Der Wahn vom Wiederholen der Geschichte – Deutschlands Nationalisten 1919-1945
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Waffenstillstandsuntersuchung in Compiègne 1918 |
Den heldenhaften Taten unserer Truppen zu Lande und Wasser wird der volle Sieg beschieden sein. Gebiete von der Größe des Deutschen Reiches sind mit dem Blut unserer Brüder und Söhne gewonnen. An den ehernen Mauern weit in Feindesland wird wie bisher jeder Anprall einer Welt von Feinden zerschellen. Dem bevorstehenden feindlichen Ansturm, in dem Flandern das Losungswort heißt, werden wir standhalten. Unsere U-Boote fügen England, das die ganze Welt gegen uns ins Geld führt, Monat für Monat, unüberwindlich und unabwendbar, einen Schaden zu, den es auf Dauer nicht ertragen wird. Auf das Urteil unserer Heerführer gestützt, erwarten wir mit der unerschütterlichen Zuversicht den vollen Sieg unserer Waffen. Ihm allein werden wir den Frieden verdanken. Bis er eintritt, muss, will und kann unser Volk aller Entbehrungen, aller Schwierigkeiten unserer wirtschaftlichen Lage Herr werden.
Zu Friedensverhandlungen wird Deutschland bereit sein, sobald die Feinde unter uneingeschränktem Verzicht auf ihre Forderungen zwangsweiser Gebietserwerbungen und Entschädigungen sie anbieten. Dann wird es die Aufgabe sein, den Frieden so zu gestalten, dass er Deutschland und seinen Verbündeten Dasein, Zukunft und Entwicklungsfreiheit wirksam sichert. Unsere Grenzmarken müssen für alle Zeiten besser geschützt sein; Ostpreußen darf nicht wieder den Gräueln eines Russeneinfalls ausgesetzt werden. An unseren stets vertretenen Auffassungen über das, was der Friede dem deutschen Vaterlande bringen soll, halten wir auch heute unbeirrt fest.
Durch Verständigung, die allein auf dem guten Willen der Feinde beruht, lassen sich diese Ziele nicht erreichen. Von entscheidender Bedeutung für die Gestaltung des Friedens wird die militärische Lage sein, wie sie sich zur Stunde der Verhandlungen gestaltet haben wird.
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Waffenstillstandsunterzeichnung in Compiègne, 1940 |
In dürren Worten wurde [… ] der Reichsregierung mitgeteilt, dass die OHL, nachdem die Ereignisse in der Heimat dem Heer die Rückensicherung genommen haben, nicht mehr über die Möglichkeit verfüge, die Waffenstillstandsforderungen abzulehnen oder mit der Waffe eine Verbesserung der Lage zu erzwingen. Die Regierung zog die Folgerungen und nahm die Bedingungen an.
Die Heeresleitung stellte sich bewusst auf den Standpunkt, die Verantwortung für den Waffenstillstand und alle späteren Schritte von sich zu weisen. Sie tat dies, streng juristisch gesehen, nur mit bedingtem Recht, aber es kam mir und meinen Mitarbeitern darauf an, die Waffe blank und den Generalstab für die Zukunft unbelastet zu erhalten. Ich bin aber auch heute noch der Überzeugung, dass wir ohne Revolution im Inneren an den Grenzen hätten Widerstand leisten können; ob die Nerven der Heimat noch durchgehalten hätten, erscheint mit sehr zweifelhaft; militärisch war sie denkbar. Zum letzten Kampf braucht man eine Heimat, die hinter dem Heer steht; unter diesen Voraussetzungen konnten wir versuchen, bessere Bedingungen zu erzwingen.
So wie sich aber in Wirklichkeit die Dinge im November gestaltet hatten, war eine Änderung der Lage durch das Heer nicht mehr herbeizuführen. Wenn nach dem Kriege Stimmen laut wurden, die meinten, das Heer hätte sich noch Monate, sei es in der – nicht ausgebauten – Antwerpen-Maas-Stellung, sei es weiter rückwärts, halten können, so muss ich das als Wunschtraum bezeichnen. Es blieb uns keine Wahl: Am 11. Wurde in Compiègne unterzeichnet, mittags 11,55 trat Waffenruhe ein.
