Walker Evans. Ein Lebenswerk

Walker Evans: Pabst Blue Ribbon Sign, Chicago, Illinois, 1946. Das Foto erschien 1947 im Wirtschaftsmagazin Fortune in dem Artikel „Chicago. A Camera Exploration”
Ausstellung "Walker Evans. Ein Lebenswerk" im Martin-Gropius-Bau

Ausstellung „Walker Evans. Ein Lebenswerk“ im Martin-Gropius-Bau

„Du beginnst mit deiner Kamera Menschen auszuwählen. Das ist zwanghaft, und man kann es nicht stoppen. Ich denke, alle Künstler sind Sammler von Bildern.“ (Art in America, März-April 1971: Interview with Walker Evans by Leslie Katz)

Der US-Amerikaner Walker Evans (1903-1975) kam über Umwege nach einem abgebrochenen Literaturstudium Ende der 1920er-Jahre in New York zur Fotografie. Das Wirtschaftsmagazin „Fortune“ publizierte ab 1934 über 400 Bilder von Evans in 45 Artikeln und beschäftigte ihn von 1945 bis 1965 als Bildredakteur und Fotografen. Seine frühen Fotoserien zur Viktorianischen Architektur und Bilder von Auftragsreisen nach Tahiti und Kuba fanden große Beachtung, sodass 1938 die erste monografische Ausstellung des Museum of Modern Arts zu „Walker Evans: American Photographs“ in New York stattfand.

Walker Evans: Pabst Blue Ribbon Sign, Chicago, Illinois, 1946.

Walker Evans: Pabst Blue Ribbon Sign, Chicago, Illinois, 1946.

 

Walker Evans nahm eine Vorreiterrolle in der Fotografie des „dokumentarischen Stils“ ein, die sich durch Zurückhaltung und ein Gespür für nicht inszenierte Posen auszeichnet. Insbesondere viele Fotografen der 1960er- und 70er-Jahre wie Helen Levitt, Robert Frank, Diane Arbus und Lee Friedlander wurden durch ihn stark beeinflusst.

Die Ausstellung „Walker Evans. Ein Lebenswerk“ zeigt 200 Originalabzüge des Fotografen von 1928 bis 1974 und ist vom 25. Juli bis zum 9. November 2014 im Martin-Gropius Bau in Berlin zu besuchen. Sie wird im Rahmen des Europäischen Monats der Fotografie von den Berliner Festspielen gezeigt und wurde von der Photographischen Sammlung der SK Stiftung Kultur, Köln, bereitgestellt.

Der amerikanische Kunsthistoriker und ehemalige Kurator am Cincinnati Art Museum James Crump präsentiert in der Ausstellung die Anfänge und Entwicklungen in Evans Karriere und zeigt neben den Höhepunkten auch unveröffentlichte Arbeiten. Diese erste große Retrospektive von Walker Evans in Deutschland war 2013 schon in Köln, Linz und Amsterdam und ist nun in Berlin zu sehen. Der Direktor des Martin-Gropius-Baus Gereon Sievernich sprach bei der Eröffnung von einem „Traumprojekt“ und erwähnte in diesem Zusammenhang besonders die Förderung durch den Deutschen Sparkassen- und Giroverband (DSGV).

Nach Walker Evans Tod 1975 übernahmen das Metropolitan Museum of Art und das Getty Museum die Nachlassverwaltung, wozu u.a. Korrespondenzen und Sammlungen von Postkartenansichten, Werbung und Reklameschilder gehören. Die Fotos der Ausstellung stammen aus der Privatsammlung von Clark und Joan Worswick, der Sammlung Ulla und Kurt Bartenbach aus Köln sowie aus der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln und dem Ibero-Amerikanischen Institut Preußischer Kulturbesitz aus Berlin. Um sein Werk aus insgesamt 46 Arbeitsjahren zu erhalten, hat die Familie Worswick seit 1976 Evans Originalabzüge gesammelt, die bereits seit 1974 von ihm an Kunsthändler verkauft worden sind.

