Workshop: Neue landesgeschichtliche Forschungen zur Geschichte der Weimarer Republik.Themenbereich Institutionengeschichte

Stärker noch als im Bereich der allgemeinhistorischen Epochendisziplinen hat die Beschreibung und Analyse von Institutionen einen festen Platz im landes- und regionalgeschichtlichen Arbeiten:

Einerseits ist die Beschäftigung mit längerfristig bestehenden und an bestimmten Zwecken orientierten Einrichtungen für jeden Historiker nicht zu umgehen, da diese als Produzenten ereignisübergreifender und serieller Überlieferung in vielen Fällen einen Blickwinkel auf das zu erfassenden Geschehen eröffnen, ohne freilich ein vollständiges und objektives Bild zu vermitteln. Erst das Wissen um ihre Arbeitsweise und ihre Funktionsprinzipien befähigt deshalb zu fundierter Quellenkritik und ermöglicht somit geschichtswissenschaftliche Erkenntnisbildung.

Als Instrument der Herrschaftsausübung ist das Wirken von Institutionen jedoch darüber hinaus ein unerlässlicher Schlüssel zum Verständnis der historischen Entwicklung eines Territoriums als Ganzes. So besteht wohl kein Zweifel, dass der Art der institutionellen Durchdringung, das heißt der für einen bestimmten Personenkreis oder ein Gebiet beanspruchte Regelungsanspruch, entscheidenden Einfluss auf das Leben der betroffenen Gruppen und ihr Verhältnis zueinander hat.

Verkürzt formuliert kann Institutionengeschichte folglich sowohl den Status einer Hilfswissenschaft als auch eines für sich selbst relevanten Fachgebiets mit Recht beanspruchen.

 

Freilich wurden mit der reinen Aufzählung und Abgrenzung von Macht- und Rechtsbereichen die Anwendungsmöglichkeiten von Institutionengeschichte lange Zeit unnötigerweise beschränkt: Mit der Überwindung der konventionellen Fixierung auf den Aspekt der Herrschaftsausübung ist es nun gängige Praxis, sich beispielsweise die Frage vorzulegen, was eine beliebige Einrichtung eigentlich zur sozial anerkannten Institution erhebt. Diese und ähnliche Perspektivverschiebungen schaffen und erhöhen die Aufmerksamkeit für unterschiedliche Formen der Legitimation und symbolischen Kapitalbildung, steigern die Sensibilität für schrittweise Funktionsverschiebungen oder betonen gängige und innovative Interaktionsmuster mit der außerinstitutionellen Umwelt.

Die sich daraus bereits ergebende Erkenntnis, dass es sich bei Institutionen im Kern um normative Strukturen, also sozial erzeugte Idealbilder handelt, welche ständig um die Realisierung des eigenen Anspruchs zu ringen haben, erweitert deshalb den traditionell landeshistorischen Erfassungshorizont: Sie gibt endgültig den Blick auf interne Abläufe sowie Brüche frei und ermöglicht mit der Ablösung einer rein funktionalen Bewertung den Übergang zu einer ergebnisoffenen Analyse von Institutionen. Anstelle definierter Kompetenzkataloge gewinnen somit inhärente Eigenlogiken an Profil, statt der Feststellung eines mehr oder weniger abgesteckten Handlungsrahmens rückt nun die Betonung variabel interpretierbarer Handlungsspielräume in den Vordergrund.

 

Die Untersuchung von Institutionen aller Art wird folglich auch in Zukunft ein fruchtbares Arbeitsfeld der Landesgeschichte bleiben und ist deshalb mit drei Dissertationsprojekten auf dem Workshop vertreten:

Beleuchtet Maria Magdalena Bäuml in ihrer Studie zum Bayerischen Ministerium für Unterricht und Kultus den gesamten Bereich der Bildungs-, Kirchen- und Kunstpolitik, beschäftigt sich Beatrix Dietel in breiterem zeitlichen Rahmen mit Voraussetzungen, Zielen und Inhalten der Hochschulpolitik im Freistaat Sachsen; Michael Schmitt legt schließlich den Fokus auf die Würzburger Professorenschaft in der Übergangszeit zur nationalsozialistischen Diktatur.

 

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Quelle: http://histbav.hypotheses.org/1285

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Kurzbiographie I: Maria Anna Fürstin zu Salm (1624-1661)


Vorbemerkungen

Mit diesem Beitrag möchte ich, wie bereits angekündigt, eine Reihe biographischer Skizzen von adeligen Frauen der Frühen Neuzeit eröffnen. Neben dem rein Faktischen geht es mir auch darum, die vielen verschiedenen Fragestellungen, mit denen man das Leben einer frühneuzeitlichen Edelfrau untersuchen kann, anschaulich zu machen. In den Beiträgen werden regelmäßig unterschiedliche Quellen und Methoden im Fokus stehen, denn bekanntlich treten bestimmte Quellentypen in Abhängigkeit von der Fragestellung in den Vordergrund, während andere eher nur am Rande interessieren. Unterschiedliche Quellen verlangen jedoch andere Methoden zu ihrer Erschließung. Und manchmal kommt man zu ganz verschiedenen Ergebnissen, wenn man ein und dieselbe Quelle mit verschiedenen Methoden angeht. Indem ich also nicht nur kleine, abgerundete Biographien veröffentliche, sondern das geschichtswissenschaftliche ‚Handwerk‘, das dahinter steckt, offen lege, kann ich gleichzeitig einige Facetten des Forschungsbereichs ‚Adelige Frau‘ beleuchten, ohne zu theoretisch und abstrakt zu werden.

Maria Anna – eine besondere Edelfrau

Maria Anna Fürstin zu Salm wurde am 4. Mai 1624 als einziges Kind von Dietrich IV. Graf von Bronckhorst-Batenburg zu Anholt (1578-1649) und seiner zweiten Ehefrau Maria Anna von Immerzeel und Bokhoven auf Schloss Anholt geboren. Sie wuchs wahrscheinlich auf Schloss Anholt bei ihrem Vater auf. Über ihren Bildungsweg ist nichts weiter bekannt. Da ihr Vater verhältnismäßig hoch gebildet war, er sprach latein, italienisch und französisch und verfasste ein Alterswerk über Fragen der Moral und Politik (auf Französisch), so können wir davon ausgehen, dass auch Maria Anna eine der Zeit entsprechende Ausbildung bekommen hat. Ob sie nur Privatunterricht bekam oder auch ein adeliges Damenstift besuchte, ist nicht bekannt. Jedenfalls bezeugen die von ihr überlieferten Briefe, dass sie Französisch konnte. Ihre Familie zählte als ‘Bannerherrn’ des Herzogtums Geldern und der Grafschaft Zutphen seit dem Mittelalter zu den wichtigsten Adelsgeschlechtern der deutsch-niederländischen Grenzregion. Die Dynastie hatte sich allerdings im Spätmittelalter durch eine Reihe von Erbteilungen in mehrere Äste aufgespalten. Die Anholter Linie, der Maria Anna entstammte, ging zum Beispiel zurück auf ihren Ur-Ur-Ur-Großvater Dietrich I. (+1488). Was zum Zeitpunkt von Maria Annas Geburt noch niemand wissen konnte, mit ihr sollte die Zeit der Anholter Linie zu Ende gehen. Denn ihre Mutter starb im Wochenbett und da ihr Vater nicht wieder heiratete, war relativ schnell klar, dass Maria Anna Alleinerbin ihres Vaters werden würde. Als sogenannte ‘Erbtochter’ war sie eine Besonderheit unter den jungen heiratsfähigen Edelfrauen ihrer Zeit.

