarbeiterInnen beschäftigt, kann keine der genannten österreichischen Unternehmungen darauf zurückblicken, jemals mehr als drei Dienstposten besessen zu haben. Fördermodelle mit zehn- oder zwölfjähriger Laufzeit gibt es in Österreich schlichtweg nicht. Ein Großteil der Finanzierung erfolgte in allen drei Fällen über Jahrzehnte hinweg in Form aneinandergereihter dreijähriger Projekte, bei jeweils neuer Beantragung und Begutachtung. Die Zukunft aller drei Editionen ist völlig offen; für keine gibt es derzeit eine Finanzierung über das Jahr 2014 hinaus.

Den Abschluss der Veranstaltung bildete eine Podiumsdiskussion mit Vertreterinnen des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (Geschäftsführerin Dorothea Sturn), der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Brigitte Mazohl, Präsidentin der Philosophisch-historischen Klasse) und des Österreichischen Staatsarchivs (Gertrude Enderle-Burcel) sowie einer Beamtin des Wissenschaftsministeriums (Ursula Brustmann), die freilich bereits eingangs erklärte, nicht für die politische Ebene des Ressorts sprechen zu können, sondern nur den Standpunkt der dortigen FachbeamtInnen zu repräsentieren. Als Leitfragen wurden ausgegeben: „Wie kann politisches Interesse für Editionen gefördert werden? Welche Wünsche der Öffentlichkeit an Editionen sind zu berücksichtigen? Wie kann die nötige Finanzierung eingeworben und verstetigt werden?“

Ein niederschmetternd einmütiger Befund war zunächst der, dass es um das politische Interesse für Wissenschaft im Allgemeinen, Geisteswissenschaften im Besonderen und speziell für Editionen in Österreich derzeit schlecht bestellt respektive dieses überhaupt nicht vorhanden sei. Hinsichtlich der derzeit laufenden Verhandlungen über eine Regierungsbildung nach den Nationalratswahlen im September wurden zudem von mehreren Seiten Befürchtungen laut, dass eine Zusammenlegung des Wissenschaftsministeriums mit anderen Ressorts, vielleicht auch eine Trennung der Universitäts- von den Forschungsagenden zu befürchten sei. Dass von Seiten der Wissenschaft mehr Arbeit zur Bewusstseinsbildung nötig sei, blieb angesichts dessen unbestritten. Dazu wurden von verschiedenen Seiten Vorschläge vorgebracht, teils organisatorischer Natur – Vernetzung laufender Editionsvorhaben zu einer Plattform zwecks gegenseitiger Information und koordinierter Medien- und Lobbyarbeit (Mazohl; von vielen Seiten begrüßt) –, teils inhaltlicher Art, etwa die Idee einer Betonung des Werts von Staatsakteneditionen als Instrument der Demokratieerziehung (Küsters). Manches war wohl auch eher sarkastisch gemeint, etwa die Frage von Waltraud Heindl, ob es zielführend sei, die Namen politischer Entscheidungsträger ähnlich groß und sichtbar außen auf Editionsbände zu schreiben, wie die Namen der Bürgermeister auf Wiener Gemeindewohnbauten stehen.

Gedenktafel Bieler Hof

“Ediert aus den Mitteln der Republik Österreich in den Jahren 2017–2020 unter der Bundeskanzlerin X und dem Bundesminister für Wissenschaft Y”? (Photo: Bauinschrift des Bieler-Hofes in Wien 21. Quelle: Wikimedia Commons/Herbert Josl)

In institutioneller Hinsicht waren sich die Diskutierenden einig, dass die bestehenden Fördermodalitäten des FWF (als inzwischen nahezu einzig verbliebener Agentur zur Förderung der Geisteswissenschaften in Österreich) für langfristige Editionsprojekte wenig geeignet sind. Ob es Aufgabe des FWF sei, eine derartige Förderschiene in sein Programm aufzunehmen3, war hingegen umstritten. Von manchen wurde dies mit Nachdruck gewünscht, die FWF-Vertreterin sah eine solche Ausweitung der Tätigkeit angesichts der aktuellen Ressourcenausstattung des Fonds jedoch für die absehbare Zukunft als nicht diskutabel an4. Als Trägerinstitution größerer Vorhaben sahen fast alle, angesichts der weiterhin sehr ungünstigen Bedingungen für die Schaffung neuer außeruniversitärer Forschungseinrichtungen, in erster Linie die Akademie der Wissenschaften gefragt. Nach den Worten ihrer Vertreterin wäre diese dazu gerne bereit – entsprechende Budgetmittel vorausgesetzt, womit natürlich wieder die politische Ebene angesprochen war.