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Wilhelm Groener 1928 |
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Kuno von Westarp |
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Verhandlungen in München, 1938 |
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Straße in Berlin, 1945 |
Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2014/03/der-wahn-vom-wiederholen-der-geschichte.html
Vom “Zeitalter der Extreme” zum “Jahrhundert der Chancen”
Der englische Historiker Eric Hobsbawm (1917-2012) hat in den 1990er Jahren zwei Formeln geprägt, um das zerrissene 20. Jahrhundert zu beschreiben: “das Zeitalter der Extreme” und “das kurze 20. Jahrhundert”. Was genau wird mit diesen Formeln beschrieben? Ist die Rede vom “Zeitalter der Extreme” – 20 Jahre nach der Veröffentlichung von Hobsbawms “The Age of Extremes” – überholt? Mit welchen Begriffen lässt sich das 20. Jahrhundert alternativ fassen?
Mit diesen Fragen beginnt und endet das erste MONTAGSRADIO des “Supergedenkjahres” 2014, das auf der 7. Geschichtsmesse in Suhl aufgezeichnet wurde. Im Gespräch mit dem Juristen, Soziologen und Journalisten Dr. Ekkehard Klausa diskutieren Miriam Menzel und Patrick Stegemann darüber hinaus die Bedeutung des 20. Jahrhunderts für nationale und europäische Gründungsmythen und wagen eine Prognose für das 21. Jahrhundert als “Jahrhundert der Chancen”.
Ekkehard Klausa ist u.a. an der Gedenkstätte Deutscher Widerstand und der Freien Universität Berlin tätig. In der Reihe “MONTAGSRADIO – Vor Ort in Suhl”, gefördert von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, werden im Februar und März 2014 drei weitere Gespräche zu diesen Themen veröffentlicht:
Mit der Medienwissenschaftlerin Dr. Anja Hawlitschek und der BStU-Mitarbeiterin Franziska Scheffler sprechen wir über die Digitalisierung der historisch-politischen Bildung in Form von Geocaching, Serious Games, E-Learning-Umgebungen und Co.
Mit dem Regisseur und Schauspieler Stefan Weinert sprechen wir über seinen mittlerweile preisgekrönten Dokumentarfilm “Die Familie”.
Mit Dr. Thomas Schleper, Leiter des Projektverbunds “1914 – Mitten in Europa”, diskutieren wir über neue Zugänge zur “Urkatastrophe” des 20. Jahrhunderts, die Vielfalt der europäischen Erinnerung an den Ersten Weltkrieg und Möglichkeiten der Synthese.
Für einen schnellen Überblick: die Timeline zum Gespräch mit Ekkehard Klausa
00:25 Zum Begriff „Zeitalter der Extreme“
03:10 Die europäische Dimension des „Zeitalters der Extreme“
05:12 Die Verrohung des Geistes am Beginn des „Zeitalters der Extreme“
08:45 Ist das „Zeitalter der Extreme“ vorbei?
12:50 Erinnerung an das “Zeitalter der Extreme”: Mahnung und geistige Integration
15:45 Nationale Gründungsmythen und europäische Erinnerungskultur
18:15 1989/90 & 2004: Happy End des “Zeitalters der Extreme”?
22:00 Alternativen zur Formel “Zeitalter der Extreme”
24:36 Prognose: Das 21. Jahrhundert als “Jahrhundert der Chancen”
26:30 Die “Gedenkstätte Deutscher Widerstand” im Supergedenkjahr 2014
28:30 Der MONTAGSRADIO-Fragebogen
Foto: Ekkehard Klausa zu Gast im MONTAGSRADIO (Kooperative Berlin)
Quelle: http://www.montagsradio.de/2014/02/14/vom-zeitalter-der-extreme-zum-jahrhundert-der-chancen/
aventinus nova Nr. 46 [28.12.2013]: Überlegungen zu Entschädigung und Würdigung jüdischer Veteranen der Roten Armee in Deutschland
Irische Geschichte, Teil 7: The Troubles, 1968-1974
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Bürgerrechts-Mural in der Bogside, Derry |
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Erinnerung an den Marsch auf Derry 1968 |
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Mural für die UVF, Belfast |
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Katholisches Banner in Derry |
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Protestantisches Graffitti in Belfast |
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Polizeikontrolle in Belfast |
Literaturhinweise:
Richard English - Armed Struggle - The history of the IRA
Polizeikontrolle - George Louis (GNU 1.2)
Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2013/12/irische-geschichte-teil-7-troubles-1968.html
aventinus recensio Nr. 40 [30.11.2013]: Tobias Brinkmann: Migration und Transnationalität (=Perspektiven deutsch-jüdischer Geschichte Bd. 3), Paderborn 2012. ISBN 978-3-506-77164-3 [=Skriptum 2 (2012) Nr. 2 — Unveränd. Nachdruck]
