36. Das Romantische oder: Geschichte wiederholt sich doch nicht

Alles schon mal dagewesenRomantik

Vor kurzem wieder so ein Déjà-vu-Erlebnis gehabt: Das kennst du doch irgendwoher, hätte ich mir denken können, wenn ich in dem Moment einen vollständigen Satz gedacht hätte. Aber wahrscheinlich kam nur so etwas heraus wie: Ach! Und wenn ich statt Ach! schon einen vollständigen Satz hätte denken können, dann hätte er weniger lauten sollen, dass ich das da irgendwoher kenne, sondern eher, dass ich es irgendwannher kenne. Aber für solche Verstiegenheiten war die Zeit zu knapp. Da war das Ach! einfach schneller.

Unangenehm ist vor allem, dass ich gar nicht mehr genau sagen kann, was mir da so bekannt vorkam. Liegt wohl daran, dass es seit geraumer Zeit so viele Gelegenheiten gibt, Altbekanntem oder vermeintlich längst Vergangenem wieder zu begegnen. Da war man sich zum Beispiel mal im späten 20. Jahrhundert sicher, dass man die ganze Sache mit dem Nationalismus überwunden hätte, bis genau dieser Nationalismus seit den 1990er Jahren wieder fröhliche Urständ feiert und in den letzten 25 Jahren auch keine Anstalten gemacht hat, wieder zu verschwinden. Dabei geht es nicht nur um nationalistisch motivierte, kriegerische Auseinandersetzungen, sondern viel eher noch um die offensichtliche Hoffähigkeit und Veralltäglichung nationalistischer Positionen auf verschiedenen Ebenen der politischen Meinungsbildung. Ob man sich den Aufstieg nationalpopulistischer Parteien in den Niederlanden, in Skandinavien, Ungarn, Frankreich, Deutschland und sonstwo ansieht oder die eingeforderte Selbstverständlichkeit betrachtet, mit der nicht wenige fordern, gegen so genannte Migranten und so genannte Ausländer hetzen zu dürfen („Wir sind keine Nazis, wir sind Bürger“!) – mulmig muss einem werden, wenn es nicht einmal mehr einer gehörigen Wirtschaftskrise bedarf, um solche Emotionen zu schüren.

Die Religion wird gleich mitgenommen. Auch wenn sich die Pegida-Bewegung in hoffentlich nicht allzu ferner Zukunft in einem doppelten Sinn müde gelaufen haben sollte, wird es ersatzweise sicherlich andere Komplexitätsreduzierer geben, denen die Dinge gar nicht einfach genug sein können. Und ‚das Abendland‘, das auch dann wieder verteidigt werden soll, muss natürlich ein irgendwie – also eher diffus – christliches sein, so dass man weiterhin den Krieg der Religionen und Konfessionen ausrufen kann, weil man ja auch in diesen Religionen eine irgendwie geartete Identitäts- und Stabilitätsgarantie zu entdecken vermag.

Aber es sind eben nicht nur die offensichtlichen Beispiele von Nation und Religion, die einem im vergangenen Vierteljahrhundert temporale Schwindelgefühle verursachen konnten, weil das alles schon mal dagewesen ist und eigentlich schon längst abgehakt war. Auch in anderen, politisch gänzlich unverfänglichen Zusammenhängen kann einem das eine oder andere bekannt vorkommen. So können aufmerksame Beobachter kulturwissenschaftlicher Diskussionen zum Beispiel feststellen, wie in den vergangenen Jahren zunehmend versucht wird, den überbordenden Verunsicherungen und Unwägbarkeiten neue/alte Grundlagen entgegenzusetzen. Da gerät die Frage nach dem Sein und der Ontologie unversehens zu einer neuen Blüte, da wird gegen alle möglichen Spielarten von Konstruktivismus die Unmittelbarkeit einer Präsenz hervorgehoben oder da wird gegen nervende Relativierungen ein „Neuer Realismus“ ausgerufen. [1] Generell war das Geschimpfe gegen alles, was man als „postmodern“ bezeichnen konnte, ja schon immer groß, nun kommt es aber zunehmend auch aus den Reihen derjenigen, von denen man bisher immer denken durfte, dass sie eigentlich zu diesen „Postmodernen“ dazu gehören. Das scheint nach dem Motto zu laufen, dass dieses ganze theoretische Herumexperimentieren ja ganz nett war, nun aber mal Schluss mit dem Quatsch sei, weil es jetzt wieder ernst werde: Kriege, Krisen, Katastrophen! [2]