Diskutiert wurde auch, inwiefern sich die Rahmenbedingungen auf editorische Tätigkeit selbst auswirken müssten. Von außen ist immer wieder der bloße Abdruck von Texten ohne wissenschaftlichen Apparat empfohlen, nicht selten auch gefordert worden, wie etliche Anwesenden berichten konnten. Allen Teilnehmenden der Veranstaltung war jedoch klar, dass hierin keine Lösung liegen kann, sondern gerade die wissenschaftliche Aufarbeitung den Mehrwert der editorischen Arbeit ausmacht: Indexierung schafft erst die Möglichkeit einer Benutzung zu vorgegebenen Themen, der Nachweis der bisherigen Literatur führt an den Forschungsstand heran und Verweise auf weitere Akten ermöglichen weiterführende Forschung. Ein Textabdruck oder auch eine Sammlung von Digitalisaten ohne alles dieses ist dagegen ein unbenutzbarer Datenwust. Dies müsste freilich auch außerhalb von Fachkreisen klar gemacht werden. Gertrude Enderle-Burcel gab unerquickliche Anekdoten aus ihren Verhandlungen mit Beamten des Bundeskanzleramts zum Besten: Es sei von ihren Gesprächspartnern als unverständlich bezeichnet worden, wie jemand ein oder gar zwei Jahre an einem Editionsband „herumnudeln“ könne; es sei nach den Kosten pro Seite, ja nach Kosten pro Anmerkung gefragt worden; schließlich erscheine die (bereits erwähnte) Finanzierung für die Digitalisierung und Transkription der Protokolle zwar ihr und ihren KollegInnen als Vorarbeit für eine Edition, dem Fördergeber jedoch anscheinend als abschließende Erledigung des Anliegens. Selbst die Anlage eines Registers sei für überflüssig befunden worden, denn wenn die Transkripte online verfügbar seien, gebe es ja die Möglichkeit der Volltextsuche – in ungefähr 13.000 Seiten …

Die neuen technischen Möglichkeiten der Bearbeitung und Präsentation wurden von allen als unverzichtbar eingestuft, etliche Stimmen riefen allerdings nach einer differenzierten Abwägung von Kosten und Nutzen. Auf Online-Präsenz ganz zu verzichten und nur auf gedruckte Editionsbände hinzuarbeiten, wurde allgemein als weder wissenschaftlich vertretbar noch gegenüber einem außerwissenschaftlichen Publikum entgegenkommend abgelehnt. Hingegen wurde darauf verwiesen, dass Online-Editionen, gerade solche in Datenbankform, vor allem erweiterte Zugangs- und Suchmöglichkeiten brächten, nicht jedoch die von uninformierter Seite häufig vermutete Kostenreduktion; im Gegenteil, spätestens bei der Absicht einer langfristigen Nutzung auf Jahrzehnte hinaus sei mit viel höheren Kosten zu rechnen. Gerade die lange Nutzungsdauer ist jedoch ein besonderes Merkmal von Editionen; Bände der „Monumenta Germaniae Historica“ oder der „Acta Borussica“ aus dem 19. Jahrhundert werden heute noch geläufig zitiert. Dies wurde mehrfach als gewichtiges Argument für den Druck gewertet, dessen Langzeit-Speicherfähigkeit von keinem elektronischen Medium ohne vielfache Datenmigration erreicht wird. Die meisten Diskussionsbeiträge liefen darauf hinaus, dass sich Kombinationslösungen empfehlen, bei denen die Kapazität, Zugänglichkeit und Suchmöglichkeiten einer Online-Edition mit den Speichereigenschaften einer parallelen Druckausgabe verbunden werden. Selbst bei dem in dieser Hinsicht zukunftsweisend erscheinenden DODIS-Projekt steht „die Abschaffung des gedruckten Bandes nicht zur Debatte“ (Bentele).

