Neuland, Boom, Vielfalt – Geschichtswettbewerbe heute

 

Geschichtswettbewerbe schießen seit einigen Jahren wie Pilze aus dem Boden. Auch international sind sie ein zur Nachahmung anstiftendes Erfolgsmodell. Wohin führt diese anscheinend so positive Entwicklung der historisch-politischen Bildung? Und wie wirken sich die durch den digitalen Wandel veränderten historischen Quellen- und Informationszugänge auf die Wettbewerbe aus?

 

Zeitensprünge, Erinnerungszeichen, Gedächtnisräume – War was?

Geschichtswettbewerbe können heute nicht mehr als „Randerscheinung des Geschichtslernens“1 gelten. In erfrischendem Kontrast zu den oft ernüchternden empirischen Studien2 richten sie die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Spitzenleistungen in allen Schularten und auf ein faszinierendes Schulfach, das zuletzt eher negative Schlagzeilen machte. Bundesweite Ausschreibungen gab es zu Jubiläen wie dem 20. Jahrestag des Mauerfalls oder zum 2. Mai 1933, dem Tag der Zerschlagung der Gewerkschaften durch die Nationalsozialisten. Im Unterschied zum stärker schülerorientierten Konzept der Körberstiftung3 wird hier die „große Geschichte“ zum Ausgangspunkt und auf die zeitgenössischen Alltagserfahrungen im kleinen Raum bezogen. Darüber hinaus entstanden eine Reihe regionaler Geschichtswettbewerbe, wie zum Beispiel das Jugendprogramm „Zeitensprünge“4. Es fördert speziell junge Menschen in den ostdeutschen Bundesländern, die sich mit der „Geschichte ihrer Heimatregion“ im 20. Jahrhundert auseinandersetzen. Auf den jährlich stattfindenden Jugendgeschichtstagen präsentieren die „Zeitenspringerteams“ ihre Ergebnisse. Auch der bayerische Landeswettbewerb „Erinnerungszeichen“5 setzt auf ein ausgeprägtes Regionalbewusstsein. Er lädt Kinder und Jugendliche ab der dritten Klasse dazu ein, die „Geschichte und Kultur ihrer Heimat“ zu erkunden. In diesem Jahr geht es um „Flussgeschichte(n)“. Im Vergleich dazu legt der Geschichtswettbewerb „War Was? Heimat im Ruhrgebiet“6 in Nordrhein-Westfalen durch seinen Zusatz „Erinnerungsorte und Gedächtnisräume“ auf einen modernen Heimatbegriff besonderen Wert. Die Preise der Stiftung Ettersberg7 wiederum sind für Facharbeiten vorgesehen, die sich mit Diktaturen und Gewalterfahrungen des 20. Jahrhunderts auseinandersetzen. Unterhalb dieser Ebenen entstanden außerdem zahlreiche und weniger bekannte lokale Initiativen wie das des Netzwerks „Freiburger Schulen im Archiv“8.

Internationalisierung und neue Fragen

Der Schülerwettbewerb deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten und der amerikanische National History Day9, die 1973 zeitgleich und mit ähnlichen Zielstellungen an den Start gegangen sind, haben seit den 1990er Jahren auch eine Modellfunktion für andere Länder übernommen. Während sich beispielsweise Südkorea oder Australien10 am National History Day orientierten, inspirierte das deutsche Vorbild forschend-entdeckendes Geschichtslernen in den ehemaligen kommunistischen Ländern Ost-und Mitteleuropas.11 Das Programm EUSTORY verbindet heute 24 Länder Europas, die Geschichtswettbewerbe organisieren.12 Die Frage ist, was diesen Boom von Geschichtswettbewerben in Deutschland und international eigentlich antreibt, und wohin er führen wird: zu mehr TeilnehmerInnen oder zu einer Wettbewerbsmüdigkeit? Zur Behauptung offener Lehr- und Lernkonzepte gegenüber einem noch vorwiegend an Inhalten orientierten Zentralabitur? Oder wird gar die Tendenz des „Wettbewerbstourismus“ begünstigt, wenn Beiträge gleichzeitig bei mehreren Stiftungen eingereicht werden können?

Immer nur das lokale Archiv?

Da Kindern und Jugendlichen über quellengesättigte Fallstudien immer wieder echte Neuentdeckungen und Neubewertungen gelingen, sind lokal- und regionalgeschichtliche Titel in den Listen der Schülerprojekte prominent vertreten. Dennoch stellt sich das Problem einer Erweiterung der Perspektiven. So bezieht der Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten ein zentrales Kriterium für die Themenfindung nicht mehr nur auf den Schul- oder Wohnort der Teilnehmer. Im Wettbewerb „Vertraute Fremde. Nachbarn in der Geschichte“ wurden zuletzt auch Beiträge akzeptiert, die weder einen regionalen noch einen biografischen Bezug hatten. Unter den im vergangenen Monat ausgezeichneten 50 Bundessiegern waren diese indessen (noch?) nicht vertreten. Obwohl forschungsbasiertes Lernen heute auch mit im Internet leicht verfügbaren Quellensammlungen und Geschichtsdeutungen realisiert werden könnte, werden Digitalisate offenbar weniger angenommen als die originalen Spuren.13 Der medial-technische Wandel schlägt sich hierzulande eher in den Beitragsformaten nieder. So betont der „History Award“ des TV-Senders History, der mit dem ZDF kooperiert, diesen Aspekt mit filmischen Präsentationen und einer Online-Abstimmung über die Gewinner.14

Neuland

Obwohl sich die Ausschreibungen thematisch unterscheiden, gibt es weltweit gemeinsame Konzepte, z.B. den Ursprungsgedanken „Grabe, wo du stehst!“. Der Reiz im Familiennachlass zu stöbern, Zeitzeugen selbst zu befragen und hinter die Mauern des örtlichen Archivs zu sehen, ist in Zeiten der Globalisierung und des Internets nicht aus der Mode gekommen. In anderen Ländern gibt es jedoch mehr Beiträge zur Geschichtskultur und zur Weltgeschichte, die durch Schulbücher, Nachrichten, TV-Shows und nicht zuletzt auch durch Internetressourcen und Social Media angeregt werden. Warum man auf diesen Zug nicht so einfach aufspringen kann, der doch den Lebenswelten und Mediengewohnheiten der Digital Natives Rechnung trägt? Sie benötigen auch die Instrumente an die Hand, damit sie dieses Neuland heuristisch und methodisch erkunden können.

 

Siehe auch: Alavi, Bettina: Inklusion und Geschichtswettbewerb – Barrierefreier Geschichtswettbewerb? In: Public History Weekly 1 (2013) 1, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-129.

 

Literatur

  • Johnson, Chrystal: Building Citizens or Building Nations? Alternative Visions for Learning History in Germany and the United States: The Geschichtswettbewerb Des Bundespraesidenten and National History Day, 1974-1984, Chicago 2010.
  • Messner, Rudolf (Hrsg.): Schule forscht. Ansätze und Methoden zum forschenden Lernen, Hamburg 2009.

Externe Links

 

Abbildungsnachweis
Das historische Gemälde im Rücken, das Siegerfoto auf dem Handy Display: Preisverleihung des Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten im Jahre 2009 im Schloss Bellevue, © Körber-Stiftung / David Ausserhofer.

Empfohlene Zitierweise
John, Anke: Neuland, Boom, Vielfalt. Geschichtswettbewerbe heute
. In: Public History Weekly 1 (2013) 14, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-838.

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Mehr Denkmäler – weniger Gedenken?

 

Vor 25 Jahren entstand die Idee, in Berlin ein Holocaust-Denkmal zu errichten. Weil dieses Denkmal ausschließlich den ermordeten Juden gewidmet wurde, erlebt die deutsche hauptstädtische Geschichtskultur seit einiger Zeit einen regelrechten Memorialboom. Als vorerst letzter Gedenkort wurde heute vor einem Jahr das von Dani Karavan gestaltete Denkmal für die während der NS-Zeit ermordeten Sinti und Roma eingeweiht. Was diese Denkmäler über das Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft aussagen und welche Bedeutung sie für historische Lernprozesse haben, ist noch weitgehend unklar.

