Der 27. Januar als weltweiter Holocaust-Gedenktag

Bild: Angelika Schoder
Seit 1996 ist der “Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus” in Deutschland ein gesetzlich verankerter Gedenktag und damit fester Bestandteil der nationalen Erinnerungskultur. Im Jahr 2005 führten Beschlüsse des EU-Parlaments sowie der UN-Generalversammlung dazu, dass der 27. Januar auch zu einem internationalen Gedenktag avancierte.

Anlässlich des 60. Jahrestages der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee im Jahr 1945 verabschiedete das Parlament der Europäischen Union (EU) einen Beschluss zum Holocaust-Gedenken. Mit dieser „Entschließung zum Gedenken an den Holocaust sowie zu Antisemitismus und Rassismus“ vom 27. Januar 2005 wurden alle EU-Mitgliedsstaaten dazu aufgefordert,

„jegliche Form von Intoleranz und Aufwiegelung zum Rassenhass sowie alle Belästigungen und rassistischen Gewalttaten zu verurteilen […] insbesondere alle Gewalttaten, die aus Hass oder Intoleranz gegenüber anderen Religionen oder Rassen begangen werden“.[1]

Eine Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen, die in der Zeit zwischen 1933 und 1945 verübt wurden, sollte dazu beitragen, die Gesellschaft gegenüber Intoleranz, Diskriminierung und Rassismus zu sensibilisieren. Aus diesem Grund sei es sinnvoll, so das EU-Parlament, dass insbesondere junge Menschen zur Auseinandersetzung mit der Geschichte des Holocaust angeregt werden. Als wichtiger Beitrag hierzu wurde, neben der Errichtung von Gedenk- und Bildungsorten und der Thematisierung des Holocaust in schulischen Lehrplänen, die Begehung des 27. Januar als „europäischem Holocaustgedenktag“ angesehen.

Dass der Holocaust auch außerhalb Europas zu einem moralischen Maßstab avancierte, welcher nationale historische Erinnerungskulturen hinter sich lässt, um gemeinsame transnationale Bezüge herzustellen, zeigte sich am 1. November 2005, als die Generalversammlung der Vereinten Nationen (United Nations – UN) mit der Verabschiedung der Resolution 60/7 den Gedenktag des 27. Januar zum „International Day of Commemoration in Memory of the Victims of the Holocaust” erklärte.[2]

Die Resolution war nicht nur darauf ausgerichtet, das Datum des 27. Januar als weltweiten Holocaust-Gedenktag zu proklamieren, sondern sollte in den UN-Mitgliedsstaaten auch die Entwicklung pädagogischer Programme anregen, welche die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus für folgende Generation wach halten und gleichzeitig auch auf gegenwärtige Verbrechen gegen die Menschlichkeit verweisen sollten. Darüber hinaus sprach sich die UN in der Resolution ausdrücklich gegen die Leugnung des Holocaust sowie gegen jede Form von Intoleranz, Volksverhetzung und Bedrohung oder Gewalt gegenüber Personen oder ethnischen bzw. religiösen Gruppen aus.[3]

Der Resolutionsentwurf, welcher durch den israelischen Repräsentanten Dan Gillerman vorgebracht worden war, wurde von 104 Mitgliedsstaaten der UN, vom Generalsekretär, vom Unter-Generalsekretär für Kommunikation und Öffentliche Information sowie vom Präsidenten der Generalversammlung unterstützt. Das weit über die europäischen Grenzen hinaus reichende Interesse an der Thematik zeigte sich auch darin, dass Repräsentanten aus allen fünf Kontinenten zu den Unterstützern des Resolutionsentwurfs zählten – unter ihnen auch Länder, die selbst unter den Folgen von Bürgerkriegen oder Völkermord leiden oder sich bis heute mit Vorwürfen zur Verletzung von Menschenrechten auseinandersetzen müssen, wie Liberia, Sierra Leone oder Uganda.[4]

Sowohl der Beschluss des EU-Parlaments als auch die UN-Resolution zum Holocaust-Gedenken können als Versuche gesehen werden, eine Holocaust-orientierte Erinnerungskultur auf transnationaler Ebene zu etablieren, in der nationalspezifische Gedenkmechanismen und länderübergreifende Interpretationsschemata zusammenwirken. Die nationalsozialistischen Verbrechen werden schließlich heute nicht mehr nur von den „Tätern“ und „Opfern“ erinnert, sondern zunehmend auch von Nationen, welche nicht direkt von den Ereignissen betroffen waren. Der Holocaust scheint somit über seinen (west-)europäischen Bezug hinaus zu einem allgemeingültigen moralischen Bezugspunkt geworden zu sein.

