Deutsch-französische Annäherung auf vier Rädern? Das Autorennen Paris-Berlin 1901

 

Le Petit JournalEin Gastbeitrag von Jan Hassink

„Was wir gestern Morgen auf dem Westender Rennplatz gesehen haben, das ist – ich zweifle nicht daran – ein Blick in unsere Zukunft.“ Als der liberale Publizist Friedrich Dernburg mit diesen Worten am 30. Juni 1901 seine Eindrücke von der Zieleinfahrt des Autorennens Paris-Berlin zusammenfasste, stand er offensichtlich noch ganz im Bann des Tags zuvor erfahrenen „Triumphzugs der Automobilisten“, so der Titel seines Essays.1 „Es steckt etwas darin, etwas Phantasievolles, Bestrickendes und zu gleicher Zeit etwas Brutales, Rücksichtsloses, beinahe Barbarisches. Mit einem Worte: etwas Modernes.“ Wie elektrisiert zeigte er sich von der eindrucksvollen Demonstration der „Hast und Rastlosigkeit in der Bewegung“ und dem „Drang nach individueller Ungebundenheit.“ Hellsichtig prophezeite er dem Automobil als genuinem Ausdruck der Moderne eine große Zukunft. Fast schon als etwas Erhabenes erscheint das Automobil bei Dernburg, in sich die Widersprüche der Moderne – die Ohnmacht des Menschen gegenüber der („barbarischen“) Technik und sein immer stärkerer Drang nach individueller Freiheit – verbindend.

Das Automobil – Fluch oder Segen?

Das dreitägige Autorennen, das die Fahrer im Sommer 1901 von Paris über Aachen und Hannover nach Berlin führte, beeindruckte nicht nur den Redakteur des Berliner Tageblatts, sondern war ein internationales Medienereignis. Die Faszination für das Automobil im Allgemeinen und das deutsch-französische Rennen im Besonderen äußerte sich in vielen Presseberichten dies- und jenseits des Rheins; sie ging dabei oft über eine Begeisterung für das rein Sportlich-Technische hinaus. Dernburg etwa gab dem Rennen eine politische Dimension: Er sah hier die „völkerverbindende Macht des Sports“ am Werk, der „dazu bestimmt [sei], die kriegerische Tendenzen im Menschen in einer milderen Gabe abzulösen.“ Schließlich wurde hier die geographische Nähe der beiden „Erbfeinde“ einmal ganz anders interpretiert: „sportlich“, nicht militärisch. Die „Maschen der Menschheit“, so Dernburg, seien „wieder einmal enger gezogen.“ Hier bündelten sich Technikbegeisterung, Fortschrittsglaube und politischer Optimismus auf eine Entspannung der deutsch-französischen Beziehungen.

Nicht alle teilten diese euphorische Einschätzung. Skeptisch fragte die Allgemeine Automobil-Zeitung (AAZ) als Reaktion auf das Rennen, „welch praktischen Nutzen es habe, automobile Ungethüme von der Species der Ueberwagen […] drei Tage hindurch über Stock und Stein rasen zu lassen“.2 Der „in Frankreich entstandene Schnelligkeitswahnsinn [greife] epidemisch um sich“. Ganz ähnlich erhoben sich auch in Frankreich kritische Stimmen zu der „Volupté de la Vitesse“, so der Titel eines Aufsatzes von Edmond Lepelletier im Écho de Paris vom 2. Juli 1901: „La vitesse, envisagée comme plaisir, comme un de ces adjuvants et de ces stimulants, fruits des paradis artificiels, dont Baudelaire a chanté et analysé les ivresses, tels que le vin, l’opium, les parfums, ne date que de l’avènement du pneu.” Der Automobilismus – eine dieser modernen Grenzüberschreitungen, die es einzuzäunen gelte, denn: „Les voluptueux de la vitesse […] sont des sadiques très désagréables, puisque leur jouissance égoïste appelle à son aide les blessures et la mort.”

