Über 16.000 handschriftliche Fuggerzeitungen werden von der Wiener Nationalbibliothek digitalisiert


Seit langem ist bekannt, welchen mediengeschichtlichen Schatz die für das Augsburger Handelshaus Fugger zusammengestellten Berichte über Tagesneuigkeiten bergen, die vor allem in einer eindrucksvollen Reihe Wiener Handschriften von 1568 bis 1604 überliefert sind. Eine Pressemeldung, die auch vom VÖB-Blog  übernommen wurden, kündigt nun die komplette Digitalisierung dieses einzigartigen Quellenfundus an. Die Digitalisate sind bereits teilweise in den digitalen Zeitungslesesaal ANNO  der ÖNB eingebracht worden. Diese Präsentation ist zwar bequemer zu benutzen als der Viewer der Handschriftendigitalisate, doch ist es nicht akzeptabel, dass an den jeweiligen Jahrgangsbänden die erforderlichen Metadaten (nämlich die Handschriftensignaturen) fehlen.

Musste im Mai 2011 in diesem Blog beklagt werden, dass die ÖNB Wien ihre Digitalisate weitgehend versteckt, so trifft das inzwischen nicht mehr zu. Für die digitalisierten Handschriften bietet der Digitale Lesesaal eine Abfragemöglichkeit. In der Trefferliste des HANNA-Katalogs kann man durch Eingabe von Novellae Fuggerianae (bei “Suchanfrage verfeinern”) die derzeit zwölf Jahrgänge, die in dieser Oberfläche zur Verfügung stehen, auffinden. Den ersten Hinweis auf diese Digitalisate (das ANNO-Angebot und dieses sind noch nicht deckungsgleich, man muss also beide benutzen, wenn man alle online einsehbaren Digitalisate finden will!) gab Anton Tantner im Februar 2012. Er wies dabei auch auf das Wiener Forschungsprojekt zu den Fuggerzeitungen hin, dessen Webpräsenz auf den ersten Blick sehr erfeulich wirkt.

Monatlich wird eine Fuggerzeitung im Bild vorgestellt und transkribiert. Der Augsburger Universitätsarchivar Werner Lengger machte aber in Archivalia darauf aufmerksam, dass die Transkriptionen zu fehlerhaft seien. In der Tat weisen die Textwiedergaben erhebliche Mängel auf, was für ein am Institut für Österreichische Geschichtsforschung angesiedeltes Projekt außerordentlich peinlich ist. Da die Fuggerzeitungen vergleichsweise einfach zu lesen sind, gibt es keine Entschuldigung für schludriges Arbeiten. Auch Internet-Transkriptionen müssen sorgfältig kollationiert werden.

Leider gibt es in der Bibliographie auf der Website keine Online-Nachweise, und auch die Link-Sektion ist allzu karg ausgefallen. Beispielsweise ist das Buch von Kleinpaul 1921 im Internet Archive zugänglich. Der Aufsatz von Cornel Zwierlein in QFIAB 2010, der sich als Einführung in den jüngsten Forschungsstand zu den Fuggerzeitungen eignet, ist auf Perspectivia.net frei einsehbar. Die von ihm erwähnten Heidelberger Handschriften Cpg 774 und 842 mit weiteren Fuggerzeitungen (der Wiener Bestand ist zwar der wichtigste, aber keinesfalls der einzige) sind online (Nachweis und weitere Links), aber einen Link sucht man auf den Projektseiten vergeblich.

Ärgerlicherweise muss zu dem vom IÖG bereitgestellten digitalen Bestandsverzeichnis die genauere Auswertung in einem gedruckten MIÖG-Aufsatz herangezogen werden. Wieso liegt dieser nicht auch Open Access vor?

 

 

 

 

Quelle: http://frueheneuzeit.hypotheses.org/1296

Weiterlesen

Über 16.000 handschriftliche Fuggerzeitungen werden von der Wiener Nationalbibliothek digitalisiert

Seit langem ist bekannt, welchen mediengeschichtlichen Schatz die für das Augsburger Handelshaus Fugger zusammengestellten Berichte über Tagesneuigkeiten bergen, die vor allem in einer eindrucksvollen Reihe Wiener Handschriften von 1568 bis 1604 überliefert sind. Eine Pressemeldung, die auch vom VÖB-Blog  übernommen wurden, kündigt nun die komplette Digitalisierung dieses einzigartigen Quellenfundus an. Die Digitalisate sind bereits teilweise in den digitalen Zeitungslesesaal ANNO  der ÖNB eingebracht worden. Diese Präsentation ist zwar bequemer zu benutzen als der Viewer der Handschriftendigitalisate, doch ist es nicht akzeptabel, dass an den jeweiligen Jahrgangsbänden die erforderlichen Metadaten (nämlich die Handschriftensignaturen) fehlen.

