Lebendige Musikgeschichte: Ein Besuch im Archiv des IMD

Im letzten Monat hatte ich die Gelegenheit, eine Woche lang im Archiv des Internationalen Musikinstituts Darmstadt (IMD) zu recherchieren. Das IMD ist vor allem dafür bekannt, dass es die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik ausrichtet, die seit 1946 alle zwei Jahre in Darmstadt stattfinden und seit über 65 Jahren ein wichtiges Zentrum der zeitgenössischen Musikproduktion darstellen.1 Denken wir etwa an das Wirken von Boulez, Stockhausen, Nono, Cage und Adorno in den 1950er Jahren, so lässt sich mit Recht sagen: In Darmstadt wurde Musikgeschichte geschrieben. Und diese Geschichte wird im Archiv des IMD gründlich dokumentiert.

Internationales Musikinstitut Darmstadt (IMD)

Das IMD ist ruhig und recht unscheinbar am Rand der Innenstadt Darmstadts gelegen, gut erreichbar mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Die Bibliothek enthält eine beeindruckende Sammlung von (ca. 40.0000) Partituren und wissenschaftlichen Publikationen zur Musik des 20. und 21. Jahrhunderts. Das Archiv umfasst Zeitungsartikel, Fotos, Briefe (insbesondere von und an Wolfgang Steinecke), Programmhefte, Livemitschnitte von Vorträgen und Konzerten und viele weitere Dokumente zu den Darmstädter Ferienkursen und auch ganz allgemein zur (klassischen) Musik nach 1945. Anhand dieser Dokumente lassen sich eindrücklich Entwicklungen, Dynamiken und Konstellationen der Musikgeschichte nach 1945 nachvollziehen.

Im Rahmen meines Dissertationsprojekts (zur Idee des Fortschritts in der Musik in den 1950er Jahren) war die Pressesammlung von besonderem Interesse für mich. Hier verfügt das Archiv über eine beträchtliche und gut organisierte Zusammenstellung von Presseartikeln zu vielen wichtigen Komponisten des 20. Jahrhunderts sowie durchschnittlich einen Ordner pro Ferienkursjahrgang mit Artikeln aus unterschiedlichen deutschen (teils auch ausländischen) Zeitungen. Die chronologische Sortierung ist für einen Forscher äußerst ergiebig, denn sie bietet die Möglichkeit, die Schwerpunkte der einzelnen Jahre und die Entwicklungslinien in der Musikkritik über einen größeren Zeitraum herauszuarbeiten.

Besonders angetan war ich von dem groß angelegten Digitalisierungsprojekt (http://www.internationales-musikinstitut.de/archiv/digitalisierung.html), welches das IMD 2010 mit Unterstützung des Kulturfonds Frankfurt RheinMain in Angriff genommen hat. Bislang wurden Tondokumente, Briefe und Fotos digitalisiert, die nun in einer Datenbank vor Ort recherchier- und einsehbar sind. Eine Schlagwortsuche ermöglicht dabei das schnelle Auffinden von Dokumenten zu einem bestimmten Thema. So konnte ich zum Beispiel mit nur einem Klick eine Zusammenstellung aller Briefe aufrufen, in denen es um serielle Musik geht – eine Aufgabe, die ohne Digitalisierung mehrere Tage in Anspruch genommen hätte. Diese Datenbank soll zukünftig auch online verfügbar sein, sodass z.B. ein amerikanischer Musikwissenschaftler sich leicht über den Bestand des Archivs informieren kann, bevor er die weite Reise nach Darmstadt antritt. Dies erscheint mir insbesondere als eine gute Idee, da das Archiv unter Musikforschern eher weniger bekannt ist – was in einem gewissen Widerspruch steht zu seinem reichhaltigen und bedeutenden Bestand. Ein erklärtes Ziel des IMD bei dem Projekt ist auch die Ausbildung eines „Forschungsnetzwerkes zur Neuen Musik“ (Homepage), in Kooperation mit verschiedenen Universitäten. Während es auf Seiten der Komponisten, Musiker und Veranstalter schon ein elaboriertes Neue-Musik-Netzwerk gibt, ist das entsprechende Forschungsnetzwerk noch eher spärlich ausgebaut, daher kann man gespannt auf weitere Entwicklungen blicken.