Bei dem Blog-Beitrag handelt es sich um einen Auszug aus meinem Essay, der im Mai 2012 im Themenportal Europäische Geschichte erschien. (Angelika Schoder: Die Globalisierung des Holocaust-Gedenkens. Die UN-Resolution 60/7 (2005). In: Themenportal Europäische Geschichte, 2012.)

[1] Europäisches Parlament: Entschließung des Europäischen Parlaments zum Gedenken an den Holocaust sowie zu Antisemitismus und Rassismus: P6_TA[2005]0018, 27. Januar 2005, Abschnitt F.2.

[2] Vereinte Nationen: Resolutionen und Beschlüsse der sechzigsten Tagung der Generalversammlung, Band I: Resolutionen 13. September – 23. Dezember 2005. Offizielles Protokoll, Sechzigste Tagung, Beilage 49 [A/60/49], S. 34f.

[3] Dazu auch: United Nations: Resolution Adopted by the General Assembly, 61/255, Holocaust Denial. 85th Plenary Meeting, 26 January 2007.

[4] United Nations General Assembly [GA/10413]: Sixtieth General Assembly Plenary 42nd Meeting, 1.11.2005. General Assembly Decides To Designate 27 January As Annual International Day Of Commemoration To Honour Holocaust Victims.

Foto: Candles II (Angelika Schoder, 2013)

Quelle: http://musermeku.hypotheses.org/24

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“Gerhard Richter Painting” auf arte online sehen

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Corinna Belz besuchte Gerhard Richter 2009 mit der Kamera in seinem Atelier und durfte dem Maler bei der Entstehung zweier Abstrakter Bilder über die Schulter schauen. Entstanden ist ein filmisches Portrait des Künstlers, der an seinen Bildern ebenso zweifelt wie an der Kraft des gesprochenen Wortes, denn „Über Malerei zu reden ist ja nicht nur sehr schwierig, sondern vielleicht sogar sinnlos, weil man immer nur das in Worte fassen kann, was in Worte zu fassen geht, was mit der Sprache möglich ist und damit hat ja eigentlich Malerei nichts zu tun.“ (Gerhard Richter 1966)

Die zurückhaltende Darstellung des Künstlers wurde 2012 zum besten Dokumentar-

film gekürt und erhielt den Deutschen Filmpreis. Seitdem wird er international zu verschiedenen Anlässen gezeigt.

Am 17. April 2013 strahlte arte den Film “Gerhard Richter. Painting” aus. Er ist noch bis zum 24. April 2013 online verfügbar.

 

 

Über die Entstehung des Films und die Zusammenarbeit mit dem Maler berichtet die Dokumentarfilmerin Corinna Belz in einem Interview. Der Film ist natürlich im Handel für 17,90 € erhältlich.

 

 

Quelle: http://gra.hypotheses.org/695

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Straßengeschichte 1: Die Triesterstraße

Das neue Buch von Beppo Beyerl behandelt die Triesterstraße:

Beyerl, Beppo: Die Straße mit 7 Namen. Von Wien nach Triest. Wien: Löcker, 2013. ISBN 978-3-85409-650-4, € 19,80 [Verlags-Info]

Beppo Beyerl erwandert die Triesterstraße: Auf der "17-er", im Zug oder zu Fuß und stößt dabei auf demolierte Industrieanlagen, geschlossene Bahnhöfe, verwahrloste Wirtshäuser.
Wien und Triest, das war die vitale Achse der Monarchie, seit die Stadt an der Adria unter Karl VI. zum Freihafen wurde. Dabei wurden nicht nur Waren transportiert, nein, genauso wichtig waren Hoffnungen, Illusionen und eine ordentliche Portion an Mediterranophilie, die sich auf die große Reise über den Semmering und über den Karst machten.
Doch auf der Strecke von Wien nach Triest findet Beppo Beyerl zwischendurch in einem Brückenpfeiler eine Südbahn-Vinothek, er spürt den Texten von Ivan Cankar nach, der an der Triesterstraße aufgewachsen war, und er besucht am Ende der alten Kaiserstraße in Triest die Gefängniszelle von Wilhelm Oberdan, der als Guglielmo Oberdan den alten Kaiser umbringen wollte.