Musste im Mai 2011 in diesem Blog beklagt werden, dass die ÖNB Wien ihre Digitalisate weitgehend versteckt, so trifft das inzwischen nicht mehr zu. Für die digitalisierten Handschriften bietet der Digitale Lesesaal eine Abfragemöglichkeit. In der Trefferliste des HANNA-Katalogs kann man durch Eingabe von Novellae Fuggerianae (bei “Suchanfrage verfeinern”) die derzeit zwölf Jahrgänge, die in dieser Oberfläche zur Verfügung stehen, auffinden. Den ersten Hinweis auf diese Digitalisate (das ANNO-Angebot und dieses sind noch nicht deckungsgleich, man muss also beide benutzen, wenn man alle online einsehbaren Digitalisate finden will!) gab Anton Tantner im Februar 2012. Er wies dabei auch auf das Wiener Forschungsprojekt zu den Fuggerzeitungen hin, dessen Webpräsenz auf den ersten Blick sehr erfeulich wirkt.

Monatlich wird eine Fuggerzeitung im Bild vorgestellt und transkribiert. Der Augsburger Universitätsarchivar Werner Lengger machte aber in Archivalia darauf aufmerksam, dass die Transkriptionen zu fehlerhaft seien. In der Tat weisen die Textwiedergaben erhebliche Mängel auf, was für ein am Institut für Österreichische Geschichtsforschung angesiedeltes Projekt außerordentlich peinlich ist. Da die Fuggerzeitungen vergleichsweise einfach zu lesen sind, gibt es keine Entschuldigung für schludriges Arbeiten. Auch Internet-Transkriptionen müssen sorgfältig kollationiert werden.

Leider gibt es in der Bibliographie auf der Website keine Online-Nachweise, und auch die Link-Sektion ist allzu karg ausgefallen. Beispielsweise ist das Buch von Kleinpaul 1921 im Internet Archive zugänglich. Der Aufsatz von Cornel Zwierlein in QFIAB 2010, der sich als Einführung in den jüngsten Forschungsstand zu den Fuggerzeitungen eignet, ist auf Perspectivia.net frei einsehbar. Die von ihm erwähnten Heidelberger Handschriften Cpg 774 und 842 mit weiteren Fuggerzeitungen (der Wiener Bestand ist zwar der wichtigste, aber keinesfalls der einzige) sind online (Nachweis und weitere Links), aber einen Link sucht man auf den Projektseiten vergeblich.

Ärgerlicherweise muss zu dem vom IÖG bereitgestellten digitalen Bestandsverzeichnis die genauere Auswertung in einem gedruckten MIÖG-Aufsatz herangezogen werden. Wieso liegt dieser nicht auch Open Access vor?

 

 

 

 

Quelle: http://frueheneuzeit.hypotheses.org/1296

Weiterlesen

Eignungsverfahren für Master Geschichte an der LMU München

http://www.geschichte.uni-muenchen.de/studium_lehre/efv/ev-master Dass das Eignungsverfahren für den Master in Geschichte am Historischen Seminar der LMU München bei der Berechnung der Eignung eine Korrelation von Endnote und in Geschichte erworbenen ECTS-Punkten annimmt, ist mehr als begrüßenswert. War es doch zu den Zeiten des – eigentlich stark vermissten – Magister Artium derart, dass für das zum Studienbeginn oder [...]