Ein Autorennen als transnationaler Begegnungsort

Der neue Erfahrungsraum, den das Automobil und speziell der Automobilsport um die Jahrhundertwende öffnete – Stichworte „Überwagen“ und „Schnelligkeitswahn“ –, kann als ein transnationales Phänomen gelesen werden; exemplarisch verkörpert im Rennen Paris-Berlin. Die deutsch-französische Grenze wurde hier nicht nur physisch überschritten, sondern ebenso waren die Hoffnungen, Ängste und Zukunftserwartungen, die das rasende Auto hervorrief, an keine nationalen Grenzen gebunden. Auch der Gedanke von der „völkerverbindende[n] Macht des Sports“, von der Dernburg nach dem Rennen gesprochen hatte, wurde von der französischen Presse geteilt: „Comme la musique et la peinture, l’automobilisme et le sport n’ont pas de patrie“, wie man in der Ausgabe des Figaro vom 27. Juni 1901 lesen konnte. Und als transnationales Ereignis, das viele Franzosen anlässlich der gleichzeitig veranstalteten „Touristenfahrt“ von Paris nach Berlin führte – Dernburg nannte sie „eine Art Bierreise“ –, trug das Rennen durchaus zur „Völkerverständigung“ bei: „Ceux de nos compatriotes qui n’étaient jamais allés en Allemagne ont été stupéfaits de constater l’enthousiasme avec lequel on les accueillait […]. Ils ont pu voir que nos voisins ne nous détestaient nullement, et cela les a plus que surpris.“3 Die Begeisterung für das Neue war, im wahrsten Sinne des Wortes, grenzenlos. So bezeichnete Le Monde Illustré das Rennen als eine „solennité internationale“, und: „Nos chauffeurs reviendront enthousiasmés de Guillaume II.“4 Der Kaiser selbst ließ per Telegramm ausrichten, er sei „erfreut über das kameradschaftliche Zusammenwirken französischer und deutscher Wettfahrer.“5 Und der britische Rennfahrer Charles Jarrott, selbst Teilnehmer des Rennens, hielt es im Jahr 1906 rückblickend für eine „particularly happy idea of the French Club to hold a race between Paris and Berlin.“ Denn: „The bitterness of the struggle of the seventies was still existent, and it seemed almost impossible that even in a sporting event the nations could fraternize to the extent of opening up their roads for a race between the two great cities.“6 Der Erfolg der Veranstaltung schließlich hätte diese nationalistischen Bedenken aus dem Weg geräumt und das Gegenteil bewiesen.

Nicht nur auf sportlichem, auch auf industriell-wirtschaftlichem Gebiet stellte das Rennen eine deutsch-französische Zusammenarbeit dar. In seiner Rede beim hochrangig besetzten Festbankett anlässlich des Zieleinlaufs in Berlin fasste der preußische Handelsminister Theodor von Möller diesen Aspekt zusammen: Der „Fortschritt der Industrie“ sei nämlich „ein gleichmäßiges Product aller Culturnationen. Speciell wir beiden Nachbarvölker brauchen in der Industrie keinerlei Eifersucht aufeinander zu haben, sondern unsere Interessen sind in der Industrie wie im Handel durchaus gemeinsame.“7 Gemeinsame wirtschaftspolitische Interessen waren es wohl auch, die den Automobile-Club de France und sein deutsches Pendant, den Deutschen Automobil-Club, überhaupt erst dazu veranlasst hatten, das Rennen in Kooperation zu organisieren. Es bleibt ein offenes Feld für die Forschung, die engen personellen und institutionellen Kontakte zwischen beiden Verbänden näher zu untersuchen.

Eine besondere mediale Aufmerksamkeit zogen in Deutschland wie in Frankreich die an den beiden Rennen beteiligten Frauen auf sich. Die einzige Teilnehmerin des offiziellen Rennens, die Französin Camille du Gast – „Madame du Gast“, wie sie auch in der deutschen Presse durchweg genannt wurde – sei, so der Figaro, „une intrépide chauffeuse, […] qui conduit une voiture de 20 chevaux avec maëstria“. Und als „Madame Gobron“, die Frau eines französischen Automobilindustriellen, die Touristenfahrt erfolgreich mit einem Stundenmittel von 41 km/h beendet hatte, merkte die AAZ anerkennend an: „Das wäre für einen Chauffeur respektabel, um wie viel mehr für eine Chauffeuse!“8 Autorennen waren auf deutscher wie auf französischer Seite ein „männlicher“ Sport; die teilnehmenden Frauen stachen in der Berichterstattung jeweils besonders hervor.