Gibt es ein Fazit, das auch für die Belange unseres weit kleiner definierten Eichstätter Editionsprojekts zur Zentralgewalt anwendbar wäre? Deutlich wurde durch die Veranstaltung zunächst, dass Editionen keineswegs bloße Kärrnerarbeit sind, sondern geisteswissenschaftliche Grundlagenforschung, die eine vielfache Weiternutzung ermöglicht. Dass dies außerhalb enger Fachzirkel den Wenigsten klar zu sein scheint, ist ein wesentliches Problem, und es steht allen an Editionen beteiligten ForscherInnen gut an, jede Gelegenheit zur Bewusstseinsbildung zu ergreifen. Überaus klar wurde auch, dass Editionen hohe Ansprüche an eine gediegene und konsequente Bearbeitung stellen und dementsprechend Schwerarbeit sind. Letzteres wussten wir bei der Zentralgewalt-Edition schon; Ersteres auch, aber das Workshop bestärkt uns darin, den Blick stets darauf gerichtet zu halten, dass unsere Produktion nicht nach der Zahl der Dokumente bewertet wird, die wir abgetippt haben, sondern nach der zielführenden Auswahl derselben und der Güte der Bearbeitung. Jene Standards in Textgestaltung, Erschließung und Präsentation, die sich bei einem solchen Erfahrungsaustausch als unverzichtbar und unhintergehbar über die verschiedensten Projekte hinweg erweisen, sind auch in unserer Edition zu berücksichtigen. Aber davon wird an anderer Stelle mehr zu schreiben sein.

  1. HEINDL, Waltraud: Gehorsame Rebellen. Bürokratie und Beamte in Österreich 1780 bis 1848 (Studien zu Politik und Verwaltung 36), Wien – Köln – Graz 1990; HEINDL, Waltraud: Josephinische Mandarine. Bürokratie und Beamte in Österreich 1848–1918, Wien 2013.
  2. Ein solches Verspätungsempfinden im internationalen Vergleich hatte Ursina Bentele bereits als Motivation für die 1972 erfolgte Initiative zu den „Diplomatischen Dokumenten der Schweiz“ angesprochen, was von Klaus Koch mit ironischem Lächeln aufgegriffen wurde.
  3. Dies war 2007/08 unter dem Programmtitel NIKE bereits geplant, fiel jedoch der Wirtschaftskrise und den daraus folgenden Budgetkürzungen zum Opfer.
  4. Dorothea Sturn verwies hierbei darauf, dass etwa der Schweizerische Nationalfonds, pro Kopf der Bevölkerung gerechnet, über viermal so viele Mittel verfüge wie der FWF.

Quelle: http://achtundvierzig.hypotheses.org/385

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Vortrag: Ministerien aus dem Nichts. Die Einrichtung der Provisorischen Zentralgewalt 1848

Im Rahmen zweier Vortragsabende Ende Juni werden die Projektmitarbeiter Thomas Stockinger und Tobias Hirschmüller aus ihrer Forschungstätigkeit im Rahmen des Projekts „Edition der Akten der Provisorischen Zentralgewalt“ referieren. Der erste dieser Abende wird von der Hambach-Gesellschaft veranstaltet und findet am 26. Juni ab 19 Uhr im Stadtarchiv Speyer statt. Der zweite Abend ist für den 27. Juni ab 18.30 Uhr an der Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte im Rastätter Schloss vorgesehen. Bei beiden Gelegenheiten werden dieselben zwei Vorträge gehalten.

Das folgende Abstract betrifft den Vortrag von Thomas Stockinger; eine entsprechende Ankündigung zu jenem von Tobias Hirschmüller erfolgt in Kürze.

Ministerien aus dem Nichts: Die Einrichtung der Provisorischen Zentralgewalt 1848

Am 28. Juni 1848 wurde nach intensiven Debatten in der Frankfurter Nationalversammlung das Gesetz zur Einsetzung einer vorläufigen Exekutive für den – real noch nicht existierenden – deutschen Bundesstaat beschlossen; der am folgenden Tag gewählte Reichsverweser Erzherzog Johann konnte am 12. Juli angelobt werden, etwa einen Monat später kam das erste vollständige „Reichsministerium“ zustande. Dieses konnte sich zunächst auf eine solide Mehrheit in der Versammlung stützen, vor allem auf das sogenannte „rechte Zentrum“. Die Stellung der Provisorischen Zentralgewalt zwischen dem Paulskirchenparlament, den Regierungen der deutschen Einzelstaaten und den auswärtigen Mächten war trotzdem nie eine einfache, und ihre Versuche, faktische Regierungstätigkeit zu entfalten, stießen rasch an Grenzen. Dennoch sollte die Bedeutung dieser Institution im Revolutionsgeschehen nicht unterschätzt werden.