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2012/08/3159/

Weiterlesen

Klaus Ratschiller über die Bedeutung der Liste für die Bildung

Lesenswerte Überlegungen zum Begriff der Bildung und der Bedeutung, die Listen dabei zukommt, hat schon vor einiger Zeit Klaus Ratschiller angestellt; ich versuche, seinen Beitrag zusammenzufassen:
Bildung ist nach Ratschiller die Fähigkeit, ausdrücken zu können, was einen heimsucht, was einen nicht loslässt, das Vermögen, die Fragen und Probleme, die einen verfolgen, in all ihren Dimensionen formulieren und entfalten zu können. Solange man seine Heimsuchungen nicht ausdrücken kann, leidet man an einer individuellen Sonderbarkeit, [s]ie auszudrücken, heißt aber: ihnen selbst eine individuelle Ganzheit zuzusprechen, nicht sich. Eine wichtige Rolle im Bildungsprozess spielen Fürsprecher: Im Gegensatz zu Ratgebern sind sie nicht Repräsentant einer größeren Einheit und sagen nicht, was man lesen und wissen sollte, um dazuzugehören, sondern sprechen in eigenen Namen und in Hinblick auf die jeweilige Heimsuchung; Fürsprecher sind (...) Freunde, jedenfalls Freundliche, die auf etwas verweisen, was größer ist als sie.
Solcherlei Fürsprecher verfassen nun nicht einen feststehenden Kanon, sondern Listen von dem, was für sie unverzichtbar genug erscheint, wenn [sie] nach der Gestalt [ihres] Problems such[en], von Büchern, AutorInnen, Filmen also beispielsweise. – Eine Liste ist eine kleine Fluchtlinie, die zwischen den Fallen der repräsentativen Wahl und der beliebigen Auswahl einen Ausweg bahnt; und, warum sollte nichts Neues und Widerständiges daraus entstehen?

Ratschiller, Klaus: Bildung ohne Gedächtnis: Vom Kanon zu den Listen, in: Mitteilungen des Instituts für Wissenschaft und Kunst, 63.2008, Nr. 3-4, S. 40–47.

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/133339337/

Weiterlesen

In jeder Hinsicht alte Schule: zum 70. Geburtstag des Althistorikers Gustav Adolf Lehmann

Mit Perikles, von dem hier zuletzt ausführlich die Rede war, hat auch Gustav Adolf Lehmann sich befaßt, in Gestalt einer ausgewachsenen Biographie (s. F.A.Z. v. 8.9.2008, Nr. 210). Sein Perikles ist weder Übermensch noch Quasi-Monarch, sondern ein „erster Mann", der es für eine gewisse Zeit verstand, gestützt auf die immer wieder gewonnene Zustimmung des Volkes, die Politik Athens „ebenso maßvoll wie kohärent und insgesamt mit beachtlichem Erfolg"...(read more)

Quelle: http://faz-community.faz.net/blogs/antike/archive/2012/08/28/in-jeder-hinsicht-alte-schule-zum-70-geburtstag-des-althistorikers-gustav-adolf-lehmann.aspx

Weiterlesen

Rostock-Lichtenhagen ist noch kein “Erinnerungsort”

Ein paar Gedanken zum Erinnern. Bundespräsident Gauck hat am Wochenende in Rostock-Lichtenhagen eine Rede gehalten. Er hat an die Taten eines gewalttätigen, mordwilligen Mobs vom 22.-26.8.1992, das Leid der Opfer in einem Asylbewerberheim und einem Wohnheim für Vietnam-Deutsche, das Versagen der staatlichen Sicherheitsorgane und die Pflicht zum Gedenken erinnert. Meiner Ansicht nach besteht eine Gefahr im allzu schnellen Gedenken, Erinnern und Historisieren. In der deutschen Erinnerungskultur gibt es mittlerweile anscheinend eine Erinnerungsroutine, die sich aus der Auseinandersetzung mit dem Holocaust und dem Nationalsozialismus speist und nun auf jüngst vergangene Ereignisse übertragen wird. Dass eine bestimmte Form des Erinnerns einer Verschiebung vom “Arbeitsspeicher” in das “Archiv” des kollektiven Gedächtnisses gleicht – ja sogar eine natürlich Funktion sei, wurde verschiedentlich angemerkt (siehe z.B. WerkstattGeschichte 52/2009 “archive vergessen”). Lebendige Geschichte droht, wenn man nicht aufpasst, zur vergangenen, abgeschlossenen, erfolgreich überwundenen Geschichte zu werden. Genau die Gefahr sehe ich, wenn nun zum 20. Jahrestag R-Lichtenhagen zum Erinnerungsort gemacht wird. Diese Vergangenheit ist nicht vorbei! Sie ist ummittelbar wirksam, beispielsweise im Asylrecht: Im Anschluss oder in Reaktion auf die Gewalt gegen vermeintlich Fremde in Lichtenhagen, Mölln, Hoyerswerda oder Solingen verschärfte Deutschland seine Asylgesetzgebung (u.a. mit der Drittstaaten-Regelung) – dieses Asylverhinderungsrecht ist immer noch in Kraft.