aventinus nova Nr. 45 [11.10.2013]: Papst Johannes Paul II. als Außenpolitiker im polnischen Konflikt zwischen Regierung und Arbeiterschaft 1980-1983 [=historia scribere 5 (2013), S. 31-44]
aventinus recensio Nr. 39 [30.09.2013]: Vom Scheitern der Demokratie — Die Pfalz am Ende der Weimarer Republik, hrsg. v. Gerhard Nestler / Stefan Schaupp / Hannes Ziegler, Karlsruhe 2010 [=Skriptum 1 (2011) 2]
Irische Geschichte, Teil 6: Etablierung zweier Irland
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Eamonn de Valera |
In den 1930er Jahren erwuchs ihr jedoch Konkurrenz am rechten Rand. Die "Army Comrades Associaton", die sich bald als "National Guard" taufte und deren Anhänger wegen ihrer Uniformierung "Blauhemden" genannt wurden, versuchten zwar nicht, die Macht auf parlamentarischem Wege zu erobern (wie es Hitlers Nationalsozialisten 1933 tun würden), sondern orientierten sich mehr am Vorbild von Mussolinis italienischen Schwarzhemden. Gleichwohl gefährdeten sie die innere Sicherheit, weil sie sich beständig mit der IRA Scharmützel und offene Straßenschlachten lieferten, was gleichzeitig einen ohnehin vorhandenen Linksruck der IRA beförderte, die man bald nur noch als linksextrimistische Terrororganisation beschreiben konnte (eine Entwicklung, die in Nordirland bereits vorher verlaufen war). Als die Blauhemden 1933 in einer Nachahmung von Mussolinis "Marsch auf Rom" einen erfolglosen Angriff auf die Dáil unternommen, wurde die Organisation von Präsident de Valera verboten. Das Gespenst einer faschistischen Machtübernahme zerstob damit in Irland genausoschnell wie in Großbritannien, wo Mosley mit seiner faschistischen Partei ein ähnlich unrühmliches Ende fand.
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Abzeichen der Blauhemden |
Das sollte sich bald ändern, denn der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs schuf für Großbritannien eine Reihe wesentlich dringenderer Probleme als die irische Politik. Irland erklärte sich für neutral - was viele im Land als wichtigen Schritt zur echten Unabhängigkeit empfanden - arbeitete aber im Geheimen mit den Alliierten zusammen, was so weit ging, dass Pläne für den Fall einer deutschen Invasion ausgearbeitet wurden. In diesem Fall (von der Wehrmacht mit üblich deutscher Kreativität "Fall Grün" getauft) wäre die irische Armee alliiertem Kommando unterstellt worden. Dies stellte für Irland sicher, dass die siegreichen Alliierten das Land nicht als Feind betrachten würden. Die IRA dagegen sah die Ereignisse als Chance, die Briten aus Nordirland zu vertreiben und begann eine neue Terrorkampagne. Sie plante sogar, die Nazis um Hilfe zu bitten, wozu es freilich nie kam. De Valera griff hart durch, internierte alle bekannten IRA-Anführer und hängte diverse Terroristen. Die kurze IRA-Terrorwelle kam damit schnell wieder zum Erliegen, ohne große Auswirkungen zu haben.
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Sitzungssaal des Dàil |
Die irische Wirtschaftspolitik hoher Schutzzölle und des Versuchs des Aufbaus eigener Industrie unter de Valera scheiterte in diesen Jahren jedoch. Obwohl Irland aus dem Zweiten Weltkrieg dank seiner Neutralität mit wesentlich besserer Wirtschaftslage herausgegangen war, stagnierte die Wirtschaft stark, während der Rest Europas einen Aufschwung erlebte. Dies führte 1958 zum Regierungswechsel. De Valera, der seit rund 20 Jahren Regierungschef gewesen war, wurde abgelöst, und mit ihm seine Wirtschaftspolitik. Irland senkte radikal die Zölle, investierte in Infrastruktur und erlebte bald hohe Wachstumsraten, die es an den europäischen Standard aufschließen ließen und die das Land verkrüppelnde Emigrationsraten deutlich senkten.
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Charles de Gaulle |
Eine der wichtigsten Reformen, die Irland in dieser Zeit vornahm, war die Schulgeldfreiheit. Sie gehörte in das größere Bündel der Infrastrukturmaßnahmen, war aber wesentlich mit dafür verantwortlich, dass die Gesellschaft den Sprung von der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft schaffte. Breiten Schichten wurde erstmals der Zugang zu höherer Bildung ermöglicht, was gleichzeitig für eine Bewegung der Bevölkerung sorgte. Viele Menschen begannen vom Land in die Stadt zu ziehen, und das soziale Klima liberalisierte sich (wenngleich die starke katholische Ausrichtung des Landes es im europäischen Vergleich immer noch illiberal erscheinen lässt, besonders in Fragen wie der Abtreibung).