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/342800645/

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Das richtige Leben, umgeben vom Falschen? Religion zwischen Totalität und Relativierung

Frankreich im Jahr 1537. Zwar sind manche Gegenden noch fast unberührt von evangelischen Gruppierungen und Praktiken.1 Dennoch braut sich etwas zusammen. Flugschriften zirkulieren, vor allem in den Städten.2 Unbekannte Bilderstürmer zerstören in einer Nacht des Jahres 1528 eine Marienstatue in Paris. König Franz I. hält wenige Tages später eine monumentale Resakralisierungs-Prozession ab und stellt eine neue Figur an die Stelle der zerstörten alten.3 Auch in Rouen finden Prozessionen gegen die neue “Häresie” statt.4 Immer wieder tauchen Wanderprediger auf, ziehen die Massen an und polarisieren. Spätestens seit der Plakataffäre 1534 werden die alten Messpraktiken zu einem Unterscheidungsmerkmal für die auseinanderfallenden religiösen Zugehörigkeiten.5 Das religöse Feld in Frankreich pluralisiert sich, der Raum der Möglichkeiten öffnet sich dramatisch und in wiedersprüchliche Richtungen. Natürlich gibt dabei keine der entstehenden Glaubensgruppen ihren exklusiven Wahrheitsanspruch auf. Für sie kann jeweils nur ein Weg, nämlich der ihre, der allein seligmachende sein. Schließlich geht es um das Innerste, das Ewige, die letzte Wahrheit, die Erklärung der Welt… Himmel oder Hölle. Wie sollen sich die Gläubigen also verhalten in einer Welt der religiösen Differenzen? Gibt es ein richtiges Leben, umgeben vom “Falschen”? Wie verändert sich die Religionskultur angesichts der beginnenden Pluralität – totale Verhärtung oder Relativierung? Eine Flugschriften des [...]

Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/806

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6 Gründe, warum Sie als Museum nie auf ein Barcamp gehen sollten

Barcamp-Muenchen-2013
Barcamp = Veranstaltung, bei der sich verschiedene Leute zu einem Thema treffen und Informationen in ungezwungener Atmosphäre austauschen. Im folgenden Artikel geht es ums Barcamp der Kulturkonsorten am 20.4.2013 in München. Ich war dabei und kann insbesondere Mitarbeiter von Museen nur warnen, an solchen Barcamps teilzunehmen. Hier einige Gründe:

1. Sie treffen verrückte Leute

Die Leute, die Sie treffen, haben fast alle mit Kultur zu tun. Das ist zunächst nicht schädlich. Aber stellen Sie sich vor: alle wollen den Umgang mit Kultur verändern. Stellen Sie sich vor, diese Menschen warten nur darauf, Ihnen von ihren Ideen zu erzählen, damit sie in Ihrem Museum Dinge anstellen können, wie darin zu twittern, es bei Nacht zu beleuchten, damit es nicht nur am Tag genutzt wird, sondern auch bei Nacht einen guten Eindruck macht oder gar Dinosaurier zum Leben zu erwecken. Das war nicht alles; es gibt noch Schlimmeres. Dazu schreibe ich besser nichts, sonst können Sie nicht mehr schlafen.

2. Sie müssen abstruse Dinge tun

Im Museum soll man – außer Exponate anschauen – vieles mehr tun können. Solche Ansätze vertreten beispielsweise Menschen und Gruppierungen wie die Herbergsmütter. Der Name sagt doch alles! Wenn Sie sich von den Damen nicht veranlasst sehen wollen, sich Geschichten in Form von Tweets ausdenken zu müssen wie etwa: „Ihr Blick streifte die neue #Sitzgruppe, den #Lampenschirm und den #Blumenkasten, während sie mit ihrem Wohnfloß über den #Wellenkamm ritt und über ihren #Tripper nachdachte“, dann sollten Sie ein Barcamp meiden.

3. Sie müssen Twittern

Es läuft eine Twitterwall und Sie sollten fleißig twittern. Neben 10.000 anderen Dingen, die gleichzeitig auf Sie einströmen. Einfach nicht zu machen. Haben diese Leute noch nichts von Konzentration und selektiver Wahrnehmung gehört? Skandalös ist, dass sie das auch noch in die Museen tragen wollen. Das sind doch alles studierte Leute!

Sollte es Sie nicht interessieren, was die vielen anderen, die auch gerade auf dem Barcamp sind und mit denen Sie nicht sprechen können, denken und meinen, müssen Sie mindestens Ihr Smartphone zu Hause lassen. Wenn Sie nicht erfahren möchten, was Sie mit Twitter allgemein und in den Sozialen Medien im Besonderen anstellen können, bereiten Sie sich mit Ihrem Smartphone besser einen gemütlichen Tag daheim.