Paris-Berlin StreckeVon Paris nach Berlin: Nördlich die Strecke der Rennfahrer, etwas weiter südlich die der Touristen

Das Autorennen, soviel zeigt der Blick in die Presse, wurde in der deutschen und französischen Öffentlichkeit nicht als eine bloße Sportveranstaltung wahrgenommen. Industrielle, soziale und politische Aspekte standen zuweilen derart im Vordergrund, dass die sportliche Seite mitunter nebensächlich wurde: „Le grand match franco-allemand […] dépasse de beaucoup de limites du terrain sportif. On en parle comme d’un événement international dans le peuple“, wie der Écho de Paris im Vorfeld die allgemeine Stimmung im Volk beschrieb.9

Nationalistische Ober- und Untertöne

Diese als positiv empfundenen Berührungspunkte und Verflechtungen sollen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Autorennen insbesondere in der politisch rechten Presse zuweilen nationalistisch überhöht wurde – dies ist gewissermaßen die Schattenseite der politischen Aufladung, die das Rennen erfuhr. Der Streckenverlauf – von Paris in die Hauptstadt des Deutschen Reichs – und der Wettkampfcharakter waren geradezu prädestiniert, dem Rennen eine chauvinistische, ja sogar revanchistische Note zu geben. Hier zeigte das Rennen weniger eine integrative, sondern eher eine trennende, abgrenzende Wirkung. Das Spektrum dieser nationalistischen Tendenzen ist weit gefasst: Es reichte von Kriegsmetaphorik und politischen Andeutungen bis hin zur Verurteilung des Rennens von Rechts als Ausdruck von Geschichtsvergessenheit.

So hieß es im Figaro etwa am 28. Juni 1901: „La dernière étape, Berlin, fait naître l’idée d’une revanche industrielle et, pour beaucoup, l’essentiel est de battre nos voisins sur leur propre terrain, dans cette lutte pacifique.“ Die Rede von einer „lutte pacifique“ und einer „guerre économique“, von der „revanche industrielle“ und einer „pointe de chauvinisme“ war in vielen französischen Zeitungsberichten präsent. Und auf die Frage, ob es nicht darum ginge, gerade gegen die Deutschen den Sieg davonzutragen, antwortete der Präsident des französischen Automobilclubs, Baron von Zuylen: „J’espère bien que nous triompherons des Allemands sur ce terrain pacifique.“10 Sprachlich waren die Grenzen zwischen militärischem Konflikt und sportlichem oder industriellem Wettkampf fließend. Le Vélo schrieb am 10. Juni 1901, die Deutschen würden auf industriellem Gebiet genauso handeln wie auf dem Schlachtfeld („champ de bataille“). Und als mit Henri Fournier ein Franzose als erster die Ziellinie in Berlin überquerte, sei die Begeisterung auf französischer Seite so groß gewesen, dass man hätte glauben können, Frankreich habe einen großen militärischen Sieg errungen, wie es der Écho de Paris am 30. Juni formulierte – wenngleich dessen „blonde[s] Haar und die treuherzigen blauen Augen [ihn] eher als einen Vollblutgermanen denn als Franzosen erscheinen“ lassen, wie die Allgemeine Automobil-Zeitung zu berichten wusste.

Das nationalistische und antisemitische Blatt La Libre Parole von Éduard Drumont empfand es gar als Schande, dass nun, gerade einmal dreißig Jahre nach dem verlorenen Krieg, Franzosen und Deutsche gemeinsam nichtsahnend durch so geschichtsträchtige Orte wie Sedan und Bazeilles fahren sollten – jene blutigen Kriegsschauplätze von 1870, wo noch die Väter der sorglosen Rennfahrer und Touristen bitter gegeneinander gekämpft hätten.11 Die rechtsgerichtete Autorité meinte lakonisch, es sei „la caractéristique des nations en décadence de se consoler avec des succès sportifs des défaites subies sur le champs de bataille sérieux.“12 Und allein die Tatsache, dass ein paar Franzosen mit dem Automobil nach Deutschland gefahren seien, dort ein Bankett abgehalten hätten und von deutschen Beamten mit freundlichen Worten bedacht worden seien, bezeuge noch gar nichts: „Des incidents aussi minuscules ne sont rien dans les relations de deux grandes nations.“13

Das Autorennen hat polarisiert, und ebenso ergibt sich für den heutigen Betrachter ein ambivalentes Bild. Indem es den Zeitgenossen auf beiden Seiten des Rheins die Moderne erfahrbar machen ließ, konstituierte es in Frankreich und in Deutschland einen gemeinsam geteilten „automobilen“ Erfahrungsraum – mit allen damit einhergehenden Ängsten und Hoffnungen. Auch die Zusammenarbeit zwischen den beiden Autoclubs und die Annäherungen zwischen den „Touristen“ deuten auf wirtschaftlich-industrielle und soziale Verflechtung hin. Gleichzeitig, und entgegen solcher Transferprozesse, wurde das Bild des feindlichen Nachbarn in der Presse, zumindest auf französischer Seite, auf die sportlich-industrielle Ebene übertragen. In diesem Spannungsfeld zwischen wachsender Verflechtung einerseits und nationaler Abgrenzung andererseits verortet sich Paris-Berlin 1901.