 

„Wir können wieder aufrecht gehen…“

Glaubt man Lea Rosh und Eberhard Jäckel, dann fassten sie den Entschluss, in Berlin ein Holocaust-Denkmal zu errichten, 1988 bei einem Besuch der „Allee der Gerechten“ in Yad Vashem. Schon dieser Entstehungskontext wirft Fragen auf, aber kritische Fragen und langwierige Debatten wollten Rosh und Jäckel am liebsten vermeiden. Trotzdem wurde über das Berliner Denkmal für die ermordeten Juden Europas bis zu seiner Einweihung im Mai 2005 mehr als fünfzehn Jahre lang heftig gestritten.1 Die Diskussion scheint inzwischen fast vergessen, doch manche Argumente sind auch heute noch so irritierend, dass sie historische Reflexionsprozesse vielleicht besser anstoßen könnten als das von Peter Eisenman entworfene Stelenfeld. Nicht selten war im Laufe der Debatte von Trost, Erleichterung, ja Erlösung die Rede. Doch Erlösung für wen eigentlich?  „In anderen Ländern“, so Eberhard Jäckel anlässlich des fünfjährigen Denkmaljubiläums am 5. Mai 2010, „beneiden manche die Deutschen um dieses Denkmal. Wir können wieder aufrecht gehen, weil wir aufrichtig waren. Das ist der Sinn des Denkmals, und das feiern wir.“2 Träfe das zu, ginge es nicht (nur) um die Opfer der NS-Verbrechen und um die historische Auseinandersetzung mit den Tätern. Es ginge um uns: Holocaust-Denkmäler als Medien nationaler Identitätsstiftung, auch wenn das in Zeiten multikultureller Gesellschaften längst anachronistisch anmutet.

Denkmalboom und geschichtskulturelle Imagepflege

Sicher – Jäckels Position war nur eine von vielen; insgesamt verlief die Diskussion deutlich reflektierter. Trotzdem wird sich der bis heute andauernde Denkmalboom wohl nur erklären lassen, wenn man in Rechnung stellt, dass Denkmäler zum Gedenken an die NS-Verbrechen auch zu Instrumenten geschichtskultureller Imagepflege geworden sind. Manchen konservativen ZeitgeistkritikerInnen im Gefolge Ernst Noltes, die des NS-Gedenkens längst überdrüssig waren, hat das zweifelsohne den Wind aus den Segeln genommen. Jedenfalls hat sich die Berliner Gedenklandschaft, in der mittlerweile auch der Weg für die Repräsentation anderer Schlüsselthemen deutscher Geschichte – Stichwort Flucht und Vertreibung, Einheit und Freiheit3 – frei ist, inzwischen  bemerkenswert differenziert. Im Mai 2008 wurde das Denkmal für die während der NS-Zeit verfolgten Homosexuellen eingeweiht, heute vor einem Jahr folgte das Denkmal für Sinti und Roma, und im Herbst kommenden Jahres soll auch der Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde fertiggestellt sein.4 Von der vielfach befürchteten und beklagten Hierarchisierung der Opfer spricht öffentlich kaum noch jemand.

Bausteine deutscher Erinnerungskultur?

Insofern ist es auf den ersten Blick auch durchaus plausibel, dass von politischer Seite bei der Einweihung des Denkmals für Sinti und Roma wie so oft von einem „wichtigen Baustein der deutschen Erinnerungskultur“ die Rede war.5 Wie in einem großen Mosaik fügt sich offenbar alles harmonisch zusammen, Verdrängen und Vergessen scheinen zugleich gebannt. Wer genauer hinsieht, merkt, dass es anders ist. In den Leserforen großer deutscher Tageszeitungen beispielsweise finden Denkmäler wie das für Sinti und Roma zwar einerseits großen Zuspruch – man trifft aber auch auf heftige Polemik. Dann werden immer noch Opferzahlen gegeneinander aufgerechnet, die vermeintliche „Holocaustkeule“ wird zum Gegenstand ätzender Kritik, und der Ruf nach einem Schlussstrich lässt sich kaum überhören.6 LehrerInnen sollten solche Statements, obwohl oder gerade weil sie dem Gebot der political correctness widersprechen, von Zeit zu Zeit in ihren Unterricht integrieren. Sie tragen nämlich dazu bei, mit dem Prinzip der Multiperspektivität wirklich ernst zu machen, sie sind Teil des Geschichtsbewusstseins in der Gesellschaft, und sie geben zugleich Aufschluss über informelle geschichtskulturelle Rezeptionsprozesse.

Historische Trauer?

Für die Geschichtsdidaktik wäre es interessant, solche Rezeptionsprozesse genauer zu untersuchen. Denn bislang wissen wir immer noch relativ wenig darüber, welche individuellen Reaktionen Denkmäler und Gedenkstätten (die ganze Bandbreite außerschulischer Lernorte überhaupt) auslösen und welche Bedeutung sie für historisches Lernen haben. Bezüglich des Berliner Holocaust-Denkmals gibt es immerhin erste aufschlussreiche Befunde. Einer qualitativen Studie zufolge fühlen sich SchülerInnen beim Besuch des Denkmals durchgehend mit der problematischen „Erwartung konfrontiert, Trauer und Schuld zu empfinden“. Darüber hinaus kommt es bei einigen von ihnen zu einer „Trauer ohne Gedenken“.7 Den angesichts des Holocaust-Denkmals empfundenen oder erzeugten Gefühlen fehlt dann aufgrund von Wissenslücken der notwendige historische Tatsachenbezug. Jörn Rüsens Konzept historischer Trauer hat unter solchen Umständen schlechte Chancen.

 

Literatur

  • Klein, Marion: Schülerinnen und Schüler am Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Eine empirisch-rekonstruktive Studie, Wiesbaden 2012.
  • Pampel, Bert (Hrsg.): Erschrecken – Mitgefühl – Distanz. Empirische Befunde über Schülerinnen und Schüler in Gedenkstätten und zeitgeschichtlichen Ausstellungen, Leipzig 2011.
  • Rüsen, Jörn: Historisch trauern – Idee einer Zumutung. In: Ders.: Zerbrechende Zeit. Über den Sinn der Geschichte, Köln u.a. 2001, S. 301-324.

Externer Link

 

Abbildungsnachweis
Mahnmal für Sinti und Roma in Berlin-Tiergarten; Bild von Peter Kuley, 2013, Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0.

Empfohlene Zitierweise
Thünemann, Holger: Mehr Denkmäler – weniger Gedenken. In: Public History Weekly 1 (2013) 8, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-416.

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Urlaub von der Geschichte? Historisches Denken in der Reisezeit

 

Die Urlaubszeit ist vorbei. Jetzt lohnt sich eine kritische Rückschau auf den Sommer und die Begegnungen mit Geschichte im Urlaub. Ich stolperte im Juli im Hongkong Museum of History in der ur- und frühgeschichtlichen Abteilung auf eine Interpretation, welche mir zwar zugänglich war, mich jedoch zum Nachdenken anregte. Vor einer Vitrine mit Keramikfunden aus dem Neolithikum am südchinesischen Meer wurde von der Museumsführerin erklärt, dass es sich hierbei um einige der ersten Keramikfunde handelt, welche bereits sehr früh auf die spätere große Tradition der weltbekannten chinesischen Keramiken verweisen würden. Ist es auch zulässig, dies für eine bekannte im oberösterreichischen Salzkammergut ansässige Keramikmanufaktur zu behaupten? Funde aus der Eiszeit würden dies auch für den österreichischen Fall dokumentieren. Ein Blick von außen, vielleicht sogar aus einem anderen Kulturkreis, ermöglicht es eben, die Besonderheiten von Erzählungen über die Vergangenheit wahrzunehmen und mit der nötigen Distanz zu hinterfragen.