Heiratspläne

Zunächst einmal erhöhte ihr Status als Erbtochter Maria Annas Chancen auf dem Heiratsmarkt – was auch bitter nötig war, denn die Stellung der Familie in der adeligen Ranggesellschaft war alles andere als gefestigt. Ihr Vater Dietrich war nämlich erst 1621 zusammen mit seinem Bruder Johann Jakob vom Kaiser aus dem Freiherren- in den Reichsgrafenstand erhoben worden. Und so bedeutend und alt-eingesessen die Familie am Niederrhein auch sein mochte, für die Grafen und Fürsten des Reiches waren sie zunächst einmal Emporkömmlinge, denen man die Ranggleichheit nicht automatisch zugestehen durfte. War es grundsätzlich schwierig, in dieser Richtung geeignete Kandidaten für Maria Annas Hand zu finden, verbot es sich erst recht, die Heiratskandidaten ‘vor Ort’ zu suchen, wie man es in all den Jahrhunderten zuvor immer gehalten hatte. Denn die traditionellen Heiratspartner waren aus Sicht der nunmehr gräflichen Familie nicht mehr standesgemäß. Eine Fortsetzung des Konnubiums hätte die eigene Position noch weiter destabilisiert. Glücklicherweise kompensierte in gewisser Weise die Aussicht auf ein umfangreiches Erbe – Dietrich IV. war im Besitz mehrerer Herrschaften zwischen Anholt, Geldern und Kleve – den Makel des sozialen Aufstiegs. So verhandelte Dietrich in den 1630er Jahren gleich mit drei Grafenfamilien, allerdings kam es nie zu einer Eheberedung. Aus Sicht der Dynastie muss man sagen zum Glück, denn schließlich fand sich mit dem jungen Fürsten Leopold Philipp Carl zu Salm ein exquisiter Kandidat in Anholt ein. Die Familie Salm war zwar selbst erst 1623 in den Fürstenstand aufgestiegen, sie zählte aber unangefochten unter die altgräflichen Häuser im Reich. Einer von Leopold Philipps Vorfahren war im ausgehenden 11. Jahrhundert sogar Gegenkönig von Heinrich IV. gewesen. Für Dietrich von Bronckhorst-Batenburg war diese Verbindung also äußerst attraktiv. Über die Verhandlungen im Vorfeld der Eheberedung, die sicherlich einige Monate, wenn nicht sogar Jahre in Anspruch genommen haben werden, ist nichts weiter bekannt. Ein Mitspracherecht hatte Maria Anna bei dieser Angelegenheit nach allgemeiner Überzeugung nicht. Traditionell wurden die Verhandlungen zwischen dem Vater der Braut und dem Bräutigam, wenn er bereits mündig war, geführt. Es ist aber nicht auszuschließen, dass Maria Annas Vater sie ernsthaft um ihre Meinung gefragt hat. Vorbilder dafür gab es. Wie auch immer Maria Annas Einstellung gegenüber Leopold Philipp Carl war, am 22. Oktober 1641 schlossen die Parteien einen Ehevertrag. Und so wurde die junge Gräfin zu Bronckhorst-Batenburg die Ehefrau des dritten Fürsten zu Salm.

Vliegenthart_01a_Bronckhorster Galeriebild 1645

Das sog. Bronckhorster Galeriebild (168 cm x 247 cm) aus dem Jahr 1645 wurde vermutlich von Dietrich IV. in Auftrag gegeben. Es zeigt in der Mitte ein idealisiertes Porträt von Maria Anna. Um sie herum sind Porträts von Vorfahren und exemplarische Gemälde der damaligen Familiengalerie gruppiert. Kleine Porträts des Herrscherpaares finden sich auf der linken Seite unterhalb der Gottesmutter.

 

Eine privilegierte Ehefrau?

Maria Annas Ausgangsposition in dieser arrangierten Beziehung war unter den Umständen der Zeit etwas Besonderes. Dies zeigt sich schon darin, dass wahrscheinlich keine Brautfahrt stattgefunden hat, also die Übersiedlung der Ehefrau von der väterlichen Residenz in die des Mannes. Die ersten von Maria Anna überlieferten Briefe vom Jahreswechsel 1641/42 sind alle “de Anholt” gezeichnet. Die meiste Zeit ihres Lebens sollte sie auf dort verbringen, wenn sie nicht zu längeren Besuchen bei ihrer Schwiegermutter in Neuviller-sur-Moselle oder in der Abtei Rèmiremont bei ihren Töchtern war. Auch der Ehevertrag verrät sehr günstige eheliche Rahmenbedingungen für Maria Anna: Für den Fall, dass ihr Mann vor ihr stirbt, erhält sie, wenn sie zusammen Kinder haben, die Regierung und ein Jahrgeld von 6000 Franken lothringischer Währung. Stirbt aber ihr Mann ohne Erben, dann steht ihr nicht nur die Regierung zu, sondern sie erbt außerdem die drei Herrschafften Neuviller, Baion und Tonnau, die ihr Mann mit in die Ehe gebracht hat. In beiden Fällen wäre Maria Anna als Witwe mehr als ausreichend abgesichert, ja sogar in einer komfortablen Situation – etwas, das nicht der Regelfall für adelige Witwen war.

Für Maria Anna von Vorteil war weiterhin, dass Dietrich in diesem Ehevertrag der Tochter bereits zu seinen Lebzeiten die Verfügungsgewalt über ihr Erbe in Aussicht stellte – eine Konsequenz aus ihrem Status als Erbtochter. Diese Regelung wurde schließlich 1645 wirksam, als Dietrich und Leopold Philipp Carl die förmliche Regierungsübergabe beurkundeten. Darin übertrug Dietrich unter Verweis auf die bereits im Ehevertrag ausgesprochene donatio inter vivos all seine “Herrschaften und Güter” auf den Schwiegersohn – gegen eine jährliche Zahlung von 1.200 Reichstalern und eine standesgemäße Ausstattung mit “nötigen Diener und Pferden”. Welche Rolle Maria Anna in dieser Abmachung zukam, wird aus dem Dokument leider nicht deutlich. Allerdings gibt es einige Urkunden über Rechtsgeschäfte, bei denen sie zusammen mit ihrem Ehemann auftritt. Auch Maria Annas Testament (eine erste Version von 1656 und eine zweite von 1658) belegt ihre besondere Stellung als Erbtochter. Sie legte nämlich fest, dass all ihre Herrschaften und Güter, die sie von ihrem Vater geerbt hat, ungeteilt ihrem ältesten Sohn Carl Theodor Otto zufallen sollten. Ihre anderen Kinder erhielten lediglich Jahresrenten zwischen 400 und 800 Reichstalern.

Die Indizien sprechen bisher dafür, dass Maria Anna, weil sie Erbtochter war, im Vergleich zur ‘durchschnittlichen’ fürstlichen Ehefrau autonomer schalten und walten konnte – und das nicht erst als Witwe, denen man üblicherweise ein großes Maß Autonomie zuspricht. Ob die hier skizzierten Rahmenbedingungen für die Ehe in der Praxis gehalten haben, ob also Maria Anna tatsächlich über das übliche Maß hinaus selbstständig und selbstbestimmt agieren konnte, das lässt sich hier (noch) nicht klären. Zugang zum Lebensalltag einer Fürstin erhält man nämlich vor allem durch ihre Korrespondenz. Einblicke in Maria Annas Lebensalltag als Fürstin kann ich aber leider noch keine bieten. Zwar sind Überreste ihrer Korrespondenz im Fürstlich Salm-Salm’schen Archiv überliefert, diese sind aber noch nie ausgewertet worden. Eine Ersterschließung, so perspektivreich sie auch ist, wird jede Menge Zeit verschlingen (auch weil 90% der Briefe auf Französisch verfasst sind).