Walker Evans: Façade of House with Large Numbers, Denver, Colorado, August 1967

Walker Evans: Façade of House with Large Numbers, Denver, Colorado, August 1967

Die Ausstellung zeigt neben den fotografischen Anfängen in New York Ende der 1920er-Jahre auch die Fotoserie, die den Verfall der Viktorianischen Architektur dokumentiert und so einen langsam verschwindenden amerikanischen Lebensstil zeigt.

Evans sachliche Aufnahmetechnik kommt insbesondere in den Schwarz-Weiß-Aufnahmen seiner botanischen Studien, der Serie „Beauties of the Common Tool“ (1955, Fortune) und den Fotos zur „African Negro Art“ im MoMA von 1935 zur Geltung. Weitere Fotoaufträge realisierte er in den 1930ern auf einer Kreuzfahrt nach Tahiti, bei der auch sein einziger Film „Travel Notes“ entstand. Während seiner dreiwöchigen Kubareise im Auftrag des Verlegers J.B. Lippincott machte er 31 Fotos, die im Buch „The Crime of Cuba“ von Carleton Beals 1933 erschienen. Er fotografierte die Alltagskultur und Atmosphäre Havannas mit unverfälschtem Blick auf das echte Straßenleben.

Walker Evans: Girl In French Quarter, New Orleans, Februar - März 1935

Walker Evans: Girl In French Quarter, New Orleans, Februar – März 1935

Im Auftrag der Resettlement Administration, später Farm Security Administration, entstand sein umfangreichstes Werk mit über 200.000 Bildern, die zum Thema Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre den Status von Ikonen erlangten. Von 1935 bis 1937 reiste Evans in den Süden der USA und fotografierte neben neuklassizistischer Architektur auch lebensnahe Porträts. Anlässlich Roosevelts „New Deal“ sollte eine fotografische Dokumentation der sozialen und wirtschaftlichen Lebensumstände gerade auf dem Land nach der „Großen Depression“ entstehen.

Walker Evans: Barn, Nova Scotia, 1969 – 1971

Walker Evans: Barn, Nova Scotia, 1969 – 1971

Zu den Motiven gehörten Wohngebiete, Fabriken, Scheunen, Friedhöfe, einfache Behausungen der Handwerker und Bergleute, Straßenfeste, Interieurs, Siedlungen und Straßenszenen in den Bundesstaaten Louisiana, Georgia, Massachusetts, Mississippi, Alabama, West Virginia und Florida. Die Fotos vermitteln nicht nur die Not und Armut der Bevölkerung, sondern dokumentieren vorwiegend ihr Alltagsleben, die ländlichen Traditionen und die Atmosphäre, die bis heute das amerikanische Bildgedächtnis an die „Große Depression“ prägen. In diesem Zusammenhang entstanden die Buchpublikationen „Let Us Now Praise Famous Men“ (mit dem Schriftsteller James Agee) von 1941 und „Many Are Called“ von 1966.

Zu Evans weiteren Arbeiten zählen die Subway-Porträts von 1938. Walker Evans fotografierte mithilfe einer 35mm-Contax Knopflochkamera und einem Drahtauslöser am Ärmel die Passanten in der New Yorker U-Bahn. Die Motive und Fahrgäste wirken nachdenklich, introvertiert und träumerisch. Seine Polaroids aus den 1970er-Jahren sind leider nicht im Martin-Gropius-Bau ausgestellt. Sie zeigen vor allem Evans Leidenschaft für Werbe- und Reklameschilder. Walker Evans Karriere spiegelt somit neben der ständigen Präsenz bestimmter Themen, wie Arbeitslosigkeit, Architektur und Amerikas Süden, auch eine Interessenerweiterung wider, die im Martin-Gropius-Bau in drei Ausstellungsräumen neu entdeckt werden kann.

