Schwangere und Gebärende unter Beobachtung 1750–1830. Der ärztliche Fallbericht im Kontext der französischen Geburtshilfe 1750–1830

http://19jhdhip.hypotheses.org/2344 Lucia Aschauer (geb. 1988) studierte Politik- und Geschichtswissenschaft an der Sciences Po (Paris) und der UvA (Amsterdam). Seit 2012 arbeitet sie unter Betreuung von Rudolf Behrens (Ruhr-Universität Bochum) und Regina Schulte (Ruhr-Universität Bochum) an einer Promotionsschrift zur Rolle des Fallberichts in der Etablierung der ärztlichen Geburtshilfe in Frankreich zwischen 1750 und 1830. Seit 2015 […]

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2015/10/6181/

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“Ordonnance du Roi, concernant les Gardes Nationales du Royaume” (16.7.1814): die Reform der französischen Nationalgarde durch Ludwig XVIII.

Archives nationales, F9 359 (affaires militaires, garde nationale : Première Restauration), 16.7.1814:

« Ordonnance du Roi, concernant les Gardes Nationales du Royaume:

Louis, par la grâce de Dieu, Roi de France et de Navarre, à tous ceux qui ces présente verront, Salut:
Sur le rapport de Notre Ministre Secrétaire d’Etat au Département de l’Intérieur;
De l’avis de Notre bien-aimé Frère MONSIEUR, Comte d’Artois, Colonel-Général des Gardes nationales du Royaume;
Vu l’arrêté du gouvernement provisoire du 4 avril, et notre Ordonnance du 31 mai, qui licencient les levées en masse, les bataillons de nouvelles levées et les compagnies de réserve départementale;
Vu les dispositions des lois et décrets en vigueur sur les Gardes nationales;

Nous avons ordonné et ordonnons ce qui suit:

Art. 1er. Les Gardes nationales du Royaume sont toutes sédentaires et divisées en Gardes urbaines et rurales, composées, les premières, des cohortes formées dans les villes ; les secondes, des cohortes formées dans les campagnes. Aucune Garde urbaine ne pourra être déplacée de la ville, et aucune Garde rurale ne pourra être déplacée du canton, que pour les cas et dans les formes qui seront déterminés par une loi.

Art. 2. Les Gardes nationales, en ce qui concerne la simple exécution des lois et réglemens [sic] sur le personnel, le service ordinaire, l’instruction et la discipline dans le service, ressortiront à notre bien-aimé Frère, MONSIEUR, Comte d’Artois, Colonel-Général, qui statuera sur les objets autres que ceux qui exigent notre décision, et qui continueront de nous être soumis par lui, ou, d’après ses ordres, par le Ministre d’Etat Major, Général.

Art. 3. Les Gardes nationales, en ce qui concerne la simple exécution des lois sur la formation des listes, la comptabilité, et sur les réquisitions de service extraordinaire, en cas de trouble ou à défaut de garnisons, continueront de ressortir aux Maires, Sous-Préfets et Préfets, et à Notre Ministre Secrétaire d’Etat au Département de l’Intérieur, sauf communication au Ministre d’Etat Major-Général.

Art. 4. Les projets de lois, d’ordonnances et de réglemens [sic] généraux seront préparés par le Ministre d’Etat Major-Général, soumis à l’acceptation du Prince Colonel-Général, et remis à Notre Ministre Secrétaire d’Etat au Département de l’Intérieur, pour être, s’il y a lieu et suivant leur nature, approuvés par Nous en notre Conseil, ou présentés au Corps Législatif.
Les projets sur lesquels Notre Ministre Secrétaire d’Etat au Département de l’Intérieur aurait cru devoir prendre l’initiative, seront, par lui, communiqués au Ministre d’Etat Major-Général, qui les soumettra au Prince Colonel-Général, et les remettra à Notre dit Ministre avec ses observations.

Art. 5. Notre Ministre Secrétaire d’Etat au Département de l’Intérieur est chargé de l’exécution des présentes.