Link zur Homepage des IMD: http://www.internationales-musikinstitut.de/

1Die Ferienkurse sind übrigens auch für Musikwissenschaftler offen und sehr lohnenswert, wie ich aus eigener Erfahrung bestätigen kann. Neben Vorträgen und Seminaren zu Kompositionstechniken, Ästhetik, Werkanalyse, Musikgeschichte etc. besteht die Möglichkeit, an einer musikjournalistischen „Schreibwerkstatt“ teilzunehmen.

Quelle: http://avantmusic.hypotheses.org/254

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DH-Videoclip Adventskalender – Tür 2

Hinter dem zweiten Türchen des DH-Videoclip Adventskalenders verbirgt sich heute die Vorstellung des Studiengangs “Digital Humanities MA / MSc” des University College London, veröffentlicht Mitte 2013.

“The UCL Centre for Digital Humanities brings together people from a wide range of disciplines to develop research and teaching in a vibrant multidisciplinary field.
Digital humanities research takes place at the intersection of digital technologies and humanities. It aims to produce applications and models that make possible new kinds of research, both in the humanities disciplines and in computer science and its allied technologies. It also studies the impact of these techniques on cultural heritage, memory institutions, libraries, archives and digital culture.” (Quelle: http://youtu.be/E2KzTPnU0Eo)

Achtung aufgemerkt, alle TextGrid-Fans, bei Minute 1:05 – ist da nicht der Text-Bild-Link-Editor im Einsatz?

Hier gehts nun zum Clip:

 

 

 

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=4340

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Reisegeschichtliches Symposion in Limoges

Morgen breche ich gen Limoges auf und werde dort bei der Tagung Médiateurs et instances de médiation dans l’histoire du voyage zum Thema Les valets de place, vecteurs d’information pour les voyageurs en Europe, 1500 – 1900 referieren, schließlich sollen die Lohnlakaien auch in Frankreich Beachtung finden! Ich freue mich auch schon auf die Hausnummern von Raoul Hausmann, denn der in Wien 1886 geborene Dadaist lebte von 1944 bis zu seinem Tod 1971 in der Stadt an der Vienne.

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/1022374947/

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Advent, Advent: Der TextGrid-Adventskalender ist online

TG-xMAS-eule

Vom 1. bis zum 24. Dezember jeden Tag ein TextGrid-Türchen öffnen! Es darf gerätselt, erforscht, gelesen und hinter so manchem Türchen auch mitgemacht werden – rund um Eulen, Codes und geheime Short Cuts…

Zum Kalender: http://textgrid.de/home/adventskalender/

Wird der Kalender (z.B. in Firefox) nicht angezeigt, bitte hier entlang.

Großen Dank an Mathias Göbel und Hannes Riebl für die Umsetzung!

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=4368

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Datenschutz und Geschichtswissenschaften

An der infoclio-Tagung 'Datenschutz und Geschichtswissenschaften' wurde v.a. von Sacha Zala auf das Problem aufmerksam gemacht, dass zwar immer mehr Daten veröffentlicht werden, aber gleichzeitig der Zugriff darauf massiv eingeschränkt wird. Selbst Daten, welche offiziell der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden müssen (bspw. Bundesratsentscheide nach 30 Jahren), können im Archiv, aber nicht im Internet eingesehen werden. Dort sind sie noch immer geschützt.

Die aufgeworfenen Probleme zu Persönlichkeitschutz, Datenschutz und Forschungsfreiheit betreffen die Forschenden vor allem in der Heuristik. Wie sollen Datenbestände durchforstet werden? Wie kann man sicher sein, dass nicht doch ein Bestand aus irgendeinem (relevanten oder irrelevanten) Grund nicht digitalisiert zur Verfügung steht? Vielleicht digitalisiert wurde, aber hinter einer 'Zensurwand' steckt? Wie lange kann auf einen relevanten Bestand zugegriffen werden?

Der Fall vor dem EuGH bzgl. Google und das Recht auf Vergessen hat aufgezeigt, dass das Persönlichkeitsrecht als sehr hoch gewichtet wird. Der Aufschrei, dass damit 'Zensur' geübt wird und die Meinungs- und Pressefreiheit eingeschränkt wird, ist zu relativieren. Unerheblich davon, wie das Urteil umgesetzt wird oder werden kann, es muss jeder Person selbst überlassen sein, wie gläsern er sein will.