Nur ein Zitat aus den Bundestagsdebatten im Vorfeld des sog. Asylkompromisses vom 26. Mai 1993, Norbert Geis am 4.11.1992 (auch heute noch CSU-Abgeordneter):

„Nun können wir uns leicht ausrechnen, wann wir, weil dieser Asylstrom überhaupt nicht enden wird […] die Kapazitäten nicht mehr haben, um diese Menschen aufnehmen zu können. Wir können uns doch auch leicht ausrechnen, wann es zur Katastrophe kommt. […] Es geht doch letztlich darum, dass wir Wortklauberei betreiben und der eigentlichen Tatsache nicht ins Gesicht sehen. Diese unsere Haltung bewirkt draußen, daß wir eine zunehmende Radikalisierung der Bevölkerung, zumindest ein starke Sympathie gegenüber radikalen Parteien erleben. Dieser Radikalimus ist die Ursache für Exzesse.“ (BT - Aktuelle Stunde Plenarprotokoll 12/116 04.11.1992 S. 9892-9893.)

Von vielen in den Regierungsparteien und der SPD wurde die einfache Gleichung, „Asylstrom“ führt zu „Exzessen“, unterschrieben; die Asylrechtsänderung von 1993 war auch eine Konsequenz aus dieser Wahrnehmung der Gewalt gegen vermeintlich Fremde.

20 Jahre nach Rostock-Lichtenhagen ist nicht die Zeit der deutschen Geschichte einen weiteren Erinnerungsort hinzuzufügen, es ist Zeit für eine Entradikalisierung des Asylrechts.

Herr Gauck, das wäre Ihre Gelegenheit gewesen zu handeln. Ergreifen Sie die nächste !


Einsortiert unter:Aktion, Archive, Ereignis, Erinnerung, Geschichte, Geschichtspolitik, Meinung

Quelle: http://kritischegeschichte.wordpress.com/2012/08/27/rostock-lichtenhagen-ist-noch-kein-erinnerungsort/

Weiterlesen

Die völkische Bewegung: Protest und Identifikation durch Mythenbildung

Die Geschichte der völkischen Bewegung beginnt mit der deutschen Nationalstaatenbildung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Über die nationalsozialistische Ideologie hinaus beeinflusst sie auch heute noch den modernen Rechtsextremismus. In Ausgabe 13/2012 diskutieren wir mit dem Historiker Uwe Puschner über Trans-
formationsprozesse und Mythenbildung im ausgehenden 19. Jahrhundert.

Die völkische Bewegung entsteht als als heterogene nationalistisch-reformerische Protestbewegung auf rassenideologischer Grundlage – Identifikationsmerkmal und historische Begründung ist die Rückbesinnung auf die Germanen. In Opposition zum Christentum wird eine neue Germanenideologie formuliert. In Anlehnung zum Nationalismus definiert sich auch die völkische Bewegung über Sprache und Kultur, andere Fundamente bilden lebensreformerische Bewegungen als Reaktion auf die urbane Gesellschaft und die Neuorientierung des Menschen.

Auch in der nationalsozialistischen Ideologie finden sich viele Elemente der völkischen Weltanschauung, mit der Machtübernahme Hitlers 1933 verliert die völkische Bewegung jedoch mehr und mehr an Bedeutung. Mit Uwe Puschner sprechen wir über die Erosion der völkischen Bewegung, darüber, wie sich die beiden Ideologien in ihren Elementen und Zielen unterscheiden und die völkischen Elemente im Rechtsextremismus der Gegenwart.

Und hier die Timeline zum Gespräch

02:07 Begriff „völkisch“ und die Anfänge der völkischen Bewegung

05:57 das aufstrebende Bürgertum als Protagonisten der bewegung

08:05 Geschichtskonstruktionen im 19. Jahrhundert

11:10 Formulierung einer neuen Germanenideologie

14:09 Konkurrenzbewegungen? NS-Ideologie und völkische Bewegung

22:14 Politisches Ziel: ständisch organisierter Führerstaat

25:32 Erosion der völkischen Bewegung ab 1925

29:01 Kulturjournalismus und Gustav Frenssen

33:00 Völkische Elemente im Rechtsradikalismus

39:09 Montagsradio-Fragebogen

Quelle: http://www.montagsradio.de/2012/08/27/die-volkische-bewegung-protest-und-identifikation-durch-mythenbildung/

Weiterlesen

Das Breivik-Urteil: Was bleibt?