 

Soll man sich damit beschäftigen?

Man könnte sich an dieser Stelle fragen, ob diese Umstände von geschichtsdidaktischer Relevanz sind. Sind es nicht ganz andere Probleme, die im Rahmen des schulischen historischen Lernens zu erörtern wären? Wozu sollten SchülerInnen mit unausgewogenen, einseitigen historischen Interpretationen, noch dazu vielleicht aus der Hand der Tourismusbranche oder Werbefachleuten konfrontiert werden? Die Antwort ist aus geschichtsdidaktischer Perspektive schnell zur Hand. Es handelt sich dabei eben um einen besonderen Bereich der Geschichtskultur, auf den Kinder und Jugendliche auch noch als Erwachsene stoßen werden. Es sind lebensweltlich relevante, im Morgen und bereits im Heute auftretende Aspekte eines Umgangs mit der Vergangenheit. Die Potenziale dieser Begegnungen mit Geschichte, wie sie im Umfeld touristischer Angebote auftreten, finden jedoch derzeit im schulischen Lernen erst wenig Beachtung. Anregungen wie jene von Bodo von Borries aus dem Jahr 2006, nämlich Schulbuchkapitel neu zu strukturieren (z.B. „Geschichte im Tourismus“ am Beispiel Altägypten), fanden bis dato keinen wirklichen Widerhall.1

Urlaub als Ausnahmesituation

„Geschichte im Urlaub“ meint eine besondere Situation, in die sich viele SchülerInnen und andere Reisende begeben. Dabei wird die Darstellung der Vergangenheit eben oft in einer uns fremden Kultur offenbar. Dies bietet den besonderen Blick auf das Andere und seine historische Positionierung zwischen urlaubsbedingter Flüchtigkeit und entspannter Wahrnehmung. Es könnte sich daher lohnen, die eigene Region oder typische Urlaubsregionen über touristische Materialien zu erforschen, um sie auf historische Sinnbildungsmuster, die Verwendung von historischen Mythen und Legenden, Werbestrategien unter Einbeziehung von historischen Aspekten etc. hin zu untersuchen. So könnte man etwa danach fragen, warum eine slowenische Hotelkette auf die römische Antike setzt, um neue Gäste anzusprechen2 oder warum in Wien in einem Kellergewölbe eine 5D-Zeitreise durch die Stadtgeschichte TouristInnen anzieht.3 Die Gemachtheit von solchen touristischen Angeboten führt dabei tief in die jeweilige Geschichtskultur, aber auch in die Vergangenheit der Orte. Ziel sollte es jedoch sein, historisches Denken und interkulturelle Haltungen zu schulen, welche auf andere Beispiele transferierbar bleiben.

Urlaub zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

Auf einer methodischen Ebene würde dies bedeuten, die sich „im Urlaub“ auftuende Distanz zum Fremden und zum Eigenen produktiv zu nutzen. Es gilt dabei, gattungsspezifische Reflexionen zu tätigen, welche danach fragen, wer uns in einem bestimmten Fall was und warum über die Vergangenheit erzählt, wie die verfügbaren historischen Quellen im Sinn der Multiperspektivität auch legitim anders gedeutet werden könnten und welche ästhetischen Überformungen den Blick auf die Vergangenheit lenken uvm. Besonders spannend werden derartige Analysen vermutlich dann, wenn man touristisch inszenierte Darstellungen anderen historischen Narrationen zum gleichen Sachverhalt gegenüberstellt und sich dadurch Fragwürdigkeiten auftun.

Das Leben der Anderen … und der Vergangenen

In der interkulturellen Begegnung geht es darüber hinaus um ein Einordnen der getätigten Aussagen über die Vergangenheit, um mit Mitgliedern anderer Kulturen in eine kritische Diskussion darüber eintreten zu können. Die eigene Perspektive auf das Problem gilt es stets zu berücksichtigen. Damit sollte eben auch ein historisch-politisches Lernen verstärkt berücksichtigt werden, um die hinter den Beispielen liegenden politischen und gesellschaftlichen Perspektiven der jeweiligen Gegenwart miteinzubeziehen. Man könnte etwa danach fragen, wem eine bestimmte Art der Darstellung der Vergangenheit einen Vorteil bringt. Dabei sind wirtschaftliche Interessen einer Region oder historische Identitätsmuster ebenso in den Blick zu nehmen wie die Reisenden selbst. Letztere möchten nicht selten mit vorgefertigten trivialen bis naiven Vorstellungen an bestimmten Orten unreflektiert bestimmte Inszenierungen konsumieren. Realitätsverschiebungen, Vorurteile, Auslassungen, Umdeutungen, Maskeraden etc. sind dabei mancherorts zentrale Magneten eines Umgangs mit Geschichte, um vor allem das Erwartete aus einer mit dem Ort assoziierten historischen Epoche zu bieten. Kulturspezifische Darbietungsmodi und Interpretationen bilden dazu überraschende Ergänzungen.

Urlaub in den Schulalltag integrieren

Diese sicherlich wichtigen Aspekte sollte man jedoch für den konkreten Unterricht ausreichend wenden. Der Lebensweltbezug für die SchülerInnen sollte dabei nicht aus dem Auge verloren werden. Ist es ein Ziel, dass SchülerInnen sich ein kritisches historisches Denken aneignen, dann wird es darauf ankommen, geschichtskulturelle Produkte auch tatsächlich zu durchdenken und zu hinterfragen. Dabei steht etwa das Störtebekerdenkmal in Hamburg, an dem TouristInnen im Hafen vorbeigeschleust werden, ebenso im Programm, wie Werbekataloge für Schlösser oder andere touristische Inszenierungen der Vergangenheit, wie man auf sie etwa in Funparks trifft. Dazu zählen sicherlich auch gedruckte oder digitale Reiseführer, welche neben geografischen und kulturellen Zusammenhängen Geschichte präsentieren. Gerade dort findet man oft seltsame Ausprägungen an tradierter Einseitigkeit, welche gerade dazu einladen, durch kritisches Denken Grundprinzipien eines reflektierten Geschichtsbewusstseins zu erwerben.

Ein Hoch auf die Globalisierung

„Geschichte im Urlaub“ als Anwendungsgebiet für den Erwerb eines kritischen historischen Denkens zu nutzen, bedeutet den bisherigen geschichtskulturellen Blick des schulischen Lernens zu weiten. Unzählige neue Beispiele, die je situationsabhängig in den Unterricht integrierbar sind, drängen sich dabei auf. Die sich globalisierende Welt und ihre Digitalisierung erleichtern dabei die reale und virtuelle interkulturelle Begegnung mit Geschichte: ein Labor an zu durchdenkenden Beispielen von ganz anderen Orten des Globus, an denen sich die Menschen ganz andere Geschichten über die Vergangenheit erzählen als zu Hause. Es gilt daher, die SchülerInnen auf ein Leben vorzubereiten, das vielleicht ganz abseits vom traditionellen Kanon des Geschichtsunterrichtes mit touristischen Darstellungen der Vergangenheit konfrontiert wird. Dies geschieht dann vermutlich ganz heimlich, oft dicht und unerwartet, nämlich auf Urlaub.

 

Literatur

  • Frank, Sybille: Der Mauer um die Wette gedenken. In: Kühberger, Christoph / Pudlat, Andreas (Hrsg.): Vergangenheitsbewirtschaftung. Public History zwischen Wirtschaft und Wissenschaft,  Innsbruck u. a. 2012, S. 159-172.
  • Isenberg, Wolfgang (Hrsg.): Lernen auf Reisen? Reisepädagogik als neue Aufgabe für Reiseveranstalter, Erziehungswissenschaft und Tourismuspolitik, Bensberg 1991 (Bensberger Protokolle 65).
  • Mütter, Bernd: Historisches Reisen und Emotionen. Chance und Gefahr für die geschichtliche und politische Erwachsenenbildung. In: Mütter, Bernd / Uffelmann, Uwe (Hrsg.): Emotionen und historisches Lernen: Forschung, Vermittlung, Rezeption, Frankfurt a.M. 1992 (Studien zur internationalen Schulbuchforschung, Bd. 76).