Eine zweite Romantik

Natürlich ist klar, woher wir das alles schon kennen, dieses zunächst ironisch-experimentelle Herumspielen, das aber schon recht bald übergeht in die Suche nach dem Eigentlichen, dem Essentiellen, dem Wirklich-Wahren, dem eigentlich Unfassbaren, das so groß ist, dass man sich ihm einfach nur noch hingeben kann. Unabhängig davon, ob dieses Eigentliche, mit dem wir es da zu tun haben und das alles übersteigt, nun Nation, Religion, Geist, Gott, Wirklichkeit, Wahrheit oder sonstwie heißt – es widersetzt sich letztendlich allen Differenzierungen und Theoretisierungen und kann in seiner Großartigkeit nur noch hingenommen werden. Die Romantik hat all das schon einmal ähnlich durchgespielt. Und in der Tat sind die Parallelen fast schon unheimlich: Zunächst haben wir es mit einer theoretischen Bewegung zu tun, die es unternimmt, die Grundlagen der sicher geglaubten Welt zu erschüttern (dort Aufklärung, hier Postmoderne), sodann eine politische Revolution, die mit dieser Erschütterung tatsächlich ernst macht (dort Französische Revolution 1789, hier die europäischen Revolutionen 1989/90), gefolgt von der schwierigen und zähen Aufarbeitung all dessen, was da geschehen ist. In der anschließend entstandenen Verwirrung, ausgelöst durch den Verlust einst sicher geglaubter Wirklichkeitsparameter, wird nicht ausschließlich, aber doch ganz merklich der Versuch beobachtbar, verlorene Gewissheiten wiederzugewinnen. Dann macht es mit einem Mal Sinn, sich wieder auf die Religion zu kaprizieren, die Nation zu vergöttern, die Wahrheit wertzuschätzen oder die Einheit in der Wirklichkeit wieder zu entdecken, weil in all diesen Essentialismen das endlose Differenzieren und Relativieren endlich ein Ende findet.

Diese zeitlichen und inhaltlichen Parallelen sind so frappierend, dass man doch wohl mit Fug und Recht davon sprechen könnte, wir lebten in einer zweiten Romantik (nach der „Zweiten Moderne“ wäre das ja durchaus folgerichtig). Und wäre dem so, hätten wir zwei ganz wichtige Erkenntnisse gewonnen: Erstens hätten wir bestimmte historische Verlaufsformen, wenn nicht sogar eine grundlegende historische Gesetzmäßigkeit ausfindig gemacht. Und zweitens könnten wir dann auf dieser Basis sogar voraussagen, wie sich zumindest in groben Zügen der weitere Verlauf der Entwicklungen vollziehen wird. Heureka!

Alles noch gar nicht dagewesen

Aber nein, so ist es natürlich nicht. War nur ein Scherz. Die Rede von einer zweiten Romantik (oder einem zweiten Wasauchimmer) mag zwar auf den ersten Blick einleuchtend erscheinen, erweist sich aber schnell als Popanz. Also keine Sorge, die Geschichte wiederholt sich nicht. Sie tut es nicht nur nicht, weil es verboten oder argumentativ zu einfach wäre. Auch tut sie es nicht, weil um 1800 einige Aspekte eine eher geringe Rolle gespielt haben, die uns um 2000 wesentlich stärker betreffen, zum Beispiel die globalen Kommunikationszusammenhänge, in die wir eingebunden sind (während die erste Romantik schon ein sehr europäisches Phänomen war), oder die überbordend große Rolle ökonomischer Fragen, die im frühen 19. Jahrhundert bei weitem nicht so bedeutsam waren. Sie tut es vor allem nicht, weil ein solcher Blick, der sich auf die Wiederkehr bestimmter historischer Verlaufsmuster konzentriert, nur das sieht und betont, was er sehen will. Alles Unpassende wird beiseitegeschoben. Und die Verwandtschaft der Jahreszahlen zu betonen (1789-1989) übersieht entweder, dass dazwischen doch zwei Jahrhunderte Differenz liegen, oder hat sich noch nicht wirklich von der Macht kabbalistischer Zahlenmystik befreit. Dem kann man dann möglicherweise historische Prozesse auch dadurch erklären, dass man auf die Namensähnlichkeit von Staatschefs verweist: Lenin-Stalin-Putin!