Blumen und Kerzen auf Utøya, 28.7.2011
Flickr, CC-BY-NC-SA NRK P3

Ein Gastbeitrag von Bernd Henningsen

Bernd Henningsen (* 1945) war bis 2010 Professor für Skandinavistik/ Kulturwissenschaft sowie Kultur und Politik Nordeuropas und der Ostseeregion am Nordeuropa-Institut der Humboldt-Universität zu Berlin. Er hat u.A. zur skandinavischen Ideengeschichte, politischen Kultur Nordeuropas sowie den deutsch-nordischen Geistesbeziehungen geforscht.

Am Freitag, den 24. August 2012 pünktlich um 10 Uhr begann die Richterin des Osloer Gerichts, Wenche Elizabeth Arntzen mit der Verlesung des Urteils gegen Anders Behring Breivik, sie dauerte bis in den späten Nachmittag und wurde in voller Länge vom nationalen Fernsehen übertragen. Sich selbst zum „Tempelritter“ ernannt, hatte Breivik nach jahrelanger Vorbereitung am 22. Juli 2011 im Osloer Regierungsviertel eine Autobombe gezündet, bei der acht Menschen starben, neun wurden zum Teil schwer verletzt; anschließend hat er auf der Insel Utøya, dem traditionellen Feriencamp der sozialdemokratischen Arbeiterpartei 69 (fast ausschließlich) Jugendliche erschossen, die meisten von ihnen durch Kopfschuss, einige starben an den Folgen des Massakers, erlagen ihren Verletzungen, ertranken auf der Flucht; 33 Personen erlitten Verletzungen, auch diese in vielen Fällen schwere. Die Zahl der psychisch verletzten und traumatisierten Personen ist außerordentlich. Das von ihm angerichtete Leid ist unermesslich. Auf der Todesliste des Attentäters standen auch der norwegische Premierminister, Jens Stoltenberg und eine seiner Vorgängerinnen, Gro Harlem Brundtland – beide waren mehr oder weniger zufällig zum Zeitpunkt nicht auf der Insel. Der Name Anders Behring Breivik wird im nationalen Gedächtnis Norwegens eingeätzt bleiben – das war auch seine Intention. Hätte das Gericht ihn für nicht zurechnungsfähig erklärt, und wäre er einer psychologischen Behandlung unterworfen worden, wie dies von Gutachtern befürwortet worden war, dann wäre dies in seinen Augen die größte Kränkung seines an Kränkungen reichen Lebens geworden. Nach der norwegischen Rechtsordnung hätte er dann im Falle einer erfolgreichen Behandlung, das heißt also der psychischen Wiederherstellung, aus der Verwahrung entlassen werden müssen – seine Taten waren die eines Kranken, den man nicht für sein Tun verantwortlich machen und bestrafen kann …

Das Gericht ist dieser Interpretation nicht gefolgt, es hat Breivik für zurechnungsfähig erklärt und ihn mit einer Höchststrafe für 21 Jahre in Haft geschickt, nach norwegischem Rechtsbrauch bedeutet dies, dass er nie mehr freikommen wird. Ein solches Urteil hat er gewollt, auf eine Revision hat er verzichtet. Jedem, der seine Reaktion bei der Urteilsverkündung erlebt oder der sie auf dem Bildschirm gesehen hat, wird das Grinsen erinnerlich bleiben, mit dem er die richterliche Zurechnungsfähigkeitserklärung quittierte. Das Urteil war für ihn eine Genugtuung.

Der Breivik-Prozess hatte nicht primär zur Aufgabe, den Angeklagten zu überführen – er war ja in allen Punkten geständig. Insofern ist auch mit einer gewissen Berechtigung gefragt worden, warum das Gericht diesen Aufwand betrieben hat. Der Prozess war allerdings der Versuch, hat zumindest diese Funktion gehabt, den gesellschaftlichen Frieden wieder herzustellen, den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, den Beteiligten und Hinterbliebenen die Anerkennung ihres Leids zu demonstrieren und ihnen bei der Trauma-Bearbeitung – soweit ein Gericht das kann – zu helfen. Indem das Gericht den Attentäter für zurechnungsfähig erklärt hat, hat es außerordentlich klug und vorausschauend geurteilt. Indem die Staatsanwälte, die auf das Gegenteil plädiert hatten, auf eine Revision verzichteten, sind sie dieser richterlichen Klugheit gefolgt – sie haben bedacht unterschieden zwischen Recht haben und Recht bekommen: Man mag sich nicht ausmalen, was den Opfern im Besonderen und der Gesellschaft im Allgemeinen zugemutet worden wäre, wenn es  eine Fortsetzung des Prozesses und/oder eine Neuauflage gegeben hätte, geben sollte. Dem Rechtsfrieden ist eine Chance gegeben worden.