 

Jan Hassink studiert seit 2010 Geschichte, Französisch und Latein an der Universität Marburg. Im Herbst 2014 hat er ein Praktikum am Deutschen Historischen Institut Paris absolviert, in dessen Rahmen auch dieser Blogeintrag entstanden ist.

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Abbildungen:

1. Le Figaro vom 27.06.1901, S. 2. (http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k285550z/f2.image)

2. Le Petit Journal, Supplément illustré vom 14.07.1901, S. 1. (http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k7164432.image.langDE)

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Bibliographie:

Buisseret, Alexandre: „Les femmes et l’automobile à la Belle Époque“, in: Le Mouvement social 192 (2000), S. 41-64. (http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k5730002b.image.f43.tableDesMatieres)

Dulier, Jean-Robert: La triomphale course Paris-Berlin, Clermont-Ferrand 1967.

Flonneau, Mathieu: „Paris au cœur de la révolution des usages de l’automobile 1884-1908“, in: Histoire, économie & société 26 (2007), S. 61-74. (http://www.cairn.info/zen.php?ID_ARTICLE=HES_072_0061)

Gardes, Jean-Claude: „La course automobile ‘Paris-Berlin’ (1901) et sa transcription graphique dans les dessins du Rire“, in: Recherches contemporaines, numéro spécial „Image satirique“ (1998), S. 53-63. (http://idhe.u-paris10.fr/servlet/com.univ.collaboratif.utils.LectureFichiergw?ID_FICHIER=1348818743595)

Merki, Christoph Maria: „Das Rennen um Marktanteile. Eine Studie über das erste Jahrzehnt des französischen Automobilismus“, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 34 (1998), S. 69-91.

Ders.: „L’internationalisation du traffic routier avant 1914“, in: Relations internationales 95 (1998), S. 329-348.

Ders.: Der holprige Siegeszug des Automobils 1895-1930. Zur Motorisierung des Straßenverkehrs in Deutschland, Frankreich und der Schweiz, Wien, Köln, Weimar 2002.

  1. In: Berliner Tageblatt und Handelszeitung vom 30.06.1901, 1. Beiblatt.
  2. Allgemeine Automobil-Zeitung (AAZ) vom 07.07.1901, S. 5.
  3. La Vie au Grand Air vom 14.07.1901, S. 398.
  4. Le Monde Illustré vom 29.06.1901, S. 487.
  5. AAZ vom 07.07.1901, S. 21.
  6. Charles Jarrott: Ten Years of Motors and Motor Racing, London 1906, S. 103.
  7. Seine Rede ist abgedruckt in der AAZ vom 07.07.1901, S. 21.
  8. AAZ vom 14.07.1901, S. 12.
  9. L’Écho de Paris vom 21.06.1901, S. 1.
  10. L’Écho de Paris vom 17.04.1901, S. 1.
  11. Vgl. La Libre Parole vom 23.06.1901, S. 1.
  12. Zit. n. Le Vélo vom 02.07.1901.
  13. Zit. n. Pierre Souvestre: Histoire de l’Automobile, Paris 1907, S. 527. [http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k5495467j/f7.image.r=histoire%20de%20l%27automobile.langFR]

 

 

Quelle: http://19jhdhip.hypotheses.org/2023

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Big History: Can life go on without a meta-narrative?

There is something attractive about ‘Big History’, David Christian’s approach to teaching the past. If World History is understood as an attempt to know the past beyond national categories, Big History seeks to understand the past at time scales that stretch from the human to the cosmic…


 

English

 

There is something attractive about ‘Big History’, David Christian’s approach to teaching the past. If World History is understood as an attempt to know the past beyond national categories, Big History seeks to understand the past at time scales that stretch from the human to the cosmic.[1] Its advocates refer to it as “the scientific creation story, from the big bang to the present”[2], and, as reported recently in The New York Times, it has gained a powerful ally in Bill Gates, who hopes to see Big History courses in schools.[3] But in its ‘coherent’ and ‘unified’ narrative of the past, does Big History lose sight of History?