Aber ein gewisses Muster gibt es natürlich trotzdem. Allerdings liegt das weniger in ‚der Geschichte‘ (was auch immer mit diesem vermeintlich alles erklärenden Gottersatz gemeint sein mag), sondern eher bei uns. In der Art und Weise, wie wir uns auf abwesende Zeiten beziehen, wie wir mit Vergangenheit und Zukunft als Orientierungshorizonten operieren, versuchen wir unsere eigene Gegenwart zu organisieren. Und auf Verunsicherungen, die aus einem empfundenen oder tatsächlichen Übermaß an Veränderungen resultieren, kann man unter anderem reagieren, indem man auf vermeintlich überzeitlich gültige Grundlagen rekurriert. Dann müssen mit einem Mal die seltsamsten Konstrukte herhalten, um den Irritationen des Konstruktivismus zu entgehen. Dann werden Nation und Religion (natürlich die jeweils ‚eigene‘) mit einem Mal ebenso bedeutsam wie die Unbestreitbarkeit der einen Wahrheit oder der einen und einzigen Wirklichkeit. Gab es jemals eine bessere Zeit für postmoderne Dekonstruktionsarbeiter als diese, in der man sich allenthalben nach neuen Konstrukten sehnt?

Damit hätten wir aber kein historisches Grundgesetz formuliert, sondern höchstens Einsichten in die allzu menschlichen Unzulänglichkeiten gewonnen. Dass Verunsicherungen und Turbulenzen nicht angenehm sind, lässt sich schon aus der Genesis lernen. Aus dem Paradies vertrieben zu werden, war offensichtlich nicht besonders angenehm. Und seither suchen zumindest manche Vertreter der Gattung Mensch den Weg dorthin zurück, in die geordneten, sorgenlosen und ewig gültigen Verhältnisse eines Paradieses, in dem irgendeine höhere Instanz dafür sorgt, dass alles bleibt, wie es ist. Aber dieses Paradies wäre die Hölle.

Die Romantik des Historischen

Dummerweise sind von solchen Phänomenen der Re-Romantisierung alle historischen Tätigkeitsfelder ganz besonders betroffen. Insofern ist es kein Zufall, dass man es seit den 1990er Jahren mit einem unübersehbaren Geschichts- und Erinnerungsboom zu tun hat, bei dem nicht nur alles und jedes historisiert wird, sondern bei dem vor allem ‚die Geschichte‘ mal wieder die versichernden Antworten auf all die verunsichernden Fragen zu geben hat. Insofern muss ich mir tatsächlich Sorgen machen über die anhaltende Attraktivität meines eigenen Arbeitsgebiets.

Daher heißt es gegensteuern. Für alle, die es noch nicht mitbekommen haben sollten: Die Beschäftigung mit der Vergangenheit hat gerade nicht die Funktion, zur Orientierung und Identitätsbildung oder sonstigen Versicherungsmaßnahmen beizutragen. Das kann nur gelingen, wenn man nicht so genau hinsieht und das Gewesene als billiges Argumentationsarsenal missbraucht. Ganz im Gegenteil hat die Beschäftigung mit der Vergangenheit die Aufgabe, uns in unserer selbstverständlichen Bräsigkeit zu verunsichern, Alternativen aufzuzeigen, von denen wir noch nicht einmal wussten, dass sie existieren könnten, und das vermeintlich überzeitlich Gültige als zeitlich recht beschränkt vorzuführen. Und das gilt sowohl für die Suche nach unbezweifelbaren Grundlagen (schließlich muss man laut Wittgenstein an allem zweifeln – nur am Zweifel selbst nicht) wie auch für die Illusion von historischen Gesetzmäßigkeiten.

 

[1] Hans Ulrich Gumbrecht: Präsenz, Berlin 2012; Markus Gabriel (Hg.): Der Neue Realismus, Berlin 2014

[2] Dazu scheint zu passen, dass diese theoretischen Expermientierfelder gerade ihre eigene Historisierung erfahren: Ulrich Raulff: Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens, Stuttgart 2014; Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960-1990, München 2015.