Bildnachweis:

Adriaan W. Vliegenthart: Die Bildersammlung der Fürsten zu Salm, Zutphen 1981.

 

Quelle: http://edelfrauen.hypotheses.org/34

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Zur Überlieferung der Zwiefalter Chroniken Ortliebs und Bertholds

In zweierlei Hinsicht waltete über den Editionen der lateinischen Chronik des Zwiefalter Benediktiners Berthold ein Unstern. Zum einen ist eine Textherstellung aufgrund von Handschriften des 16. bis 18. Jahrhunderts nach dem Verlust einer noch von Martin Crusius 1590 benutzten hochmittalterlichen Pergamenthandschrift ausgesprochen schwierig, da die Reihenfolge vieler Kapitel erschlossen werden muss. Zum anderen hat der Stuttgarter Archivar Karl Otto Müller (1884–1960), der die Edition der Chroniken Ortliebs und Berthold von dem 1940 verstorbenen Tübinger Professor Erich König  übernommen hatte, die entscheidenden Vorarbeiten des von […]

Quelle: http://ordensgeschichte.hypotheses.org/6323

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Wolxheim – (m)eine Gemeinde im Unterelsass

Nach einem Archivaufenthalt während der Semesterferien kann ich vermelden: Ich habe eine zweite Untersuchungsgemeinde. An die Seite von Bernried am Starnberger See gesellt sich nun Wolxheim, eine kleine Gemeinde, heute im Arrondissement Molsheim, Département Bas-Rhin, etwa 20 Kilometer westlich von Strasbourg in der Nähe der Route des Vins d’Alsace gelegen.

Mairie in Wolxheim (Bas-Rhin)

Mairie in Wolxheim (Bas-Rhin); Foto: A. Schlimm

Die Auswahl einer Gemeinde für den Untersuchungsraum Elsass hat sich länger hingezogen, als ich erwartet hatte – unter anderem lag das daran, dass die Informationen über die archivalische Überlieferungslage nicht gut zugänglich waren. Wolxheim aber hat eine gute Überlieferung (im Vergleich zu anderen Gemeinden dieser Größe), wie ich jetzt weiß. Und das ist für mein Projekt ein gewichtiges Argument. Vor allem die Gemeinderatsprotokolle sind für meinen Untersuchungszeitraum lückenlos zugänglich. Warum das so wichtig ist? Hier habe ich darüber schon einmal geschrieben.

Wolxheim ist – abseits der guten Überlieferungslage – ein „ganz normales“ Dorf, nichts ist besonders herausragend oder speziell. Um 1850 hatte es rund 1000 Einwohner, meist Weinbauern, aber auch Kanalschiffer, denn es liegt am Canal de la Bruche (Breuschkanal), der bis zum Zweiten Weltkrieg als Wasserweg benutzt wurde. Dadurch und durch die geographische Lage – ca. 4,5 Kilometer vom Gerichts- und Kantonsort Molsheim entfernt – war Wolxheim nicht vollkommen isoliert. Vielmehr war es ein typisches Dorf, das im 19. und frühen 20. Jahrhundert zunehmend in überlokale Zusammenhänge integriert wurde und dadurch an vielen Entwicklungen partizipierte, ohne seinen dörflichen Charakter vollkommen zu verlieren.

Foto: A. Schlimm

Im Sitzungsraum in der Mairie Wolxheim; Foto: A. Schlimm

Wolxheim war darüber hinaus ein Dorf, das über eine ganze Reihe gemeindlicher Institutionen verfügte – über eine Feuerwehr zum Beispiel, auch über einen Armenrat. Um 1900 wurde eine Poststelle gegründet, und auch einen Fernsprecher und Telegraphen gab es ungefähr ab diesem Zeitpunkt. Alles in allem zeugt das von einer guten Einbindung in überlokale Kommunikationszusammenhänge bei gleichzeitiger Stärke der gemeindlichen Selbstverwaltung. Und damit ist Wolxheim – in seiner ganzen Normalität – ein guter Untersuchungsgegenstand für meine Arbeit.

Wie geht es nun weiter? Ich werde in den kommenden Monaten versuchen, die Gemeinderatsprotokolle auszuwerten und die sonstigen Archivalien, die ich als Fotografien aus Strasbourg und Wolxheim mitgebracht habe, zu sichten. Im Frühjahr geht es wohl wieder nach Wolxheim, dort wartet ein Schrank voller grob sortierter Unterlagen aus dem 20. Jahrhundert darauf, von mir durchforstet zu werden. Und dann ist da ja auch noch eine dritte Region, die ich untersuchen will … Dazu aber zu einem anderen Zeitpunkt mehr.

Auch wenn ich keine Dörfer, sondern nur in Dörfern untersuche, freue ich mich doch über mein neues Untersuchungsfeld. Willkommen, Wolxheim, auf meinem Schreibtisch, in meinem Kopf, und natürlich auch auf diesem Blog!

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/206

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“Ordonnance du Roi, concernant les Gardes Nationales du Royaume” (16.7.1814): die Reform der französischen Nationalgarde durch Ludwig XVIII.

Archives nationales, F9 359 (affaires militaires, garde nationale : Première Restauration), 16.7.1814:

« Ordonnance du Roi, concernant les Gardes Nationales du Royaume:

Louis, par la grâce de Dieu, Roi de France et de Navarre, à tous ceux qui ces présente verront, Salut:
Sur le rapport de Notre Ministre Secrétaire d’Etat au Département de l’Intérieur;
De l’avis de Notre bien-aimé Frère MONSIEUR, Comte d’Artois, Colonel-Général des Gardes nationales du Royaume;
Vu l’arrêté du gouvernement provisoire du 4 avril, et notre Ordonnance du 31 mai, qui licencient les levées en masse, les bataillons de nouvelles levées et les compagnies de réserve départementale;
Vu les dispositions des lois et décrets en vigueur sur les Gardes nationales;

Nous avons ordonné et ordonnons ce qui suit:

Art. 1er. Les Gardes nationales du Royaume sont toutes sédentaires et divisées en Gardes urbaines et rurales, composées, les premières, des cohortes formées dans les villes ; les secondes, des cohortes formées dans les campagnes. Aucune Garde urbaine ne pourra être déplacée de la ville, et aucune Garde rurale ne pourra être déplacée du canton, que pour les cas et dans les formes qui seront déterminés par une loi.

Art. 2. Les Gardes nationales, en ce qui concerne la simple exécution des lois et réglemens [sic] sur le personnel, le service ordinaire, l’instruction et la discipline dans le service, ressortiront à notre bien-aimé Frère, MONSIEUR, Comte d’Artois, Colonel-Général, qui statuera sur les objets autres que ceux qui exigent notre décision, et qui continueront de nous être soumis par lui, ou, d’après ses ordres, par le Ministre d’Etat Major, Général.