 

Pressekonferenz zur Ausstellungseröffnung "Walker Evans. Ein Lebenswerk" im Martin-Gropius-Bau

Pressekonferenz zur Ausstellungseröffnung “Walker Evans. Ein Lebenswerk” im Martin-Gropius-Bau

Ausstellung "Walker Evans. Ein Lebenswerk" im Martin-Gropius-Bau

Ausstellung “Walker Evans. Ein Lebenswerk” im Martin-Gropius-Bau

 

Kurzbiografie

1903 Geboren in St. Louis, Missouri, USA

1922-1924 Phillips Academy, Andover, und Williams College, Williamstown, Arbeit in der NY Public Library

1926 Paris-Aufenthalt, erste Fotografien

1928-1930 New York, erste Veröffentlichungen in „The Bridge“ von Hart Crane

1931 Serie über Viktorianische Häuser

1932 Schiffsreise nach Tahiti

1933/34  Reise nach Kuba und Fotos für das Buch „The Crime of Cuba“ (1933) von Carleton Beals. Erster Auftrag für das Wirtschaftsmagazin „Fortune“. Das MoMA zeigt die Ausstellung „Photographs of the 19th-Century Houses” mit 39 Evans-Fotografien

1935-1937 Kooperation mit der Resettlement Administration/Farm Security Administration (FSA)

1939 Retrospektive „Walker Evans. American Photographs“ im MoMA (nochmal 1962). Porträts von Fahrgästen in der New Yorker Subway

1940/41 Buch-Publikation „Let Us Now Praise Famous Men“ über drei Pächterfamilien in Alabama mit Texten von James Agee und Evans Fotos von 1936 aus Hale County

1945-1965 Anstellung bei dem Wirtschaftsmagazin „Fortune“

1947 Retrospektive im Art Institute of Chicago

1964/65-1972 Professur für Graphic Design, Yale University, New Haven

1966 Buch „Many Are Called“ und Portfolio „Message from the Interior“. MoMA-Ausstellung „Walker Evans. Subway Photographs“

1969 Fotografiert bei Robert Frank in Nova Scotia, Kanada

1971-1973 Retrospektive im MoMA und Wanderausstellung. Fotos mit Polaroid SX-70

1975 Verkauf der Abzüge. Tod in New Haven, Connecticut

 

 

Walker Evans. Ein Lebenswerk

Ausstellung im Martin-Gropius-Bau

25. Juli-9. November 2014

 

Veranstalter: Berliner Festspiele. Eine Ausstellung der Photographischen Sammlung/SK Stiftung Kultur, Köln, aus der Sammlung von Joan und Clark Worswick. Gefördert durch den Sparkassen-Kulturfonds des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes, die Berliner Sparkasse und die Sparkasse Köln-Bonn. Im Rahmen des Europäischen Monats der Fotografie Berlin.
Kurator: James Crump

 

Quelle: http://www.visual-history.de/2014/09/30/walker-evans-ein-lebenswerk/

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Als Historiker/in im Verlag – Eindrücke vom Historikertag 2014

Banner Historikertag 2014Die Verwobenheit von Geschichtswissenschaft und Verlagsbranche tritt vielleicht nirgendwo so augenfällig zutage wie auf dem Historikertag. Auf der Fach- und Verlagsausstellung präsentierten in Göttingen laut Programmheft über 120 Aussteller ihre Arbeit, darunter schwerpunktmäßig deutsche Fachverlage zur Geschichtswissenschaft. Die Stände gaben Aufschluss über Trends und Neuerscheinungen der Geschichtswissenschaft, während Lektoren und Historiker – vielleicht der wichtigere Aspekt – Kontakte knüpften und pflegten oder neue Projekte besprachen. Das gedruckte Buch als Produkt ist dabei trotz aller Diskussionen um digitales Publizieren und Open Access noch längst nicht am Ende.1

Eigentlich eine gute Gelegenheit, um nachzufragen, wie die Arbeit einer Lektorin oder eines Lektors heute aussieht und welche Möglichkeiten es für den Berufseinstieg für Absolventinnen und Absolventen der Geschichtswissenschaft gibt. Michael Volkmer, Lektor und stellvertretender Programmleiter beim Bielefelder transcript Verlag, ist zwar kein Historiker sondern Soziologe und Philosoph, findet aber: „Historiker sind für Verlagsberufe grundsätzlich gut geeignet“, denn mit ihrem Studium gehe oft eine Affinität zum geschriebenen Wort einher. Da er die Herausforderungen für das Verlagswesen der Zukunft im Bereich der Digitalisierung sieht, sei es für am Verlagswesen interessierte Historikerinnen und Historiker vorteilhaft, über Informatikkenntnisse und eine gewisse Medienkompetenz zu verfügen. Insgesamt sei ein konstruktiver Umgang mit der Digitalisierung gefragt – der natürlich je nach Verlag unterschiedlich ausfallen könne.