Paris, le 16 juillet 1814,

Signé Louis. »

 

Zur Quelle:

Die Quelle stellt eine königliche Verordnung Ludwigs XVIII. vom 16.7.1814 zur Organisation der französischen Nationalgarde dar. Sie ist Teil eines umfangreichen Bestimmungswerkes, mit der der König die französische Nationalgarde zu reformieren gedachte. Eine frühere Verordnung vom 5.4.1814 ordnete die Aufstellung der Nationalgarde an. Am 15.5.1814 wurde der Bruder des Königs, der Comte d’Artois (in der Quelle als „Monsieur“ geführt) zum Generaloberst der Nationalgarden im gesamten Königreich ernannt. Am 20.8.1814 und 1.10.1814 folgten weitere Verordnungen des Generalstabs der Nationalgarde, welche die Organisation noch verfeinerten.

Die vorliegende Verordnung hielt das Gesetz zur Nationalgarde von 1791 und zentrale Bestimmungen des Kaiserreichs mit dem Verweis auf die neue Charte Constitutionnelle und der darin verankerten Garantie bestehender Gesetze aufrecht. Somit war der Rahmen vorgegeben, in dem Ludwig 1814 die Reorganisation der Nationalgarde unternahm. So legte Artikel 1 der vorliegenden Verordnung fest, dass jede Nationalgarde im Königreich ortsgebunden sein sollte. Das bedeutete, dass ein Einsatz der Garde außerhalb der jeweiligen Stadt oder des jeweiligen Kantons nur in Ausnahmefällen möglich war. Diese Bestimmung stellte eine Ergänzung zur Auflösung der sogenannten „garde nationale mobile“ dar, die Napoleon während der Vorbereitungen zum Russlandfeldzug als gigantisches Reservoir zur Aushebung neuer Rekruten gedient hatte.

Die Verwaltung der „Garde nationale sédentaire“ beruhte derweil auf vier Instanzen. So legte Artikel 2 der vorliegenden Verordnung fest, dass die Bestimmungen zur Ausbildung, zur Disziplin sowie zum regulären Dienst in das Aufgabengebiet des Generalobersts in der Person des Comte d’Artois fielen. Den Präfekten, Vize-Präfekten und Bürgermeistern sollte gemäß Artikel 3 die Aufstellung der Rekrutierungslisten, die Buchhaltung und das Recht zur Mobilisierung der Nationalgarde in Ausnahmefällen zukommen. Der Generalstab von Artois war derweil nach Artikel 4 für die Erarbeitung von Gesetzesvorschlägen und Verordnungen zuständig, für deren Ausführung wiederum der Innenminister verantwortlich war. Damit rief die Verordnung ein eigenständiges Ministerium für die Nationalgarde ins Leben, das gegenüber dem Innenministerium zu einer Doppelstruktur führte. War die Aufrechterhaltung und Garantie der öffentlichen Ordnung vor allem ein Hoheitsgebiet des Innenministers (und Kriegsministers), wurde ihm mit dem Stab Artois‘ ein Exekutivorgan zur Seite gestellt.

Damit war dem Comte d’Artois das gelungen, was Lafayette als Kommandant der Pariser Nationalgarde zwischen 1789 und 1792 nicht gelungen war: den Oberbefehl über sämtliche Nationalgarden im Königreich in einem Ministerium und in einer Hand zu vereinen. Dieser Vorgang ist aus mehreren Gründen bemerkenswert. Zunächst stellte die vorliegende Verordnung ein klares Bekenntnis Ludwigs XVIII. zur Nationalgarde dar. Diese war während der Revolution in Paris spontan entstanden, ihre Mitglieder waren Angehörige der mittleren und gehobenen Bourgeoisie, die ein Ausufern der Revolution befürchteten. Ihre Sorge galt aber nicht nur der Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung und dem Schutz ihres Eigentums, ihrer Geschäfte und Läden. Das Auftreten der Nationalgarde wurde auch als Teil der politischen Emanzipation des dritten Standes wahrgenommen, der sich hier das Recht auf Teilhabe am Gewaltmonopol aneignete. Die Verfassunggebende Versammlung sorgte mit dem Gesetz zur Nationalgarde von 1791 für die soziale Einhegung der Institution, indem allein sogenannte „citoyens actifs“ in die Nationalgarde aufgenommen wurden. Diese Regelung fand in Lafayette einen prominenten Fürsprecher, wurde aber von Seiten der Jakobiner und insbesondere von Robespierre vehement kritisiert.