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Sound des Mainstreams. Geschichtsdidaktik am Scheideweg

 

Die Reflexionen über die Zukunft der Geschichtsdidaktik haben bereits Geschichte, vor allem innerhalb dieser vergleichsweise jungen Disziplin. Der hier vorliegende Diskussionsvorschlag sieht sich als Teil dieser Geschichte und soll als ein Plädoyer für eine zeitgemäße Geschichtsdidaktik als Reflexionswissenschaft gelesen werden. Es geht darum, die tradierten Begriffe und Konzepte und den „Sound“ des geschichtsdidaktischen Mainstreams in Frage zu stellen.

 

„10 Euro in die Institutskasse“

Es scheint um das Ganze zu gehen: „Die Aufgabe der Geschichtsdidaktik“ wird von Monika Fenn beschworen. Und diese sieht sie ganz selbstverständlich – „die geschichtsdidaktische Zunft […] ist sich […] einig darüber“ – im reflektierten Umgang mit Geschichte. Wessen es dazu bedarf, wird von der Autorin gleich mitgeliefert: Man muss narrative Muster „aufdecken“ und sich ein eigenes Urteil bilden. Dies ist aber beides nur möglich, wenn man das „Richtige“ weiß. Überhaupt scheint das „Richtige“ für die Autorin eine große Rolle zu spielen. Ebenso wie die Angst, sich aus dem Elfenbeinturm ihrer Geschichtsdidaktik in die Welt des 21. Jahrhunderts zu begeben. Dieser Duktus, dieser Sound. Pars pro toto? „Wer das Wort ‘Erinnerungskultur’ benutzt“, lese ich den datierten Notizen Peter Sloterdijks, „zahlt ab sofort 10 Euro in die Institutskasse und wird für den Rest der Woche von den Diskussionen ausgeschlossen.“1 Wie ich finde: eine schöne Idee. Auch in der Geschichtsdidaktik sollten wir beginnen, die Begründungsmuster, Denkfiguren, Begriffe und dahinter stehenden Konzepte in Frage zu stellen. Schnell ist doch überall die Rede vom „reflektierten Geschichtsbewusstsein“, von „der“ Geschichtskultur, von „historischer Bildung“, ja sogar manchenorts immer noch von „Ideologiekritik“.

Bescheidwisserei von gestern

Sehe ich diese beiden Aspekte zusammen, dann frage ich mich doch, ob das die Geschichtsdidaktik ist, die historisches Denken in unseren „gebrochenen Zeiten“2 des 21. Jahrhunderts reflexiv begleiten kann (und soll)? Im Gestus des etablierten Bescheidwissers, der auf dem „Richtigen“ beharrt, mit dem zur Schau gestellten kulturpessimistischen Zeigefinger angesichts „missbrauchter“ Quellen und mit Verweis auf Texte, die in einer Zeit geschrieben wurden, in der lediglich von „Geschichte in der Öffentlichkeit“ die Rede war, die Menschen noch mit Wählscheibenapparaten telefonierten und es lediglich drei Fernsehprogramme gab? Denn seien wir ehrlich: Diese Texte waren auf ein Zeitalter zugeschnitten, in dem die Welt das war, was sie heute längst nicht mehr ist: „Ohne dass wir dessen gewahr wurden, ist in einer kurzen Zeitspanne, in jener, die uns von den siebziger Jahren trennt, ein neuer Mensch geboren worden.“3

“… interrupt the following”