Externe Links

 

Abbildungsnachweis
© Christoph Kühberger, Ur- und frühgeschichtliche Abteilung des Hongkong Museum of History, im Juli 2013.

Empfohlene Zitierweise
Kühberger, Christoph: Urlaub von der Geschichte? Historisches Denken in der Reisezeit. In: Public History Weekly 1 (2013) 6, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-338.

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Seltsame Wege. Straßennamen heute

 

Historische Orientierung gesucht! In öffentlichen und virtuellen Räumen werden derzeit hitzige Debatten über Straßenumbenennungen geführt. Gestritten wird um Fragen der Ehre und Tradition. Kommunale Geschichtspolitik trifft auf heterogene Geschichtsbedürfnisse.

 

Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen

Vom Graseweg zur Bäckergasse – frühe Straßennamen sind dem alltäglichen Sprachgebrauch entlehnt und folgten den räumlichen Orientierungsbedürfnissen der StadtbewohnerInnen. Dies änderte sich im 19. Jahrhundert. Das expandierende Straßennetz wurde als symbolisches Instrument städtischer Geschichtspolitik entdeckt und in den Dienst politisch-ideologischer Identitätsstiftung gestellt. Entlang politischer Zäsuren wurden seither zentrale historische Orientierungsachsen wiederholt umbenannt – vom Schlossplatz zum Platz der Republik und zurück. Ebenso können Traditionsstränge im semantischen Netz der Stadt fortschrieben oder aber als Artefakte marginalisiert werden. Dem Flaneur erschließt sich die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen nur bedingt. Dagegen eröffnen jüngste Untersuchungen zu Straßennamenkorpora oder zu Diskursen um Straßenumbenennungen den Blick auf das historisch gewachsene Benennungs- und Identitätsprofil deutscher Städte und die damit verbundenen Geschichtsbilder und Wertorientierungen.

Wirklich neue Wege?

Während die Vergabe und Umbenennung von Straßennamen bislang ein Arkanum der Kommunalpolitik zu sein schien, erregt die Frage der Zukunftsfähigkeit städtischer Wegweiser zunehmend öffentliche Aufmerksamkeit. Ausgelöst von lokalen Debatten um „NS-belastete“-Straßennamen beginnt man nicht nur in Wien1 oder Münster2 mit der systematischen Erfassung, Analyse und Veröffentlichung der Straßennamenkorpora. Einerseits wird auf diesem Wege eine breit zugängliche Diskussionsgrundlage geschaffen: Biografien einst geehrter Namensgeber werden neu bewertet, die symbolische Bedeutung von Erinnerungsorten wird vergegenwärtigt und der Kontext der Benennung erhellt. Andererseits gewinnen weiße Flecken städtischer Erinnerungskultur, aber auch Muster der Marginalisierung gruppengebundener Traditionen an Kontur. Ob man dies als Demokratisierung städtischer Geschichtspolitik interpretieren kann, die auf Transparenz, Diskurs und Reflexivität setzt, bleibt abzuwarten.

Divergente Interessen

Überregionale Trends in der Benennungspraxis sind jedoch unübersehbar: Monumentalisches Erinnern weicht mit der Debatte um NS-belastete Straßennamen kritischer Identitätsreflexion. Mit ehrend-mahnender Erinnerung an die Opfer zweier deutscher Diktaturen aber auch deutscher Kolonialpolitik gewinnen Straßennamen als symbolische Form der Wiedergutmachung an Bedeutung.3 Aktuell erregt so in Hamburg die auf das Engagement von Bürgerinitiativen zurückgehende Wanderausstellung „freedom roads! Koloniale Straßennamen und postkoloniale Erinnerungskultur“ öffentliche Aufmerksamkeit.4 Wie in Münster entdeckt städtische Geschichtspolitik die Straßennamen aber auch als ökonomisches Kapital. Der Hindenburgplatz wird zum Schlossplatz. Mit der Aura des Authentischen lockt man TouristInnen, betreibt city branding. Und jeder Monopoly-Spieler ahnt: Immobilienbesitzern verheißt die Adresse Wertsteigerung.

Entsorgung vs. Erinnerungsstolz

Im Feld der Kommunalpolitik ist die ehrende Funktion von Straßennamen unstrittig.  Umbenennungen werden gern als Ausweis eines städtischen „Geschichtsbewusstseins“ inszeniert. UmbenennungsgegnerInnen prangern dagegen die Form der „Entsorgung der Vergangenheit“ an, die in „Geschichtslosigkeit“ münde.5 Mit analytischer Distanz kann man wie Götz Aly den Quellenwert des städtischen Schilderwaldes preisen – ein Friedhof der Ahnen, der die Selektivität und Vergänglichkeit historischer Deutungen demonstriert und damit den Zeitgeist jeder Schilderstürmerei offenbart.6 Andere sehen eine Geschichte „mit Ecken und Kanten“ als didaktische Chance. Einst ehrende Zeichen würden so zu Mahnmalen gegen das Vergessen. Erläuterungstafeln unter Straßenschildern demonstrieren nicht zuletzt den „Erinnerungsstolz“ der Gegenwart, beseelt vom Wunsch, dem gesellschaftlichen Lern- und Wandlungsprozesses Dauer zu verleihen.

Postmodernes Spiel

Die Debatte um die historische Orientierungsfunktion städtischer Straßennamen ist im Gange – viele Fragen sind offen: Ob und wie die „zerbrochenen Spiegel“ deutscher Geschichte symbolisch repräsentieren? Hauptstraße oder Sackgasse – welche Räume öffnen für heterogene politische, religiöse, soziale und ethnische Identitätsbedürfnisse, für Mehrheiten und Minderheiten, unterschiedliche Generationen? Obsiegt die Ökonomisierung der Geschichtskultur? Sind Straßennamen zukünftig gewinnbringendes Kapital in den Händen des Stadtmarketing? Lehnen wir uns zurück, beobachten wir mit analytischer Distanz, wie das postmoderne Spiel mit Sinn und Bedeutungen nicht nur im virtuellen Raum,7 sondern auch auf unseren Straßen zu historischer Orientierungslosigkeit führt? Nein! Die Beschreibfläche ist limitiert. Mit Karl Schlögl bleibt „Namensgeschichte immer auch Herrschaftsgeschichte“8 und geschichtspolitischer „Straßenkampf“ damit ein unverzichtbares Mittel kollektiver Identitätsvergewisserung.

 

Literatur

  • Sänger, Johanna: Heldenkult und Heimatliebe. Straßen- und Ehrennamen im offiziellen Gedächtnis der DDR, Berlin 2006.
  • Pöppinghege, Rainer: Wege des Erinnerns. Was Straßennamen über das deutsche Geschichtsbewusstsein aussagen, Münster 2007.
  • Werner, Marion: Vom Adolf-Hitler-Platz zum Ebertplatz. Eine Kulturgeschichte der Kölner Straßennamen seit 1933, Köln/Weimar/Wien 2008.

Externe Links

 

Abbildungsnachweis
© Saskia Handro. Im Jahr 2010 umbenannte Straße in Münster.

Empfohlene Zitierweise
Handro, Saskia: Seltsame Wege. Straßennamen heute. In: Public History Weekly 1 (2013) 4, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-255.

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200 Jahre Völkerschlacht – Was bleibt nach der Eventisierung?

 

Ein Paradebeispiel dafür, wie Kollektive die Deutung der Vergangenheit sinnfällig nutzen, bietet derzeit die Stadt Leipzig. Unter dem Motto „Leipzig 1813 – 1913 – 2013. Eine europäische Geschichte“ widmet sich ein ganzes Gedenkjahr dem Bemühen, den europäischen Einigungsgedanken zu beschwören und TouristInnen in die Stadt zu locken, indem es das „Doppeljubiläum“ der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 und der Einweihung des Völkerschlachtdenkmals 1913 feiert. Die historischen Hintergründe und die Mythisierung der Ereignisse im Laufe der Zeit interessieren dabei offensichtlich nur wenige.