4. Es kann nicht seriös sein

Es laufen mehrere Veranstaltungen (sog. Sessions) gleichzeitig ab. Wenn Sie nicht die Gabe besitzen, sich aufteilen zu können, werden Sie nicht alle Angebote wahrnehmen können! Es gibt ja auch vorher kein Programm, das wird erst am Anfang „crowdgesourced“, also von den Teilnehmern festgelegt. Alles eindeutige Merkmale, dass es sich um keine seriöse Veranstaltung handeln kann.

5. Achtung: Neue Impulse, Ideen und Wissen

Bei den vielen Sessions werden Sie mit Dingen konfrontiert, von denen Sie noch nie gehört haben, ja nicht einmal für möglich halten, dass es sie gibt: welche Technologien es für Kunstvermittlung gibt, was Collaborative Art ist, was Augmented Reality mit dem Museum zu tun haben könnte oder was Social Marketing Profis raten. Wenn Sie auch nicht mit Juristen, die sich auf den Bereich Social Media spezialisiert haben ins Gespräch kommen wollen, und noch vieles mehr nicht erfahren möchten, ist ein Barcamp nichts für Sie.

6. Es ist generell gefährlich

Wenn Sie eines Tages nicht auch zu den Leuten gehören wollen, die jeden kunsthistorisch unwissenden Menschen für Kunst und Kultur begeistern wollen – sogar die jungen – dann sollten Sie einen Bogen um Barcamps machen. Die Atmosphäre könnte ansteckend sein und die neu gewonnenen Eindrücke und Erfahrungen sich auf Ihre Arbeit auswirken. Sie könnten auf die Idee kommen, Ihr Museum als einen Ort der Kommunikation neu zu erfahren und den Besucher nicht nur als passiven Rezipienten sondern als aktiven Gestalter eines Kommunikationsprozesses zu erleben. Der sich durch sein Tun (nicht nur schauen!) aktiv mit den Exponaten auseinandersetzt. Wenn Sie nicht ernsthaft riskieren möchten, dass Menschen beginnen, Spaß im und am Museum zu entwickeln, dann dürfen Sie auf keinen Fall ein Barcamp besuchen.

In diesem Sinne: Toll war’s! ;-)

Quelle: http://games.hypotheses.org/1040

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SdK 52: Thomas Ballhausen über Archivtheorie

Thomas Ballhausen ist Literatur- und Filmwissenschaftler und arbeitet am Filmarchiv Austria. Er begreift das Archiv als einen Ort der Praxis und der intellektuellen Wertschöpfung. Wir sprechen über Archivare als Gatekeeper und die Herausforderungen eines Archivs für Laufbilder: einerseits den Wünschen des Publikums gerecht zu werden, andererseits dafür zu sorgen, dass das teilweise sehr empfindliche Material auch langfristig erhalten bleibt. Zwar erleichtert die Digitalisierung vielfach die Zugänglichkeit, ersetzt allerdings nicht das Originalmaterial.

Linkliste: Thomas Ballhausen (Wikipedia), Filmarchiv Austria, European Film Gateway, Arlette Farge: Der Geschmack des Archivs, Carl Schmitt (Wikipedia), Walter Benjamin (Wikipedia)

Quelle: https://stimmen.univie.ac.at/podcast/sdk52

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04. Die D-Mark und die Alternative im Gestern

Früher war nicht alles besser, früher war einfach vieles früher, wie der Alltagsethnograph Jochen Malmsheimer unnachahmlich und unmissverständlich festgestellt hat. Dabei ist es natürlich wohlfeil, rückwärtsgewandte Idealisierungen als naiv zu brandmarken. Es fällt leicht, mit süffisantem Lächeln auf diejenigen herabzublicken, die mit rosaroter Brille die Zustände vergangener Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte verherrlichen und dabei den moralischen, kulturellen und sowieso allumfassenden Verfall ihrer eigenen Gegenwart betrauern. Nostalgie ist ein ernst zu nehmendes Phänomen, und zwar nicht nur weil seine „Entdeckung“ im 17. Jahrhundert im medizinischen Kontext erfolgte und eine schwerwiegende Gemütserkrankung kennzeichnete. Vielmehr können ihre Symptome uns auch heute einigen Aufschluss geben über den Geschichtsgebrauch und die Vergangenheitsverarbeitung von Kulturen. Nostalgien werden inzwischen zwar nicht mehr in Arztpraxen behandelt, sind aber Indikatoren für herrschende (oder auch nur mögliche) temporale Verfassungen, gerade wenn sie sich in eine Vergangenheit zurücksehnen, die es nie gab.