Und wie kommt man an einen Job im Verlag? Darauf fällt die Antwort recht eindeutig aus: zunächst empfehlen sich studienbegleitende Praktika, nach dem Studienabschluss (meistens auf Masterniveau) folgt dann ein Verlagsvolontariat. Ein solches absolviert der promovierte Wirtschaftshistoriker Albrecht Franz gerade beim Franz Steiner Verlag in Stuttgart. „Bunt gemischt“ seien die Aufgaben während des zweijährigen Volontariats; Ziel sei es, alle Bereiche des Verlags – Programmplanung, Marketing, Vertrieb – kennenzulernen. Das Highlight kann dabei ein erstes eigenes Buchprojekt sein, welches von den ersten Gesprächen über das Manuskript bis zum Vertrieb umgesetzt werden muss. Allgemein gibt es für Volontariate im Verlagswesen keine Standards zu Ausbildungsinhalten und Gehalt, und auch die Dauer kann von sechs Monaten bis zu zwei Jahren betragen. Interessierte sollten ein Angebot also genau abwägen und vergleichen.2

Seine persönliche Motivation sieht Albrecht Franz in „der persönlichen Neigung zum Buch, zur Sprache, zum Text“. Besonders das Erlebnis des gedruckten Buches sei faszinierend und mache die Arbeit im Verlag durchaus zu einem Traumjob. Ähnlich sieht es auch Rabea Rittgerodt, Project Editor History bei De Gruyter Oldenbourg: „Thematisch kommt man nicht näher an das heran, was man studiert hat.“ Insofern sei die Tätigkeit für sie ein wirklicher „Glücksfall“. Rabea Rittgerodt betreut den Bereich Internationale Geschichte. Als wichtigste Fähigkeiten für angehende Lektorinnen und Lektoren sieht sie Sprachkompetenzen an; zunächst in der deutschen Sprache (inklusive Rechtschreibung und Grammatik), aber auch Fremdsprachenkenntnisse. Wichtig sei aber auch, sich im eigenen Fach gut auskennen, um auf Augenhöhe mit den Autoren kommunizieren zu können. Eine gute Arbeitsorganisation sei ebenfalls zentral, weil man durchaus 20 bis 30 Projekte gleichzeitig koordinieren müsse. Und die Berufschancen? Albrecht Franz sieht es so: „Ein Praktikum zu bekommen ist kein Problem, beim Volontariat geht es auch noch, aber dann wird die Luft dünner.“

Weitere Hinweise:

  • Ich mach was mit Büchern (Initiative für eine stärkere Vernetzung der Buchbranche, u.a. Jobinterviews und Stellenangebote)
  • Mareike Menne, Berufe für Historiker, Stuttgart 2010, S. 70-78 sowie Link- und Literaturhinweise im Begleit-PDF (Stand: Februar 2014)

 

  1. Interessant in diesem Zusammenhang war die Sektion „Digitalisierung der Geschichtswissenschaften: Gewinner und Verlierer?“, die als Livestream abrufbar ist.
  2. Negativbeispiel aus dem Literaturbereich: sechs Monate Volontariat bei 500 Euro Bruttolohn.