Hierzu scheint es sinnvoll zwischen einer 'ungerichteten' und einer 'gerichteten' Suche zu differenzieren:

  • Bei einer ungerichteten Suche werden mittels digitalen Suchmaschinen grosse/riesige Datenbestände über einen grossen Zeitraum durchsucht (Big Data). Beziehungen zwischen Daten können sehr einfach geknüpft werden. Persönlichkeitsprofile mit detaillierten Auskünften über den ganzen Lebenszeitraum sind erstellbar.
  • Bei einer gerichteten Suche wird bei bestimmten Institutionen in deren spezifischen (digitalen) Datenbanken, Archiven, Bibliotheken etc. gesucht. Die Suche benötigt ein Vorwissen, eine entsprechende Ausbildung und einen intellektuel hohen Beitrag. Auch hier sind Beziehungen zwischen Daten und ein Persönlichkeitsprofil erstellbar, aber mit einem viel grösseren Aufwand.

Es sei die These aufgestellt, dass bei Entscheiden für das Recht auf Vergessen vor allem gegen die Einfachheit der Erstellung von Persönlichkeitsprofilen votiert wurde. Das Fehlen des intellektuel hohen Beitrages (und damit der Reflexion über die vorhandenen Daten und die erstellten Verknüpfungen) ist meines Erachtens der Grund, warum 'Big Data Search' eingedämmt werden sollte, unerheblich der technischen Machbarkeit. Die bestehenden Daten sollen weiterhin zur Verfügung gestellt, aber dürfen nicht datenbestandsübergreifend durchsucht werden können - zumindest während einer klar definierten Sperrfrist. Es wäre damit zu hoffen, dass die veröffentlichten Datenbestände weiter zunehmen, damit für Forschende auch mehr Informationen zur Verfügung stehen, aber die Restriktionen wieder abnehmen werden.

Quelle: http://hsc.hypotheses.org/311

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(4) Einwanderungspolitik von 1713 bis 1786: Zwischen Inklusion und Exklusion

Unter Friedrich Wilhelm I. setzte sich zunehmend eine restriktive und allgemein gültige Judenpolitik durch, die durch Friedrich II. weitergeführt und verschärft wird. In den 1710er und 1720er Jahren gab es immer wieder verschärfte Verordnungen und neue Reglements, die sich aber regional sehr unterschieden, da es noch keine einheitliche Verwaltung mit einheitlichem Steuersystem gab (vgl. Stern 1962a, S. 39). Zur Erlangung von Privilegien mussten jüdische Familien immer wieder die eigene Nützlichkeit für den brandenburgisch-preußischen Staat unter Beweis stellen, die jüdischen Familien in einen permanenten Konkurrenzkampf untereinander führte. Friedrich Wilhelm I. kündigte immer wieder an, alle Juden ohne Schutzbrief, die bisher wegen ihrer Akzise sehr willkommen waren, ausweisen zu lassen und ab 1728 grundsätzlich keinen Schutzbrief mehr für die Mark Brandenburg auszustellen (vgl. Schenk 2010, S. 73). Sehr liberal blieb es hingegen noch in Preußen, das als ein wichtiges Transitland für jüdische Händler zwischen Russland, Litauen, Polen, England und Holland geschützt werden musste (vgl. Stern 1962a, S. 66f.). In Berlin wurde die Judenpolitik durch die Edikte von 1700 und 1714 geordnet, das viele Freiheiten gewährte, die allerdings 1730 wieder unterdrückt wurden. Weitere Abschiebungsversuche gab es nach 1735, als der jüdische Handel nach Missernten und einem allgemeinen Konjunktureinbruch durch geringe Nachfrage und steigende Preise teilweise zum Erliegen kam (vgl. Mittenzwei/Herzfeld 1988, S. 262, 256).

Der „Soldatenkönig“, der die Hofausgaben drastisch reduzierte und in das Heer und die Infrastruktur investierte, wollte auch die Judenpolitik vereinheitlichen: Das „General-Privilegium und Reglement“ vom 29. September 1730 sollte erstmalig versuchen für den gesamten Staat die jüdischen Lebensverhältnisse und Wirtschaftsmöglichkeiten neu zu ordnen, was allerdings als der Beginn eines langen Entwicklungsprozesses bis weit in die Regierungszeit Friedrich II. hinein zu verstehen ist und nicht in jeder Provinz sofort durchgesetzt werden konnte (vgl. Stern 1962a, S. 20; vgl. auch Rürup 1995, S. 27f. und Jersch-Wenzel/John 1990, S. 182ff.).