Eine Altherren-Alternative

In Deutschland macht derzeit eine neu gegründete Partei von sich reden, die in politischen Kommentaren schnell als Nostalgieverein, als rückwärtsgewandter Club älterer (und zumeist gut situierter) Herren beschrieben wird. Dabei trägt die „Alternative für Deutschland“ vor allem eine zentrale Forderung vor sich her, nämlich den Euro abschaffen und die D-Mark wieder einführen zu wollen.

Es lohnt sich wohl, eine kurze Chronologie der „Alternative für Deutschland“ wiederzugeben. Denn wer weiß, in einigen Jahren wird hoffentlich dieses Blog noch existieren, aber die Partei möglicherwiese nicht mehr derart im Fokus stehen wie dieser Tage, unter Umständen sogar im Orkus der Bedeutungslosigkeit verschwunden sein. Daher für alle Nachgeborenen: Die Gründung dieser Partei, die am 6. Februar 2013 erfolgte, war eine direkte Reaktion auf die Schuldenkrise, die den Raum der Euro-Währung seit 2009 in heftige Turbulenzen gebracht hatte. Hervorgegangen war die AfD aus den Reihen der CDU, getragen vor allem von euroskeptischen Menschen, die die gern als „alternativlos“ bezeichnete Europa- und Finanzpolitik der schwarz-gelben Regierung unter Kanzlerin Merkel nicht mehr akzeptieren wollten. Die „Alternative für Deutschland“ erfuhr unmittelbar große mediale Aufmerksamkeit und auch einen erheblichen Zulauf – darunter auffallend viele Männer mittleren Alters, die wohl eher wenig Anlass hatten, sich akute wirtschaftliche Sorgen zu machen; ach ja, und ein überproportional großer Anteil an Volkswirtschaftsprofessoren war ebenfalls dabei. Die Partei sprach eher dasjenige konservative Publikum an, das in einer weichgespülten CDU keine Heimat mehr fand. Indem sie dieses politische Spektrum rechts der Mitte bediente, rief die AfD aber zugleich die üblichen Verdächtigen von tiefschwarzer bis brauner Färbung auf den Plan.

Rückkehr zu Bewährtem

Am 14. April 2013 fand der Gründungsparteitag in Berlin statt, bei dem auch ein erstes Parteiprogramm beschlossen wurde. Nun gebe ich gerne zu, dass es mir an ökonomischer Expertise mangelt, um entweder die weitere Entwicklung der Euro-Währung oder die möglichen Konsequenzen einer Wiedereinführung der D-Mark einschätzen zu können. Vor allem werde ich den Verdacht nicht los, dass sich solche Fragen aufgrund der ungemein hohen Komplexität der Materie eher mit einer Glaskugel als mit wissenschaftlichem Sachverstand beantworten lassen. Im Besitz einer Glaskugel bin ich übrigens auch nicht. Daher lassen wir beim Blick in das Parteiprogramm die ansonsten immer wieder gern angeführten Kernforderungen der „Alternative für Deutschland“ beiseite, vergessen für einen Moment die von ihr gewünschte Auflösung des Euro-Raums und die Wiedereinführung nationaler Währungen, und kümmern uns stattdessen um die wirklich wichtigen Dinge, nämlich um das historische Programm, das es zwar nicht in die offizielle Parteidoktrin geschafft hat, das aber als beständig mitlaufender Subtext präsent ist.

Und da ist auffallend häufig von Dingen die Rede, die eher in die Zeit vor 1989 passen – falls sie historisch nicht noch weiter zurückreichen –, als die Welt einem noch hübsch geordnet vorkommen konnte. Da ist viel von „Deutschland“ die Rede (wenn auch immer wieder garniert mit den standardisierten Verweisen auf die nachbarschaftliche Kooperation mit dem Rest Europas), da wird regelmäßig die „Nation“ bemüht, da soll alles „kleiner“ und „stabiler“ werden (also nicht mehr so europäisch und so unübersichtlich), da ist die Familie die „Keimzelle der Gesellschaft“, da wird auch schon einmal explizit die „Rückkehr“ zu „Bewährtem“ gefordert, beispielsweise die „Rückkehr zu bewährten Diplom- und Staatsexamensstudiengängen“ und da soll (wenig überraschend) die „ungeordnete Zuwanderung in unsere Sozialsysteme“ unterbunden werden.