Deutlich wird, dass die Nationalgarde bei der Rückkehr der Bourbonen nach Frankreich eine progressive, revolutionäre Institution darstellte, die mit der vorliegenden Verordnung sanktioniert und in das institutionelle Gefüge der neuen Monarchie integriert wurde. Dies entsprach dem Geist der von Ludwig oktroyierten Charte und dem Charakter der französischen Restauration. Die Charte garantierte den Fortbestand bestehender Gesetze (das bedeutet auch jener Gesetze und Institutionen, die aus der Revolution und dem Kaiserreich stammten). Zugleich wurde deutlich, dass die Restauration trotz des dynastischen Anspruchs Ludwigs nicht hinter die Revolution würde zurückgreifen können. Mochte sich Ludwig auch als Nachfahre Ludwigs XVI. und als von Gottes Gnaden bestellter Thronfolger betrachten, konnte er die politische Legitimität doch nur durch die Anerkennung zentraler Prinzipien der Revolution erlangen.

Sicherlich war die Beibehaltung der Nationalgarde auch dem Umstand geschuldet, dass Ludwig nach der Auflösung der Armee Napoleons, deren Reformierung erst langsam anlief und durch die Hundert Tage verzögert wurde, auf die Nationalgarde als bewaffneter Ordnungstruppe angewiesen war. Doch bleibt es bemerkenswert, dass mit dem comte d‘Artois ausgerechnet ein Protagonist des Regimewechsels vom reaktionären Ende des politischen Spektrums Generaloberst der Nationalgarde wurde. Der spätere Karl X. verstand es in den ersten Jahren des Regimes Ludwigs XVIII. ausgezeichnet, die Angehörigen der Nationalgarde von sich zu überzeugen. Schon während seines Einzuges in Paris am 12.4.1814 hatte er die Uniform der Nationalgarde angelegt, was viele Zeitgenossen als einen Grund für den Sturm der Begeisterung nannten, den Artois bei seiner Ankunft in der Stadt unter den Parisern auslöste. Das künftige Regime fand so innerhalb eines besonders einflussreichen Milieus der französischen Gesellschaft einen starken Rückhalt. Anhand der Nomenklatura der Befehlshaber der 13 Legionen der Pariser Nationalgarde lässt sich das Gewicht ihrer Akteure ablesen. Zu ihnen gehörten die wichtigsten Notabeln in Paris, wie etwa der Großindustrielle Terneaux, der spätere Innenminister Lainé oder der Abgeordnete Sosthène de la Rochefoucauld.

 

Zur weiteren Lektüre:

Georges Carrot: La Garde nationale (1789 – 1871). Une force publique ambiguë, Paris 2001

Roger Dupuy: La Garde nationale, 1789-1872, Paris 2010

Louis Girard: La Garde Nationale 1814-1871, Paris 1964

Wolfgang Kruse: Die Erfindung des modernen Militarismus. Krieg, Militär und bürgerliche Gesellschaft im politischen Diskurs der Französischen Revolution 1789 – 1799, München 2003

Volker Sellin: Die geraubte Revolution. Der Sturz Napoleons und die Restauration in Europa, Göttingen 2001

 

Quelle: http://19jhdhip.hypotheses.org/1375

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Poeten, Patrone und Patrioten. Preußens Landwehr in adelsgeschichtlicher Perspektive