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Parade des Orange Order |
Effektiv befand sich Nordirland von 1925 bis 1965 unter einer kontinuierlichen und ruhigen Kontrolle der Unionisten, die allerdings immer wieder von gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Katholiken und Protestanten kurz erschüttert wurde. Der schlimmste Zusammenstoß dieser Art fand 1935 statt, als der Orange Order bei einem Umzug von seiner Route abwich und durch ein katholisches Viertel zog. Erwartungsgemäß kam es zu einem Ausbruch von Gewalt mit neun Toten und zahlreichen Verletzten, der von der Regierung als Vorwand für Repressalien gegen die Katholiken genutzt wurde. Insgesamt blieb Nordirland ein Pulverfass, das kontinuierlich nicht explodierte. Die Unionisten schienen die Situation im Griff zu haben.
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Parlament in Belfast |
Literaturhinweise:
T. R. Dwyer - Michael Collins
Michael Collins (DVD, Spielfilm)
The Wind that shakes the Barley (DVD, Spielfilm)
Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2013/09/irische-geschichte-teil-6-etablierung.html
Ohne Worte: Der Mittelfinger des Spitzenkandidaten. Zur Gegenwart einer körpergeschichtlichen Praxis der Provokation

Foto: Süddeutsche Zeitung Magazin 2013
Auf dem Cover des Magazins der „Süddeutschen Zeitung“ prangt der Spitzenkandidat der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und streckt dem Betrachter seinen Mittelfinger entgegen. Anlass zu der Geste war die provokative Suggestiv-Frage: „Pannen-Peer, Problem-Peer, Peerlusconi – um nette Spitznamen müssen Sie sich keine Sorgen machen, oder?“1Peer Steinbrück hatte sein Einverständnis zu einem „Interview ohne Worte“ gegeben und Fragen mit Gesten beantwortet — eine typische Magazin-Idee. Das als „Antwort“ auf die zitierte Frage entstandene Foto ist in jenem strengen Schwarz-Weiß gehalten, das normalerweise geeignet wäre, den in dieselben Farben gekleideten Kandidaten in das staatstragende Licht einer Foto-Historisierung zu entrücken. Sein Fingerzeig bewirkte das Gegenteil.
Schon die ersten Kommentare in der Halböffentlichkeit der sozialen Netzwerke zeugten von Erregung. Die obszöne Geste sei „eines Staatsmannes nicht würdig“, schrieb ein Kommentator. Steinbrück habe sein ohnehin berüchtigtes „cholerisches Naturell“ damit abermals unter Beweis gestellt, kommentierte ein anderer. „Steinbrücks Stinkefinger hat die Wahl entschieden“ – zu seinen Ungunsten, prophezeite gar die Zeitung „Die Welt“. Im Internet verbreitete sich das Bild mit der dem Medium eigenen Geschwindigkeit. Nachahmungstäter, darunter der Musikproduzent Tim Renner, fotografierten sich in eben jener “Rowdy-Pose” (“Stuttgarter Zeitung”). Montagen zeigen Steinbrück als E.T., den Außerirdischen mit dem Leuchtfinger, oder reduzierten die ohnehin schon wenig kontroverse Bundestagswahl 2013 auf eine zwischen zwei hohlen Gesten, dem erigierten Finger des Herausforderers und dem fromm wirkenden Merkel’schen Wai:
Sogar die ferne “New York Times” berichtete, traute sich aber nicht, das corpus delicti abzubilden und wich stattdessen auf ein Bild des Steinbrück’schen Zeigefingers aus. Dazu zitierte die NYT den deutschen Minister Philipp Rösler (FDP), der die „gesture“ für „unworthy“ befand. In der puritanisch geprägten Öffentlichkeit der USA ist die phallische Geste weit stärker tabuisiert als hierzulande. Warum aber provoziert die schlichte Handbewegung so sehr? Und in welche Traditionen schreibt sich Steinbrück hier ein? Die Körpergeschichte plädiert seit langem dafür, auch Haltungen und Gesten dieselbe Aufmerksamkeit wie Texten zu schenken. Die Steinbrück’sche Pose scheint ein Paradebeispiel für den Ausdruck einer langen körpergeschichtlichen Tradition der Pop- und Protestgeschichte in der unmittelbaren politischen Gegenwart.