Flucht vor Verunsicherungen

Hier spricht die durchaus erwartbare konservative Furcht vor der Unübersichtlichkeit, vor der Fremdheit, vor Neuerungen und vor dem stets drohenden Verlust des Erreichten und Erarbeiteten. Jede Verschiebung im Horizont des eigenen Weltbildes löst Verunsicherungen aus, die durch ein Festhalten am Altgedienten kontrolliert werden sollen. Da das Morgen beim derzeitigen Lauf der Dinge eigentlich nur noch mehr Verunsicherungen bringen kann, wird das Heil in der Vergangenheit gesucht. Die „Alternative für Deutschland“ sucht also eine Alternative im Gestern.

Was bei all den Turbulenzen auf den Finanzmärkten und im Euro-Schulden-Raum, die das frühe 21. Jahrhundert zu bieten hat, allenthalben für erhebliches Unbehagen sorgt, sind nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch die temporalen Auswirkungen. Auf den Finanzmärkten wird nämlich nicht nur Geld gewonnen oder verloren, sondern wird ebenso Zeit als Möglichkeitraum geschaffen oder vernichtet.[1] Und unabhängig davon, ob es die Finanzwirtschaft oder die Finanzpolitik ist, das Gebaren nicht nur der letzten Jahre, sondern der letzten Jahrzehnte zeigt in eine deutliche Richtung: In unserer eigenen Gegenwart können wir nur noch konstatieren, wie die jüngere Vergangenheit die Zukunft aufs Spiel gesetzt und sich dabei verzockt hat. Die unglaublichen Finanzmengen, die heute aufgewendet werden, um eine Zukunft zu retten, von der noch niemand weiß, wie sie aussehen wird, führen zu einer massiven Einschränkung künftiger Handlungsmöglichkeiten – und zwar schon heute. Wir verbrauchen unsere Zukunft (und die Gegenwart der Zukünftigen) schon jetzt. Möglicherweise sollte man – einem Vorschlag von Barbara Adam folgend – Aktionen und Produkte der Gegenwart nicht nur mit einem ökologischen, sondern auch mit einem temporalen Fußabdruck versehen. Er könnte sichtbar machen, ob zukünftige Handlungsspielräume eröffnet oder vernichtet werden. Wie dieser Fußabdruck beim gegenwärtigen Finanzgebaren aussähe, versteht sich von selbst.

Nun bereichert die „Alternative für Deutschland“ dieses Spiel mit der Zeit im Zeichen der finanziellen Apokalypse um eine weitere, recht naheliegende, aber bisher noch nicht so prominent dargebotene Variante. Nun wird auch noch mit der Vergangenheit gezockt. Man fühlt sich unweigerlich an das Europa des 16. Jahrhunderts erinnert, als nach der Reformation der Kontinent in zahlreiche unterschiedliche Konfessionskirchen aufgespalten war. Auch damals stand das Ende der Welt vor der Tür, wenn auch in heilsgeschichtlicher Hinsicht. Und im Angesicht der Apokalypse wurden auch damals unterschiedliche zeitliche Varianten durchgespielt. Die Protestanten wollten mit ihren reformatorischen Bestrebungen zurück zu den Zuständen der christlichen Urkirche, andere hingegen ersehnten die naheliegende Zukunft einer tausendjährigen Herrschaft Christi auf Erden, bevor es zum Jüngsten Gericht kommen sollte. Auch gegenwärtig scheinen wir es eher mit ökonomischen Glaubensgemeinschaften als mit rationalen Programmen zu tun zu haben, die hier gegeneinander stehen.

Aber den Alternativsuchern im Gestern sei eine historische Grunderkenntnis mit auf den Weg gegeben, die sie bei ihren Bemühungen achtsam beherzigen sollten: Nicht nur die Zukunft, auch die Vergangenheit ist unvorhersagbar. Das Gestern kann zwar besser werden, muss aber nicht. Daher Vorsicht an historischen Bahnsteigkante.

[1] Elena Esposito, Die Zukunft der Futures. Die Zeit des Geldes in Finanzwelt und Gesellschaft, Heidelberg 2010


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Quelle: https://achimlandwehr.wordpress.com/2013/04/20/04-die-d-mark-und-die-alternative-im-gestern/

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