Quelle: http://beruf.hypotheses.org/37

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Recherchen zu ungarischen Fragämtern 2

Die letzten zwei Wochen habe ich wieder (vgl.) in Budapest verbracht, wo ja nicht nur Ganz- und HalbfaschistInnen ihr Unwesen treiben, sondern auch die wunderbaren Ruinenkneipen besucht werden wollen. Ich habe weiter zu den ungarischen Fragämtern recherchiert, und bin nun wieder etwas klüger geworden: Herr Anton Martin etwa, Direktor des Preßburger Fragamts und der dortigen Sesselträger, inserierte im Pester Intelligenz-Blatt (verfasst übrigens von einem gewissen Johann Gottfried Zehentner) vom 14.2.1781 seine Tragsesselunternehmung in Pest, und seine Preßburger Träger besorgten auch - sehr zum Missfallen der dortigen Postdirektion - diverse Botendienste. Überhaupt, die Sesselträger: Spannendes Thema mit vielen Berührungspunkten zu städtischen Informationsdienstleistungen: Der 1790 in Pest tätige Betreiber der Sänftenträger namens Johann Gleixner betrieb auch ein Lektürekabinett.

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/1011169403/

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Historische Blicke auf die Nachkriegszeit

Der historische Blickwinkel ist bei der Untersuchung der Deutschen Nachkriegskinder von großer Bedeutung. Psychologische Diagnosen, Methoden und Begrifflichkeiten haben ihrerseits eine Geschichte, die sich im Laufe der Zeit verändert. Der Annales-Historiker Ariès, der eine Geschichte der Kindheit verfasst hat, zeigte beispielsweise auf, wie sich das Rollenverständnis von Kindheit über die Jahrhunderte verändert hat, vom „kleinen Erwachsenen“ zur eigenen Lebensphase.1 Eine Untersuchung über das Kindheitsbild der Nachkriegszeit ist nicht bekannt. Thematisch sehr passend ist das Buch von Svenja Gottesmann,2 die das Trauma-Konzept in der Psychiatrie der Nachkriegszeit am Beispiel der rückkehrenden Flüchtlinge und deren Krankenakten historisch untersucht. Menschen galten zu dieser Zeit prinzipiell als unbegrenzt belastbar. Sie zeigt auf, wie sich dieses Konzept des Nichtvorhandenseins von Traumata auf die Zuschreibung des Opferstatus und die damit verbundene fehlende Entschädigungen auswirkt. Auch die historische Rückübertragung des Begriffs Verdrängung kritisiert sie, da „Schweigen auch in hohem Maße eine Reaktion auf die ‚Marktbedingungen’ gewesen sei (es war kaum jemand interessiert), wie auch eine Folge auf die vielfach proklamierten Aufforderungen, zu vergessen“,3 (Goltermann zitiert ihrerseits Peter Novick). Bei der Lektüre der Krankenakten sollte man also Zuschreibungen von Diagnosen
oder auch Emotionen4 aus historischer Perspektive hinterfragen,5 weswegen eine historische Bearbeitung der Nachkriegskinder-Studie aus dieser Perspektive von hoher Bedeutung ist.
Der Geschichte der Nachkriegs- und Kriegskinder wird seit einigen Jahren von Seiten der Historiker mehr Aufmerksamkeit zuteil, sowohl im nationalen Rahmen,6 wie im internationalen.7 Zur Nachkriegszeit gibt es mehrere historische Einführungen.8

Quelle: Foerster, S. (2013). Von den „Deutschen Nachkriegskindern“ zu einer Längsschnittstudie der Entwicklung über die Lebensspanne. Evaluation der Methodologie einer Stichprobenreaktivierung (Diplomarbeit). Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn, S. 12-13.

