Lexikon zur Computergeschichte: PS/2-Schnittstelle

Heute nur noch vereinzelt verwendete Schnittstelle für den Anschluss einer Maus oder eines Keyboards. Die Schnittststelle kam erstmals 1987 mit IBMs Personal System 2 auf den Markt, wobei sich das System nicht durchsetzen konnte. Überbleibsel sind die PS/2-Ports worunter heutzutage umgangssprachlich die Mini-DIN-Stecker für Tastatur und Maus verstanden werden. Sie hatten sich in den 1990er […]

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2013/05/4413/

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Historische Hintergründe zu den heiliggesprochenen “Märtyrern von Otranto” 1480. Interview mit Hubert Houben

Hubert Houben ist Professor an der Universität Lecce und Ehrenbürger von Otranto. Er bereitet ein Buch über den türkischen Überfall auf Otranto 1480 in Geschichte und Mythos vor. Ich bin sehr dankbar, dass er sich kurzfristig bereit fand, mit mir ein Mail-Interview zu dem in Archivalia neulich bereits aufgegriffenen Thema zu führen.

Sie haben Ihre Dissertation in Freiburg im Breisgau über mittelalterliche Handschriften aus der Abtei St. Blasien im Schwarzwald vorgelegt (gedruckt 1979) – wie kommt es, dass Sie heute Experte für die Geschichte der Region Salento sind?

Seitdem ich 1980 mit einem Feodor-Lynen-Forschungsstipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung an die Universität Lecce (jetzt “Università del Salento) kam, und später dann hier Professor für mittelalterliche Geschichte wurde, befasse ich mich – neben anderen Themen wie den Normannen und Staufern oder dem Deutschen Orden im Mittelmeerraum – auch mit der Geschichte Apuliens.

Papst Franziskus hat dieser Tage die 800 Märtyrer von Otranto zur Ehre der Altäre erhoben. Wie bewerten Sie als Historiker die Heiligsprechung?

Die Heiligsprechung ist ein Akt der katholischen Kirche, den ich respektiere.

Können Sie kurz den Forschungsstand zum osmanischen Feldzug 1480 und zu den “Märtyrern” charakterisieren? Ist sehr viel umstritten oder herrscht ein weitgehender Konsens?

Die Fachhistoriker sind sich weitgehend einig darüber, dass es sich um den Versuch handelte, Apulien oder zumindest Südapulien zu erobern, nachdem bereits das auf der anderen Seite der Adria liegende Albanien dem osmanischen Reich einverleibt worden war. Die nur ca. 70 km von der albanischen Hafenstadt Valona (alb. Vlorë) entfernte, ebenfalls am Meer gelegene Stadt Otranto war leicht zu erreichen und nur schwach befestigt. Als die Einwohner das Angebot, sich der Herrschaft der Osmanen zu unterwerfen (nur das, keine Forderung nach Konversion zum Islam!) ablehnten und Widerstand leisteten, wurden nach Eroberung der Stadt ca. 800-900 Männer aus Rache hingerichtet. Dieses Massaker sollte auch die benachbarten Städte so einzuschüchtern, dass sie keinen Widerstand mehr leisteten. Dieses Ziel wurde allerdings verfehlt, denn Lecce und Brindisi ergaben sich nicht und konnten von den osmanischen Truppen nicht erobert werden.

Welche Fakten sind aus Ihrer Sicht hinsichtlich der Eroberung Otrantos unstrittig?

1. Dass das osmanische Heer am 11. August 1480 nach 14tägiger Belagerung die Stadt eroberte, nachdem die Einwohner es abgelehnt hatten, sich zu ergeben.

2. Dass am Tag danach (also am 12. August, und nicht erst am 14. August wie spätere, unverlässige Quellen angeben) ca. 800 oder 900 Männer aus den oben genannten Gründen hingerichtet wurden, während die Frauen und Kinder versklavt und größtenteils nach Konstantinopel verkauft wurden.

3. Dass es ca. 20 wohlhabenden Bürgern gelang der Hinrichtung zu entgehen, indem sie sich durch eine hohe Geldzahlung die Freiheit erkauften. Es wurde also fast ausnahmslos die gesamte männliche Bevölkerung hingerichtet.

Auf welche zeitgenössischen Quellen kann sich eine geschichtswissenschaftliche Rekonstruktion des Geschehens stützen und wie glaubwürdig sind diese?

Botschafter (sog. “oratori”) der italienischen Regionalstaaten (Mailand, Venedig, Ferrara, Florenz, Kirchenstaat), die über ein Netz von Informanten verfügten, haben hunderte von Briefen (sog. “dispacci”) hinterlassen, die viele Details der Eroberung von Otranto, der anschließenden Kämpfe (und Verhandlungen) und der Rückeroberung (nach dem Tod Mehmets II. ergab sich die türkische Besatzung gegen Zusicherung eines ehrenvollen Abzugs) enthalten. Auszüge aus einigen dieser Briefe, die die Eroberung betreffen, wurden bereits 1881 ediert (in der Zeitschrift “Archivio Storico per le Province Napoletane”), andere (über die anschließenden Kämpfe und Verhandlungen) wurden kürzlich veröffentlicht (“Lettere degli ambasciatori estensi …”, 2 Bde., ed. H. Houben, Galatina 2013). Diese Nachrichten können verglichen und kritisch untersucht werden, so dass man sich insgesamt ein gutes Bild von den Ereignissen machen kann. Jede Quelle ist natürlich subjektiv, aber diese Briefe haben den Vorteil, dass die Botschafter versuchten, fast Tag für Tag möglichst frische und “objektive” Informationen an ihre jeweiligen “Staatsoberhäupter” zu übermitteln.

Können Sie auch etwas über Quellen türkischer Provenienz sagen?

Die osmanischen Chronisten berichten relativ wenig über den Otrantofeldzug, da er am Ende mit einem Misserfolg (Abzug 1481) endete. Der einzige türkische Chronist, der dem Otrantofeldzug ein Kapitel widmet, ist Kemalpascha Zāde (gest. 1534), der einige Jahrzehnte nach den Ereignissen schreibt. Er erwähnt das Massaker nur nebenbei und ohne Einzelheiten. In seiner Chronik, die eine Erfolgsgeschichte der osmanischen Sultane ist, heißt es u.a. (ich zitiere die Übersetzung von Klaus Kreiser): “Seine Majestät (Mehmed II. ‘der Eroberer’) befahl seinem Feldherrn und Eroberer Gedik Achmet Pascià, nachdem er Kephalonia und Valona erobert hatte, das Land Apulien zu unterwerfen (…). Er sollte diese Provinz dem Herrschaftsbereich des Islam (dār al-Islām) einfügen und aus ihr die Spur des Unglaubens vertreiben”. Prof. Kreiser bemerkt dazu, dass der Chronist nicht selten eine solch religiöse Motivation für Eroberungen (z. B. auf dem Balkan) benutzt, hinter denen in Wirklichkeit materielle Gründe standen (in: La conquista turca di Otranto …, hg. v. H. Houben, Galatina 2008, Bd. 1 S. 171).

Wie kam es aus Ihrer Sicht zur Entstehung der Tradition von den Märtyrern von Otranto und welchen Zweck hatte ihre Verbreitung?