Auf der politischen Ebene kann das Handeln der Zentralgewalt zumindest in seinen groben Zügen als bekannt gelten; hingegen ist ihrer Verwaltungsgeschichte noch kaum Aufmerksamkeit gewidmet worden. Dies erweist sich allerdings als durchaus interessant, zumal es darum ging, in kürzester Zeit funktionierende Behörden ins Leben zu rufen, wozu die Dienststellen des bisherigen Bundestages nur ganz unzureichende Anknüpfungspunkte boten. Qualifiziertes Personal musste rekrutiert, der gesamte Geschäftsgang geregelt, selbst die elementarsten Ressourcen – bis hin zum Büromaterial – mussten erst beschafft werden. Eine zeitgenössische Karikatur zeigte den neuen Reichsjustizminister Mohl bei seiner ersten „Amtshandlung“: dem Gang zu einem Papierhändler, um Schreibpapier und eine Stange Siegelwachs zu erstehen.

Dass die Ministerialbehörden der Zentralgewalt überhaupt ins Leben treten und eine geregelte Tätigkeit entfalten konnten, erscheint unter diesem Gesichtspunkt bereits als beträchtliche Leistung. Überreste dieser Tätigkeit sind nicht zuletzt die in beachtlicher Zahl angelegten und aufbewahrten Akten der Ministerien, heute im Bundesarchiv Berlin. Auf deren Grundlage soll im Vortrag versucht werden, nachzuzeichnen, welche Probleme bei der Bildung dieser Dienststellen gleichsam „aus dem Nichts“ auftraten und welche Lösungen dafür gefunden oder zumindest angestrebt wurden.

Quelle: http://achtundvierzig.hypotheses.org/249

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So what was the “Provisional Central Power” – and why should anyone take an interest?

Protokoll der 180. Sitzung des Gesamtreichsministeriums

Minutes of the 180th session of the cabinet of the Provisional Central Power. November 19, 1849

While this blog is – and will remain – predominantly in German, it may be helpful to potential readers from other countries to provide an English-language version of our project’s mission statement, as previously published in German in this post:

When revolutions are over, the aspects most likely to be remembered are those that contrast most starkly with everyday political life: barricades and fighting in the streets. This is certainly true for the Revolutions of 1848–49 in the collective memory of the German public. There is also some awareness that the revolution eventually led to the election of a National Assembly, which convened at Frankfurt. The installation of a provisional executive branch for the as yet nonexistent “German Empire”, however, is a different story: there is more or less no memory of this first parliamentary government for  Germany in its entirety. Very few are aware that an Austrian archduke, granted the title of “Imperial Regent”, presided over this “Provisional Central Power” for roughly one and a half years, and was thus the first head of a German national government to have been appointed by an elected parliament.

In founding the “Provisional Central Power”, the moderate revolutionary movement incarnated by the Frankfurt National Assembly was attempting to assert its position with respect to the existing governmental power of the more than 30 German states organised in the German Confederation. The Assembly’s claim to the right to do so was based squarely on the doctrine of popular sovereignty, whereas none of the various kingdoms and principalities had moved beyond a liberal constitutionalism that recognised the hereditary right of the legitimate monarch as existing independently of any popular claim to participation.