Art. 3. Les Gardes nationales, en ce qui concerne la simple exécution des lois sur la formation des listes, la comptabilité, et sur les réquisitions de service extraordinaire, en cas de trouble ou à défaut de garnisons, continueront de ressortir aux Maires, Sous-Préfets et Préfets, et à Notre Ministre Secrétaire d’Etat au Département de l’Intérieur, sauf communication au Ministre d’Etat Major-Général.

Art. 4. Les projets de lois, d’ordonnances et de réglemens [sic] généraux seront préparés par le Ministre d’Etat Major-Général, soumis à l’acceptation du Prince Colonel-Général, et remis à Notre Ministre Secrétaire d’Etat au Département de l’Intérieur, pour être, s’il y a lieu et suivant leur nature, approuvés par Nous en notre Conseil, ou présentés au Corps Législatif.
Les projets sur lesquels Notre Ministre Secrétaire d’Etat au Département de l’Intérieur aurait cru devoir prendre l’initiative, seront, par lui, communiqués au Ministre d’Etat Major-Général, qui les soumettra au Prince Colonel-Général, et les remettra à Notre dit Ministre avec ses observations.

Art. 5. Notre Ministre Secrétaire d’Etat au Département de l’Intérieur est chargé de l’exécution des présentes.

Paris, le 16 juillet 1814,

Signé Louis. »

 

Zur Quelle:

Die Quelle stellt eine königliche Verordnung Ludwigs XVIII. vom 16.7.1814 zur Organisation der französischen Nationalgarde dar. Sie ist Teil eines umfangreichen Bestimmungswerkes, mit der der König die französische Nationalgarde zu reformieren gedachte. Eine frühere Verordnung vom 5.4.1814 ordnete die Aufstellung der Nationalgarde an. Am 15.5.1814 wurde der Bruder des Königs, der Comte d’Artois (in der Quelle als „Monsieur“ geführt) zum Generaloberst der Nationalgarden im gesamten Königreich ernannt. Am 20.8.1814 und 1.10.1814 folgten weitere Verordnungen des Generalstabs der Nationalgarde, welche die Organisation noch verfeinerten.

Die vorliegende Verordnung hielt das Gesetz zur Nationalgarde von 1791 und zentrale Bestimmungen des Kaiserreichs mit dem Verweis auf die neue Charte Constitutionnelle und der darin verankerten Garantie bestehender Gesetze aufrecht. Somit war der Rahmen vorgegeben, in dem Ludwig 1814 die Reorganisation der Nationalgarde unternahm. So legte Artikel 1 der vorliegenden Verordnung fest, dass jede Nationalgarde im Königreich ortsgebunden sein sollte. Das bedeutete, dass ein Einsatz der Garde außerhalb der jeweiligen Stadt oder des jeweiligen Kantons nur in Ausnahmefällen möglich war. Diese Bestimmung stellte eine Ergänzung zur Auflösung der sogenannten „garde nationale mobile“ dar, die Napoleon während der Vorbereitungen zum Russlandfeldzug als gigantisches Reservoir zur Aushebung neuer Rekruten gedient hatte.

Die Verwaltung der „Garde nationale sédentaire“ beruhte derweil auf vier Instanzen. So legte Artikel 2 der vorliegenden Verordnung fest, dass die Bestimmungen zur Ausbildung, zur Disziplin sowie zum regulären Dienst in das Aufgabengebiet des Generalobersts in der Person des Comte d’Artois fielen. Den Präfekten, Vize-Präfekten und Bürgermeistern sollte gemäß Artikel 3 die Aufstellung der Rekrutierungslisten, die Buchhaltung und das Recht zur Mobilisierung der Nationalgarde in Ausnahmefällen zukommen. Der Generalstab von Artois war derweil nach Artikel 4 für die Erarbeitung von Gesetzesvorschlägen und Verordnungen zuständig, für deren Ausführung wiederum der Innenminister verantwortlich war. Damit rief die Verordnung ein eigenständiges Ministerium für die Nationalgarde ins Leben, das gegenüber dem Innenministerium zu einer Doppelstruktur führte. War die Aufrechterhaltung und Garantie der öffentlichen Ordnung vor allem ein Hoheitsgebiet des Innenministers (und Kriegsministers), wurde ihm mit dem Stab Artois‘ ein Exekutivorgan zur Seite gestellt.

Damit war dem Comte d’Artois das gelungen, was Lafayette als Kommandant der Pariser Nationalgarde zwischen 1789 und 1792 nicht gelungen war: den Oberbefehl über sämtliche Nationalgarden im Königreich in einem Ministerium und in einer Hand zu vereinen. Dieser Vorgang ist aus mehreren Gründen bemerkenswert. Zunächst stellte die vorliegende Verordnung ein klares Bekenntnis Ludwigs XVIII. zur Nationalgarde dar. Diese war während der Revolution in Paris spontan entstanden, ihre Mitglieder waren Angehörige der mittleren und gehobenen Bourgeoisie, die ein Ausufern der Revolution befürchteten. Ihre Sorge galt aber nicht nur der Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung und dem Schutz ihres Eigentums, ihrer Geschäfte und Läden. Das Auftreten der Nationalgarde wurde auch als Teil der politischen Emanzipation des dritten Standes wahrgenommen, der sich hier das Recht auf Teilhabe am Gewaltmonopol aneignete. Die Verfassunggebende Versammlung sorgte mit dem Gesetz zur Nationalgarde von 1791 für die soziale Einhegung der Institution, indem allein sogenannte „citoyens actifs“ in die Nationalgarde aufgenommen wurden. Diese Regelung fand in Lafayette einen prominenten Fürsprecher, wurde aber von Seiten der Jakobiner und insbesondere von Robespierre vehement kritisiert.

Deutlich wird, dass die Nationalgarde bei der Rückkehr der Bourbonen nach Frankreich eine progressive, revolutionäre Institution darstellte, die mit der vorliegenden Verordnung sanktioniert und in das institutionelle Gefüge der neuen Monarchie integriert wurde. Dies entsprach dem Geist der von Ludwig oktroyierten Charte und dem Charakter der französischen Restauration. Die Charte garantierte den Fortbestand bestehender Gesetze (das bedeutet auch jener Gesetze und Institutionen, die aus der Revolution und dem Kaiserreich stammten). Zugleich wurde deutlich, dass die Restauration trotz des dynastischen Anspruchs Ludwigs nicht hinter die Revolution würde zurückgreifen können. Mochte sich Ludwig auch als Nachfahre Ludwigs XVI. und als von Gottes Gnaden bestellter Thronfolger betrachten, konnte er die politische Legitimität doch nur durch die Anerkennung zentraler Prinzipien der Revolution erlangen.

Sicherlich war die Beibehaltung der Nationalgarde auch dem Umstand geschuldet, dass Ludwig nach der Auflösung der Armee Napoleons, deren Reformierung erst langsam anlief und durch die Hundert Tage verzögert wurde, auf die Nationalgarde als bewaffneter Ordnungstruppe angewiesen war. Doch bleibt es bemerkenswert, dass mit dem comte d‘Artois ausgerechnet ein Protagonist des Regimewechsels vom reaktionären Ende des politischen Spektrums Generaloberst der Nationalgarde wurde. Der spätere Karl X. verstand es in den ersten Jahren des Regimes Ludwigs XVIII. ausgezeichnet, die Angehörigen der Nationalgarde von sich zu überzeugen. Schon während seines Einzuges in Paris am 12.4.1814 hatte er die Uniform der Nationalgarde angelegt, was viele Zeitgenossen als einen Grund für den Sturm der Begeisterung nannten, den Artois bei seiner Ankunft in der Stadt unter den Parisern auslöste. Das künftige Regime fand so innerhalb eines besonders einflussreichen Milieus der französischen Gesellschaft einen starken Rückhalt. Anhand der Nomenklatura der Befehlshaber der 13 Legionen der Pariser Nationalgarde lässt sich das Gewicht ihrer Akteure ablesen. Zu ihnen gehörten die wichtigsten Notabeln in Paris, wie etwa der Großindustrielle Terneaux, der spätere Innenminister Lainé oder der Abgeordnete Sosthène de la Rochefoucauld.