  1. Ariès, P. (2007). Geschichte der Kindheit. München: dtv.
    Erikson, E. H. (1999). Kindheit und Gesellschaft. Stuttgart: Klett-Cotta.
  2. Goltermann, S. (2009). Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg. München: DVA.
  3. Goltermann, S. (2009). Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg. München: DVA. S.
    423
  4. Assmann, A., & Frevert, U. (1999). Geschichtsvergessenheit, Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. München: DVA.
    Biess, F., & Moeller, R. G. (Hrsg.). (2010). Histories of the Aftermath. The Legacies of the Second World War in Europe. Oxford (UK): Berghahn Books.
  5. Seidler, G., & Eckart, W. (Hrsg.). (2005). Verletzte Seelen. Möglichkeiten und Perspektiven einer historischen Traumaforschung. Gießen: Psychosozial.
  6. Ackermann, V. (2004). Das Schweigen der Flüchtlingskinder: Psychische Folgen von Krieg, Flucht und Vertreibung bei den Deutschen nach 1945. Geschichte und Gesellschaft, 3(30), 434–464.
    Seegers, L., & Reulecke, J. (2009). Die „Generation der Kriegskinder“. Historische Hintergründe und Deutungen. Giessen: Psychosozial.
    Seegers, L. (2009). Die „Generation der Kriegskinder“ als Erinnerungsphänomen in Deutschland. In Kinder des Krieges. Materialien zum Workshop in Voronež. 11.-13. März 2008. Moskau 2009 (Bd. 3, S. 14–25). Moskau: Deutsches Historisches Institut. Abgerufen von http://www.perspectivia.net/content/publikationen/dhi-moskau-bulletin/2009-3/0014-0025
  7. Maubach, F. (2009). Der Krieg im Spiel – Kindliche Aneignungen kriegerischer Gewalt 1939-1945. In Kinder des Krieges. Materialien zum Workshop in Voronež. 11.-13. März 2008. Moskau 2009 (Bd. 3, S. 26–36). Moskau: Deutsches Historisches Institut.
    Satjukow, S. (2009). ,,Bankerte!” Verschwiegene Kinder des Krieges. In Kinder des Krieges. Materialien zum Workshop in Voronež. 11.-13. März 2008. Moskau 2009 (Bd. 3, S. 57–69). Moskau: Deutsches Historisches Institut. Abgerufen von www.perspectivia.net/content/publikationen/dhi-moskau-bulletin/2009-3/0057-0069
  8. Faulstich, W. (2002). Die Kultur der fünfziger Jahre. München: Fink.
    Faulstich, W. (2003). Die Kultur der sechziger Jahre. München: Fink.
    Naumann, K. (Hrsg.). (2001). Nachkrieg in Deutschland. Hamburger Edition.

Quelle: http://zakunibonn.hypotheses.org/1343

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26. Todesanzeigen oder Zeit, zu gehen

10.000 Jahre im Dunkel

Todesanzeige

Der Tod, ja sicherlich. Über so etwas kann man eigentlich nur Plattheiten von sich geben. Es sei denn, man macht es wie Elias Canetti [1] und gräbt sich hinein in dieses Thema, widmet sein ganzes Leben diesem Tod, in der beständigen Weigerung, ihn als das zu akzeptieren, was er ist: nicht einfach nur das Ende des Lebens, sondern die einzige, die wirklich einzige Gewissheit, die wir über unsere Zukunft besitzen. Eigentlich wäre eine solche Sicherheit schon ganze Menge, wenn da nicht an die Stelle der Ungewissheit über zukünftige Entwicklungen, die wir immer schnell zu beklagen bereit sind, eine Gewissheit treten würde, die ihr tödliches Finale kaum zu verbergen vermag. Es sei denn, man nimmt Zuflucht zu einem Gedicht von Jorge Luis Borges mit dem Titel „Jemand“ („Alguien“), in dem folgende eingeklammerte Erkenntnis zu lesen ist:

„(die Beweise für den Tod sind nur statistisch,

und jeder läuft Gefahr,

der erste Unsterbliche zu sein)“ [2]

Im Gegensatz zu den vielen Unsterblichkeitsphantasien, die durch sämtliche fiktionale Genres geistern, hat diese Überlegung den Charme der Statistik auf ihrer Seite. Anstatt sich auf Jungbrunnen, genetische Mutationen oder Auserwähltheitsfantasien zu verlassen, bezieht sich Borges auf die Gewissheit der großen Zahl: Irgendwann kann es passieren… Aber er spricht zurecht auch von der Gefahr der Unsterblichkeit. Wollte man das wirklich anstreben? Ich habe neulich von dem vermutlich ältesten Lebewesen der Welt erfahren: einem Riesenschwamm, der in den Gewässern der Antarktis beheimatet ist und mutmaßlich bis zu 10.000 Jahre alt wird. Das Geheimnis seines langen Lebens? Bewegungslos in durchschnittlich zwei Grad kaltem Wasser in ewiger Dunkelheit existieren und dabei die überlebenswichtigen Funktionen auf ein absolutes Minimum reduzieren. Wem’s gefällt …