Eine Zäsur war die vermögensabhängige Übertragung des Schutzbriefs auf das erste Kind, die nur wohlhabenden Familien eine Zukunft in Brandenburg-Preußen sicherte und viele jüdische Familien in Existenzangst und Konkurrenz zu einander trieb. Außerdem sollten keine neuen Schutzbriefe mehr ausgestellt, die Anzahl der Juden im ganzen Staat begrenzt, der Handel wieder auf seltene oder Luxuswaren beschränkt und die Abgaben zusätzlich erhöht werden. Die seit 1674 bestehende solidarische Haftbarkeit für die Zahlung von Steuern und Schäden der jüdischen Gemeinden wurde auch auf fremde Juden ausgeweitet (vgl. Jersch-Wenzel/John 1990, S. 285). Das hatte zur Folge, dass die jüdischen Gemeinden daran interessiert waren, dass jüdische Einwanderer ein hohes Vermögen von mindestens 10.000 Reichstaler mitbrachten. Das Reglement führte zu zahlreichen Bittschriften und Beschwerden, sodass es in den Folgejahren einige Überarbeitungen erlebte, bis es unter Friedrich II. revidiert werden sollte. Insgesamt konnte die brandenburgisch-preußische Einwanderungspolitik bis 1740 das Land politisch und wirtschaftlich stabilisieren. Mit dem Regierungsantritt Friedrich II. wird die jüngere jüdische Geschichte in Brandenburg-Preußen rund 70 Jahre alt, sodass die Eingewanderten schon um eine 2. oder auch 3. Generation gewachsen sind und sich vielerorts jüdische Gemeinden etabliert haben.

Am 17. April 1750 wurde durch Friedrich II. ein „Revidiertes General-Privilegium und Reglement, vor die Judenschaft im Königreiche, Preußen, der Chur- und Marck, Brandenburg, den Hertzogthümern, Magdeburg, Cleve, Hinter-Pommern, Crossen, Halberstadt, Minden, Camin und Moers; ingleichen den Graf- und Herrschaften Marck, Racensberg, Hohenstein, Tecklenburg, Lingen, Lauenburg und Bütau“ (zit. n. Stern 1971b, S. 236/Nr. 102) erlassen, aber auf Bitten der jüdischen Gemeinden, die damit Zeit für mögliche Änderungen gewinnen wollten, erst 1756 veröffentlicht. Dieses General-Privileg baute auf das Reglement von 1730 und den zahlreichen Kabinetsordren,  Bittschriften, Eingaben und Resolutionen der Jahre zuvor auf und wurde auch nach Erlass von zahlreichen Änderungsvorschlägen begleitet. Es wurde weiter nach ökonomischen Nutzen systematisiert und erhielt insbesondere nach dem 7-jährigen Krieg neue Zusatzbestimmungen, die weitere Sonderabgaben und Zwangsexporte von Waren forderten, und wurde erst durch das Emanzipationsedikt 1812 annulliert (vgl. Schenk 2010, S. 82ff.; vgl. auch Jersch-Wenzel 1978, S. 92 und Jersch-Wenzel/John 1990, S. 182ff.).

Die jüdische Existenz in Preußen wurde dazu von ihren Kapitalerträgen und ihrem ökonomischen Engagement abhängig gemacht und durch ein komplexes Abgabensystem bestimmt. So wurden alle jüdischen Familien in dem Reglement von 1750 je nach Privilegien in sozialen Klassen statistisch erfasst und als (1) generalpriviligiert, (2) ordentlich, (3) außerordentlich, (4) vergleitet, (5) geduldet oder (6) unvergleitet eingeordnet (vgl. Freund 1912, S. 26; ebenso Battenberg 2001, S. 45f. und Bruer 1991, S. 71f.). Generalprivilegien erhielten nur die kleine Schicht an kapitalkräftigen, ökonomisch wertvollen „Hofjuden“ der 1. Klasse, die den Hof oder das Heer versorgten und von fast allen Beschränkungen befreit waren. Schutzjuden der 2. Klasse hatten immerhin das Recht, ihr Schutzprivileg nach ihrem Tod auch auf die mögliche Witwe oder ihr erstes und zweites Kind zu übertragen. Schutzjuden der 3. Klasse waren dazu nicht befugt und durften nur bei Bedarf und gegen Zahlung von 1000 Reichstalern ihren Schutzbrief aufs ihr erstes Kind übertragen. Später hatten durch die Erhöhung von Abgaben nur noch Familien mit einem großen Einkommen oder mit einem Manufakturbetrieb überhaupt noch Chancen, ihren ordentlichen oder außerordentlichen Schutzbrief, auch auf ihre Kinder zu übertragen, was zu Spannungen innerhalb der jüdischen Gemeinden führte (vgl. Jersch-Wenzel 1978, S. 94, 149, 163). Jüdische Familien der Klasse 4 wurden toleriert und waren meist Gemeindeangestellte, wie Schulmeister oder Rabbiner. Geduldete Familien der Klasse 5 besaßen keinen Schutz und erhielten nur Bescheinigungen, die zeitlich begrenzt waren. Die Klasse 6 bildeten jüdische Familien ohne Schutzbrief, Geleit oder Duldung, sodass diese kein Recht auf Niederlassung besaßen und zur dauernden Wanderung gezwungen waren, wobei sie nur ungern von jüdischen Gemeinden aufgenommen wurden, da diese für sie hafteten. Oftmals werden Juden der Klasse 6 in der Literatur auch als „Betteljuden“ geführt, deren Anteil an der jüdischen Bevölkerung Battenberg für das Jahr 1750 mit 50 Prozent und 1780 sogar mit 90 Prozent angibt. (Vgl. Battenberg 2001, S. 114).