Bereits kurz nach der christlichen Rückeroberung von Otranto verbreiteten sich Ansätze dieser Tradition in der Stadt und in der Region: die Überlebenden glaubten, die Gefallenen und Hingerichteten seien als Märtyrer für Glauben und Vaterland gestorben. Eine wichtige Rolle bei der Verbreitung dieser Tradition spielte der aus dem Salento stammende Humanist Antonio de Ferrariis († 1517), genannt Galateo (weil er aus einem Ort namens Galàtone, nicht zu verwechseln mit dem benachbarten Galatìna, stammte). Die Könige von Neapel förderten diese Tradition, um sich als Verteidiger des Christentums gegen die Türken zu stilisieren. Die 800 “Märtyrer” wurden zum Symbol der lokalen Identität der Stadt Otranto, die sich als ein Bollwerk des Christentums gegen die Türkengefahr verstand.

Welche Quellen berichten vom umstrittenen “Martyrium” am 14. August 1480 und wie sind diese zu bewerten?

Die Hinrichtung der 800 oder 900 “Märtyrer” wegen ihres Widerstands gegen die Eroberer ist aus den erwähnten Briefen der Botschafter gut belegt. Eine Zeugenbefragung von 1539 (gedruckt 1670) sollte beweisen, dass die 800 getötet wurden, weil sie sich geweigert hatten, den christlichen Glauben zu verleugnen; aus den Aussagen geht indes hervor, dass sie hingerichtet wurden, weil sie sich nicht ergeben hatten. Doch bezeugen diese 59 Jahre nach den Ereignissen gemachten Aussagen auch, dass die Bevölkerung glaubte, dass es sich um “Märtyrer” handele, die für Glauben und Vaterland freudig in den Tod gegangen seien. Einige Zeugen berichten, ein alte Schuster, Meister Grimaldo, habe seine Mitbürger aufgefordert, sich hinrichten zu lassen, da sie dadurch zu Märtyrern würden. Keiner der befragten Zeugen berichtet von einer Aufforderung zur Konversion zum Islam.

Diese taucht erst in einer 1583 gedruckten Geschichte der Ereignisse von 1480-81 auf, die sich als von einem lokalen Priester (Giovanni Michele Marziano) verfasste italienische Übersetzung eines lateinischen Werks des erwähnten Humanisten Galateo ausgibt. Die Forscher sind sich aber seit längerem darüber einig, dass es sich um eine Fiktion handelt und dass der Autor, wohl auch in Kenntnis der Ergebnisse der erwähnten Zeugenbefragung, die Ereignisse ausgeschmückt hat. Bei ihm wird “Meister Grimaldo” zu “Meister Antonio Primaldo” (Primaldo vermutlich weil er als Erster, primus, das Martyrium erlitt). Ferner wird erzählt, dass dieser nach seiner Enthauptung so lange aufrecht stehen geblieben sei, bis der letzte Märtyrer den Tod gefunden hatte. So auch in der angeblich 1537, in Wirklichkeit aber nach 1583 entstandenen Geschichte (“Istoria”) des Giovanni Michele Lagetto (oder Laggetto) aus Otranto, der vorgibt sich auf eine Erzählung seines Vaters zu stützen, der die Ereignisse von 1480 miterlebt habe, was vermutlich eine Fiktion ist. Spätere lokale Geschichten fügen hinzu, dass der türkische Henker sich ob solcher Standhaftigkeit zum Christentum bekehrte und zur Strafe aufgespießt (gepfählt) wurde.

Sind Ihnen denn über diesen Meister Grimaldo, der jetzt als Antonio Primaldo kanonisiert wurde, Quellen aus dem 15. Jahrhundert bekannt?

Nein, aber das ist nicht verwunderlich, denn einfache Leute wie er kommen in den Quellen meist nicht vor. Man kann also nicht nachweisen, dass er existiert hat. Aber auch nicht das Gegenteil.

Vermutlich gab es einen Schustermeister Grimaldo unter den Hingerichteten und vielleicht war er wirklich überzeugt, als Märtyrer zu sterben.

Welche Motive hatte der osmanische Feldzug und wie ordnet sich das Vorgehen der osmanischen Truppen in Otranto in die Kriegsführung der damaligen Zeit ein?

Es handelte sich um einen Eroberungsfeldzug (nicht etwa zur Ausbreitung des Islam – dass im Laufe der Expansion des ottomanischen Reichs ein Teil der Bevölkerung der eroberten Gebiete nach und nach konvertierten, um nicht länger als Untertanen “zweiter Klasse” behandelt zu werden, steht auf einem anderen Blatt). Ein ähnliches Massaker wie 1480 in Otranto richteten die Osmanen 1470 nach der Eroberung der griechischen Insel Euböa (ital. Negroponte und bis dahin im Besitz von Venedig) an. Hier wurden ebenfalls 800 Männer hingerichtet, weil sie sich nicht ergeben hatten (ein ähnlicher Fall ereignete sich wenige Jahre danach bei der Eroberung Albaniens). Die Kriege wurden damals auf beiden Seiten oft mit brutaler Gewalt geführt: So wurde z. B. die besonders grausame Art der Hinrichtung durch Pfählung sowohl auf christlicher als auch auf osmanischer Seite praktiziert.

Vielen Dank für die Antworten!

Erstveröffentlichung in Archivalia.

Quelle: http://frueheneuzeit.hypotheses.org/1417

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Mardi 11 juin à 19h: La fabrique de l’art national au Comptoir des presses, 86 rue Claude Bernard

Fabrique art nationalAprès la vive polémique suscitée par l’exposition De l’Allemagne au musée du Louvre, les éditions de la MSH vous convient à une soirée autour de la parution de Michela Passini:

La fabrique de l’art national.
Le nationalisme et les origines de l’histoire de l’art en France et en Allemagne, 1870-1933.
Michela Passini, éditions MSH, 2012.

Les entretiens du comptoir des presses • 86 rue Claude Bernard • 75005 Paris
19- 21 heures

Mardi 11 juin 2013

a un moment où, depuis environ une décennie, l’histoire de l’art s’attèle, en France, à une révision critique de sa propre histoire, il importe d’étudier de manière globale l’élaboration d’un discours national sur l’art ancien, pour comprendre comment il a affecté les structures mêmes d’une discipline en formation. Corrélativement, il faut s’interroger sur le rôle joué par l’histoire de l’art dans le processus de nationalisation de la culture, aux XIXe et XXe siècles – rôle qui, faute de recherches fondamentales, n’a guère retenu l’attention des historiens des nationalismes. En reconstituant une large série de débats franco-allemands sur l’appartenance nationale de l’art gothique et de la Renaissance, ce travail se veut à la fois une contribution à l’histoire de la construction des identités esthétiques nationales et à une histoire croisée des sciences humaines.

En espérant vous y retrouver nombreux!

Quelle: http://trivium.hypotheses.org/562

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TextGrid-Nutzertreffen: Edieren mit TextGrid

Am 21. und 22. Juni 2013 findet an der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz das nächste TextGrid-Nutzertreffen statt. Der Schwerpunkt dieses Treffens wird das Edieren mit XML in TextGrid sein. Neben einer Einführung zum aktuellen Stand des Projektes werden in Workshops Grundlagen zum Arbeiten mit TextGrid sowie zum Edieren gemäß TEI und MEI vermittelt. Es werden Projekte vorgestellt, die mit TextGrid arbeiten. Auch besteht die Möglichkeit, eigene Projekte, die mit TextGrid in Verbindung stehen, im TextGrid-Café mit einem Poster vorzustellen. Es wird gebeten, sich über das Formular auf

http://www.textgrid.de/community/nutzertreffen-2013/

bis zum 31. Mai anzumelden. Dort finden sich auch weitergehende Informationen.