„Es geht mir um einen Blick für Blicke.“4 Mit diesem Satz begründet Armin Nassehi seine soziologischen Storys aus der postmodernen Welt des 21. Jahrhunderts. Dies könnte auch zugleich die Intention des vorliegenden Beitrages sein. Es geht mir in diesem Sinne darum, dass die Geschichtsdidaktik Leerstellen skizzieren und Utopien entwerfen sollte, die den eigenen Mainstream geschichtsdidaktischer Argumentation in Frage stellen könnten. Denn die Thematisierung dieser Blicke als mögliche Perspektive für eine zeitgemäße Geschichtsdidaktik könnte dann im besten Fall einen reflexiven Lernprozess in Gang setzen, der das etablierte Konzept des „reflective practitioner“ von Donald Schön auch auf die ExpertInnen der Geschichtsdidaktik übertragen könnte: Perspektivendifferenz als Lernanlass. Denn die Differenz ist die Stärke einer Disziplin, nicht deren Schwäche. Dann sollte es aber nicht darum gehen, den geschichtsdidaktischen Bestand zu wahren, sondern vielmehr darum, Traditionen zu überdenken und Ansätze zu entwickeln, ja etablierte Theorien und Methoden des Faches weiter- und neuzudenken. Nicht ohne Grund zitieren die AutorInnen des Sammelbandes „Manifestos for History”, der sich mit der Vielfalt der Geschichte im 21. Jahrhundert beschäftigt, ein Paradoxon von Jacques Derrida: „To be true to what you follow you have to interrupt the following.“5

Schrägheit und Entdeckung

Um dies aber zu realisieren, muss man manchmal quer denken, neugierig und offen sein, Bestehendes in Frage stellen und Neues ausprobieren. Was die Geschichtsdidaktik m.E. braucht, ist eine kultivierte Form der Schrägheit im Denken, gleichzeitig aber auch einen seriösen und entdeckenden „Blick zurück“ auf die verschüttgegangenen Traditionen des Faches als Reflexionswissenschaft. All dies könnte man als Außenstehender in den Texten der Geschichtsdidaktik vermissen, als Beteiligter auch schmerzlich beim eigenen Schreiben. Aber nur diese Schrägheit, nur dieser Einschnitt, eröffnet uns die Chancen zur Entbürokratisierung des Denkens angesichts der Fragmentarisierung von Weltbezügen und der damit einhergehenden Angst vor dem Verlust des Ganzen. Denn nur dieser Einschnitt, die Derrida’sche Unterbrechung, bietet den notwendigen Raum für die Reflexion des eigenen Tuns. Eine zeitgemäße Geschichtsdidaktik wäre dann eine Geschichtsdidaktik, die sich in diesem Raum bewegt, ohne den Ausgang zu kennen, wäre eine Wissenschaft in Bewegung, von einem Zustand zu einem anderen. Geschichtsdidaktik böte dann die Möglichkeit zur Erkundung fremder Welten, der vorurteilsfreien Begegnung mit anderen Erzählungen, die weder richtig noch falsch, sondern lediglich anders wären: Geschichtsdidaktik als Reflexionsraum historischen Denkens.

 

Literatur

  • Jenkins, Keith: At the Limits of History. Essays on Theory and Practice, London/New York 2009.
  • Munslow, Alun: The Future of History, London 2010.

Externe Links 

 

Abbildungsnachweis
© Jakob Ehrhardt / PIXELIO

Empfohlene Zitierweise
Heuer, Christian: Sound des Mainstreams. Geschichtsdidaktik am Scheideweg. In: Public History Weekly 1 (2013) 7, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-466.

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Römische Wölfin, postmoderne Werbung

 

In der Sprache von MarketingstrategInnen und Medienprofis ist immer die Rede von Kommunikation zwischen Konsument und Produkt, das dazwischenliegende Medium Werbung stellt die Kanäle für diesen Prozess. Dabei bedienen sich die Werbeagenturen im Zuge der immer breiteren geschichtskulturellen Bewegung auch gelegentlich historischer Stoffe. Sie setzen die Inhalte als bekannt voraus und bauen darauf, dass Altbewährtes schon immer gut ankam, sich also auch dieses mal im Warenkorb des Konsumenten einfinden wird. Was bedeutet dies für unser Alltagsleben, für unser Konsumverhalten und nicht zuletzt: für unseren Umgang mit Geschichtskultur?