Wie zügig der soziale Abstieg sich beispielsweise vollziehen kann, zeigen Herzfeld anhand von Levin Joseph aus Spandau (vgl. Herzfeld 2001, S. 164ff.) und Schenk am Niedergang des Manasse Jacob aus Bernau (vgl. Schenk 2010, S. 175). Um ihre soziale Situation zu verbessern und Privilegien zu erhalten war für jüdische Familien immer wieder der Nachweis der eigenen (ökonomischen) Nützlichkeit für Preußen unabdingbar. Insbesondere auf den Export legte Friedrich II. sein Hauptaugenmerk und forderte somit einen verstärkten Handel nach Holland, Frankreich, Schweden, Spanien, Portugal, Kursachsen, Russland bis in die Türkei und vor allem in das wirtschaftlich unterentwickelte und innenpolitisch geschwächte Polen. Erlaubt war durch das Generalprivileg von 1750 der Handel mit Luxuswaren, Geldwechseln und Krediten, Immobilien, Manufaktur- und Gebrauchtwaren sowie Textilien, Vieh und Pferden. (Vgl. Freund 1912, S. 40; vgl. auch Battenberg 2001, S. 95)

Zwischen 1723 und 1813 machte die jüdische Erwerbsbevölkerung in Berlin im Handelsbereich 68 Prozent aus, während es in der Gesamtbevölkerung nur 7,4 Prozent waren.  Jüdische Männer waren dabei zu 47,5 Prozent im Warenhandel und zu 20,5 Prozent im Geldhandel tätig (vgl. Jersch-Wenzel/John 1990, S. 202ff.. Weitere 5,7 Prozent arbeiteten im Handwerk, 5,7 Prozent im Gewerbe und 14 Prozent im Privat- und Gemeindedienst).

Von ökonomischen Engagement hing somit die jüdische Zukunft in Preußen, aber auch die Zukunft für Preußen ab, denn kein „Staat hat die ökonomische Disziplinierung der Juden so systematisch betrieben und genutzt wie Preußen“ (Bruer 1991, S. 18).

 

Literatur

Battenberg, J. Friedrich (2001): Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Enzyklopädie Deutscher Geschichte. Bd. 60. München.

Bruer, Albert A. (1991): Geschichte der Juden in Preussen (1750-1820). Frankfurt/Main.

Freund, Ismar (2012 [1912]): Die Emanzipation der Juden in Preußen. Bd. 2. Urkunden. Hildesheim.

Herzfeld, Erika (2001): Juden in Brandenburg-Preussen. Beiträge zu ihrer Geschichte im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin.

Jersch-Wenzel, Stefi; John, Barbara (1990): Von Zuwanderern zu Einheimischen. Hugenotten, Juden, Böhmen, Polen in Berlin. Berlin.

Jersch-Wenzel, Stefi (1978): Juden und „Franzosen“ in der Wirtschaft des Raumes Berlin/Brandenburg zur Zeit des Merkantilismus. Einzelveröffentlichung der Historischen Kommission zu Berlin. Bd. 23. Berlin.

Mittenzwei, Ingrid, Herzfeld, Erika (1988): Brandenburg-Preußen 1648-1789. Das Zeitalter des Absolutismus in Text und Bild. Berlin.

Rürup, Reinhard (1995): Jüdische Geschichte in Berlin. Bilder und Dokumente. Berlin.