Progamm am 21. Juni 2013

11:00-11:45: Begrüßung

11:45-12:15: TextGrid: Der aktuelle Stand

12:30-15:30: Projektvorstellungen

16:00-18:00: Workshop „Projektarbeit mit TextGrid“

Programm am 22. Juni 2013

10:00-13:00: Workshop „Einführung in das Edieren mit XML“

10:00-13:00: Workshop „Digitale Musikedition“

14:00-15:00: Abschlussdiskussion

ab 15:00: TextGrid-Café mit Posterpräsentationen

Ankündigungen zu den Workshops

Projektarbeit mit TextGrid

Der Workshop macht mit den grundlegenden Funktionen des TextGrid Laboratories und seiner Oberfläche vertraut. Dabei werden typische Arbeitsabläufe und Fragen behandelt:

  1. Wie werden Projekte angelegt und verwaltet?
  2. Wie vergibt man Rechte an andere Mitarbeiter?
  3. Wie importiere und wie exportiere ich meine Daten?
  4. Wie arbeitet man mit Revisionen?
  5. Was gibt es für TextGrid Objekte und wie verwalte ich sie?
  6. Wie kann ich meine Ergebnisse publizieren?

Einführung in das Edieren mit XML

In der Schulung werden anhand eines konkreten Beispiels einige Grundlagen zum editorischen Arbeiten mit XML nach den Richtlinien der Text Encoding Initiative (TEI) erläutert und geübt. Dabei sollen folgende Fragen behandelt werden:

  1.  Wie kann ich mir die Arbeit mit XML gemäß TEI erleichtern?
  2.  Welche Möglichkeiten gibt es, Texte zu transkribieren und wie kann ich meine Transkription strukturieren?
  3. Wie lassen sich editorische Eingriffe vornehmen und dokumentieren?
  4. Wie lassen sich Schreibprozesse darstellen?
  5. Wie kann ich einen kritischen Apparat erstellen?

Für die Übungen müssen eigene Rechner mitgebracht werden sowie TextGrid und TextGrid-Konten eingerichtet sein. Erste Erfahrungen mit XML sind von Vorteil, aber keine Voraussetzung.

Digitale Musikedition – Einführung in MEI, den MEI Score Editor und die Edirom Tools

Dieser Workshop bietet einen Einblick in grundlegende Arbeitsweisen und entsprechende Software-Werkzeuge für den Bereich der digitalen Musikedition. Dabei steht nicht nur die digitale Publikation, sondern auch die digital unterstützte Editionsarbeit im Mittelpunkt. Zunächst wird das XML-basierte Kodierungsformat MEI vorgestellt, mit dessen Hilfe sich vielfältige Möglichkeiten der Erfassung von Metadaten, kodierter Notentexte und editorischen Annotationen eröffnen. Um die zunächst textlastige Arbeit mit MEI-Daten zu vereinfachen, existiert mit dem MEI Score Editor (MEISE) ein Werkzeug, um in MEI kodierte Notentexte entsprechend bearbeiten und visualisieren zu können. Im Idealfall bilden diese Daten die Grundlage für weitergehende Arbeiten mit den Notentexten, digitalen Quellenfaksimiles und dem Kritischen Apparat, bis hin zur Publikation. Dazu werden die darauf spezialisierten Edirom Tools vorgestellt, die im Rahmen des BMBF-Projekts Freischütz-Digital auch an TextGrid angebunden und dann dort mit zur Verfügung stehen werden. Der Workshop richtet sich hauptsächlich an Personen, die wenig oder keine Erfahrung mit MEI und den genannten Werkzeugen haben. Die Inhalte des Workshops sollen an kleinen Praxisbeispielen jeweils selbst nachvollzogen werden können, weshalb um das Mitbringen eigener Rechner gebeten wird.

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=1685

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Buchbesprechung: HETTINGER, Hermann von Beckerath

HETTINGER, Ulrich: Hermann von Beckerath. Ein preußischer Patriot und rheinischer Liberaler (Krefelder Studien 14), Krefeld 2010.

Wie auf den Seiten dieses Blogs schon mehrfach festgestellt wurde, sind viele Mitglieder des Reichsministeriums von 1848/49 keineswegs gut erforschte Persönlichkeiten. Und auch in den Fällen, wo Publikationen in größerer Zahl vorhanden sind, überwiegen jene älteren Datums, die zwar oftmals wegen der darin abgedruckten Dokumente von großem Wert sind, in Darstellungsweise und Urteil aber kaum den aktuellen Ansprüchen und Standards genügen. Hermann von Beckerath, Reichsfinanzminister von August 1848 bis Mai 1849, bildet eine der wenigen Ausnahmen, indem zu ihm seit kurzem eine neue politische Biographie vorliegt. Es handelt sich um eine überarbeitete Fassung einer 2001 an der Universität zu Köln angenommenen Dissertation.


In seiner Darstellung des bisherigen Forschungsstands weist der Verfasser Ulrich Hettinger zum einen darauf hin, dass sich das biographische Wissen bisher auf zwei Darstellungen stützte, die kurz nach Beckeraths Tod im Jahr 1870 von Personen aus seinem nahen Umfeld veröffentlicht wurden1 und deutlich verklärende Züge aufweisen; die gelegentlichen kleineren Artikel und Notizen späterer Jahrzehnte fügten sachlich kaum etwas hinzu. Zum anderen geht er auf die vorliegende Forschung zu jener politischen Strömung ein, der Beckerath zuzurechnen ist, nämlich dem rheinischen Liberalismus. Zu dieser Bewegung und Gruppierung wie auch zu den wichtigsten Mitstreitern Beckeraths – Ludolf Camphausen, Gustav Mevissen oder David Hansemann – sind erheblich mehr neuere Arbeiten vorhanden als zu Beckerath selbst. Hettinger bemängelt allerdings, dass in beträchtlichen Teilen dieser Literatur zu verkürzten oder einseitigen Würdigungen des rheinischen Liberalismus gelangt worden sei, weil er an den Maßstäben seines meist deutlich radikaleren südwestdeutschen Gegenstücks gemessen wurde. Speziell das abschätzige Urteil von Lothar Gall, der in dieser Strömung nur eine „opportunistische Richtung“2 des deutschen Liberalismus erkennen konnte, die sich vom Gros der Bewegung unvorteilhaft abhob, macht der Verfasser als Anstoss für seine Untersuchung namhaft. Für seinen eigenen Ansatz beruft er sich gegen solche Verkürzungen, die vor allem die „regionalspezifischen sozioökonomischen Erfahrungen der rheinischen Liberalen“ ignorieren, namentlich auf Elisabeth Fehrenbach3 und will nach deren Vorbild „das Denken und Handeln Hermann von Beckeraths im Lichte der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Sonderentwicklung seiner Heimatregion beschreiben“ (S. 12).