Besides the Imperial Regent, Archduke John, the Provisional Central Power consisted of an “Imperial Cabinet” with a Prime Minister, ministers leading half a dozen departments, and undersecretaries to assist them. This organisation was modelled on the ministerial governments present in many of the larger German states, and was intended to engage in similar activities. Notably, the Central Power published the “Imperial Laws” passed by the National Assembly and attempted, with varying success, to see to it that they were accepted and enforced by the individual states. It laid claim to leadership in joint military operations, especially the conduct of the war against Denmark over the status of Schleswig and Holstein. By dispatching “Imperial Commissioners” and occasionally by mandating military actions, it intervened to contain revolutionary insurrections in multiple states between September 1848 and May–June 1849. It was charged with the creation of the first German navy, a project which initially stimulated widespread nationalist enthusiasm. Last but not least, it made every effort to mediate the escalating disagreement between the Assembly and the state governments over the acceptance of the German Constitution enacted by the former. In all of these tasks, however, it was hampered at every step by its lack of any sort of administrative apparatus, by its very limited sources of real bargaining power – especially when faced with the two crucial German powers, Prussia and Austria –, and by the refusal of diplomatic recognition from nearly all other European governments. After the gradual dissolution of the Frankfurt Assembly in the spring of 1849, the Provisional Central Power remained in existence until the end of the year and, despite its sorely limited means, played a significant role in the power struggle between Prussia, Austria and the smaller German kingdoms over the constitutional framework for a future German national state.

Archduke John of Austria as Imperial Regent of Germany. Lithograph by J. Kriehuber, 1848

Both the secretariat of the cabinet and the offices of the individual ministries – Foreign Affairs, Interior, Justice, War, Finances, Trade and, eventually, Navy – rapidly devised their own record-keeping procedures. After the dissolution of the Provisional Central Power in December 1849, its archives were handed over to its successor institution, the Federal Central Commission. They were subsequently integrated into the archives of the Federal Assembly (the deliberative body of the reinstated German Confederation); when this in turn was suppressed in 1866, the records entered the Frankfurt Municipal Library, in whose care they remained until the creation in 1925 of a Frankfurt branch of the Imperial Archives (later the Federal Archives of the post-World War II Federal Republic). After the reunification of 1991, this branch was given up and its holdings were transferred first to Koblenz, then in 2010 to the Federal Archives in Berlin. The archives of the Provisional Central Power, totalling some 25 metres of shelf space, are remarkably well preserved and complete despite all these vagaries. In the period after World War II, difficult archival work was undertaken in order to restore them as far as possible to their original order, as set out in the filing instructions of the various ministries. Detailed inventories are a product of this process. Microfilms of the entire archives were made some years ago.

Until 1945, these sources had been almost completely ignored by academic historians. They have since been used somewhat more often, but their potential is far from being exhausted. Notably, there has been no publication of the minutes of the cabinet, while editions of this type have been in progress for decades for the governments of the major German states. Our project aims to close this gap, and thereby not only to cast new light on the role of a hitherto underestimated agency within the revolutionary sequence of events, but also to apply recent approaches from the political and social sciences, and especially a culturalist perspective, to Germany’s first parliamentary government and the ways in which it functioned (or failed to do so). That the Provisional Central Power was called upon to create the institutional infrastructure for its governmental activity more or less out of nothingness – by founding new administrative offices, recruiting personnel and obtaining financial means – provides a highly unusual perspective on the history of the growth of state institutions and bureaucracy, one of the great secular processes of the 19th century.

The goal of our undertaking is to publish the minutes of the 185 sessions of the Central Power’s cabinet in full, and to use them as the backbone of a collection of further documents from the archives of the Provisional Central Power chosen to best illustrate the scope of its activity, the difficulties it faced, and the expedients by which it attempted to surmount them. These additional materials will be presented in the form of summaries of their content. Beyond this, given that administrative documents usually do not record the political background of decisions or the atmosphere within an institution, extracts from the personal papers, letters and memoirs of the members of the cabinet will be incorporated into our publication to supplement the official records. Detailed indexes will facilitate use of the book by researchers and other readers with a variety of different interests. Our particular attention is focussed on the following four topics:

1. The Provisional Central Power’s relationships with the National Assembly on the one hand, and with the governments of the German states on the other hand; its means, methods, and degree of success in asserting itself with respect to either of these.

2. The tension, in the legal framework and the governmental reality of the Central Power, between traditional monarchical constitutionalism and parliamentary government based on popular sovereignty.

3. The institutional and administrative history of the Central Power, with particular attention to its unique challenges in rapidly creating governmental infrastructure.

4. The self-perceptions, motives, decisional processes, and emotional experiences of the members of the cabinet, seen from the perspective of a cultural history of politics; as well as their communicative and performative strategies for representing their activity to various audiences.