 

Zur weiteren Lektüre:

Georges Carrot: La Garde nationale (1789 – 1871). Une force publique ambiguë, Paris 2001

Roger Dupuy: La Garde nationale, 1789-1872, Paris 2010

Louis Girard: La Garde Nationale 1814-1871, Paris 1964

Wolfgang Kruse: Die Erfindung des modernen Militarismus. Krieg, Militär und bürgerliche Gesellschaft im politischen Diskurs der Französischen Revolution 1789 – 1799, München 2003

Volker Sellin: Die geraubte Revolution. Der Sturz Napoleons und die Restauration in Europa, Göttingen 2001

 

Quelle: http://19jhdhip.hypotheses.org/1375

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Eine Quellensammlung zum Büßerinnenhaus St. Hieronymus in Wien

Das bis etwa 1570 bestehende “Büsserinnenhaus” am heutigen Franziskanerplatz in Wien wurde 1383/84 gegründet, um Prostituierte zu resozialisieren. Eine Urkunde Herzog Albrechts III. vom 25. Februar 1384 sagt: zu enthalnisse der armen freyen frawen, die sich von offenen sundigen unleben dem allmechtigen Got zu puss und pezzerung begeben wellent. Der Wiener Kunsthistoriker und Handschriftenexperte Martin Roland hat zu dieser geistlichen Gemeinschaft eine umfassende Quellen- bzw. Regestensammlung ins Netz gestellt, die bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts reicht. Wenn er in einer Mail an mich von [...]

Quelle: http://ordensgeschichte.hypotheses.org/6074

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Joseph Claude Anne Le Gras de Bercagny, 1


AN Paris, BB11 67, Autorisations à des Français d’entrer ou de rester au service des puissances étrangères: Demandes d’autorisations pour entrer ou rester au service des puissances étrangères (décret du 26.8.1811), Royaume de Westphalie, liasse Colinet-Acloque

„Joseph, Claude, Anne, Le Gras de Bercagny, né à Tours, département d’Indre et Loire, le 23 mai 1763.

Éléve de l’école Royale militaire, en 1770. officier au Régiment de Béarn, infanterie, depuis 1778, jusques en 1789.

Controleur général des services militaires, à l’armée d’Italie, en l’an 7.

Secrétaire général de la Préfecture de la Dyle, au mois de frimaire, an 8.

est entré au service de S.M. le Roi de Westphalie avec l’autorisation de S.E. le Ministre de la Police générale, le 20 juillet 1808, en qualité de secrétaire du Cabinet du Roi ; puis Directeur général de la haute Police du Royaume, Préfet de Police, actuellement Préfet du Palais de S.M. et surintendant de ses spectacles ; nommé le 11 de ce mois Préfet du département de l’Elbe ;

n’a de biens en France qu’à St. Domingue et à l’isle de la Réunion.

Certifié véritable.

Le Gras de Bercagny”.


Zur Quelle:

Ein französisch-kaiserliches Dekret vom 26. August 1811 machte es für die französischen Auswanderer, die im Ausland Anstellung gefunden hatten, notwendig, beim französischen Justizminister um die Erlaubnis zu bitten, weiterhin im Ausland dienen zu dürfen. Die westfälischen Staatsdiener französischer Herkunft wurden verpflichtet, einen kaiserlichen Patentbrief für die Anstellung im Königreich Westphalen unter Beibehaltung ihrer französischen Staatsbürgerschaft zu beantragen oder sich für die Naturalisation als westphälische Staatsbürger zu entscheiden. Patent- beziehungsweise Naturalisationsbriefe, die diese Erlaubnis gewährten, wurden ihnen daraufhin in den meisten Fällen erteilt. Die Mehrzahl beantragte Patentbriefe.

Die vorliegende biographische Notiz gehört zum Antrag auf einen Patentbrief von Joseph Claude Anne Le Gras de Bercagny, der als Generaldirektor der Hohen Polizei im Königreich Westfalen von September 1808 bis Oktober 1809 tätig war. Die politische Polizei im Königreich Westfalen zeichnete sich damit aus, dass die politische Überwachung vornehmlich nach innen gerichtet war, gegen die eigene Bevölkerung. „Diese gegen ‚Volksaufwiegler’ im Innern gerichteten Sicherheitsmaßnahmen zeigen den Wandel an von der traditionellen, gegen den äußeren, auszukundschaftenden Feind gerichteten ‚hohen geheimen Polizei’ hin zur ‚modernen’, im 19. Jahrhundert sich ausprägenden politischen Polizei” (Siemann, „Deutschlands Ruhe, Sicherheit und Ordnung”, S. 49). Diese Ausrichtung nach innen, die andere Polizeien erst später erfuhren, war bereits 1808 bei der Errichtung einer spezifischen Generaldirektion der Hohen Polizei im Königreich Westfalen grundsätzlich. Wenn auch für die politische Polizei keine vergleichbaren Vorläufer in der deutschen Staatenwelt genannt werden können, so war nach 1813 Geheimpolizei zu einem geläufigen staatssichernden Instrument gegen staatsgefährdende Untertanen geworden. Diese stark kritisierte Übernahme des französischen Konzepts durch die Obrigkeiten deutscher Territorien nach 1813 geschah auf breiter Basis. Die westfälische Hohe Polizei nahm in mehrfacher Hinsicht Einfluß auf die Entwicklung in den deutschen Landen: Zum einen spielte sie bei den erwähnten Anfängen der politischen Polizei eine wichtige Rolle, zum anderen entwickelte sich infolge ihrer Erscheinung eine kritische Öffentlichkeit gegenüber der Institution Geheimpolizei. Durch die öffentliche Debatte um Polizei und politische Polizei, die sie auslöste und die lange nach 1813 fortgesetzt wurde, initiierte sie unbeabsichtigt eine Entlarvungs- und kritische Rezensionskultur gegenüber politischer Polizei.