Schenk, Tobias (2010): Wegbereiter der Emanzipation? Studien zur Judenpolitik des „Aufgeklärten Absolutismus“ in Preußen (1763-1812). Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte. Bd. 39. Berlin.

Stern, Selma (1971b): Der Preussische Staat und die Juden. Dritter Teil/Die Zeit Friedrichs des Großen. 2. Abteilung: Akten. Tübingen.

Stern, Selma (1962a): Der Preussische Staat und die Juden. Zweiter Teil/Die Zeit Friedrich Wilhelms I. 1. Abteilung: Darstellung. Tübingen.

Quelle: http://germanjews.hypotheses.org/46

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Klassiker der Geschichte ländlicher Gesellschaften, Episode 1

Heute: Josef Moosers "Ländliche Klassengesellschaft"

Vor sehr, sehr langer Zeit (zumindest kommt es mir so vor) habe ich hier einmal über Klassiker geschrieben – und warum das Lesen von Klassikern mehr ist, als nur einem (eingebildeten oder realen) Kanon hinterher zu hecheln. Auch wenn ich den Text von damals heute in der Form sicher nicht mehr schreiben würde, bleibe ich doch dabei: Klassiker Lesen hat einen Sinn. Es öffnet den Blick auf vergangene Diskussionen und schärft damit auch die Aufmerksamkeit für gegenwärtige Probleme.

Dies ist nun also die erste Folge einer losen Serie, in der ich Klassiker der Geschichte ländlicher Gesellschaften vorstellen werde. Damit schaffe ich selbst einen „Kanon“, einen Korpus von Texten, die ich für wichtig halte, wenn man sich mit der Geschichte ländlicher Gesellschaften in der Neuzeit auseinandersetzen will.

Josef Moosers Werk über die „Ländliche Klassengesellschaft“1 ist ganz sicher ein solcher Klassiker. Das Buch wird als Grundwissen über die Sozialgeschichte ländlicher Gesellschaften zumindest in der deutschen Diskussion stillschweigend oder explizit vorausgesetzt. Stefan Brakensiek hat vor einiger Zeit einen sehr lesenswerten Artikel über Rezeption und Aktualität des Werks veröffentlicht, auf den ich verweisen kann.2 Damit bin ich entlastet und kann kurz erklären, welche Punkte für mich in dem Buch wichtig und weiterführend sind:

1. Mooser war einer der ersten, die im deutschsprachigen Raum das Konzept der „peasant society“, das aus der Sozialanthropologie stammt, verwendet haben. Zu dem Konzept selbst schreibe ich noch mal genauer was, hier soll nun das reichen: Die bäuerliche Gesellschaft wird als Teilgesellschaft verstanden, die durch eigene Werte, Regeln und Mechanismen gekennzeichnet ist; durch Herrschaftsverhältnisse („mächtige Außenseiter“ wie Staat und Grundherrschaft) ist die Teilgesellschaft in größere Zusammenhänge eingebunden. Mooser greift das Konzept als heuristisches Werkzeug auf, trotz der Kritik, die er daran grundsätzlich übt (zu stark homogenisierend, Beziehungen zwischen den verschiedenen Teilgesellschaften werden systematisch unterschätzt). Denn die Idee der „peasant society“ ermöglicht es, die Eigenständigkeit ländlicher Gesellschaften zu analysieren, ohne dabei grundsätzlich von ihrer Rückständigkeit auszugehen – und da sind wir wieder bei der Problematik der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, über die ich neulich schrieb. Das Modell der „peasant society“ ist für Mooser ein Hilfsmittel, diesem Problem zu entkommen. Zwar ist meine Meinung, dass man sich damit mehr Schwierigkeiten einbrockt als vom Hals schafft, aber die Frage bleibt: Wie relationiere ich die ländliche zur „Gesamt“-Gesellschaft, die offenbar nach anderen Regeln spielte?