Der Hauptteil der Darstellung ist nach üblichem biographischem Format im Wesentlichen chronologisch aufgebaut und gliedert sich nach Lebensphasen und Tätigkeitsbereichen Beckeraths. Die ersten beiden Kapitel „Jugendzeit“ sowie „Sozialer Aufstieg und bürgerliche Lebenswelt in Krefeld“ (S. 13–40, 41–68) sind der Zeit von der Geburt Beckeraths 1801 bis etwa 1840 gewidmet, für welche relativ wenige zeitnahe Zeugnisse vorliegen. Der spätere Bankier und Reichsfinanzminister entstammte einer mennonitischen Handwerkerfamilie in der alten Seidenweberstadt Krefeld. Im Preußischen Landtag sollte er später den berühmt gewordenen Ausspruch tun: „Meine Wiege stand am Webstuhl meines Vaters“ – was vielleicht beengtere Verhältnisse suggerierte, als er tatsächlich erlebt hatte, denn der Vater war Webermeister gewesen, der sechs bis acht Gesellen beschäftigte (S. 17–19); das ändert jedoch nichts daran, dass Beckerath ein klassischer Selfmade-Mann war, der eine früh beendete Schulbildung durch lebenslanges autodidaktisches Studieren kompensierte, vom Lehrling im ersten Krefelder Bankhaus Molenaar rasch zum Geschäftsführer, Teilhaber und schließlich (noch vor seinem vierzigsten Lebensjahr) Gründer seiner eigenen Bank avancierte und seine ersten politischen Ämter mit Dispens wegen noch nicht erreichten Mindestalters antrat. Diesen Lebensweg und die dabei gemachten Erfahrungen setzt Hettinger in Verbindung mit einigen Überzeugungen, die Beckerath später in seiner politischen Wirksamkeit vertrat. Dazu zählt etwa sein fester Glaube an die Verknüpfung von „Bildung und Wohlstand“ (S. 37), der wiederum stark auf seine Einstellungen zum allgemeinen Wahlrecht – das er stets ablehnte – oder zur sozialen Problematik wirkte. Dieser war er sich durchaus bewusst und anerkannte auch, dass keineswegs alle von Armut Betroffenen (gerade in den Krisenjahren ab 1845) diese selbst verschuldet hatten; er wurde auch in seiner Heimatstadt zur Bekämpfung der Not aktiv, gelangte dabei jedoch nicht über konventionelle Mittel der punktuellen karitativen Unterstützung hinaus. Dies lag einerseits an seiner festen Überzeugung, nur durch fortgesetzte industrielle Entwicklung und Hebung des allgemeinen Wohlstands sei der „Pauperismus“ wirksam zu bekämpfen – heute spräche man von der „Trickle down“-These; andererseits hemmten handfeste Sozialängste Beckerath ebenso wie die meisten großbürgerlichen Liberalen, wenn es darum ging, den ärmeren Bevölkerungsschichten politische Handlungsmöglichkeiten oder Mitspracherechte einzuräumen.

Das dritte und vierte Kapitel („Unternehmerische Tätigkeit und regionalwirtschaftliche Ziele“, S. 69–97; „Kommunales Wirken“, S. 99–128) betreffen die Tätigkeitsgebiete Beckeraths außerhalb der „großen“ Politik. Auch hier werden allerdings viele Züge und Zielsetzungen herausgearbeitet, die seine gesamte Aktivität durchziehen. Beckerath setzte seine Hoffnung ganz in die zielgerichtete Förderung der Industrie; er drang immer wieder auf Maßnahmen sowohl von privater wie von staatlicher Seite zur Verbesserung des Kreditwesens und der Investitionsbedingungen und engagierte sich für den Ausbau der Verkehrswege, insbesondere der Eisenbahnen. Der Autor dieser Zeilen erreichte Krefeld jüngst zwecks eines Besuchs im Stadtarchiv über eben jene Strecke von Köln über Neuß (einst Cöln-Crefelder Eisenbahn), auf deren Errichtung Beckerath schon in den 1840er Jahren wiederholt, wenn auch vorerst erfolglos, gedrungen hatte (S. 93–97).

Wie Beckeraths Zukunftsvorstellungen in der Anwendung auf Preußen und Deutschland aussahen, wird im fünften Kapitel (“Ökonomisches Modernisierungskonzept und politische Reformforderungen”, S. 129–156) dargelegt. Die Modernisierungsvision, die ihm vor Augen stand, verschränkte den ökonomischen Aufbau auf das Engste mit den verfassungs- und nationalpolitischen Zielen der Durchsetzung des Konstitutionalismus sowie der deutschen Einheit. In Handelsfragen war Beckerath stets ein überzeugter Anhänger der Schutz- und Differentialzollpolitik; in ihr und im deutschen Zollverein sah er zugleich ein wichtiges Instrument der nationalen Einigung. Der Einfluss der Schriften Friedrich Lists auf diese Vorstellungen wird von Hettinger deutlich herausgestellt; er lässt sich bis zum Nachweis List’scher Schlüsselbegriffe in den Denkschriften und Reden Beckeraths verfolgen (S. 134). Die Umsetzung der von Friedrich Wilhelm III. nach den Napoleonischen Kriegen gegebenen Verfassungsversprechen und somit die gesicherte Partizipation des Bürgertums an der Gesetzgebung über ein periodisch tagendes preußisches Parlament figurierten als nötige Voraussetzungen dieser Ziele – schon deshalb, weil die von hochkonservativen Adels- und Beamtenkreisen dominierte Regierung und ihre Bürokratie Beckerath und seinen Mitstreitern als gänzlich unfähig zur Bewältigung auch nur der dringendsten Aufgaben, geschweige denn zur Verfolgung großer Zukunftsvisionen erschienen. Am monarchischen Prinzip hingegen und an der Dynastie der Hohenzollern, für die er sichtlich eine tiefe Loyalität empfand, scheint Beckerath nie gezweifelt zu haben. Zudem glaubte er unverbrüchlich an die Berufung Preußens, der natürliche Ausgangspunkt und Träger der Vereinigung Deutschlands zu sein.

Die drei letzten Hauptkapitel sind der aktivsten Zeit des Protagonisten in der preußischen Politik gewidmet: Seiner Rolle auf den Rheinischen Provinziallandtagen von 1843 und 1845 sowie auf dem Vereinigten Landtag von 1847 (S. 157–266). Die Gruppe der rheinischen Liberalen, zu deren wichtigeren Exponenten Beckerath zählte, wird hier in ihrem Zusammenkommen, in den innovativen Methoden ihrer politischen Mobilisierung und ihres Mediengebrauchs, in ihrer parlamentarischen Taktik, ihren meist eher publizistischen als faktischen Erfolgen, aber auch in ihren internen Zerwürfnissen und den Grenzen ihrer Kohärenz und Effektivität plastisch geschildert. Neuartig – und für die preußischen Regierungskreise zutiefst beunruhigend – war etwa der gekonnte Gebrauch, den die liberalen Politiker von Petitionen machten; sie verstanden es, im Vorfeld der Landtage konzertierte Wellen von Eingaben zustande zu bringen. Diese stellten nicht nur ihren Rückhalt in der bürgerlichen Öffentlichkeit eindrucksvoll unter Beweis, sondern erlaubten ihnen auch trotz der restriktiven Geschäftsordnung, die Themen der Diskussion in den Versammlungen unter Umgehung der königlichen Propositionen zu bestimmen.

Die Beschlüsse, die auf diesem Wege erreicht wurden, stellten nicht selten kalkulierte Überschreitungen der sehr beschränkten Kompetenzen der Landtage dar. Dennoch ist die Strategie der rheinischen Liberalen im Kern stets eine der Verständigung mit der Krone geblieben. Ihre Bitten und Aufforderungen verbanden sich stets mit demonstrativen Loyalitätsbekundungen, und einen anderen Weg zu politischen Veränderungen scheinen sie nie ernsthaft in Betracht gezogen zu haben – nicht zuletzt aus Furcht vor Revolution und Chaos bei Verlassen dieser Bahn. Beckerath war stets ein besonders entschiedener Verfechter dieser Strategie, der selbst dann, als Mitstreiter angesichts des ausbleibenden Entgegenkommens der Regierung für Obstruktion oder Rückzug plädierten, fast immer bestrebt war, den offenen Bruch zu vermeiden. Beispielsweise zählte er 1847 zu jener Minderheit der liberalen Abgeordneten, die sich an der Wahl des Vereinigten Ständischen Ausschusses beteiligten, obwohl Friedrich Wilhelm IV. auf ihre Forderungen, die Periodizität und die Kompetenzen des Landtags gegenüber diesem Ausschuss sicherzustellen, nicht eingegangen war. Diese Entscheidung war auch vor den eigenen Wählern nicht leicht zu rechtfertigen (S. 254–255).