In der universalen Gebärdensprache zur Herabwürdigung von Personen steht die Geste für die wenig freundlichen Worte “f*ck you” und ist daher volkstümlich auch als “Stinkefinger” bekannt. Der wohl bekannteste pophistorische Fall eines öffentlich vorgezeigten Fingers in der Popgeschichte ist der des Country-Sängers Johnny Cash. Gemeinsam mit Carl Perkins, Sleepy LaBeef und nicht zuletzt Elvis Presley war Cash in den fünfziger Jahren im Sun-Studio des Produzenten Sam Phillips bekannt geworden. Wie andere „Classic Rocker“ durchlitt er nach der kurzen Blütezeit des Rock’n’Roll eine weniger erfolgreiche Phase, in der er sich vom Rythm&Blues und Rockabilly auf Country-Musik umorientierte. Nachdem das Establishment der Country-Musik in Nashville ihn Jahre lang als Außenseiter behandelt hatte, “bedankte” sich Cash 1996 nach seinem mit einem Grammy gekrönten Come-Back mit einer ganzseitigen Anzeige im Billboard-Magazine. Darauf ist ein bei seinem berühmten Konzert im Gefängnis von St. Quentin entstandenes Foto zu sehen, dass ihn mit wutentbranntem Gesichtsausdruck und ausgestrecktem Mittelfinger zeigt. Dazu setze sein Management den bitter-ironischen Kommentar: „American Recordings and Johnny Cash would like to acknowledge the Nashville music establishment and country radio for your support.”
Ein aufmerksamkeitsökonomischer PR-Gag seines neuen Produzenten Rick Rubin, den man wohl nur vor dem Hintergrund der Prüderie der amerikanischen Gesellschaft versteht, die Four-Letter-Words mehr zu fürchten scheint, als den Privatbesitz von Schusswaffen. Einige Jahre später folgte der Country-Musiker Willie Nelson nach — indem auch er den Mittelfinger reckte. Als die Bekleidungskette „Urban Outfitters“ unlängst die Fotos von Cash und Nelson auf T-Shirts druckte, kam es zu einem Streit – um das Copyright.
Tatsächlich gehörte die Pose schon länger zum Pop. Der Sex Pistols-Musiker Johnny Rotten hatte sie als typische Handbewegung des Punk bekannt gemacht. Der Gestus gehörte bald zum Standard-Repertoire der Provokations-Kultur und prangte auf Schallplatten- und Fanzine-Covern.
Dass er aber bis heute keineswegs normal ist, bewies erst im Jahr 2012 die Sängerin M.I.A. Als sie gemeinsam mit der 53-jährigen Pop-Ikone Madonna beim Super Bowl in Indianapolis auftrat, zeigte M.I.A. einem Kamera-Mann ihren Finger und erntete dafür prompt einen Sturm der Entrüstung. Der Fernsehsender verpixelte das Bild nachträglich in einem Akt der Zensur und entschuldigte sich bei den Zuschauern, weil es nicht ganz gelang, „die unpassende Geste zu verdecken“. Da half es wenig, dass sich M.I.A. entschuldigend auf die lange Tradition des Punk berief: In den USA ist die sexualisierte Handbewegung noch nicht vorzeigbar.
In Deutschland mag sich dies nun ändern.
„In Gesten und Körperhaltungen, aber auch im Erfahren des Körpers und im Umgang mit ihm kommen [..] Verstehensweisen zum Ausdruck; sie sind geradezu in ihm eingeschrieben“, schreibt Hartmut Rosa.2 Derart verkörpertes Wissen, so der Soziologe im Anschluss an Taylor und Bourdieu, präge unseren Habitus. Inkriminierte Gesten und Körperpraktiken, das lässt sich anhand von vormals als obszön gebrandmarkten Tänzen wie dem Twist studieren, werden meist dann enttabuisiert, wenn sie von prominenten Personen der Zeitgeschichte medienwirksam inszeniert werden. Es mag zunächst schwer fallen, eine habituelle Linie von Johnny Rotten und Johnny Cash über M.I.A. zu Peer Steinbrück zu ziehen. Aus zeithistorischer Perspektive muss man aber wohl oder übel davon ausgehen, dass der deutsche Politiker seinen Körper mit einer einzigen Geste in eine lange popgeschichtliche Tradition eingeschrieben hat. Damit dürfte über kurz oder lang ein weiteres Tabu fallen, das jahrzehntelang zur Provokation taugte. What’s next?
- Süddeutsche Zeitung Magazin Nr. 37 vom 13. Dezember 2013.
- Hartmut Rosa: Identität und kulturelle Praxis. Politische Philosophie nach Charles Taylor, Frankfurt/Main, New York: Campus 1998, S. 147.