 

Blutige Schlacht, Völkerverständigung oder was?

Preußen, Österreich, Russland und Schweden besiegten in der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 Napoleon: Sachsen und damit Leipzig standen auf dessen Seite und waren Verlierer. Es fielen in dieser wohl größten Schlacht vor dem 20. Jahrhundert nicht nur ca. 90.000 Soldaten, sondern die BewohnerInnen der Stadt waren die Leidtragenden einer daraus resultierenden Typhus-Epidemie. Von daher bestand bei diesen zunächst kein gesteigertes Interesse daran, diese Schlacht erinnernd zu feiern. Die Idee dazu und zu einem nationalen Denkmal hatte der Kriegsteilnehmer und Dichter Ernst Moritz Arndt 1814. Und damit begann die unterschiedliche Deutung des Ereignisses: Während der preußische Oberst von Müffling mit dem von ihm zuerst verwendeten Terminus „Völkerschlacht“ die Truppen absolutistischer Herrscher in einem Kabinettskrieg meinte, sahen patriotische Zeitgenossen darin ein Synonym für den Freiheitskrieg der Völker zur nationalen Emanzipation und sie stellten liberale Forderungen. Doch waren Feiern oder gar ein Denkmal für nationale Einheit und Freiheit bei den restaurativen Kräften nicht erwünscht. Vielmehr ließen diese eigene Völkerschlachtdenkmäler als Herrscherapotheose errichten (z. B. Befreiungshalle Kehlheim, Kreuzberg-Denkmal in Berlin).

Der Wille zum Denkmal

Als 1871 die nationale Einheit schließlich Realität wurde, verblasste die Erinnerung an 1813 schnell, da nun die Schlacht von Sedan im Mittelpunkt stand. Dem wollte der vom Leipziger Architekten Clemens Thieme 1894 gegründete Deutsche Patriotenbund entgegenwirken. Das von diesem realisierte und bei einem mehrtägigen Massenspektakel – erstmals mit Souvenirhandel und Eventcharakter – zum 100-jährigen Jubiläum 1913 eingeweihte Völkerschlachtdenkmal sollte eine Geschlossenheit der nationalen Volksgemeinschaft demonstrieren. Daran schlossen im weiteren Zeitverlauf die NationalsozialistInnen an: Am 125. Jahrestag im Jahr 1938 nutzten sie das Denkmal als Versinnbildlichung der Volksgemeinschaft und die Völkerschlacht von 1813 als Argument für den totalen Krieg. Die SED-Führung leitete nach 1945 die Waffenbrüderschaft zwischen der Nationalen Volksarmee und Roten Armee historisch von der Völkerschlacht her und stilisierte den Ausgang der Schlacht als Sieg des „Volkes“, bis dies schließlich mit der Wiedervereinigung 1990 endgültig obsolet wurde.

Und 2013?

All dies taucht auf der Homepage zum Doppeljubiläum von 2013 kaum auf. Da wird die europäische Identität historisch mit der Völkerschlacht begründet und eine erfolgreiche, in sich stimmige europäische Traditionslinie „Leipzig 1813 – 1913 – 2013“ demonstriert. Die Stadt beschwört den europäischen Zusammenhalt als Erbe und Auftrag für die Zukunft bei einer Podiumsdiskussion mit Künstlern oder bei „Politischen Begegnungen im Herzen Europas“ – die Bundesregierung hat sich übrigens am Festakt nicht beteiligt, was offensichtlich zu Problemen bei der Auswahl standesgemäßer europäischer Politik-Vertreter geführt hat. Ansätze eines kritischen Umgangs mit der Vergangenheit lassen sich auf den ersten Blick an sehr wenigen der ca. 100 Veranstaltungen im Jubiläumsjahr ausmachen: Das Stadtgeschichtliche Museum Leipzig möchte in einer Ausstellung dem Thema „Helden nach Maß – Dem Gründungsmythos auf der Spur“ Geschichtsbilder der vergangenen Jahrhunderte aufdecken, und in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr findet die für Jubiläen obligatorische wissenschaftliche Tagung statt.

„Kanonenknall und Hausidyll“

Das Gros der Events orientiert sich an anderen Zielen. So wird das frisch restaurierte Völkerschlachtdenkmal von einem Lichtkünstler illuminiert, mit einem Theaterstück „Imagine Europe“ bespielt und dadurch – so die Hoffnung der Veranstalter – von genügend vielen neugierigen Touristen bewundert. Als Publikumsmagnet soll weiter ein „monumentales 360°-Panorama“ mit Soundtechnik des Künstlers Yadegar Asisi sorgen, das den Zustand der Stadt 1813 mit Truppen und Verwundeten präsentiert. Der städtische Fremdenverkehr wirbt mit Rad- oder Videobustouren „zur Völkerschlacht“, mit Nachtwächterrundgang, Monarchenball oder Jubiläumsgolfturnier. Etliche Veranstaltungsthemen wirken eher als Notlösung, denn als ernsthafte Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Gegenstand des Jubiläums: „Kanonenknall und Hausidyll“, Kunsthandwerk, Tafelkultur oder Kinderspiele zur Zeit der Völkerschlacht. Schließlich möchten alle örtlichen Vereine vom fetten Ertrag des Gedenkjahres ein Stückchen abhaben – selbst wenn es nur interessierte Besucher sind.
In einer Gedenkwoche „Versöhnung im Zeichen des Glaubens“ wecken rituelle Formen Gefühle: Kranzniederlegungen, Pflanzung von Friedensbäumen, „Europäische Friedensmusik“, Gottesdienste, Friedenscamps und -gebete. Eine symbolische Aufladung erfährt das Gedenkjahr mit dem bewusst gesetzten, offiziellen Endpunkt am Totensonntag. Im krassen Gegensatz dazu stehen die Re-enactment-Events: Patrouillenritte, Exerzierübungen und v. a. Gefechte, dargeboten von „weit über 5.500 Teilnehmern aus aller Welt“. Hier kommt der Verdacht auf, die Mitwirkenden erfreuen sich am Schauder der Völkerschlacht von 1813 – auch wenn pro forma eine Gedenkminute eingelegt wird.

Bagatellisierung

Augenfällig ist am dicken Programmkalender des nunmehr kulturpolitisch und touristisch geprägten Erinnerungsfestes abzulesen: Es wird verschönt, bagatellisiert, ausgewählt. Bleibt nur zu hoffen und zu wünschen, dass dieser Schein trügt und doch genügend Raum für die kritische Reflexion der Geschichte von Völkerschlacht und Denkmal geboten wird.

 

 

Literatur

  • Keller, Katrin / Schmid, Hans-Dieter (Hrsg.): Vom Kult zur Kulisse. Das Völkerschlachtdenkmal als Gegenstand der Geschichtskultur, Leipzig 1995.
  • Schäfer, Kirstin Anne: Die Völkerschlacht, in: Franҫois, Etienne / Schulze, Hagen (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 2, München 2001, S. 187-201.
  • Thamer, Hans-Ulrich: Die Völkerschlacht bei Leipzig. Europas Kampf gegen Napoleon, München 2013.

Externe Links

 

Abbildungsnachweis
http://commons.wikimedia.org/wiki/File:1913_Sachsen_3M%282%29.png (lizenzfreie Darstellung).

Empfohlene Zitierweise
Fenn, Monika: 200 Jahre Völkerschlacht – Was bleibt nach der Eventisierung? In: Public History Weekly 1 (2013) 2, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-192.

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Der Rundumblick auf die Geschichte

 

Es galt als Dinosaurier der Massenunterhaltung, als Beginn der Kulturindustrie und der Kinematisierung des Blicks. Nie gänzlich tot gewesen, feiert das Panorama seit einigen Jahren eine bemerkenswerte Renaissance. Vor allem sind es Zeitreisen in die Vergangenheit, die ein Massenpublikum anziehen. Woher rührt das enorme Interesse an diesem „History Surround-System“?