 

Un espresso per favore…

Ein lasziver Blick aus schwarzgeränderten Augen, rote, volle Lippen – so blickte uns vor etwa vier Jahren verführerisch eine Wölfin an. Auf Plakaten und Zeitungsanzeigen war sie allerorts präsent, die Lavazza-Wölfin. Eine schöne junge Frau steht auf Händen und Knien, nur spärlich bekleidet mit einem Fell auf dem Rücken, das mehr freigibt als verhüllt. Ihr Haar liegt wild und strähnig nach hinten. In der rechten Hand hält sie eine Espressotasse mit dem Lavazza-Schriftzug und -Symbol. Unter ihr zwei Kinder: Das eine blickt nach oben zu ihren – freilich sittsam durch einen körperfarbenen BH verhüllten – Brüsten, das andere richtet seine Aufmerksamkeit auf die Tasse. Die drei scheinen sich auf einer Mauer im Inneren des Kolosseums aufzuhalten, das den Rahmen für das Szenario bildet. Hinter den aufragenden Rängen des Kolosseums fällt der Blick auf dramatische Wolken. Beworben wird, das verrät uns der Schriftzug unter dem Bild, „The Italian Espresso Experience“ von Lavazza, dem original italienischen Espresso.1

Trank die Wölfin wirklich Kaffee im Kolosseum?

Ein faszinierendes, aber auch irritierendes Bild. Unverkennbar ist die Anspielung auf die römische Wölfin, deren berühmtes Standbild in den kapitolinischen Museen in Rom zu sehen ist. Die Sache hat also irgendetwas zu tun mit Geschichte, Tradition, Kultur. Dafür steht natürlich auch das Kolosseum, obwohl nicht so recht klar ist, was die Wölfin dort hingeführt haben mag. Allerdings ist es mit der Espresso-Tradition der Römer ja nicht so weit her – schließlich musste der Kaffee erst aus Südamerika importiert werden, und die Espresso-Technik gibt es erst seit gut hundert Jahren. Wie hängt denn nun die italienische Lebensart, für die der Espresso steht, mit römischer Geschichte und Tradition zusammen? Und warum ist eigentlich der Himmel nicht blau? Was auf den ersten Blick irgendwie zu passen scheint, erweist sich bei genauerem Hinsehen als einigermaßen disparat.

Die gute, alte Zeit

Mike Seidensticker hat vor nahezu 20 Jahren auf einer breiten Materialbasis Geschichte in der Werbung – oder Werbung mit Geschichte – analysiert. Sein Befund damals: Bestimmte Sinnbildungsmuster im Umgang mit Geschichte, wie sie Jörn Rüsen und Hayden White beschrieben haben, kommen auch in dieser Werbung zum Tragen. Unsere Produkte sind seit jeher bewährt, waren schon immer wertvoll, erinnern an gute alte Zeiten – mit solcher Werbung wird eine traditionale oder exemplarische Sinnbildung betrieben. Wird das ganz Neue, das Alte Überbietende, noch nie Dagewesene beworben, haben wir es mit einer genetischen Sinnbildung zu tun.

Sex sells!

Welche Art von Sinnbildung betreibt die Lavazza-Werbung? Es geht um Versatzstücke aus der Geschichte, die irgendwie positiv besetzt sind, weil sie für historische und kulturelle Bedeutsamkeit stehen. Eine direkte Verbindung zum Produkt gibt es nicht. „Sex sells“ alleine wäre dann aber doch zu einfach. Soll vielleicht suggeriert werden, mit einem Espresso lasse sich diese ganze Kultur und Tradition irgendwie aufmischen? Witzig ist jedenfalls, dass einen der beiden Knaben der Kaffee mehr lockt als die Mutter- respektive Wolfsmilch. Was der Bezug auf die Vergangenheit genau besagen soll, bleibt letztlich unklar. Er ist nicht argumentativ, sondern eher spielerisch, anspielend, verfremdet, ironisch gebrochen – mit einem Wort: postmodern. Auch wenn man das Werbekonzept im Detail nicht kennt: Offensichtlich ging die Agentur Armando Testa, die die Kampagne entworfen hat, davon aus, eine solche Art von Werbung würde bei den Adressaten ankommen. Postmodern scheint heutige Espressotrinker – und wohl auch andere Werbekunden – nicht zu überfordern; postmodern lässt sich goutieren. Ob dieses historische Sinnbildungsmuster verstärkt für unsere Gegenwart steht, im Konsumalltag wie auch sonst?