Auch in anderen Punkten erwies sich die liberale Gruppe als brüchig. Während die meisten ihrer Mitglieder wie Beckerath schutzzöllnerisch dachten, verfocht etwa Camphausen entschieden eine Politik des Freihandels; und auch kleinliche regionale Sonderinteressen, etwa bei der Konkurrenz zwischen verschiedenen Bankplätzen oder Eisenbahnprojekten, hatten öfters eine entzweiende Wirkung auf die überwiegend aus Unternehmern bestehende Gruppierung. Beckerath, der die rechtliche und staatliche Einheit Preußens als Voraussetzung seiner Zukunftsvisionen ansah und daher jeden provinziellen Partikularismus ablehnte, isolierte sich dadurch mitunter von anderen Oppositionspolitikern, die gern gerade auf die Sonderrechte ihrer Provinzen pochten. Einig waren sich die Liberalen allerdings, außer in der grundsätzlichen Stoßrichtung ihrer konstitutionellen Forderungen, vor allem im Hinblick auf den Wunsch nach staatsbürgerlicher Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit. Ein besonderes Anliegen des Mennoniten Beckerath war die Gleichberechtigung der religiösen Minderheiten; mehrere seiner am meisten beachteten Landtagsreden galten der Emanzipation der Juden, die freilich wie fast alle anderen Forderungen angesichts des hartnäckigen Widerstands der Regierung weit weniger vorankam, als er gewünscht hätte.

Mit dem Beginn der Revolution von 1848 schließt der Hauptteil von Hettingers Darstellung; die Tätigkeit Beckeraths sowohl in als auch nach der Revolutionszeit wird nur in einem knappen „Ausblick“ gewürdigt (S. 267–282). Gerade aus der Sicht unseres Projekts ist dies natürlich zu bedauern4. Die Skizze, die Hettinger bietet, deckt sich allerdings mit dem Bild, das auch die Protokolle und Akten der Zentralgewalt sowie die weitere einschlägige Literatur liefern. Beckerath hatte die Revolution von Anfang an als „Katastrophe“ angesehen (S. 269). Die Bildung der Provisorischen Zentralgewalt und die Wahl eines österreichischen Erzherzogs zum Reichsverweser waren ihm alles andere als recht (S. 272); zu seinem Regierungseintritt kam es letztlich vor allem deshalb, weil Camphausen sich zu einem solchen nicht bewegen ließ. Im Rahmen der ohnehin alles andere als radikalen Ministerien Leiningen und Schmerling war Beckerath eine der konservativeren Figuren, und vor allem vertrat er – weit mehr als der preußische General Peucker im Kriegsministerium – die Interessen Preußens. Schon im August 1848 stellte er sich mehrfach gegen die Mehrheit seiner Kollegen, so in der Frage des Huldigungserlasses oder in jener der Verkündung der Reichsgesetze in den Einzelstaaten5. Auch am Ende seines Ministeramtes scherte er aus, denn die ohnehin begrenzte Bereitschaft seiner Kollegen zu Maßnahmen zur Durchsetzung der Reichsverfassung trotz der Ablehnung durch Preußen ging ihm zu weit; den Beschluss der Nationalversammlung zur Ausschreibung von Reichstagswahlen vom 4. Mai 1849 nahm er zum Anlass, als Abgeordneter und Minister zurückzutreten (S. 276), einige Tage bevor dies der Rest des Ministeriums Gagern tat. Seine eigentlichen Kompetenzen als Finanzminister hatte er hingegen durchaus mit Elan wahrgenommen, nicht zuletzt weil die von den Einzelstaaten einzutreibenden Gelder vor allem für den Aufbau der deutschen Kriegsflotte dienen sollten – ein nationales Vorhaben, für das auch Beckerath große Sympathien hegte. Vom preußischen Unionsprojekt (dem sogenannten „Dreikönigsbündnis“) zeigte er sich nach seinem Regierungsaustritt hoch erfreut6 und unterstützte es bis zum endgültigen Scheitern 1850, obwohl die darin enthaltenen verfassungsrechtlichen Pläne weit hinter den liberalen Forderungen zurückblieben; auch die oktroyierte preußische Verfassung und deren revidierte Fassung von 1850 erschienen ihm in Summe eher als wichtige Fortschritte auf dem von ihm gewünschten Weg denn als Enttäuschungen (S. 277–278).

Das Verdienst des konzisen und gut lesbaren Buches von Hettinger liegt vor allem darin, sowohl zum Verständnis der persönlichen Vorstellungswelt und Handlungsweisen Beckeraths als auch zur Deutung des rheinischen Liberalismus insgesamt nicht monokausal auf einen einzigen Faktor zu rekurrieren, sondern verschiedene Elemente und Ebenen zusammenzuführen und ihre wechselseitige Verschränkung verständlich zu machen. Es wird deutlich, dass im Denken Beckeraths sowohl die konkreten ökonomischen Interessen seiner sozialen Gruppe und seiner Region als auch verschiedene Kategorien ideeller Beweggründe ineinandergriffen: ererbter preußischer Patriotismus und dynastische Loyalität, der (mehr über Lektüre und bürgerliche Geselligkeit denn auf schulischem Wege rezipierte) Idealismus und Humanismus seiner Jugendzeit, ein intensives Gefühl nationaler Zugehörigkeit, ein tief verwurzeltes Arbeits- und Pflichtethos (Beckerath scheint seine öffentliche Tätigkeit kaum jemals als angenehm empfunden zu haben). Nicht zuletzt war auch sein religiöses Empfinden für ihn in hohem Maße handlungsleitend. Dabei handelte es sich allerdings um eine universalistisch-überkonfessionelle Verehrung für den ethischen „Geist des Christentums“ (S. 252), die mit kirchlich gebundenem Offenbarungsglauben wenig zu tun hatte.

Durch dieses differenzierte Bild werden auch manche scheinbaren Widersprüche plausibel aufgelöst. Beckerath konnte zugleich die Emanzipation der Juden fordern und von Preußen als „christlichem Staat“ sprechen, weil er damit etwas völlig anderes meinte als die konservativen Erfinder dieser Denkfigur. Er hätte sich selbst als erster dazu bekannt, dass seine konstitutionellen Vorstellungen darauf hinausliefen, den politischen Einfluss der sozialen Formation, der er selbst angehörte, zu stärken; im Gegensatz zu den Konservativen hätte er hierin allerdings keinen selbstsüchtigen Griff nach der Macht gesehen, da ihm die Beteiligung des industriellen Bürgertums am Staatswesen geradezu als Voraussetzung dafür erschien, dass der Staat für das Wohl aller Bevölkerungsschichten sorgen könne. Manches an ihm freilich wird durch nähere Betrachtung um nichts besser verständlich; insbesondere gilt dies für das offenbar unerschütterliche Vertrauen, das er trotz vielfach wiederkehrender Enttäuschungen und selbst schroffer persönlicher Zurückweisungen in die Herrscher aus dem Haus Hohenzollern setzte, erst in Friedrich Wilhelm IV., dann in Wilhelm I. In seinem Nachlass findet sich eine eigene Mappe, die nur der Dokumentation seiner persönlichen Kontakte mit den Mitgliedern des Königshauses gewidmet ist7.