Die polizeilichen Strukturen im Königreich Westfalen begannen sich erst im Herbst 1808 zu verändern, nachdem es am 4.–5.9.1808 in Braunschweig zu einem ernstzunehmenden Aufruhr nach einem Streit im Theater zwischen in Zivil gekleideten Gendarmen und Braunschweiger Bürgern. Durch ihn soll Napoleon dazu veranlaßt worden sein, am 14.9.1808 neben der Anordnung der strengen Bestrafung der „Anstifter dieser Emeute”, die französischen Gendarmen in Westfalen für „unnütz” zu erklären und nach Frankreich zurückzurufen, um sie durch ortsansässige bzw. deutschsprachige Gendarmen ersetzen zu lassen (Napoleon, zitiert nach, Goecke, Das Königreich Westphalen, S. 74).
Ein von der Polizei abgefangener Brief des Freiherrn Karl vom Stein an den Fürsten Wilhelm zu Sayn-Wittgenstein vom 15.8.1808, der auf eine antinapoleonische Stimmung in Westfalen schließen ließ,
hat außerdem nach Meinung einiger Historiker das königliche Dekret vom 18.9.1808 verursacht (Vgl. u.a. Thimme, Die inneren Zustände des Kurfürstentums Hannover, Bd. 2, S. 168, 170; vgl. Ders., Neue Mittheilungen zur Geschichte der hohen oder geheimen Polizei, S. 86). Nach diesem Dekret wurde eine Generaldirektion der Hohen Polizei unter der Zuständigkeit des Justiz- und Innenministeriums errichtet. Generaldirektor wurde Joseph Claude Anne Legras de Bercagny, der von Kassel aus die allgemeine Ruhe und Ordnung im Königreich Westfalen überwachen sollte. Mit dieser Maßnahme wurde der gesamte Polizeiapparat der bisherigen direkten Aufsicht des Justiz- und Innenministers Joseph Jérôme Siméon teilweise entzogen. Der Generaldirektor sollte künftig mit allen Ministern korrespondieren und obgleich er dem Justiz- und Innenminister unterstand, konnte er bald seine Eigenständigkeit behaupten. Wahrscheinlich um Bercagnys Geschäftsführung im Ressort der politischen Polizei sich ungehindert entfalten zu lassen, spaltete man am 1.1.1809 das Justizministerium vom Ressort des Innern und erreichte so, daß der als Justizminister weiterbeschäftigte Siméon bedeutende Teile seiner amtlichen Befugnisse hinsichtlich der Polizeigeschäfte einbüßte. Die Präfekten, die bis zum 18.9.1808 für die Hohe Polizei zuständig gewesen waren, wurden nicht mehr allein mit dieser Aufgabe betraut. Ihre direkte Verbindung mit dem Justizminister endete. Präfekten und Gendarmerie unterstanden nunmehr dem Generaldirektor. Am 6.12.1808 setzte man darüberhinaus besondere Polizeikommissare für die Gemeinden mit über 5000 Einwohnern ein. Hinzu kam die Bestellung von Generalkommissaren für die acht Departements im Dezember 1808 (Ernennung am 11.11.1808), die unter der Führung des Generaldirektors der Hohen Polizei standen. Schließlich wurden durch ein Dekret vom 5.1.1809 die Aufgaben der einstmaligen Polizeipräfektur mit denen der Generaldirektion der hohen Polizei vereinigt.
Tatsächlich soll erst mit dem Amtsantritt Bercagnys der Aufbau eines Stabs von Agenten und Spitzeln im Königreich angesetzt haben. Bercagnys Definition der Hohen Polizei lautete: Es sei „hauptsächlich diejenige Polizei zu verstehen, welche zum Zweck habe, den Verbrechen gegen den Staat oder die geheiligte Person des Königs vorzubeugen und den verräterischen Umtrieben solcher Personen nachzuspüren, welche die Leichtgläubigkeit des Volkes zur Erregung von Unruhen missbrauchten” (Bercagny, zitiert nach: Thimme, Die inneren Zustände des Kurfürstentums Hannover, Bd. 2, S. 170).
Mit den Aufständen des Jahres 1809 geriet die Generaldirektion unter Legitimationszwang, so dass die Überwachung verschärft wurde. Die Praktiken der Ära Bercagnys sollten schon bald zu einem für die Entwicklung der westfälischen Polizei folgenreichen Skandal führen. Der Generalsekretär der Hohen Polizei, Schalch, hatte sich Zugang zum Kabinett des Finanzministers verschafft und wurde vom Ministier selbst beim Durchstöbern seiner Papiere überführt. In der Folge forderte Bülow Genugtuung vom König. Sämtliche Minister, Siméon an ihrer Spitze, schlossen sich an. Bercagny mußte seinen kompromittierten
Generalsekretär fallenlassen, der nach kurzer Haftzeit im Kastell zu Kassel des Landes verwiesen wurde − später arbeitete er jedoch wieder für die westfälische Polizei. Die Affäre führte jedoch dazu, daß der König Bercagnys Machtmonopol einschränken musste. Er enthob ihn seines Amtes als Generaldirektor und betraute ihn mit der wiederaufgelebten Polizeipräfektur der Stadt Kassel. In allen Departements fiel am 14.10.1809 die Hohe Polizei wieder den Präfekten zu und somit erlangte Siméon wieder mehr Einfluß auf die Gestaltung der Hohen Polizei.

Nach einer angeblichen Verschwörung, die im Mai 1811 als erfunden aufgedeckt wurde, verloren einige Geheimagenten Bercagnys ihre Stellungen. Ihm wurde infolgedessen die Polizeipräfektur entzogen, deren Aufgaben der König dem neuen Chef der Hohen Polizei seit April 1811, Jean François Marie de Bongars, übertrug. Bercagny wurde zunächst Kammerherr und Intendant der Schauspiele, was am Hof als Zeichen der Ungnade Jérômes gewertet wurde. Im November 1811 ernannte ihn der König zum Palastpräfekten und Oberintendanten der Schauspiele. 1812 wurde Bercagny schließlich als Präfekt in Magdeburg eingesetzt.


Weiterführend:

Rudolf Goecke, Das Königreich Westphalen. Sieben Jahre französischer Fremdherrschaft
im Herzen Deutschlands 1807–1813. Nach den Quellen dargestellt von R. Goecke. Vollendet und hg. von Theodor Ilgen, Düsseldorf 1888.

Wolfram Siemann, „Deutschlands Ruhe, Sicherheit und Ordnung”. Die Anfänge der politischen Polizei 1806–1866, Tübingen 1985 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 14).

Friedrich Thimme, Die inneren Zustände des Kurfürstentums Hannover unter der französisch-westfälischen Herrschaft 1806–1813, von der philosophischen Fakultät der Georg-August-Universität zu Göttingen mit dem ersten Preise der Beneke-Stiftung gekrönte Schrift, 2 Bde., Hannover, Leipzig 1893–1895.

Friedrich Thimme, Neue Mittheilungen zur Geschichte der hohen oder geheimen Polizei des Königreichs
Westfalen, in: Zeitschrift des historischen Vereins für Niedersachsen 3 (1898), S. 81–147.

Nicola Peter Todorov, L’administration du royaume de Westphalie de 1807 à 1813. Le département de l’Elbe, Saarbrücken 2011.

Abb. Schnupftabakdose, bezeichnet „In vino veritas”, Manufaktur Stobwasser, 1. Drittel des 19. Jh. Im Hintergrund an der Wand ein Gemälde mit einem Portät Napoleons.

 

Quelle: http://naps.hypotheses.org/293

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Bayernwahl spezial: Die Starnberger Landtagswahl 1875

Ein Spezialartikel zur Landtagswahl in Bayern, das hatte ich mir vorgenommen. Und es wurde ein anekdotischer Rückblick ins Jahr 1875. Denn in der vergangenen Woche bin ich – eher zufällig – über ein paar Zeitungsmeldungen gestolpert, die einen ganz guten Eindruck davon vermitteln, welche Rolle die Landtagswahlen in einem bayerischen Fischerdorf wie Starnberg spielten. Gefunden habe ich die Meldungen im Starnberger See-Boten, einer Wochenzeitung, die ab 1875 in Starnberg erschien, zunächst eben nur einmal in der Woche (immer samstags), und über allerlei Amtliches und Vermischtes, vornehmlich aus Starnberg und Umgebung, berichtete.