Eine Renaissance-Dame

Dazu passt eigentlich die Geschichte der Lupa-Skulptur. Dass die die beiden Knaben, also Romulus und Remus, der Wölfin erst in der Renaissance hinzugefügt worden sind, wissen wir schon seit Langem. Aber seit einigen Jahren ist auch das Entstehungsdatum der Wölfin selbst in der Diskussion. Befunde zur Gusstechnik und zum Material sprechen dafür, dass man sie eventuell nicht ins 6. Jahrhundert v. Chr., sondern ins 11. oder 12. Jahrhundert n. Chr. zu datieren hat – keine antike, sondern eine mittelalterliche Skulptur mithin. Irgendwie also auch schon post, die alte Wölfin.

 

Literatur

  • Seidensticker, Mike: Werbung mit Geschichte. Ästhetik und Rhetorik des Historischen, Köln u.a. 1995.

Externe Links

 

Abbildungsnachweis
(c) Marie-Lan Nguyen. Die Kapitolinische Wölfin (Rom), Abbildung gemeinfrei.

Empfohlene Zitierweise
Sauer, Michael: Römische Wölfin, postmoderne Werbung. In: Public History Weekly 1 (2013) 7, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-405.

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Seltsame Wege. Straßennamen heute

 

Historische Orientierung gesucht! In öffentlichen und virtuellen Räumen werden derzeit hitzige Debatten über Straßenumbenennungen geführt. Gestritten wird um Fragen der Ehre und Tradition. Kommunale Geschichtspolitik trifft auf heterogene Geschichtsbedürfnisse.

 

Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen

Vom Graseweg zur Bäckergasse – frühe Straßennamen sind dem alltäglichen Sprachgebrauch entlehnt und folgten den räumlichen Orientierungsbedürfnissen der StadtbewohnerInnen. Dies änderte sich im 19. Jahrhundert. Das expandierende Straßennetz wurde als symbolisches Instrument städtischer Geschichtspolitik entdeckt und in den Dienst politisch-ideologischer Identitätsstiftung gestellt. Entlang politischer Zäsuren wurden seither zentrale historische Orientierungsachsen wiederholt umbenannt – vom Schlossplatz zum Platz der Republik und zurück. Ebenso können Traditionsstränge im semantischen Netz der Stadt fortschrieben oder aber als Artefakte marginalisiert werden. Dem Flaneur erschließt sich die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen nur bedingt. Dagegen eröffnen jüngste Untersuchungen zu Straßennamenkorpora oder zu Diskursen um Straßenumbenennungen den Blick auf das historisch gewachsene Benennungs- und Identitätsprofil deutscher Städte und die damit verbundenen Geschichtsbilder und Wertorientierungen.

Wirklich neue Wege?

Während die Vergabe und Umbenennung von Straßennamen bislang ein Arkanum der Kommunalpolitik zu sein schien, erregt die Frage der Zukunftsfähigkeit städtischer Wegweiser zunehmend öffentliche Aufmerksamkeit. Ausgelöst von lokalen Debatten um „NS-belastete“-Straßennamen beginnt man nicht nur in Wien1 oder Münster2 mit der systematischen Erfassung, Analyse und Veröffentlichung der Straßennamenkorpora. Einerseits wird auf diesem Wege eine breit zugängliche Diskussionsgrundlage geschaffen: Biografien einst geehrter Namensgeber werden neu bewertet, die symbolische Bedeutung von Erinnerungsorten wird vergegenwärtigt und der Kontext der Benennung erhellt. Andererseits gewinnen weiße Flecken städtischer Erinnerungskultur, aber auch Muster der Marginalisierung gruppengebundener Traditionen an Kontur. Ob man dies als Demokratisierung städtischer Geschichtspolitik interpretieren kann, die auf Transparenz, Diskurs und Reflexivität setzt, bleibt abzuwarten.

Divergente Interessen

Überregionale Trends in der Benennungspraxis sind jedoch unübersehbar: Monumentalisches Erinnern weicht mit der Debatte um NS-belastete Straßennamen kritischer Identitätsreflexion. Mit ehrend-mahnender Erinnerung an die Opfer zweier deutscher Diktaturen aber auch deutscher Kolonialpolitik gewinnen Straßennamen als symbolische Form der Wiedergutmachung an Bedeutung.3 Aktuell erregt so in Hamburg die auf das Engagement von Bürgerinitiativen zurückgehende Wanderausstellung „freedom roads! Koloniale Straßennamen und postkoloniale Erinnerungskultur“ öffentliche Aufmerksamkeit.4 Wie in Münster entdeckt städtische Geschichtspolitik die Straßennamen aber auch als ökonomisches Kapital. Der Hindenburgplatz wird zum Schlossplatz. Mit der Aura des Authentischen lockt man TouristInnen, betreibt city branding. Und jeder Monopoly-Spieler ahnt: Immobilienbesitzern verheißt die Adresse Wertsteigerung.