Mein bester Freund ist Tod

Aber auch wenn wir wissen, dass der statistische Ausnahmefall der Unsterblichkeit uns nicht treffen wird, und auch wenn wir es nicht wirklich erstrebenswert finden, mehrere tausend Jahre alt zu werden: Dem Tod möchte man am liebsten doch aus dem Weg gehen. Und in eben dieser lebensgeschichtlichen Zwickmühle, eingezwängt zwischen der Gewissheit und ihrer Verweigerung, versagen nicht selten die Worte, die eigenen wie die fremden, und nehmen Zuflucht zu Floskeln, die man allerorten schon einmal vernommen hat. Finden Sie mal die passende Formulierung für eine angemessene Beileidsbekundung, die nicht mit den üblichen gestanzten Schablonen daherkommt! Da wird der Tod dann unausweichlich, aber zugleich unerwartet, da findet das lange Leben ein plötzliches Ende, da wird man vom Herrn gerufen oder auch heimgeholt, und da wird dann Abschied genommen in tiefer Trauer und großer Bestürzung.

Über die sprachliche Unbeholfenheit von Todesanzeigen wurden schon diverse Bücher veröffentlicht, Zeitungsartikel geschrieben und Internetseiten eingerichtet. Sie alle zeugen von der sprachlichen Hilflosigkeit angesichts des Existentiellen. Wenn man sich ein wenig mit den stilistischen Ausrutschern beschäftigt, die in diesen Ablebensbenachrichtigungen versammelt sind, dann kann man eigentlich nur hoffen, niemals in die Situation zu kommen, eine eben solche verfassen zu müssen. Schließlich handelt es sich um einen außergewöhnlichen und einmaligen Anlass, eine gravitätisch aufgeladene Situation, die durch einen besonderen Text gewürdigt werden soll – der dann aber auch schon einmal besonders daneben gehen kann. Manch mortale Stilblüte könnte es auch in den allgemeinen Sprachschatz schaffen. So wenn beispielsweise der Verstorbene „überraschend sanft entschlafen“ ist oder die sprachliche Bestürzung sich in dem Ausruf Bahn bricht: „Mein bester Freund ist Tod.“ Aber spätestens wenn eine „Persönlichkeit von ungeschmälerter Gültigkeit“ betrauert oder der Tod mit einem „Meteoriteneinschlag“ verglichen wird, dessen „Krater nie zu schließen“ ist, sollte man die Reisepässe bereithalten, weil die Grenze zur Peinlichkeit näher rückt.

Bei der Frage, wie man den Tod eines Menschen in angemessene Worte fassen soll, um dem gewesenen Leben halbwegs gerecht zu werden, ist die Option nicht ganz aus dem Auge verlieren, es vielleicht einfach zu lassen. Wenn die Worte versagen, kann man diesem Unvermögen auch ruhig einmal nachgeben.

Grenzbeschreitungen

Eine wichtige Funktion von Todesanzeigen lässt sich an einer anderen standardmäßigen Formulierung ablesen. Es geht um die paradoxe Angelegenheit, dass die Trauerfeier im „engsten Familienkreis“ stattfinden werde (also wurde selbst der enge Familienkreis noch einmal ausgedünnt, wohl um missliebige Verwandte erst gar nicht zu dieser Veranstaltung zuzulassen), diese angeblich sehr private Angelegenheit dann aber gleichzeitig möglichst öffentlichkeitswirksam verkündet wird. Am besten ist das natürlich bei halbwegs prominenten Menschen: Anzeige in die Süddeutsche und die FAZ und noch in ein paar andere Zeitungen, so dass es einige hunderttausend Menschen lesen können, aber zum Leichenschmaus wird dann nur eine Handvoll eingeladen. Guten Appetit.