Auch was den rheinischen Liberalismus im Ganzen angeht, erweist sich die differenzierende Sichtweise Hettingers als hilfreich zur Überwindung verkürzender Einschätzungen. Die inhaltliche Mäßigung und der taktische Pragmatismus, welche diese Strömung im Vergleich zu den Liberalen anderer deutscher Regionen kennzeichneten, entsprechen zum einen den besonderen ökonomischen Bedingungen einer Provinz, die sich auf einem deutlich höheren Stand der industriellen Entwicklung befand als fast alle anderen Teile Deutschlands, und dem damit verbundenen Umstand, dass es sich beim politischen Personal der Gruppe überwiegend um Unternehmer handelte – im Gegensatz zu den akademischen oder beamteten Juristen, die andernorts die meisten oppositionellen Politiker stellten. Nicht nur materielle Interessen, sondern auch Ausbildung und Lebenserfahrung bedingten bei ihnen eine andere Herangehensweise. Beckerath war wie die meisten seiner Mitstreiter kein Theoretiker; er hat seine Zukunftsvision nie als kohärentes System in allen Teilen ausformuliert und wäre vermutlich nie auf die Idee gekommen, einen eigenen Entwurf einer deutschen Verfassung aus dem Ärmel zu schütteln, wie dies etwa Robert von Mohl im Frühjahr 1848 innerhalb kürzester Zeit fertigbrachte. Zum anderen muß, wie Hettinger mit Recht hervorhebt, die Behutsamkeit der rheinischen Liberalen und ihr besonderes Festhalten am Verständigungsprinzip auch mit den politischen und rechtlichen Zuständen des verfassungslosen Preußen in Verbindung gebracht werden. Sie konnten sich manches nicht erlauben, was die auf einem vergleichsweise weit festeren konstitutionellen und parlamentarischen Rechtsboden stehenden Oppositionellen etwa in den südwestdeutschen Staaten erprobten. Ohne die Interessengebundenheit der rheinisch-liberalen Politik zu leugnen, werden durch diese Überlegungen so reduktionistische Urteile wie die von Hettinger eingangs zitierten Formulierungen von Gall in wichtigen Punkten nuanciert.

 

  1. KOPSTADT, Hugo: Hermann von Beckerath. Ein Lebensbild, Braunschweig 1875; ONCKEN, Wilhelm: Aus dem Leben und den Papieren Hermann’s von Beckerath, Köln 1873.
  2. GALL, Lothar: Liberalismus und „bürgerliche Gesellschaft“. Zu Charakter und Entwicklung der liberalen Bewegung in Deutschland. In: Historische Zeitschrift 220 (1975) 324–356, hier 349.
  3. FEHRENBACH, Elisabeth: Rheinischer Liberalismus und gesellschaftliche Verfassung. In: SCHIEDER, Wolfgang (Hrsg.): Liberalismus in der Gesellschaft des deutschen Vormärz (Geschichte und Gesellschaft Sonderheft 9), Göttingen 1983, 272–294.
  4. In einer Anmerkung (S. 348) verweist Hettinger darauf, dass diese Periode den Schwerpunkt der älteren Darstellungen (vgl. Anm. 1) bildet. Angesichts der von ihm selbst zur Genüge herausgestellten Schwächen jener Arbeiten ist das nur bedingt überzeugend. Die Beschränkung erfolgte wohl eher aus pragmatischen Gründen, die der beschränkte Rahmen einer Dissertation nahelegte, und ist in dieser Hinsicht legitim; eine Aufarbeitung von Beckeraths Aktivität 1848/49 auf ähnlichem Niveau, wie es Hettinger für die Zeit davor bietet, bleibt aber ein Desiderat, das die älteren Arbeiten keineswegs erfüllen.
  5. BArch DB 52/1 fol. 10–14, Protokoll der 3. Sitzung des Gesamtreichsministeriums, 1848 August 24.
  6. Vgl. insbesondere seine Korrespondenz mit Bassermann und Mathy aus dem Mai und Juni 1849: Stadtarchiv Krefeld, Bestand 40/2, Nr. 5, fol. 18–21, und Nr. 6, fol. 52–67.
  7. Stadtarchiv Krefeld, Bestand 40/2, Nr. 7.

Quelle: http://achtundvierzig.hypotheses.org/217

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Der „Kindertransport“ 1938/39 in zeitgenössischer Perspektive

Vor 75 Jahren verließ der erste „Kindertransport”, ein Zug mit überwiegend jüdischen Kindern aus Deutschland, Tschechien und Österreich, den europäischen Kontinent in Richtung Großbritannien. Anlässlich dieses Jubiläums organisiert das Leo Baeck Institute London ein Symposium unter dem Titel „Forward from the … Weiterlesen

Quelle: http://musermeku.hypotheses.org/144

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Wozu eine wissenschaftliche Fragestellung?

Fragestellung, Forschungsstand und historische Argumentation – oder: warum tun sich viele Geschichtsstudentinnen und -studenten so schwer damit, „richtig“ Geschichtswissenschaft zu betreiben?

Von Christine Roll

Als ich im Februar die Themen für die Examensklausuren formulierte, stieg wieder die Unsicherheit in mir auf, ob wir unsere Studentinnen und Studenten eigentlich gut ausgebildet haben. Werden sie mit der Aufgabenstellung etwas anfangen können? Werden sie in der Lage sein, ihr Wissen als Argument einzusetzen? Oder werden auch dieses Mal wieder viele der Examenskandidatinnen und -kandidaten den gelernten Stoff einfach chronologisch heruntererzählen, ohne die strukturierenden Gesichtspunkte und analytischen Kategorien zu berücksichtigen, die ihnen die Themenstellung anbietet? Und werden sie ihre Klausuren mit einleitenden und abschließenden Reflexionen über das Thema in den Rang einer geschichtswissenschaftlichen Darstellung heben oder werden sie auf dem Niveau eines Schulaufsatzes bleiben?

Ähnliche Überlegungen gehen mir auch dann durch den Kopf, wenn ich die Seminararbeiten eines vergangenen Semesters korrigiere. Natürlich habe ich viel Freude an den gelungenen und klugen studentischen Arbeiten; aber in etwa der Hälfte der Gutachten, die ich zu jeder Hausarbeit formuliere, steht im Grunde dasselbe: „Gute Kenntnisse im Detail, auch recht gute Ideen, aber es fehlt ein Forschungsbericht; folglich fehlt auch die Herleitung der Fragestellung aus der Forschungssituation. Zudem wird die Fragestellung nicht konsequent durchgehalten“. Eine so begutachtete Arbeit kann dann nicht besser als mit „3“ bewertet werden, meistens steht leider sogar eine schlechtere Note darunter.

Solche Ergebnisse sind für die Studierenden wie für mich gleichermaßen unbefriedigend. Auch Kolleginnen und Kollegen klagen über diese Schwächen bei ihren Studentinnen und Studenten. Diese wiederum scheinen oftmals gar nicht zu verstehen, „was sie da falsch gemacht“ und warum sie keine bessere Note bekommen haben. Angesichts dessen erscheint es mir lohnend, grundsätzlich darüber nachzudenken, warum sich Studierende so schwer damit tun, ihre Ausführungen an einer leitenden Fragestellung zu orientieren, einen Forschungsbericht zum Thema ihrer Arbeit zu verfassen, einen Zusammenhang zwischen dem Forschungsstand und der eigenen Fragestellung herzustellen und eine schlüssige geschichtswissenschaftliche Argumentation aufzubauen. Zudem handelt es sich keineswegs um eine neue Beobachtung: Ich kann mich gut an entsprechende Klagen meines Konstanzer Doktorvaters aus den 1980er und 1990er Jahren erinnern. Immerhin dürften die Fähigkeiten der Studierenden seither nur graduell schlechter geworden sein; hier muss also nicht der Untergang des Abendlandes herbei geredet werden. Aber nach wie vor gibt es zu viele lausige Historiker/innen und Geschichtslehrer/innen, ein Ende des Teufelskreises ist also nicht zu erkennen. Woher rühren also diese Schwierigkeiten mit der Geschichte als Wissenschaft? Vier Thesen stelle ich zur Diskussion.