Das Gericht hat in einer gesellschaftlichen Krisensituation in vorbildlicher Weise die Funktion angenommen, die es in einer demokratischen Gesellschaft haben soll: Repräsentant eben dieser Gesellschaft zu sein, Recht zu sprechen, aber auch symbolisch auszudrücken, was diese Gesellschaft zusammenhält. Nach allem was man erfährt, haben die Hinterbliebenen, hat die Mehrheit der Gesellschaft sowohl den Prozess als auch das Urteil akzeptiert und als symbolischen Akt der Krisenbewältigung verstanden. Das auch anzutreffende und durchaus weit verbreitete Gefühl, endlich eine bedrängende Situation überstanden zu haben, ist dazu kein Widerspruch, diese (verständliche) Erleichterung stützt eher die These. Mit Fug und Recht wird man festhalten können, dass die norwegische Gesellschaft ungemein kreativ die materielle und symbolische Krisenbewältigung angenommen hatte und noch annimmt. Die Fähigkeit zu trauern war eine ungemein weit verbreitete.

Breivik hat während des ganzen Prozesses kein Mitleid für die Opfer und Hinterbliebenen gezeigt, er war nur gerührt über eine von ihm selbst verfertigte und im Gerichtssaal gezeigte Präsentation seines Programms, über das in seinen Augen korrekte Urteil – und er zeigte Gefühle darüber, dass er nicht mehr Menschen erschossen hat, sein Ziel war gewesen, alle 564 Teilnehmer des Camps hinzurichten. Er wird in den kommenden Jahren bei der Lektüre des Urteils sicherlich noch berührt werden von der Klarsicht des Gerichts, das ihm attestiert hat, dass sein Tun und Handeln nicht nur verantwortungslos war, sondern dass das politische Gerüst, das er gezimmert hat, auf Hirngespinsten beruhte: Es gibt keinen Tempelritterorden, es sei denn in seiner Phantasie. Das Gericht hat festgehalten, dass er in einer Fantasy-Welt gelebt hat, in der es kein Recht auf Leben für andere, nicht-weiße Norweger gibt.

Und eine weitere Kränkung wird Breivik verarbeiten müssen: Sein Fall hat länger als ein Jahr Schlagzeilen in den internationalen Medien provoziert, ihm war weltweit Aufmerksamkeit sicher. Der Tag nach der Urteilsverkündung war sein letzter Tag des narzisstischen Triumpfes: Er bestimmte am Samstag, den 25. August 2012 die Schlagzeilen der Weltpresse – schon am Sonntag war der Fall Breivik der Presse keine Nachricht mehr wert, es gibt ihn nicht mehr. In Norwegen selbst wird es allerdings eine lang andauernde Debatte geben, ja geben müssen über die politische, die polizeiliche Verantwortung, über den Strafvollzug, über den Umgang mit den traumatisierten Opfern – vor allem aber wohl über die Meinungsfreiheit und den Umgang mit Fremden. Die von Jens Stoltenberg reklamierte offene und tolerante norwegische Gesellschaft, die man sein und bleiben will, muss die Herausforderung aufnehmen. Sie tut es bereits, anderswo könnte man sich daran ein Beispiel nehmen.

Quelle: http://nordichistoryblog.hypotheses.org/624

Weiterlesen

Call4Paper (NWN Stadt-Raum-Architektur): “Diversität und Vielfalt innerhalb der Stadt-, Raum- und Architekturforschung”

Von Nils Grube »In keiner Gesellschaft stehen sich einfach nur eine Mehrheit und Minderheiten gegenüber. In Städten, insbesondere in modernen Metropolen, ist die Wirklichkeit komplizierter (…): Ökonomische Prosperität, soziale Dynamik und kreative Innovationen sind in Global Cities verbunden mit Mobilität und Einwanderung sowie mit der Entwicklung zu einer von Heterogenität und ständigem Wandel geprägten „Weltstadt“« – und wirken auf die Gesamtsituation als Stadt in Stadtentwicklung, ihrem Selbstverständnis, auf Sozialpolitik und Wirtschaftsförderung. Für die Bewohner bedeutet dies eine Überlagerung sozialer Lagen, Berufswege, Biographien und Zugehörigkeitsgefühlen: [...]

Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/2347

Weiterlesen