Allerlei Gestalten, groß und klein, pummelig dick bis hungersdünn, mit Zylinder und Samtweste vielleicht ein oder zwei, mit Mütz und Litewka keiner dabei, zerlumpt, barfüßig, darbend kommen so viel mehr, manch einer auch von weiter her. Zwischen 32 und 39 Jahre sind sie alt, Greise bald. Sind vom 2. Landwehr-Aufgebot, im Kriege blieben viele tot. Des Sonntags auf dem großen Acker, in Reih und Glied, angetreten zum Appell. Sie halten sich recht wacker, keiner der’s verriet, doch durchgezählt ist schnell: Frings, Hansen, Schmitz, Hausmann, Esser, Fritz – werden rasch eingetragen, auf das es Ihnen bald gehe an den Kragen, in die Liste säumiger Wehrmänner. Ausgewandert? Nach Virginien letzten Jänner? Krank? Verletzt? Ohne bürgermeisterliches Attest? So werden sie, gleich jetzt, zum Fall für die Gendarmerie. Rechtsschwenk Marsch! Zum Exerzieren ohne Gewehr! Dann Monturpflege, Zeughausdienst – der Leutnant befahl noch manches mehr. Dass einer dabei fror, kam selten vor. Der Dycker Fürst war ihr Major! Einen Gnadenthaler denn auch bekam, wer sich gut benahm.

Die Zeit der Romantik sah viele Dichter in Uniform. Auch die preußische Landwehr wich nicht ab von dieser ‘Norm’. Im Gegensatz zu obigen Zeilen (die mit etwas Glück einen wohlwollenden Schmunzler evozieren mögen) ist ihre Lyrik voll Ästhetik, Esprit, oft tiefer Melancholie. Jene hingegen spiegeln schlicht einige rein subjektive Eindrücke, die der Leser der überaus umfangreichen Appell- und Manöverberichte, Stärkelisten, Tagesbefehle, Bataillonsrapporte und Offizierskorrespondenzen im Dycker Archiv, Niederschlag einer über drei Jahrzehnte währenden aktiven Dienstzeit Josephs zu Salm-Reifferscheidt-Dyck als Offizier der preußischen Landwehr, gewinnen mag. Poeten, Melancholiker, die gab es auch in seinem Bataillon. Und damit ist nicht allein sein Adjutant Leutnant Althoff gemeint, der – es heißt verbotener Liebe trunken – sich anno 1820 mit seines fürstlichen Kommandanten Stieftochter im Tode vereinte. Als völlig ungefährlich, wenn auch kaum weniger anhänglich, erwiesen sich demgegenüber solche Landwehroffiziere, die der Dichtkunst seiner Gattin Constance de Salm huldigten, sie verehrten… .

Fürst Joseph zu Salm-Reifferscheidt-Dyck war im Jahre 1817 freiwillig in die Landwehr eingetreten – man mag sie grob ein auf Grundlage der Allgemeinen Wehrpflicht während der Befreiungskriege errichtetes, lokal organisiertes ‘Reserveheer’ des neupreußischen Staates nennen. Warum er dies (noch im fortgeschrittenen Alter) tat, wie es ihm gelang, trotz fehlender militärischer Ausbildung und Erfahrung, auch in dieser ‘Arena’ zu bestehen, welche Früchte ihm sein langjähriges und zeitraubendes Engagement einbrachte, und nicht zuletzt, was sich der Hohenzollernstaat von seiner Einbindung erhoffte, dies sind Fragen, denen ein einschlägiger Beitrag innerhalb der multiperspektivischen Netzbiographie zu seiner Person nachgeht. Hier hingegen soll für das äußerst breite Erkenntnisspektrum sensibilisiert werden, welches die Nachlässe adliger Landwehroffiziere aus Restauration und Vormärz bieten, die wenigstens im Rheinland im Übrigen zahlreicher sind, als es das Forschungspostulat eines “bürgerlichen Offizierskorps der Landwehr” (Rolf-Dieter Müller) suggeriert. Fürst Joseph ist auch hier nur einer von etlichen, doch er gibt uns wieder einmal  die volle “Messlatte” an die Hand.