2. Über weite Strecken handelt es sich bei dem Buch um eine Sozialgeschichte der ländlichen Gesellschaft in den zwei untersuchten westfälischen Gebieten (Minden-Ravensberg und Paderborn). Vor allem im letzten Kapitel kommt Mooser aber auf die vielfältigen Prozesse der Politisierung zu sprechen, die im Vormärz und in der Revolution von 1848/49 eine Rolle spielten und die einen neuen Blick (also in den 1980ern) auf die Rolle der ländlichen Gesellschaften versprachen: Vor allem ist sehr einleuchtend, wie komplex das Ineinandergreifen von Konservatismus und Politisierung sich am Beispiel der untersuchten ländlichen Unterschichten darstellt. Mooser nennt die Haltung „reflektierten Traditionalismus“, um damit zu zeigen: Es handelte sich keineswegs um eine unpolitische Haltung der ländlichen Unterschichten bzw. der ländlichen Gesellschaften insgesamt, sondern im Gegenteil um eine hochpolitisierte Einstellung, die aber eben nicht demokratisch oder gar sozialistisch geprägt war, sondern konservativ-traditionalistisch, staatsnah und anti-bürgerlich. Der Traditionalismus der ländlichen Unterschichten war, so Mooser, keineswegs nur auf den Erhalt des Vorhandenen gerichtet, sondern hat auch utopische Anteile – es ging um die Neuschaffung von Institutionen, um der traditionalen moral economy (Mooser übersetzt den Begriff E.P. Thompsons mit „sittliche Ökonomie“) zum Durchbruch zu verhelfen. Dass in diesem Zusammenhang der Staat als Akteur angerufen wurde, ist auch ein Zeichen davon, dass ein rein lokaler Gesellschaftsbezug im 19. Jahrhundert nicht mehr funktionierte, weil sich gesellschaftlich etwas verändert hatte:

Mit der Aushöhlung der subsistenzorientierten Familienwirtschaft und der wachsenden Marktabhängigkeit der Einkommen entstand und erweiterte sich die politische Betroffenheit wie umgekehrt eine lebensnotwendige Angewiesenheit auf Politik. 3

Der Staat hatte also nicht nur seine Form und seine Wirkungen verändert (wie in vielen Theorien und Untersuchungen zum Staatsausbau im 19. Jahrhundert nachzulesen ist), sondern auch seine Adressierbarkeit.

Mooser weist also auf zwei bemerkenswerte Punkte hin: Erstens ist eine auf den ersten Blick „unpolitische“ oder „traditionale“ Positionierung möglicherweise hochpolitisch – es kommt darauf an, mit welchen Politikbegriffen man an die Untersuchung geht, und ob man (implizit oder explizit) Vorstellungen von „Fortschrittlichkeit“ zu Kriterien für Politisierung macht.

Zweitens: Im Anschluss an Mooser könnte man die These aufstellen: Der Wandel von Staatlichkeit hat auch etwas mit dem Wandel von Wahrnehmungen, Erwartungen und Ansprüchen nicht-staatlicher Akteure zu tun. Staatlichkeit und Politik sollten als (sich verändernde) Relationen untersucht werden.

Beide Hinweise sind – blickt man auf das Veröffentlichungsdatum des Buches – nun also keineswegs neu, aber ich sollte sie im Kopf behalten. Wir werden sehen, welche Ergebnisse ich damit für die Zeit nach 1848 zutage fördern kann.

  1. Mooser, Josef: Ländliche Klassengesellschaft 1770-1848. Bauern und Unterschichten, Landwirtschaft und Gewerbe im östlichen Westfalen, Göttingen 1984
  2. Brakensiek, Stefan: "Ländliche Klassengesellschaft. Eine Relektüre", in: Maeder, Pascal/Lüthi, Barbara/Mergel, Thomas (Hg.), Wozu noch Sozialgeschichte? Eine Disziplin im Umbruch. Festschrift für Josef Moser zum 65. Geburtstag, Göttingen 2012, S. 27-42
  3. Mooser, Klassengesellschaft, 365

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/282

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Das Innere nach außen gekehrt

Alf Lockhart (Großbritannien, 1918)

Alf Lockhart (Großbritannien, 1918)

Alf Lockhart (Großbritannien, 1918). Press photo for exhibition „The Eyes of War“ in the German Historical Museum in Berlin

Das Deutsche Historische Museum in Berlin zeigt seit dem 1. Oktober 2014 Fotografien des Niederländers Martin Roemers. 2004 traf der Fotograf den britischen Kriegsveteranen Frederick Bentley, der im Jahre 1944 sein Augenlicht verlor, als er von einer Granate getroffen wurde. Berührt von diesem Schicksal, begann der Niederländer nach Personen zu suchen, die ähnliche Erfahrungen wie Bentley gemacht haben. Entstanden ist eine große Sammlung an Geschichten und Bildern aus den verschiedensten Ländern.