1. Untaugliche akademische Lehrer, studentische Lebenshektik und pädagogikfeindliche Studienordnungen – die Missstände des Studienalltags

Wir wissen es alle: Bis heute gibt es in Deutschland Historische Institute, an denen Studierende ihr Geschichtsexamen ablegen können, ohne je mit dem Anspruch auf Fragestellung und Forschungskontext konfrontiert worden zu sein; leider ist ja sogar in Publikationen von Professorinnen und Professoren haltloser Enzyklopädismus anzutreffen; von solchen Kolleginnen und Kollegen kann folglich „richtige“ Geschichtswissenschaft nicht gelernt werden.

Zugleich unterliegen die Studierenden einer neuartigen Lebenshektik: Gesellschaftlicher Jugendwahn, die Ökonomisierung der Universitäten zu einem geradezu akademischen Kapitalismus1 und die neuen Studiengänge suggerieren den jungen Leuten, „fertig werden“ mit dem Studium sei wichtiger als gut ausgebildet zu sein. Und die Lehramtsstudiengänge mit Modulprüfungen auch im Staatsexamen (wie sie in NRW zwar bald auslaufen, aber noch üblich sind) senden ganz falsche Signale: Sie fordern die Studierenden auf, möglichst bald Teilprüfungen abzulegen – und eben auch Examensklausuren zu schreiben –, und zwar schon bevor sämtliche Seminare absolviert, bevor also auch die entsprechenden Hausarbeiten geschrieben sind! Die Verfasser/innen der Prüfungsordnung haben offenbar gemeint, dass die Studierenden lediglich etwas über die Frühe Neuzeit lernen, wenn sie eine Hausarbeit über Luther schreiben; dabei lernen sie doch ebenfalls, wie man Hausarbeiten schreibt, wie man historisch argumentiert! Wenn sie die anderen Examensteile bereits abgeschlossen haben, können sie diese Fertigkeit aber gar nicht mehr anwenden – weshalb sie ggf. sogar wieder verloren geht! Und die neuen Bachelor- und Masterstudiengänge zwingen die Studierenden, ihre Seminararbeiten drei Wochen nach Semesterende abzugeben. Wir Lehrende wiederum können die Arbeiten nur noch benoten, wir dürfen aber nicht, jedenfalls nicht offiziell, Korrekturen einfordern, Korrekturen, mit denen die Studierenden zeigen könnten, das sie aus ihren Fehlern gelernt haben. Wie soll sich unter diesen Bedingungen das gerade für das Argumentieren so wichtige implizite Wissen in den studentischen Köpfen anreichern?

2. Wikipedisierung der Geschichtswissenschaft? Die Ordnungen des Wissens und die Unordnung im Internet

Was macht das Internet, was macht Wikipedia mit unserem Fach? Ich werde nicht müde zu betonen: Wikipedia wird immer besser! Wikipedia bietet schnell – zumeist – verlässliche Informationen, auf die auch ich gar nicht mehr verzichten könnte. Wikipedia entwickelt auch Gesichtspunkte – und immer bessere Gesichtspunkte –, nach denen der Stoff geordnet wird, aber, Johan Schloeman hat unlängst darauf hingewiesen: Die Gliederung von Online-Ressourcen greift in die Ordnung des Wissens ein.2 Ob wir uns dessen immer bewusst sind? Denn Google-Funde sind nicht schon Geschichtswissenschaft! Denn es geht um Kategorien und um Problemorientierung statt um Vollständigkeit und um die Reflexion des Erkenntnisfortschritts – für den Einzelnen und für die Wissenschaft! Hier bleibt online noch viel zu tun.

3. „Bin ich denn Teil der Forschung?“ Ein Problem des studentischen Selbstverständnisses

Warum fühlen sich Studierende aber so selten als Teil eines Forschungsdiskurses? Oft fällt mir in der Sprechstunde eine übertriebene Ehrfurcht vor der Forschungsliteratur auf: „Ich bin doch nur ein kleines studentisches Licht! Ich kann doch dazu keine Position beziehen…“. Doch, gerade Du! Auch „du als Studi“ gewinnst in der Auseinandersetzung mit Texten, also mit Forschungsliteratur und Quellen, neue Einsichten. Du gewinnst diese Erkenntnisse zunächst nur für Dich, denn Du als Individuum betreibst Geschichtswissenschaft, interessierst Dich, willst etwas wissen, etwas zeigen und reflektierst kritisch andere Forschungspositionen – genau dadurch wirst Du Teil des Forschungsdiskurses!“
Nach meiner Einschätzung müsste sich diese Scheu der Studierenden durch die Mitarbeit an Wissenschaftsblogs reduzieren lassen, das käme den Studierenden zugute und täte auch den Blogs gut, denn in Blogs zählt, wie in der „richtigen“ Wissenschaft, die eigene, gut begründete Stellungnahme, die eigene, mutig vorgetragene These. Gute Geschichtswissenschaft kann man nämlich nur betreiben, wenn man sich selbst und seine eigenen Fragen an die Vergangenheit ernst nimmt und für wichtig hält.

4. Schließlich: die erkenntnistheoretische Herausforderung einer eigenen Fragestellung

Das vermutlich am tiefsten sitzende Problem vieler Studierender – und zugleich das ihnen am wenigsten bewusste – ist die Ahnung, ja: die Befürchtung, dass sich durch eine eigene Fragestellung das eigene Geschichtsbild ändern wird. Mit der eigenen Fragestellung nimmt man eine eigene Perspektive auf das Geschehen ein – mit der „Gefahr“ des Aufbrechens des eigenen Vorverständnisses! Aber nur, wenn man dieses Risiko auf sich nimmt, kommt man weiter. Denn dieses Risiko verweist auf die erkenntnistheoretische Grundlage unseres Fachs, auf den Konstruktionscharakter von Geschichte: „Geschichte ist stets das, was ein geschichtskonstruktivistisches Subjekt zu ihr macht“.3 Darin besteht der einzigartige Reiz der Geschichtswissenschaft.
Die beste Versicherung gegen zu viel Risiko ist übrigens wiederum die eigene Fragestellung! Der Historiker/die Historikerin erlangt Sicherheit im Umgang mit der Fülle an Empirie allein durch die Methode, durch das historische Handwerk: Fragestellung, Forschungsstand, These, Argumente und Begründungen, Ergebnisse, deren Einordnung in die Forschung – diese Arbeitsschritte sind Voraussetzung dafür, dass aus ungeordneten Mengen von Informationen „richtige Geschichtswissenschaft“ werden kann. Haben Sie also Mut, sich zu Wundern! Erstaunen – sei es über die Formulierung in einer Quelle, sei es über die Äußerung eines Historikers – ist eine wichtige Voraussetzung für Geschichtswissenschaft! Es kommt auf Sie an! „Der Kern wissenschaftlichen Arbeitens sind nicht Gänsefüßchen; es geht darum, ob das eigene Denken Hand, Fuß und Substanz hat“.4

Übrigens: unter den sieben Staatsexamensklausuren, für die ich im Februar die Themen formuliert habe, waren zwei richtig gut. Nur zwei. Die anderen haben die Fragestellung ignoriert, nicht argumentiert und folglich keine eigenen Ergebnisse gewonnen. Geschichtswissenschaft aber ist Argument – oder sie ist nicht.