Abgesehen von der befremdlichen Verwendung des Superlativs wäre damit eine zentrale Funktion dieser eigentlich doch seltsamen Textgattung auf den viel beschworenen Punkt gebracht: Todesanzeigen sollen ganz offensichtlich zwischen Privatheit und Öffentlichkeit vermitteln, wie sich bei einem Blick in deren Geschichte erweist. In dem Maße, in dem Sterben und Tod nicht mehr als weitgehend öffentliche Angelegenheiten zumindest in einem lokalen Kontext zelebriert werden konnten, in dem Maße also, in dem der Tod zu einer privaten und eigentlich sogar verschämten Angelegenheit wurde, mussten Todesanzeigen die Stelle der dahingeschiedenen Öffentlichkeit beim einst öffentlichen Dahinscheiden übernehmen.

Die Todesanzeige gibt den Noch-nicht-Toten, vulgo: Hinterbliebenen, die Möglichkeit, den Lesern das Lebensende als letztlich recht einschneidendes Ereignis mit unbestreitbar liminalem Charakter in seiner ganzen Grenzen aufzeigenden Existentialität vor Augen zu führen: Nicht nur die Sagbarkeits- und Peinlichkeitsgrenzen der Sprache spielen hier eine Rolle, auch nicht nur die allzu offensichtliche Begrenzung des Lebens oder die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem werden in Todesanzeigen be- und verhandelt – es ist auch die Grenze zwischen den Zeiten, die hier immer wieder sichtbar wird.

Wir haben es mit einem aussagekräftigen Medium zu tun, in dem Kulturen die Zeit und die Zeiten behandeln, in dem Lebenszeit, Dauer, Schnelligkeit oder Ewigkeit (die ja bekanntlich recht lange dauert) thematisiert werden. Da sterben dann über 90-Jährige nicht nur plötzlich und unerwartet, sondern auch noch viel zu früh, gehen aber gleichzeitig in die Ewigkeit ein (zuweilen begleitet von dem Wunsch, den bereits Verstorbenen im Jenseits einen Gruß auszurichten). Da wird unmittelbare Gegenwärtigkeit evoziert, wenn Anzeigen mit dem Satz beginnen: „Ich bin gestorben“ oder „Mein Leben ist zu Ende und ich bedanke mich bei allen.“ Da wird (Individual-)Historisches kenntlich, wenn die Verwandten eines Verstorbenen dem „Rauchclub Germania“ für die Anteilnahme danken und man Mutmaßungen über die Todesursache anzustellen beginnt. Und da zeigt sich ganz fatal die Überschneidung der Zeiten, wenn ein noch Lebender kübelweise Beileidsbekundungen erhält, weil im selben Ort ein Namensidentischer das Zeitliche gesegnet hat. Diesseits und Jenseits. Jetzt und Einst, Immer-Noch und Nicht-Mehr liefern sich hier ein lustiges Stelldichein.

Wir haben es hier also mit einer bemerkenswerten Überkreuzung der Zeiten zu tun. Weit davon entfernt, nur das Ende eines individuellen Lebens und damit einer individuellen Zeit zu markieren, kann man Todesanzeigen gerade auch dahingehend bestimmen, dieses Ende der Zeit aufzuheben. Todesanzeigen fungieren als eine Art temporaler Propeller, der sich um die Gegenwart des Todes eines Menschen dreht und die Vergangenheit eines Lebens mit der Zukunft einer Erinnerung zu verbinden sucht. Und gerade weil es so schwierig ist, über den Tod zu reden oder gar zu schreiben, verraten diese Anzeigen viel über ihre Zeit und deren Verzeitungen.

 

[1] Elias Canetti, Das Buch gegen den Tod, München 2014.

[2] Jorge Luis Borges, Die zyklische Nacht. Gedichte 1934-1965, Frankfurt a.M. 1993, 151


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Quelle: http://achimlandwehr.wordpress.com/2014/09/28/26-todesanzeigen-oder-zeit-zu-gehen/

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