Die erste Meldung mit Bezug zur Landtagswahl findet sich in der Ausgabe Nr. 10 (vom 3. Juli 1875, Seite 1). Dort wird in der Rubrik „Amtliches“ bekanntgegeben, dass es vor der Landtagswahl noch die Möglichkeit gibt, den notwendigen Eid auf die Verfassung abzulegen, und zwar nicht nur im Bezirksamt links der Isar in München, sondern auch in Starnberg selbst – an einem Sondertermin am folgenden Dienstag, im Landgerichtslokal. Gleichzeitig informiert der See-Bote darüber, wer eigentlich wahlberechtigt war: „Wahlfähig ist jeder volljährige Staatsangehörige, welcher dem Staate eine directe Steuer entrichtet, soferne er nicht wegen Verurtheilung der bürgerlichen Ehrenrechte verlustig ist.“

Diese Information war dringend notwendig, denn bereits zehn Tage später, am 15. Juli, fand die Wahl der Wahlmänner statt, die Vorstufe der Landtagswahl sozusagen. Auch dieser Termin wurde wenige Tage vorher im See-Boten (Nr. 11 vom 10.07.1875, S.1) angekündigt. Punkt 8 Uhr morgens sollte es losgehen, und zwar im „Tutzingerhof“ (da bekommt das Wort „Wahllokal“ zumindest mal den richtigen Beigeschmack). Erinnert wurde daran, dass jeder, der wählen wollte, selbst anwesend sein musste: „Stellvertretung [findet] nicht statt“.

Zudem macht der See-Bote klar, welche Auswirkungen der wirtschaftliche Stand auf das Wahlrecht hat: „Jene Personen, welche bloße Einkommensteuer bezahlen, können als Wahlmann nicht gewählt werden, da nach einer hohen Ministerial-Entschließung vom 29. April 1869 die bloße Bezahlung von Einkommensteuer die passive Wahlfähigkeit zum Wahlmann bei den Landtagswahlen nicht begründet.“ (Ebd.) Man musste also auch andere Steuern als nur Einkommenssteuer bezahlen. Der Grundbesitz (und damit die Grundsteuerpflichtigkeit) dürfte es gewesen sein, die einen Bayern zum politisch voll Berechtigten machte. Wer keinen eigenen Grund und Boden besaß, konnte zwar abstimmen, aber nicht selbst Wahlmann sein. Darüber hinaus vermute ich mal: Wirtschaftliche Selbständigkeit dürfte es erst ermöglicht haben, überhaupt an der Wahlversammlung teilzunehmen. Donnerstags morgens um acht waren unselbständig Beschäftigte, auch wenn sie ein ausreichendes Einkommensteueraufkommen hatten, in der Regel wohl nicht so frei, in den Tutzingerhof zu gehen, um ihre Stimme abzugeben.

Nichtsdestotrotz, der See-Bote rief zur Wahl auf – und zu Vernunft und Besonnenheit:

„[A]n die Urwähler Starnberg’s! Mit Riesenschritten rückt jener ernste Tag immer näher an uns heran, wo wir uns zur Wahlurne zu begeben haben um aus unserer Mitte jene Männer zu wählen, welche das Vertrauen besitzen und Einsicht haben, für das Wohl und Gedeihen unseres lieben Vaterlandes entschieden mitzuwirken. Wir sollen deshalb als Staatsbürger die wenigen noch vor uns liegenden Tage nicht gleichgiltig [sic] vorübergehen lassen, ohne nicht auch den großen Wert dieser Wahl in’s Auge zu fassen; es muß deshalb jedem Bürger von uns sehr daran gelegen sein, Männer zu wählen, bei denen man sich überzeugte, daß dieselben nicht nur geistige Befähigung besitzen, sondern nebst dieser Eigenschaft auch einen festen Charakter behaupten und ihre Gesinnungen standhaft vertheidigen um nicht bei jeder Anfechtung ihre Farbe zu wechseln. – Möge diese Wahl eine unbeschränkte sein und nur auf oben Angeführtes Bedacht genommen werden.“ (Ebd.)

Schlussendlich wurde in der nächsten Ausgabe (Nr. 12 vom 17. Juli 1875, S. 1) über den Ausgang der Wahl in Starnberg berichtet. Ganz ruhig, entschlossen und gesittet sei die Wahl verlaufen. Von acht bis elf wurde gewählt, dann war alles vorbei. Offenbar kamen aber auch später noch Wähler, um ihre Stimme abzugeben – ohne Erfolg. Insgesamt wurden 248 Wahlzettel abgegeben, von denen nur 2 ungültig waren. Gewählt wurden Sigmund v. Schab, königlicher Landrichter (der übrigens auch Leiter der Versammlung gewesen war), Xaver Friedl, Ökonom und Bürgermeister der Gemeinde Percha, Joseph Halmburger, Gastgeber, Adalbert Kinzinger, Silberarbeiter, und Simon Popp, Tapezierer. Alle – abgesehen vom Richter – waren, so ist zu vermuten, Selbständige. Und alle waren, wie der Seebote berichtete, Liberale. Auf den ersten Blick stimmte Starnberg also sehr geschlossen ab. Die Meldung im Seeboten verrät aber, dass die Wahl keineswegs so eindeutig war. Denn v. Schab, der die meisten Stimmen erhielt, konnte nur 131 davon auf sich vereinen – bei 246 gültigen Wahlzetteln liegt das nur knapp über der 50%-Marke. Offenbar waren sich also die Starnberger gar nicht so einig, wer sie am besten vertreten könnte, und es scheint doch eine Konkurrenz zwischen Kandidaten gegeben zu haben.

Nun haben wir einiges über die Wahlmänner-Wahlen in Starnberg erfahren. Angesichts der geringen Informationsdichte des See-Boten war die Wahl über immerhin drei Wochen hinweg das Top-Thema im Blatt. Doch mit der Wahl der Wahlmänner war die Berichterstattung erschöpft. Über die eigentliche Landtagswahl am 24. Juli 1875, die durch die Wahlmänner ausgeführt wurde, und ihre Ergebnisse berichtete der See-Bote nicht mehr. Offenbar befand der Herausgeber dieses Thema nicht für ausreichend relevant, um darüber zu berichten und die Ergebnisse zu kommentieren. Die „große“ Politik – Landtagswahl – blieb doch zumindest in der massenmedialen Berichterstattung sehr stark auf das eigene Umfeld bezogen. Es waren die Landtagswahlen in Starnberg, über die berichtet wurde, nicht die im Königreich Bayern. Wann sich das wohl änderte?

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/168

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Zeitverkauf

 

Geschichte wird gemessen, gezählt, gedeutet, erzählt. So verpackt, dient sie sehr unterschiedlichen Zwecken: zur Orientierung der Zeitgenossen in ihrer Gegenwart, für den Druck in Hochglanzmagazinen, als fein abgewogene Ware. Mal gibt es zu viel von ihr, mal zu wenig, zuweilen ist sie veraltet, dann wieder aufregend neu. Lesen Sie, wie sich die Geschichtsdidaktik in diesem Geschäft mit vielen Konkurrenten schlägt.