  1. Vgl. etwa Richard Münch: Akademischer Kapitalismus. Über die politische Ökonomie der Hochschulreform, Berlin 2011.
  2. Johan Schloemann, „Server oder Sammelband“, Süddeutsche Zeitung, 4. Februar 2013, Feuilleton.
  3. Das beste Buch über die Geschichte der Historiographie, das mir seit langem untergekommen ist: Daniel Fulda, Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760-1860, Berlin etc. 1996, das Zitat auf S. 274.
  4. Heribert Prantl, „Belehrte Unwissenheit“, Der Fall Schavan, Kommentar in der Süddeutschen Zeitung vom 7.2.2013.

Quelle: http://frueheneuzeit.hypotheses.org/1408

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Bericht zum Vortrag von Marie Bouhaïk-Gironès zum spätmittelalterlichen Theater

Am Montag den 15.04.2013 füllte sich um 18 Uhr der Raum 104 des Fürstenberghauses mit Studenten, Mitarbeitern und Professoren, um Marie Bouhaïk-Gironès‘ Gastvortrag mit dem Titel „Pour une histoire sociale du théâtre à la fin du Moyen Age. Acteurs et pratiques“ zu hören. Stellvertretend für das versammelte Plenum begrüßte der Veranstalter der Vortragsreihe „La jeune génération des médievistes français invitée á Münster“, Jun.-Prof. Dr. Torsten Hiltmann, die Mediävistin aus Frankreich. Nach einem kurzen Verweis auf den akademischen Werdegang und die aktuelle Beschäftigung des Gastes als Forscherin am Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS), worin sich ihre besondere Qualität widerspiegle, wurde das Wort der Referentin gegeben.

Zu Beginn ihres Vortrags stellte Frau Bouhaïk-Gironès in knappen Worten ihr Forschungsprojekt vor, das den kontextuellen Rahmen ihres Vortragsthemas bildete. Innerhalb dieses Projektes, das auf eine vorausgehende fünfzehnjährige Auseinandersetzung mit dem Thema rekurriere, soll das mittelalterliche Theater als Schaffensprozess und berufliche Tätigkeit in den Blick genommen werden, wobei der Fokus gleichermaßen auf den Akteuren und den Praktiken liegt. Das mittelalterliche Theater sei, wenngleich nicht im ‚modernen Verständnis‘, durchaus als professionelle Tätigkeit zu begreifen – eine professionelle Tätigkeit im Sinne eines „savoir faire“ beruflicher Organisation. Dies umfasse gleichermaßen die Bildung, die Reglementierung, den Status und die Normen einerseits sowie den kreativen Schaffensprozess der Textproduktion und Inszenierung andererseits. Bouhaïk-Gironès’ erweiterter Zugang richtet sich damit gegen ein literarisch-reduktionistisches Verständnis von mittelalterlichem Theater – ein Verständnis, das dieses mit einem literarischen Genre gleichsetze. Trotz regen Forschungsinteresses am mittelalterlichen Theater bilde dieser Zugang ein Novum in der Theaterforschung. Der evolutionistische und ereignisgeschichtliche Ansatz in der Betrachtung der Geschichte des Theaters, wie er bisher vorgeherrscht habe, sei zu dichotomisch und verstelle den Blick auf das Untersuchungsobjekt als ein dem Wandel unterliegendes Kontinuum.

Um diese These zu verdeutlichen nahm sie konkreten Bezug auf die Frage nach dem Prozess der Professionalisierung der Akteure, dessen Beginn traditionell im Italien des 16. Jahrhunderts zu datieren sei. Folge man diesem bisherigen national- und ereignisgeschichtlichen Betrachtungsschema, belegten zwei kürzlich gefundene Quellen, dass man den Beginn der Professionalisierung ins Frankreich des 15. Jahrhunderts legen müsse, was die Referentin allerdings nicht intendiere. Bei den Quellen, die der Gast dem Plenum in transkribierter Form als Handouts und als projizierte Photographie des Originals zur vor Augen führte, handelt es sich um zwei notarielle Verträge aus den Jahren 1486 und 1500, in denen sich Schauspieler verpflichteten, in einem festgelegten Zeitraum ausschließlich gemeinsam Aufführungen zu gestalten und sowohl deren etwaige Gewinne wie deren Risiken zu vergemeinschaften. Mit diesen Quellen verband Frau Bouhaïk-Gironès nicht das Ziel, eine frühere Professionalisierung als bisher angenommen nachzuweisen, sondern das dyadische Verständnis von vormodernen Amateurschauspielern und modernen Profischauspielern zu hinterfragen und zu überwinden.

Dies werfe zweifellos die Frage auf, was unter Professionalität zu verstehen sei. Als Basis für die Beantwortung dieser Frage, bedient sich Frau Bouhaïk-Gironès eines achtteiligen Kriterienkatalogs der „sociologie de l’art“ (Kunstsoziologie). Innerhalb dieser Kriterien sind insbesondere Eigen- und Fremdzuschreibungen eines Künstlerstatus der Schauspieler sowie die offizielle Institutionalisierung des Theaterbetriebes hervorgehobene Komponenten. Dieser Kriterienkatalog könne die Matrix bilden, um die ‚vormoderne‘ Schauspielerprofessionalität einzuordnen und Wandel wie Verschiebungen innerhalb des Kontinuums Theater aufzuzeigen.

In der sich anschließenden Diskussion wurde zum einen nach der Theaterpraxis in verschiedenen Kontexten (Herrschereinzug, Passionsspiel etc.) gefragt. So wurden z.B. die Bühnenkonstruktionen im öffentlichen Raum thematisiert, die sich – wie die Referentin erklärte – zu Reisezwecken durch ihre Mobilität auszeichneten. Ferner stellte Frau Elise Wintz die Frage nach der Präsenz von Tieren in Inszenierungen und ob es sich um Attrappen oder Lebewesen handelte. Eine Antwort hierauf falle schwer, da es diesbezüglich zu wenige Quellenbelege gebe. Zum anderen war das Prestige oder die etwaige Stigmatisierung der Theaterbetreibenden in der betrachteten Zeit von Interesse. Frau Bouhaïk-Gironès führte aus, dass es sowohl eine tendenzielle Wertschätzung der Öffentlichkeit gegenüber den Schauspielern als auch eine Konkurrenzsituation innerhalb der Gemeinsaft der Theatertreibenden bestand. Auch die Haltung der Kirche gegenüber dem Theater wurde in der Diskussion thematisiert, wobei der Gast vor allem auf die mechanische Wiederholung der Ächtung von Seiten der Religion verwies, die jedoch keinen Bezug zur Lebenswirklichkeit mehr gehabt habe. Auch der Inhalt und die Repräsentativität der vorgestellten Quellen wurde näher diskutiert, die – laut Frau Bouhaïk-Gironès – hoch einzuschätzen sei. Herr Prof. Dr. Martin Kintzinger, interessierte sich ferner für den schwer zu beantwortenden Aspekt, ob die Existenz diese Quellen bezeuge, dass es sich bei dem Zusammenschluss um ein Novum des mittelalterlichen Theaters handle, oder ob diese nur als Beleg erster ‚Krisen‘ einer gängigen Praxis dienen können.

Alles in allem demonstrierte das Plenum reges Interesse an den Forschungen von Frau Bouhaïk-Gironès und an der Thematik im Allgemeinen.

Quelle: http://jeunegen.hypotheses.org/775

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