Text by Karsten Ruppert and Thomas Stockinger. English translation by Thomas Stockinger.

 

Quelle: http://achtundvierzig.hypotheses.org/155

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Was war die Provisorische Zentralgewalt und warum sollten ihre Akten ediert werden?

Protokoll der 180. Sitzung des Gesamtreichsministeriums
Von Revolutionen bleibt meist dasjenige in Erinnerung, was sich am sichtbarsten aus dem politischen Alltag abhebt: Straßenkämpfe und Barrikaden. So verhält es sich auch mit den Revolutionen von 1848/49 im heutigen kollektiven Gedächtnis der deutschen Öffentlichkeit. Dass die Revolution schließlich zur Wahl einer Nationalversammlung führte, blieb auch noch im Bewusstsein. Anders verhält es sich hingegen mit der Einsetzung einer provisorischen Regierung für das noch nicht als Einheit existierende Reich. Eine Erinnerung an die erste parlamentarische, wenn auch provisorische Zentralgewalt für ganz Deutschland ist kaum vorhanden. Wem ist heute noch bekannt, dass ein österreichischer Erzherzog für rund eineinhalb Jahre als so genannter „Reichsverweser“ dieser Provisorischen Zentralgewalt vorstand und somit als erstes von einem Parlament gewähltes Regierungsoberhaupt über Deutschland fungierte?

Die Provisorische Zentralgewalt war die Exekutive der deutschen verfassunggebenden Nationalversammlung in der Revolution. Mit ihrer Gründung im Juni 1848 hat die im Frankfurter Parlament bereits institutionalisierte Revolutionsbewegung besonders gegenüber den staatlichen Gewalten in den Bundesstaaten ihren politischen Führungsanspruch mit Berufung auf die Volkssouveränität untermauert. Die Zentralgewalt bestand neben dem Reichsverweser Erzherzog Johann aus einem „Gesamt-Reichsministerium“ mit einem Ministerpräsidenten, Ressortministern und Unterstaatssekretären, hatte damit eine an das Vorbild der Ministerialregierungen der größeren deutschen Staaten angelehnte Form und versuchte auch ähnliche Aufgaben und Tätigkeiten wahrzunehmen. Insbesondere sorgte sie für die Publikation der von der Nationalversammlung beschlossenen „Reichsgesetze“ und versuchte deren Durchsetzung in den Einzelstaaten zu erreichen; beanspruchte die Führung gemeinsamer militärischer Operationen, namentlich im Krieg gegen Dänemark um den Status Schleswig-Holsteins; griff durch die Entsendung von „Reichskommissaren“ und fallweise auch den Einsatz von Truppen an den Schauplätzen revolutionärer Erhebungen ein; übernahm die Organisation der ersten deutschen Kriegsmarine, an deren Aufbau sich anfangs verbreitete nationale Begeisterung knüpfte; und versuchte zwischen Nationalversammlung und einzelstaatlichen Regierungen in der Frage der Annahme der von der Ersteren beschlossenen Verfassung zu vermitteln. Allerdings stieß sie wegen ihrer fehlenden beziehungsweise erst im Aufbau befindlichen Ministerialverwaltung, ihrer begrenzten realen machtpolitischen Möglichkeiten gegenüber den entscheidenden Mächten Preußen und Österreich sowie der ausbleibenden diplomatischen Anerkennung durch die außerdeutschen Staaten immer wieder an Grenzen ihrer Wirksamkeit. Nach der sukzessiven Auflösung der Frankfurter Nationalversammlung im Frühjahr 1849 bestand die Provisorische Zentralgewalt noch bis zum Jahresende fort und spielte trotz ihrer beschränkten Mittel eine mitentscheidende Rolle im Machtkampf zwischen Preußen, Österreich und den deutschen Mittelstaaten um die künftige Ausgestaltung des deutschen Nationalstaats.