 

Auf und Ab der Panoramen

Von Dolf Sternberger zum Inbegriff des 19. Jahrhunderts erhoben, hat das Panorama in den letzten 20 Jahren Forschungskonjunktur. Seit 1992 befasst sich das International Panorama Council in jährlichen Konferenzen mit historischen und zeitgenössischen Formen von Panoramabildern. Einer breiteren Öffentlichkeit in Deutschland wurde 1993 das Panorama als Massenunterhaltung des 19. Jahrhunderts in der Bonner Kunst- und Ausstellungshalle präsentiert. Nur wenige der monumentalen Stadtansichten, Landschaftsbilder und historische Schlachtenszenerien aus dem „langen 19. Jahrhundert“ sind heute noch erhalten. Film und Fotografie sorgten zu Beginn des 20. Jahrhunderts für das (vorläufige) Ende dieses visuellen Massenmediums. Mangelndes Besucherinteresse und sinkende Renditen führten häufig zu Abbau und Entsorgung. Neue Medien steigerten den transitorischen Illusionseffekt und sprachen den Betrachter intensiver an als die an das Präsentationsgebäude gebundenen, hermetischen Wahrnehmungs- und Erlebnisräume der Rundbilder. Doch neuerdings finden die historischen Panoramen wieder ihr Massenpublikum: Nach dem nicht unumstrittenen Umzug des Innsbrucker Riesenrundgemäldes aus der historischen Rotunde in einen musealen Neubau am Bergisel besuchten im Eröffnungsjahr 2011 in nur fünf Monaten bereits 100 000 BesucherInnen das „Tirol Panorama“.1

Panorama und Propaganda

Im 19. Jahrhundert waren die Rundbilder ein visuelles Medium im Übergangsfeld von Kunst, Bildungsvermittlung, Spektakel und – durch das beliebte Sujet der Schlachtendarstellungen – Geschichtspropaganda. Seine Wiederbelebung begann zunächst in autoritären Gesellschaftssystemen, z. B. in Ägypten, im Irak, in Nordkorea, Russland oder in China, wo seit dem Jahr 2000 zehn neue Panoramabilder2 zu historischen Schlachten der 1940er und 1950er Jahre entstanden sind. In diesen Ländern fungiert es als Medium der Verherrlichung staatspolitisch und nationalhistorisch bedeutsamer Schlachten und zur Förderung nationaler Einheit. Anfang 2009 wurde auch in Istanbul auf Initiative von Recep Tayyip Erdogan ein neues Riesenrundbild eröffnet. Mit großem Bombast setzt es auf 2300 m² die Einnahme Konstantinopels durch die Osmanen im Jahr 1453 ins Bild. Als ein weiterer Baustein in der Geschichtspolitik der AKP legitimiert es das Selbstverständnis der Türkei als muslimischer Staat. Dutzende von Bussen mit Schulklassen fahren dort täglich zur patriotisch aufgeladenen Geschichtsstunde vor.3

Gegenbewegung zur Bilderflut

Mit staatspolitischer Propaganda und sozialistischem Realismus haben Yadegar Asisis in Deutschland präsentierte Panoramabilder nichts zu tun. 5 Millionen Menschen haben die illusionären Bildräume seit 2005 besucht. In den ehemaligen Gasometern in Dresden und Leipzig und in temporär errichteten Rotunden inszeniert Asisi mit seinen „Panometern“ Immersionserlebnisse in neuen Dimensionen – Reisen durch Naturräume (Mount Everest, Amazonien) und durch die Zeit (Rom 312; Dresden – Mythos der barocken Residenzstadt; Pergamon; Die Mauer – und seit August 2012, Leipzig 1813). Überraschung, Staunen, Bewunderung für die technische Perfektion der Täuschung und das ästhetische Spannungsverhältnis zwischen Inszenierung und Wirklichkeit ziehen BesucherInnen heute wie damals an. Gleichzeitig unterscheiden sich mediale Wahrnehmungen der Betrachter des 21. Jahrhunderts zweifellos von den Sehgewohnheiten der BesucherInnen des 19. Jahrhunderts. War es damals die Faszination am mobil gewordenen Blick, scheinen die Panometer eher eine Gegenbewegung zur Bilderflut zu sein: Heute ist es wohl eine verweilende Schaulust am statischen Bild, erzeugt freilich mit modernsten digitalen Medien.

Sammelbehälter „der“ Geschichte?

Als eine Art historisches „Wimmelbild“ ist Geschichte vor allem im alltagsgeschichtlichen Zugriff inszeniert. Die immense Fülle detailreicher Szenerien, u.a. durch Fotoshootings mit Reenactmentgruppen ins Bild projiziert, wird durch die Begrenzung auf einen bestimmten Ort und auf einen historischen Zeitraum bzw. ein historisches Ereignis zusammengehalten. Man kann immer wieder Neues entdecken, ohne dabei die Illusion des Überblicks zu verlieren. Asisi selbst betont, dass seine Panoramabilder künstlerische Interpretationen von Geschichte sind: Bereits die Raumkonstruktion produziert Bedeutung, der Standpunkt des Betrachters wird vom Künstler festgelegt. Gleichzeitig stellt er aber auch fest, dass die Besucher an die Wahrhaftigkeit der Inszenierungen glauben4. Trotz der Polyperspektive des Panoramas also endlich sehen, „wie es eigentlich gewesen ist“? Offenbar wird das vorgetäuschte Authentizitätsversprechen gerne angenommen, korreliert es doch mit der objektivistischen Vorstellung von einer Geschichte.

Erkenntnislücke

Die Geschichtsdidaktik hat sich mit dem Panorama in historischer Perspektive nur wenig, mit dem neuen Boom bislang gar nicht befasst. Ob der den BesucherInnen gerade unterstellte objektive bzw. naive Blick auf die Geschichte nur eine Mutmaßung der Autorin ist, wäre eine lohnende Forschungsaufgabe. Und im Geschichtsunterricht sind die Panoramabilder bereits außerschulische Lernorte, die es unterrichtspragmatisch zu erschließen gilt. Panoramabilder werden hier künftig in die Kategorie „Geschichtsbilder“ mit aufzunehmen sein. Schließlich eröffnen sich auch auf dem Sektor der Geschichtskultur interessante Fragestellungen. Sind doch die Panometer nicht nur ein neues Element der Eventisierung von Geschichte. Sie sind neue Erinnerungsorte, die nicht nur auf Deutschland beschränkt bleiben werden. Für 2015 ist jedenfalls schon ein Panoramabild in Frankreich geplant: „Rouen in der Epoche Jeanne d’Arcs“.

 

 

Literatur
  • Koller, Gabriele (Hrsg.): The Panorama in the Old World and the New, Amberg 2010.
  • Oettermann, Stefan: Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums, New York 1997.
  • Plenen, Marie-Louise: Sehsucht. Das Panorama als Massenunterhaltung des 19. Jahrhunderts, Basel u.a. 1993.

Externe Links

Abbildungsnachweis
http://www.zeno.org/Ansichtskarten/M/Leipzig,+Sachsen/Panorama?hl=panorama+leipzig (gemeinfrei).

Empfohlene Zitierweise
Bühl-Gramer, Charlotte: Der Rundumblick auf die Geschichte. In: Public History Weekly 1 (2013) 1, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-135.

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Inklusion und Geschichtswettbewerb – Barrierefreier Geschichtswettbewerb?

 

Am Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten nehmen durchschnittlich 5000 SchülerInnen teil. Die Zahl der Beiträge aus Real-, Haupt- oder Förderschulen ist jedoch seit Jahren fallend. Der Geschichtswettbewerb richtet sich aber an alle SchülerInnen. Am Beispiel eines aktuellen Beitrags aus einer Förderschule soll auf wichtige Stolpersteine hingewiesen werden, die die Teilnahme von SchülerInnen mit Lernschwierigkeiten erschweren und Maßnahmen vorgeschlagen werden, die einen barrierefreien Zugang zum Geschichtswettbewerb ermöglichen.