Die Ausstellung umfasst 40 Porträts von Menschen aus Deutschland, Belgien, den Niederlanden, Großbritannien, der Ukraine und der ehemaligen Sowjetunion. Die Bilder zeigen Menschen, die während des Zweiten Weltkriegs als Jugendliche, junge Erwachsene und Soldaten ihr Augenlicht zum Teil oder ganz verloren haben. Begleitet werden die ca. ein Meter großen Aufnahmen von Interviews mit den gezeigten Personen, die ihre persönlichen Geschichten erzählen. So berichtet ein Mann aus Großbritannien von einem Freund, mit dem er gemeinsam einen verschütteten Keller nach interessanten Dingen durchsucht hatte. Dabei fanden die beiden eine Handgranate, die sie aber nicht als solche erkannten und damit spielten. Als der Junge wieder erwachte, hatte er zwei Wochen im Koma gelegen und sein Augenlicht verloren.

Jedes tragische Einzelschicksal berührt und hält einem einmal mehr die Sinnlosigkeit von Kriegen vor Augen. Auf der anderen Seite rufen die Darstellungen nicht nur Mitleid hervor, sondern zeugen von einer besonderen Stärke. So beschreiben die Betroffenen nicht nur ihren Leidensweg, sondern vielmehr ihre persönliche Art und Weise, mit einer solchen Behinderung umzugehen.

Sieglinde Bartelsen (Deutschland, 1930

Sieglinde Bartelsen (Deutschland, 1930). Press photo for exhibition „The Eyes of War“ in the German Historical Museum in Berlin

Dies wird auch durch die Präsentation der Sammlung bestärkt. Die Galerie ist mit schwarzen Wänden ausgekleidet, und auch die Aufsteller sind in dunkler Farbe gehalten. Die Porträts wurden in Schwarz-Weiß entwickelt. Jedoch sind sie auf einem weißen Untergrund angebracht, der sich wie ein Rahmen um die Fotografien schmiegt. Diese Darstellung gibt den Konsens der Ausstellung sehr gut wieder. Jedes einzelne Schicksal ist wichtig und erwähnenswert. Letztendlich werden aber all diese individuellen Geschichten zu einem Ganzen, weil sie trotz unterschiedlicher Nationalitäten das gleiche Schicksal eint. Martin Roemers verweist mit seiner Sammlung darauf, dass Bilder von äußerlich verletzten Menschen auch ihre innere Konstitution widerspiegeln können. Dies wird eindrucksvoll bestätigt, wenn man die Interviews neben den Bildern liest, wie Sieglinde Bartelsen, die trotz ihrer Einschränkung Näherin wurde und ihr eigenes Geld verdiente.

Zudem hat das Deutsche Historische Museum erstmals ein Leitsystem für Blinde und Sehbehinderte entwickelt und angelegt. So können die Besucher in Brailleschrift einen Einführungstext und auch die einzelnen Schicksale neben den Bildern lesen. Es gibt außerdem die Möglichkeit für Menschen ohne Augenlicht, an Führungen mit anschließender Diskussion teilzunehmen.

Ergänzend zu der Sammlung brachte der Hatje Cantz Verlag einen begleitenden Fotoband zur Ausstellung heraus, der jedoch nur noch einmal die Interview-Ausschnitte und die dazugehörigen Bilder zeigt, die ohnehin in der Ausstellung betrachtet werden können. So kann man die Bilder und ihre Geschichten nachlesen, erhält jedoch kaum neue Informationen zur Entstehung.

Norman Perry (Großbritannien, 1919).

Norman Perry (Großbritannien, 1919). Press photo for exhibition „The Eyes of War“ in the German Historical Museum in Berlin

Die Ausstellung läuft noch bis zum 4. Januar 2015 und ist besonders für jüngere Menschen einen Besuch wert. Denn sie zeigt am Beispiel tragischer Ereignisse, dass die vom Krieg betroffenen Menschen noch lange nach solchen Erlebnissen mit der Verarbeitung der Folgen beschäftigt sind. Erschreckend ist auch zu sehen, dass die Bilder ein heute sehr aktuelles Thema ansprechen. Man muss nur auf die Krisengebiete der Welt blicken und kann sich vorstellen, dass solche und noch schlimmere Ereignisse tagtäglich geschehen.

The Eyes of War – Fotografien von Martin Roemers
1. Oktober 2014 bis 4. Januar 2015
Deutsches Historisches Museum Berlin

Quelle: http://www.visual-history.de/2014/12/01/das-innere-nach-aussen-gekehrt/

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