Ganz im Sinne einer Adelsgeschichte als ‘Sonde’ zur Ausleuchtung wesentlich breiterer Themenbereiche, lässt sich auf dieser Grundlage noch viel weiter fragen. Zum Beispiel nach Patronage- oder Kreditnetzwerken. Mancher Pächter, Schuldner und Angestellte Fürst Josephs sah in ihm zugleich den lokalen Landwehrkommandeur, mancher Subalternoffizier einen reichen Gönner und Gläubiger. Welche adligen Netzwerke verliefen entlang der lokal bis regional gestrickten Landwehrstrukturen? Dieser war zugleich ein gemeinsamer Erfahrungsraum von Hunderttausenden preußischer Untertanen in national-patriotisch bewegten Zeiten. Konnte die Landwehr im entfeudalisierten Rheinland einen ‘Ersatz’ für verlorene Selbsterfahrungsmöglichkeiten als lokaler Herrschaftsträger bieten? Adel in der Landwehr – ein Bollwerk vor dem Thron? Wie konsequent setzten adlige Landwehroffiziere, hier gar ein ‘liberaler’ Regionalpolitiker, die staatlichen Zivilbehörden (Gensdarmerie, Bürgermeisterei, Landratsamt) zur Verfolgung pflichtvergessener Wehrmänner – und damit auch eigener Interesen – ein. Andersherum eröffnen die Überlieferungen der Adelsarchive einmalige Perspektiven auf die (Un-)Beliebtheit des unbesoldeten, tief in die noch weitgehend ländlichen Strukturen einschneidenden Landwehrdienstes. Landarmut und Auswanderung, Religiosität und Brauchtum scheinen als Ursachen für die oft apostrophierte und von ihren Gegnern im Militärapparat viel bemühte ‘Unzuverlässigkeit’ der Landwehr auch und gerade im Rheinland weit schwerer gewogen zu haben als ‘Vaterlandsvergessenheit’ oder demokratisch-liberale Politisierung. Es gäbe dazu noch so viel zu sagen, und zu forschen… Abtreten! Im Archiv melden! Weitermachen!

Florian Schönfuß

Quelle: http://rhad.hypotheses.org/215

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Nation, Militär und Gesellschaft im postrevolutionären Frankreich

“S.A.R. le Comte d’Artois, Colonel Général des Gardes Nationales du Royaume, causant familiérement avec les Gardes Nationaux de Garde près la statue d’Henry IV”(Quelle: Archives nationales)  

Dissertationsprojekt:  Nation, Militär und Gesellschaft im postrevolutionären Frankreich: zur politischen und gesellschaftlichen Bedeutung der französischen Nationalgarde, 1814–1852