 

Gibt es ein Textproblem?

„Wir Haben uns in 2 Gruppen geteilt und jede der 2 Gruppen hat jeweils verschiedene Geschichten und Aufgaben bekommen. Es hat sehr viel Spaß gemacht. Jeder von uns hat gut mitgemacht. Wir haben die Geschichte vom Brettener Hundle gelesen. Es war sehr spannend zu zuhören wieso es die Geschichte vom Brettener Hundle gab. Deshalb haben wir uns entschieden des Thema zu nehmen vom Brettener Hundle.“1

Der Schüler der 9. Klasse einer Förderschule für Kinder und Jugendliche mit Lernproblemen und Entwicklungsverzögerungen beschreibt im Arbeitsbericht die Phase der Themenfindung für den Geschichtswettbewerb 2012/13 „Vertraute Fremde. Nachbarn in der Geschichte“. Exemplarisch werden hier einige Spezifika deutlich, die die Teilnahme am Geschichtswettbewerb erschweren: Der kurze Text zeugt von einer großen Mühe des Schülers beim Formulieren der inhaltlichen Aussagen und deren korrektem Niederschreiben. Der Geschichtswettbewerb ist aber stark auf Lesen, Schreiben und Schriftlichkeit insgesamt ausgerichtet. In diesem Fall können die SchülerInnen keinen inhaltlich strukturierten, den Arbeitsprozess elaboriert reflektierenden Arbeitsbericht abgeben. Vielmehr sind an der Chronologie des Projektablaufs orientierte, von mehreren SchülerInnen additiv verfasste und den eigenen Entscheidungs- und Erkenntnisprozess andenkende Textabschnitte eine zu würdigende Leistung. Das „Textproblem“ des Geschichtswettbewerbs zeigt sich auch auf anderen Ebenen: Das in den jeweiligen Wettbewerb einführende Magazin „spurensuchen“2, ist nicht auf die Bedürfnisse dieser Schülergruppe ausgerichtet. Sie haben Schwierigkeiten, die dort formulierte Aufgabenstellung zu verstehen („Wurden Nachbarn diskriminiert, gemieden oder besonders geachtet, und warum?“). Auch die dort aufgeführten Beispiele zum Thema Nachbarschaft sind für sie allein schwerlich zu bewältigen und deshalb auch nicht anregend. Hier würden schon einige Seiten in „Leichter Sprache“ mit für die Schülergruppe naheliegenden und verstehbaren Beispielen weiterhelfen3.

Eigener Preis?

Wir haben „die Stadtmauer nach gebaut und haben einen Kampf um das Essen als Theater nachgespielt. Dabei haben wir die Engel-Teufelsmusik gehört.“
Die Schwierigkeiten im Textumgang bedeuten auch, dass das Wettbewerbsthema sinnlich und handlungsorientiert erarbeitet werden muss. Theaterpädagogische Elemente und musikalische Einstimmung auf Belagerer (Teufelsmusik) und Belagerte (Engelsmusik) eröffnen hier einen Zugang zur Alterität des vergangenen Geschehens. Das widerspricht aber der dem Wettbewerb zugrunde liegenden Leitidee des forschenden historischen Lernens, die auf Wissenschaftspropädeutik und Kognition ausgerichtet ist und als Endprodukt eine an wissenschaftlichen Standards orientierte Hausarbeit vorsieht. Letzteres ist gerade dieser Schülergruppe nicht angemessen. Ihre Projektprodukte als Wettbewerbsbeiträge wie Fotobücher mit kleineren Textbeiträgen, Ausstellungsplakate oder wie hier das Drehbuch und der Film eines von der Schülergruppe gestalteten Stadtrundgangs sind zwar im Wettbewerb möglich, werden aber zu wenig gewürdigt. Hier könnte ein eigener reservierter Wettbewerbspreis für eine solche Schülergruppe die Inklusion in den Wettbewerb steigern.

Frageboxen

Gleichzeitig müsste das Prinzip des forschenden historischen Lernens begrifflich modifiziert werden. Im ersten Zitat wird deutlich, dass die Schülergruppe aus zwei Vorschlägen ein Thema ausgewählt hat. Die Vorstellung, dass die SchülerInnen das Thema allein entwickeln, ist hier illusorisch (und gelingt auch bei anderen Schülergruppen nur bedingt). Hinzu kommt, dass gerade FörderschülerInnen nicht immer durchgängig Geschichtsunterricht hatten, bei dem historische Kompetenzen angebahnt wurden. Oftmals ist Geschichte in der Förderschule ein weniger wichtiges Fach. So müssen bei einer angestrebten Wettbewerbsteilnahme viele Grundlagen geschaffen werden, bevor der Forschergeist erwacht. Dieser zeigt sich dann bspw. in einer vollen Fragebox, wobei die darin befindlichen Fragen zeigen, dass Quellen kritisch durchdacht („Wer ist der Zeuge, der die Geschichte der Belagerung geschrieben hat?“) und Ereignisse befragt werden („Hat der Bürgermeister beim Ausfall der Brettener während der Belagerung mitgekämpft?“). Die Schülergruppe konnte einen Experten interviewen und dabei feststellen, dass nicht alle Fragen an die Vergangenheit geklärt werden können. Diese Ergebnisse zeigen, dass forschendes historisches Lernen grundsätzlich möglich ist, wenn auch mit Einschränkungen.

Begleitete Selbständigkeit

Auch die dem forschenden historischen Lernen implizite Selbstständigkeit ist hier zu modifizieren: TutorInnen, die historische Kompetenzen anbahnen und historische Projekte für die SchülerInnen mit Förderbedarf methodisch angemessen anbahnen können, sind für eine Teilnahme am Wettbewerb unumgänglich. Spezielle Tutorenworkshops durch die Körber-Stiftung könnten hier mehr Lehrkräfte motivieren, ebenso ein Tutorenpreis, der für diesen Kreis an LehrerInnen reserviert bleibt.

Gegen die Elitentendenz

Gerade weil die derzeit viel beschworene und diskutierte Inklusion kein Schlagwort bleiben soll, darf sich die Elitentendenz des Geschichtswettbewerbs nicht weiter verfestigen. Vielmehr sollten Anstrengungen unternommen werden, die in letzten Wettbewerb geringe Zahl an Beiträgen aus Förderschulen (vier von 1314) zu steigern.

 

Literatur

  • Alavi, Bettina / Terfloth, Karin: Historisches Lernen im inklusiven Unterricht. In: Klauß, Theo / Terfloth, Karin (Hrsg.): Gemeinsam besser lernen! Inklusive Schulentwicklung, Heidelberg 2013. S. 185-207.
  • Borries, Bodo von: „Forschendes historisches Lernen“ ist mehr als „Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten“. Rückblick und Ausblick. In: Heuer, Christian / Pflüger, Christine (Hrsg.): Geschichte und ihre Didaktik – Ein weites Feld … Unterricht, Wissenschaft, Alltagswelt. Gerhard Schneider zum 65. Geburtstag, Schwalbach/Ts. 2009. S. 130-148.
  • Nellen, Jörg: Kompetenzen historischen Denkens am Beispiel erfolgreicher Beiträge zum Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten aus Hauptschule, Realschule und Gesamtschule. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 9 (2010), S. 110-130.

Externe Links

Abbildungsnachweis
© Thomas Platow, http://www.koerber-stiftung.de/bildung/geschichtswettbewerb/thema-nachbarn/themenideen-im-internet.html.

Empfohlene Zitierweise
Alavi, Bettina: Inklusion und Geschichtswettbewerb – Barrierefreier Geschichtswettbewerb? In: Public History Weekly 1 (2013) 1, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-129.