Entsorgung vs. Erinnerungsstolz

Im Feld der Kommunalpolitik ist die ehrende Funktion von Straßennamen unstrittig.  Umbenennungen werden gern als Ausweis eines städtischen „Geschichtsbewusstseins“ inszeniert. UmbenennungsgegnerInnen prangern dagegen die Form der „Entsorgung der Vergangenheit“ an, die in „Geschichtslosigkeit“ münde.5 Mit analytischer Distanz kann man wie Götz Aly den Quellenwert des städtischen Schilderwaldes preisen – ein Friedhof der Ahnen, der die Selektivität und Vergänglichkeit historischer Deutungen demonstriert und damit den Zeitgeist jeder Schilderstürmerei offenbart.6 Andere sehen eine Geschichte „mit Ecken und Kanten“ als didaktische Chance. Einst ehrende Zeichen würden so zu Mahnmalen gegen das Vergessen. Erläuterungstafeln unter Straßenschildern demonstrieren nicht zuletzt den „Erinnerungsstolz“ der Gegenwart, beseelt vom Wunsch, dem gesellschaftlichen Lern- und Wandlungsprozesses Dauer zu verleihen.

Postmodernes Spiel

Die Debatte um die historische Orientierungsfunktion städtischer Straßennamen ist im Gange – viele Fragen sind offen: Ob und wie die „zerbrochenen Spiegel“ deutscher Geschichte symbolisch repräsentieren? Hauptstraße oder Sackgasse – welche Räume öffnen für heterogene politische, religiöse, soziale und ethnische Identitätsbedürfnisse, für Mehrheiten und Minderheiten, unterschiedliche Generationen? Obsiegt die Ökonomisierung der Geschichtskultur? Sind Straßennamen zukünftig gewinnbringendes Kapital in den Händen des Stadtmarketing? Lehnen wir uns zurück, beobachten wir mit analytischer Distanz, wie das postmoderne Spiel mit Sinn und Bedeutungen nicht nur im virtuellen Raum,7 sondern auch auf unseren Straßen zu historischer Orientierungslosigkeit führt? Nein! Die Beschreibfläche ist limitiert. Mit Karl Schlögl bleibt „Namensgeschichte immer auch Herrschaftsgeschichte“8 und geschichtspolitischer „Straßenkampf“ damit ein unverzichtbares Mittel kollektiver Identitätsvergewisserung.

 

Literatur

  • Sänger, Johanna: Heldenkult und Heimatliebe. Straßen- und Ehrennamen im offiziellen Gedächtnis der DDR, Berlin 2006.
  • Pöppinghege, Rainer: Wege des Erinnerns. Was Straßennamen über das deutsche Geschichtsbewusstsein aussagen, Münster 2007.
  • Werner, Marion: Vom Adolf-Hitler-Platz zum Ebertplatz. Eine Kulturgeschichte der Kölner Straßennamen seit 1933, Köln/Weimar/Wien 2008.

Externe Links

 

Abbildungsnachweis
© Saskia Handro. Im Jahr 2010 umbenannte Straße in Münster.

Empfohlene Zitierweise
Handro, Saskia: Seltsame Wege. Straßennamen heute. In: Public History Weekly 1 (2013) 4, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-255.

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Brandenburg will Geschichtsunterricht im Rückwärtsgang einführen

Die spinnen, die Brandenburger! Weil die Schüler in Brandeburg zu wenig über die DDR wüssten, will man vom chronologischen Geschichtsunterricht wegkommen, wie Daniel Eisenmenger in seinem Blog berichtet: Brandenburg plant ab dem Schuljahr 2011/12 den chronologischen Durchgang zugunsten von Themenfeldern aufzugeben, so dass u.a. die DDR-Geschichte früher behandelt werden kann. Diese soll dann auch schon [...]

Quelle: http://weblog.histnet.ch/archives/4156

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Quelle: http://weblog.histnet.ch/archives/4156

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