Die sogenannte Restauration in Frankreich wird vielfach vor dem Hintergrund eines stark vereinfachten Gegensatzes von Wiederherstellung der politischen Verhältnisse des Ancien régime und sich krisenhaft durchsetzender Innovation begriffen. Mit der Rückkehr der Monarchie nach Frankreich zu Beginn des 19. Jahrhunderts zeigte sich jedoch, dass Revolution und Kaiserreich nicht übergangen werden konnten, sondern dass beide Tatsachen geschaffen hatten, die in das politische Programm der “postrevolutionären Monarchien” (Bertrand Goujon)  integriert werden mussten. Das Jahr 1814 eröffnete mithin eine postrevolutionäre Epoche, in der die Erinnerung an die jüngste Geschichte allgegenwärtig war. Die Vorstellung eines radikalen politischen Bruchs verstellt allzu oft den Blick auf Kontinuitäten, die sich einerseits anhand zentraler Institutionen manifestierten, welche aus dem staatlichen Gefüge nicht mehr wegzudenken waren. So war der neue König Ludwig XVIII.  bei seiner Machtübernahme 1814 bereit, die während der Revolution entstandene französische Nationalgarde als zentrale militärische Ordnungsmacht anzuerkennen und seinen Bruder, den Comte d’Artois, als Generaloberst dieser Garde einzusetzen. Andererseits übte die jüngste Vergangenheit Frankreichs eine ungeheure Anziehungskraft aus, an der sich die Geister quer durch alle sozialen Gruppierungen schieden. So verband Ludwig XVIII. mit der Revolution die in der Hinrichtung Ludwigs XVI. kulminierende anti-aristokratische Gewalt, der in der kollektiven Erinnerung jedoch zahlreiche Topoi von der Entstehung einer neuen staatlichen Ordnung gegenüberstanden. Dass die revolutionäre Nation nicht zuletzt eine Kriegsgeburt war, zeigte sich daran, dass diese Erinnerung sich besonders am Beispiel militärischer Siege kristallisierte. Valmy und Jemappes standen für den Widerstand der jungen Nation gegen die alten europäischen Mächte; Austerlitz, Jena und Auerstedt markierten den Triumph der aufstrebenden Grande Nation. Das Untersuchungsobjekt meiner Dissertation ist die französische Nationalgarde, die aus den Bürgermilizen hervorging, die sich mit Ausbruch der Revolution 1789 spontan gebildet hatten. Die Nationalgarde wurde mit der Verfassung der ersten konstitutionellen Monarchie von 1791 institutionalisiert und bestand bis 1872 nahezu ununterbrochen fort. Sie stellte eine paramilitärische Einheit dar, deren Mitglieder nicht kaserniert waren und die in aller Regel einen unentgeltlichen Freiwilligendienst leisteten. Es ist bemerkenswert, welchen Raum die Nationalgarde in der öffentlichen Wahrnehmung Frankreichs einnahm. Sie erschien als zentraler Akteur während der großen Umbruchsphasen zwischen 1814 und 1852 und stand permanent im Zentrum der politischen Debatten sowohl während der Bourbonen- und der Julimonarchie als auch der Zweiten Republik. Die Würdigung der Nationalgarde als monarchietreuer Ordnungskraft, die nach der Niederlage der napoleonischen Armee die Hauptstadt vor der sicheren Zerstörung durch die alliierten Truppen bewahrt habe, fand in der zeitgenössischen Presse ein breites Echo. Diese von Ludwig XVIII. propagierte Lesart der französischen Bürgermiliz blieb bis zum Untergang der Bourbonenmonarchie 1830 ein beliebter Topos, der besonders unter der Regentschaft Karls X. der liberalen Opposition als Kritik an der ultrakonservativen Regierung diente. Ein weiterer Allgemeinplatz war der Einsatz der Nationalgarde von Paris während der Julirevolution 1830 zugunsten der neuen konstitutionellen Monarchie Louis-Philippes. Die Nationalgarde verkörperte die bürgerliche Basis, von der aus die Revolution gegen die Herrschaft der Bourbonen und zugunsten der neuen Monarchie geführt worden war. Das Rekurrieren auf die Bürgermiliz diente hier gleichsam der Legitimierung der Revolution und der daraus hervorgegangen Herrschaftsform und sollte darüber hinaus die Trois Glorieuses zum Schlusspunkt jeglicher revolutionärer Erhebung werden lassen. Über den rein institutionengeschichtlichen Rahmen hinausgehend verstehe ich mein Forschungsprojekt zugleich als Teil einer größeren historischen Thematik, der innerhalb der letzten Jahre immer mehr Beachtung sowohl in Frankreich als auch in Deutschland zuteil geworden ist und die die Bedeutung des Krieges für die Entstehung des modernen Nationalstaates umfasst. Am Beispiel der Nationalgarde beschäftige ich mich mit der Frage, welchen Raum Konflikte in der kollektiven Wahrnehmung eingenommen haben. In einem historischen Zeitraum, der von 1814 bis 1852 reicht, untersuche ich, wie in der Rückschau die kriegerischen Auseinandersetzungen der jüngsten Vergangenheit die Vorstellungen von der französischen Nation geprägt haben. Dahinter