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Zeitverkauf

 

Geschichte wird gemessen, gezählt, gedeutet, erzählt. So verpackt, dient sie sehr unterschiedlichen Zwecken: zur Orientierung der Zeitgenossen in ihrer Gegenwart, für den Druck in Hochglanzmagazinen, als fein abgewogene Ware. Mal gibt es zu viel von ihr, mal zu wenig, zuweilen ist sie veraltet, dann wieder aufregend neu. Lesen Sie, wie sich die Geschichtsdidaktik in diesem Geschäft mit vielen Konkurrenten schlägt.

 

Konkurrenzen

Eines der wesentlichen Versprechen der Geschichtsdidaktik an die Geschichtslernenden ist die Orientierung in der Gegenwart durch Zeiterfahrung. Das Angebot ist freilich nicht konkurrenzlos. So hatte ich kürzlich ein ganz eigenes Zeiterlebnis in jenem Organ, das hierzulande zumindest einer geschmacklich gebildeten Intelligenz beim Denken die Richtung weist, dem Zeit-Magazin. Dort bewarb die Firma Rolex ihre exquisiten Armbanduhren, die an den Gelenken von „testimonials“ wie Martin Luther King, Sophia Loren oder Roger Federer prangten. Die rhetorische Frage „Warum diese Uhr?“ wurde so beantwortet: „Sie war Zeitzeugin. Sie war dabei, als Worte gesprochen wurden, die ganze Nationen bewegten. Als Menschen über sich selbst hinauswuchsen.“ Dann in Fettdruck: „Sie zählt nicht nur die Zeit. Sie erzählt Zeitgeschichte.“ Ich dachte mir: Welch freisinniger Umgang mit Begriffen und Werten meiner Disziplin! Als Geschichtsdidaktiker fühlte ich mich herausgefordert.

Manchester, zum Beispiel

Das Heft las ich auf dem Rückflug von einem Besuch des englischen Manchester, was nicht ohne Wirkung auf meine Gedankengänge blieb. Schließlich ist Großbritannien ein Land von großem historischem Bewusstsein (während zugleich der Geschichtsunterricht mindestens so im Argen liegt wie in Deutschland, weshalb man ihn auf der Insel schon in der Mittelstufe abwählen darf). Während meines Aufenthalts war ich in einer Image-Broschüre der Stadt zwischen tausend Empfehlungen für stilvolles Essen, beglückendes Shopping oder erfolgreiches Investment auf einen ehrgeizigen Abriss zum, wie es in den angelsächsischen Ländern heißt, local heritage gestoßen. Tatsächlich häufen sich ja in Manchester menschheitsgeschichtliche Highlights in erstaunlicher Zahl: Hier lag der Abgangsbahnhof der ersten regelmäßig verkehrenden Personen-Eisenbahn der Welt, der namengebende Ursprung des entfesselten Kapitalismus, der Ort des Zusammentreffens von Karl Marx mit Friedrich Engels (dadurch wohl die Wiege des Marxismus), die Heimat des female suffrage in Person der Frauenrechtlerin Emmeline Pankhurst, die Wirkungsstätte des Computer-Pioniers Alan Turing (der im Zweiten Weltkrieg den deutschen Enigma-Code für den britischen Geheimdienst knackte), später eine Keimzelle für das in guter multiethnischer Nachbarschaft gelebte diversity-Konzept sowie ein erster Sonnenplatz der ihr Versteck verlassenden gay scene. Zu den Schattenseiten des Erbes rechneten die Autoren die miserablen Zustände in den Baumwollspinnereien (die Engels zu seiner „Lage der arbeitenden Klasse“ veranlassten), jene von der Kavallerie niedergemähte Protestkundgebung von 1819 („Peterloo-Massaker“, mit elf Todesopfern), die schweren Rassenunruhen der 1970er Jahre, das größte Bombenattentat in Friedenszeiten auf englischem Boden (mit welchem die IRA 1996 die halbe Innenstadt in Schutt und Asche legte). Die Konklusion der historischen Erzählung lautete demnach grob: In dieser ehrwürdigen Stadt wurde zwar der Manchester-Liberalismus erfunden und mit ihm die infame Idee des „serious wealth“, aber eben auch eine kritische Gegenerzählung durch die Arbeiter – und überhaupt alle möglichen Befreiungsbewegungen.

People love places with a scandalous past

Erleben lässt sich dieses Narrativ der Aussöhnung, wenn man auf einem Spaziergang entlang der schmalen Kanäle Manchesters sieht, wie sich in den zahllosen aufgelassenen Fabriken und Lagerhäusern – für deren Abriss nach dem Ende der industriellen Hochzeit schlicht das Geld fehlte – aktuell eine erstarkte Bürgerschaft zwischen gusseisernen Hallenkonstruktionen, Resten ausgedienter Maschinenparks, unverputzten Backsteinmauern behaglich einrichtet. Dieses Prinzip der Konservierung nach dem Typ „Vergangenheit schlägt Funktion“ begegnet uns genauso im Berliner Scheunenviertel, wo junge Menschen Cocktails unter der sehr alten Ankündigung einer Armenspeisung trinken, oder in Paris, wo im vormals jüdisch geprägten Marais das liebevoll gepflegte Ladenschild einer koscheren Bäckerei nunmehr die Eingangstür einer Designer-Boutique ziert. Die Entscheidung, in solch erinnerungssattem Bezirk zu wohnen, auszugehen, einzukaufen, heißt dann zwar immer, sich anhand des historischen Zitats, des spielerischen Symbols, des ironischen Simulacrums in die besondere Geschichte des Ortes einzuschreiben. Oder wie mir ein flinker Makler einmal frohgemut verkündete: People love places with a scandalous past. Aber derart postmodernes Geschichtsbewusstsein ruft auch aus: Die Gegenwart ist gerade keine bloße Weiterentwicklung des Gewesenen, sondern dessen souveräne Inspiration und zuweilen sein Gegenentwurf.

Der angebissene Apfel

Ja, wir lieben diese Sorte marktgängig konfektionierter Geschichte heute sehr und daher wird sie uns, gut kapitalistisch, käuflich. Das mag den behaupteten Zeitzeugenstatus sogar von etwas derart Seelenlosem und, nebenbei, rührend Altmodischem wie einer Armbanduhr begründen. Indessen weiß die Geschichtsdidaktik, dass die Zählung der Zeit so wenig als rational kalkulierendes Geschäft gelingt wie ihre erzählende Deutung und Interpretation. Die Wahrnehmung des Vergehens ist vielmehr selbst ein Zeitphänomen. Und deswegen kennt die Orientierung der Lebenswelt durch Geschichte – das heißt wörtlich: die Weisung des Weges nach Osten, Richtung Sonnenaufgang, nach Jerusalem, ins Paradies – nur Schlangenlinien. Alan Turing jedenfalls wählte 1954 noch den Freitod, nachdem ihn sein Staat durch ein medizinisches Programm zur Bekämpfung der Homosexualität psychisch zerstört hatte. Dazu verzehrte er einen vergifteten Apfel (die Umrisse der angebissenen Frucht dienten später womöglich als Vorbild des Apple-Logos). Im Jahr 2012 jedoch, zu seinem hundertsten Geburtstag, machte der olympische Fackellauf mit Zielort London Station an dem mittlerweile ihm zu Ehren in Manchester errichteten „Memorial“. Ob Turing jemals eine Rolex besaß, ist unwahrscheinlich; aber der von viel jubelndem Volk begleitete Stabtausch der Erinnerung ist auch so gut bezeugt. Public History eben.

 

Literatur

  • Michele Barricelli: Gegenwart und Erinnerung in der großen Stadt. Ein Bericht über symbolisches Geschichtsbewusstsein in Prozessen des urbanen Wandels („Gentrification“). In: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften 1/2013.
  • Carla van Boxtel/Stephan Klein/Ellen Snoep (Hrsg.): Heritage Education. Challenges in Dealing With the Past. Amsterdam 2011.
  • Mike Seidensticker: Werbung mit Geschichte. Ästhetik und Rhetorik des Historischen. Köln u.a. 1995.

Externe Links

Abbildungsnachweis

© Michele Barricelli, Royal Mills in Manchester: Apartments for Sale.

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