Sowohl die Kanzlei des Gesamtministeriums als auch die einzelnen Ressorts – auswärtige Angelegenheiten, Inneres, Justiz, Krieg, Finanzen, Handel und Marine – entwickelten rasch eine geordnete Aktenführung und richteten Registraturen ein. Die von ihnen angelegten Akten wurden nach Auflösung der Provisorischen Zentralgewalt im Dezember 1849 von deren Nachfolgerin, der Bundeszentralkommission, übernommen. In der Folge gelangten sie in das Archiv des Bundestags (des Entscheidungsgremiums des Deutschen Bundes) und wurden nach dessen Auflösung 1866 von der Stadtbibliothek Frankfurt am Main verwahrt, bis 1925 eine eigene Außenstelle Frankfurt des Reichsarchivs (später des Bundesarchivs) errichtet wurde. Als diese nach der Wiedervereinigung aufgelassen wurde, gelangten die Bestände zunächst in das Bundesarchiv Koblenz und 2010 schließlich in das Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde. Der Bestand im Ausmaß von insgesamt etwa 25 Laufmetern Archivgut wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in aufwendigen Arbeiten nach dem ursprünglichen Registratursystem der Ministerien geordnet; er ist heute durch detaillierte Findbücher gut erschlossen und wurde vor einigen Jahren vollständig verfilmt.

Diese Quellenbestände sind von der Forschung erst nach dem Zweiten Weltkrieg in nennenswertem Umfang herangezogen worden, ihr Potential ist aber bei weitem nicht ausgeschöpft; insbesondere hat eine Edition der Ministerialprotokolle, wie sie für die Regierungen der größten deutschen Staaten seit längerem betrieben wird, bisher nicht stattgefunden. Die von unserem Projekt angestrebte Fondsedition wird nicht nur den Anteil einer bisher unterschätzten Kraft am Revolutionsgeschehen erhellen, sondern zugleich unter politikwissenschaftlicher Fragestellung Aufschluss über das Funktionieren der ersten parlamentarischen Regierung in Deutschland geben. Immerhin musste die Zentralgewalt aus dem Nichts heraus die Infrastruktur für ihr Regieren schaffen durch die Errichtung von Behörden, die Rekrutierung von Personal und die Sicherstellung der Finanzen – ein bisher kaum beachteter Umstand von besonderem verfassungs- und verwaltungsgeschichtlichem Reiz.

Ziel unseres Unternehmens ist es, die Protokolle der insgesamt 185 Sitzungen des Gesamtministeriums, die einen „roten Faden“ zur Tätigkeit der Zentralgewalt liefern, vollständig im Wortlaut zu edieren; die umfangreichen Aktenbeilagen zu den Protokollen sowie ausgewählte weitere Aktenstücke aus den Registraturen der Ministerien sollen in Regestenform präsentiert werden. Da jedoch amtliches Schriftgut in der Regel nur teilweise den politischen Gehalt von Entscheidungen offenbart und selten Atmosphärisches spiegelt, sollen ergänzend auch die Publikationen und handschriftlichen Nachlässe der Mitglieder des Reichsministeriums ausgewertet werden. Die gesamte Edition wird durch detaillierte Register erschlossen. In Form eines (voraussichtlich mehrbändigen) Lesebuchs zur Organisation und Tätigkeit der Provisorischen Zentralgewalt sollen der Geschichtswissenschaft wertvolle Materialien vor allem im Hinblick auf die folgenden vier Fragenkomplexe leicht verfügbar gemacht werden:

1. Aufarbeitung von Einfluss und machtpolitischen Möglichkeiten der Provisorischen Zentralgewalt gegenüber der Nationalversammlung und den Regierungen der Bundesstaaten.

2. Erschließung der verfassungsgeschichtlichen Funktion und Praxis des im Juni 1848 errichteten Systems als Versuch einer Symbiose des parlamentarischen Regierens mit dem traditionellen Konstitutionalismus.

3. Eine institutionen- wie verwaltungsgeschichtliche Erforschung der politischen Probleme wie praktischen Herausforderungen des Aufbaus einer Regierung aus dem Nichts.

4. Ein mentalitäts- wie kulturgeschichtlicher Ansatz, um das Selbstverständnis der Mitglieder der ersten parlamentarischen Regierung in Deutschland, deren Motive, Formen der Entscheidungsfindung, Perzeption der Handlungsmöglichkeiten wie Außendarstellung offenzulegen.

Text von Karsten Ruppert und Thomas Stockinger

 

Quelle: http://achtundvierzig.hypotheses.org/37

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