 

Konkurrenzen

Eines der wesentlichen Versprechen der Geschichtsdidaktik an die Geschichtslernenden ist die Orientierung in der Gegenwart durch Zeiterfahrung. Das Angebot ist freilich nicht konkurrenzlos. So hatte ich kürzlich ein ganz eigenes Zeiterlebnis in jenem Organ, das hierzulande zumindest einer geschmacklich gebildeten Intelligenz beim Denken die Richtung weist, dem Zeit-Magazin. Dort bewarb die Firma Rolex ihre exquisiten Armbanduhren, die an den Gelenken von „testimonials“ wie Martin Luther King, Sophia Loren oder Roger Federer prangten. Die rhetorische Frage „Warum diese Uhr?“ wurde so beantwortet: „Sie war Zeitzeugin. Sie war dabei, als Worte gesprochen wurden, die ganze Nationen bewegten. Als Menschen über sich selbst hinauswuchsen.“ Dann in Fettdruck: „Sie zählt nicht nur die Zeit. Sie erzählt Zeitgeschichte.“ Ich dachte mir: Welch freisinniger Umgang mit Begriffen und Werten meiner Disziplin! Als Geschichtsdidaktiker fühlte ich mich herausgefordert.

Manchester, zum Beispiel

Das Heft las ich auf dem Rückflug von einem Besuch des englischen Manchester, was nicht ohne Wirkung auf meine Gedankengänge blieb. Schließlich ist Großbritannien ein Land von großem historischem Bewusstsein (während zugleich der Geschichtsunterricht mindestens so im Argen liegt wie in Deutschland, weshalb man ihn auf der Insel schon in der Mittelstufe abwählen darf). Während meines Aufenthalts war ich in einer Image-Broschüre der Stadt zwischen tausend Empfehlungen für stilvolles Essen, beglückendes Shopping oder erfolgreiches Investment auf einen ehrgeizigen Abriss zum, wie es in den angelsächsischen Ländern heißt, local heritage gestoßen. Tatsächlich häufen sich ja in Manchester menschheitsgeschichtliche Highlights in erstaunlicher Zahl: Hier lag der Abgangsbahnhof der ersten regelmäßig verkehrenden Personen-Eisenbahn der Welt, der namengebende Ursprung des entfesselten Kapitalismus, der Ort des Zusammentreffens von Karl Marx mit Friedrich Engels (dadurch wohl die Wiege des Marxismus), die Heimat des female suffrage in Person der Frauenrechtlerin Emmeline Pankhurst, die Wirkungsstätte des Computer-Pioniers Alan Turing (der im Zweiten Weltkrieg den deutschen Enigma-Code für den britischen Geheimdienst knackte), später eine Keimzelle für das in guter multiethnischer Nachbarschaft gelebte diversity-Konzept sowie ein erster Sonnenplatz der ihr Versteck verlassenden gay scene. Zu den Schattenseiten des Erbes rechneten die Autoren die miserablen Zustände in den Baumwollspinnereien (die Engels zu seiner „Lage der arbeitenden Klasse“ veranlassten), jene von der Kavallerie niedergemähte Protestkundgebung von 1819 („Peterloo-Massaker“, mit elf Todesopfern), die schweren Rassenunruhen der 1970er Jahre, das größte Bombenattentat in Friedenszeiten auf englischem Boden (mit welchem die IRA 1996 die halbe Innenstadt in Schutt und Asche legte). Die Konklusion der historischen Erzählung lautete demnach grob: In dieser ehrwürdigen Stadt wurde zwar der Manchester-Liberalismus erfunden und mit ihm die infame Idee des „serious wealth“, aber eben auch eine kritische Gegenerzählung durch die Arbeiter – und überhaupt alle möglichen Befreiungsbewegungen.

People love places with a scandalous past

Erleben lässt sich dieses Narrativ der Aussöhnung, wenn man auf einem Spaziergang entlang der schmalen Kanäle Manchesters sieht, wie sich in den zahllosen aufgelassenen Fabriken und Lagerhäusern – für deren Abriss nach dem Ende der industriellen Hochzeit schlicht das Geld fehlte – aktuell eine erstarkte Bürgerschaft zwischen gusseisernen Hallenkonstruktionen, Resten ausgedienter Maschinenparks, unverputzten Backsteinmauern behaglich einrichtet. Dieses Prinzip der Konservierung nach dem Typ „Vergangenheit schlägt Funktion“ begegnet uns genauso im Berliner Scheunenviertel, wo junge Menschen Cocktails unter der sehr alten Ankündigung einer Armenspeisung trinken, oder in Paris, wo im vormals jüdisch geprägten Marais das liebevoll gepflegte Ladenschild einer koscheren Bäckerei nunmehr die Eingangstür einer Designer-Boutique ziert. Die Entscheidung, in solch erinnerungssattem Bezirk zu wohnen, auszugehen, einzukaufen, heißt dann zwar immer, sich anhand des historischen Zitats, des spielerischen Symbols, des ironischen Simulacrums in die besondere Geschichte des Ortes einzuschreiben. Oder wie mir ein flinker Makler einmal frohgemut verkündete: People love places with a scandalous past. Aber derart postmodernes Geschichtsbewusstsein ruft auch aus: Die Gegenwart ist gerade keine bloße Weiterentwicklung des Gewesenen, sondern dessen souveräne Inspiration und zuweilen sein Gegenentwurf.

Der angebissene Apfel

Ja, wir lieben diese Sorte marktgängig konfektionierter Geschichte heute sehr und daher wird sie uns, gut kapitalistisch, käuflich. Das mag den behaupteten Zeitzeugenstatus sogar von etwas derart Seelenlosem und, nebenbei, rührend Altmodischem wie einer Armbanduhr begründen. Indessen weiß die Geschichtsdidaktik, dass die Zählung der Zeit so wenig als rational kalkulierendes Geschäft gelingt wie ihre erzählende Deutung und Interpretation. Die Wahrnehmung des Vergehens ist vielmehr selbst ein Zeitphänomen. Und deswegen kennt die Orientierung der Lebenswelt durch Geschichte – das heißt wörtlich: die Weisung des Weges nach Osten, Richtung Sonnenaufgang, nach Jerusalem, ins Paradies – nur Schlangenlinien. Alan Turing jedenfalls wählte 1954 noch den Freitod, nachdem ihn sein Staat durch ein medizinisches Programm zur Bekämpfung der Homosexualität psychisch zerstört hatte. Dazu verzehrte er einen vergifteten Apfel (die Umrisse der angebissenen Frucht dienten später womöglich als Vorbild des Apple-Logos). Im Jahr 2012 jedoch, zu seinem hundertsten Geburtstag, machte der olympische Fackellauf mit Zielort London Station an dem mittlerweile ihm zu Ehren in Manchester errichteten „Memorial“. Ob Turing jemals eine Rolex besaß, ist unwahrscheinlich; aber der von viel jubelndem Volk begleitete Stabtausch der Erinnerung ist auch so gut bezeugt. Public History eben.

 

Literatur

  • Michele Barricelli: Gegenwart und Erinnerung in der großen Stadt. Ein Bericht über symbolisches Geschichtsbewusstsein in Prozessen des urbanen Wandels („Gentrification“). In: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften 1/2013.
  • Carla van Boxtel/Stephan Klein/Ellen Snoep (Hrsg.): Heritage Education. Challenges in Dealing With the Past. Amsterdam 2011.
  • Mike Seidensticker: Werbung mit Geschichte. Ästhetik und Rhetorik des Historischen. Köln u.a. 1995.

Externe Links

Abbildungsnachweis

© Michele Barricelli, Royal Mills in Manchester: Apartments for Sale.

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Quelle: http://public-history-weekly.oldenbourg-verlag.de/1-2013-1/zeitverkauf/

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