steht die Frage nach den Erfahrungsprozessen in der französischen Gesellschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das Erkenntnisinteresse beruht auf der Untersuchung, wie Revolution und Kaiserreich einen Erfahrungsraum bildeten, der gegenüber dem Versuch, nach der militärischen Niederlage von 1814 stabile politische Ordnungsmuster  in Frankreich zu etablieren und dabei eine mehr oder weniger reaktionär ausgerichtete monarchische Politik sowie ab 1848 ein demokratisches Regime umzusetzen, in ein Spannungsverhältnis trat. Dieser Erfahrungsraum bestand maßgeblich aus Kriegs- und Gewalterlebnissen, die während der Revolutionskriege und der napoleonischen Feldzüge gemacht wurden. Im Zuge dieser Konflikte, die im Namen der Nation und zu ihrem Schutz ausgetragen wurden, konkretisierte sich die Idee der Nation in besonderem Maße: zum ersten Mal in der Geschichte wurden umfangreiche Rekrutenkontingente eingezogen, Massenheere aufgestellt, die nicht mehr aus Berufssoldaten, sondern aus Staatsbürgern in Uniform bestanden. Die Soldaten entwickelten nicht nur ein Bewusstsein für ihre Pflichten, sondern auch für ihre Rechte. Das heißt, dass die Verpflichtung zum Dienst am Vaterland politischen Partizipationsansprüchen Vorschub leistete.[1] In diesem Zusammenhang stellte die Nationalgarde eine Institution dar, die wie keine andere die Idee der Nation als die Idee der Volkssouveränität verkörperte. Die Nationalgarde erschien als Verwirklichung der Nation in Waffen, deren Angehörige autonom das Recht zur Verteidigung ihrer Interessen und das Gewaltmonopol unabhängig vom Staat wahrgenommen hatten. In der Verteidigung der Nation gegen die inneren und äußeren Feinde wurden die Gardisten zu Trägern jener Gewalterlebnisse. Das Projekt geht der Frage nach, wie sich diese Erfahrungen vor dem Hintergrund des institutionellen Eigensinns der Nationalgarde auf den Meinungsbildungsprozess ihrer Mitglieder im Moment der Rückkehr der Monarchie ausgewirkt haben. Der dem Projekt zugrundeliegende wissenssoziologische Erfahrungsbegriff beruht auf einem konstruktivistischen Grundverständnis von Wirklichkeit. Demnach stellt diese ein soziales Konstrukt dar, das sowohl eine akteursspezifische, als auch eine überindividuelle, soziale Dimension hat.[2] Die Erfahrungen, aus denen sich Wirklichkeit zusammensetzt, mögen individuellen Ursprungs sein in dem Sinne, dass Individuen die Träger von Erfahrungen sind. Zu beachten ist aber einerseits, dass Erfahrungen nicht zwangsläufig selbst gemacht wurden, sondern überindividuelle Bedeutung erlangen konnten und etwa durch Erzählungen oder eine offizielle Erinnerungspolitik kollektiv geteilt wurden. Andererseits wird für die Interpretation von Erlebnissen häufig auf ein Reservoir an vorgeformten Interpretamenten rekurriert. Vor diesem Hintergrund scheint die soziale Determinierung von Erfahrungen zu einem großen Teil auf dem kollektiven Charakter des Deutungswissens zu beruhen, das der sinnhaften Einordnung von Erlebnissen dient und das über einen intersubjektiven Austausch generiert wird. Betrachtet das Individuum Erfahrung als persönlichen, individuellen Akt, so liegen der Deutung dieser Erfahrungen vergesellschaftete Kategorien zugrunde, die über Kommunikation vermittelt werden.[3] Dieser kommunikative Aspekt soll sich auch in der Auswahl der Quellen widerspiegeln, indem insbesondere publizistische und künstlerische Quellen ausgewertet werden. Dazu zählen Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, Pamphlete, gedruckte und verlegte Broschüren, Flugblätter sowie Bilder und Karikaturen, aber auch sogenannte pièces de circonstances (populäre Gedichte und Lieder, kürzere Theaterstücke wie Komödien oder Dramen). Mit diesem Quellenkorpus, der um normative Dokumente zur Organisation der Nationalgarde ergänzt wird, möchte ich die oben angesprochenen zeitgenössischen Erfahrungsprozesse untersuchen, aus denen – so meine These –  politische sowie gesellschaftliche Ansichten und Zukunftserwartungen  resultierten. [1] Vgl. Jörn Leonhard: Bellizismus und Nation. Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in Europa und den Vereinigten Staaten 1750-1914, München 2008, S. 6. [2] Vgl. Julia Murken: Bayerische Soldaten im Russlandfeldzug 1812. Ihre Kriegserfahrungen und deren Umdeutungen im 19. und 20. Jahrhundert, München 2006, S. 3f. [3] Vgl. Nikolaus Buschmann/ Horst Carl: Zugänge zur Erfahrungsgeschichte des Krieges. Forschung, Theorie, Fragestellung, in: Dies. (Hgg.): Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg, Paderborn u.a. 2001, S. 11-26, hier S. 18f.    

Quelle: http://19jhdhip.hypotheses.org/133

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