 

The big ambitions of Big History

David Christian coined the term ‘Big History’ while teaching an interdisciplinary course at an Australian university that synthesised natural and human history. According to Christian, Big History surveys the past at the largest possible scales, owing an acknowledged debt to the French Annales School of historiography and its concept of the longue durée.[4] Big History draws on insights from a range of scientific fields (including physics, cosmology, evolutionary biology, anthropology, climatology, etc.) in order to present a comprehensive account of the past. It parallels World History, in offering a vision of the past that is presented as an antidote to history as a national or ‘tribal’ story.[5] Advocates seek escape from history as a series of ‘fragmented’ narratives, by offering a grand unified vision of the past, present, and future. Operating at multiple geographic and temporal scales, Big History seeks patterns in the past, following Durkheim in the desire to understand life in the whole, and not in its parts.[6] Big History is presented as a coherent story of life and the universe; drawing together an ambitious synthesis of current knowledge in the natural and human sciences to provide maps of life within which ‘modern people’ can find their bearings in space and time. Its increasing popularity may be because it provides a big-picture view (new master narrative) that can satisfy those disheartened with religion and a panacea for the crisis of confidence that can arise in the encounter with conflicting accounts of the past.

Matter of fact, where’s the interpretation?

As much as I am attracted to the idea of a history that can operate at multiple levels of scale, get beyond national mythologies, and invite serious interdisciplinary speculation, something bothers me about Big History. The grand timelines it offers are easily recognised as a form of periodization, albeit following time scales that are more typical of geologists and cosmologists rather than historians. Christian’s timeline has eight periods, aligned with the emergence of different levels of complexity in the universe. Along with scale, complexity is one of the selective metaphors that underpin his narrative; and the complexity thresholds identify function as a thematic architecture for producing the Big History narrative and its teleology. Recently, Sam Wineburg, Executive Director of the Stanford History Education Group, challenged Big History on its lack of engagement with the history discipline’s methodology (which focuses on the interpretation of texts).[7] Big History accounts of the past often underplay interpretation. In Cynthia Stokes Brown’s recent Big History book, there are seductive matter-of-fact accounts of the expanding universe, the emergence of humans, advanced hunting and gathering, agriculture, early cities, and industrialisation; and the author claims to have never “knowingly strayed into speculation”.[8] That is, she claims to have stayed with the known ‘facts’, seemingly ignoring the fact that narratives always involve selectivity in terms of the facts they marshal.[9] The Big History perspective is naturalised in the process. Big History’s epistemology demonstrates more kinship with the natural sciences than it does with the humanities.[10] Furedi has argued that its over-emphasis on a history of matter, at the expense of a history of humanity, can be read as an attack on human agency.[11] What we can be certain of is that when looking at history through such large-scale lenses, the conflicting perspectives of our neighbours will seem to have little meaning.

A new historicism?

For Karl Popper, historicism represented an approach to the social sciences that assumes patterns, laws or trends can be discovered that underlie the evolution of history. In its seamless move from the natural science account of the distant past to its account of human social evolution, Big History claims the territory lost by Marxism (and other grand sociologies), and reveals itself as a new historicism. Popper believed historicism amounted to a misunderstanding of the scientific method. The way out of this problem was “to be clear about the necessity of adopting a point of view, to state this point of view plainly, and always to remain conscious that it is one among many”[12]. While Big History may acknowledge its large-scale point of view, it rarely seems to attend to the problems of interpretation. The consequence of this approach means that by reinstating a seductive, and largely uncontested story, history is taught as meta-narrative rather than as method.

A big ‘end of history’ for schools?

Undoubtedly, there is a place in history education for a big-picture view of the past, or for examining the past at varying levels of scale. I think Big History advocates are correct when they recognise the need for human beings to locate themselves in time and space. But is the only solution to this the construction of a meta-narrative? Must we locate ourselves in a single story of the past? There are dangers in presenting history as something that exists beyond the messy process of interpretation. Big History, as one narrative resource among many, has some exciting potentials. Big History, as a replacement school curriculum, risks misrepresenting the nature of history.

 

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Literature

  • David Christian, Maps of Time: An Introduction to Big History (Berkeley: University of California Press, 2014).
  • Bruce Mazlish, “Big History, Little Critique,” Historically Speaking (2005), vol. 6, no. 5, 43–44.

External links

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[1] David Christian, “The Case for ‘Big History,’” Journal of World History (1991), vol. 2, no. 2, p. 223.
[2] Cynthia Stokes Brown, Big History: From the Big Bang to the Present (New York: The New Press, 2012), x.
[3] Andrew Ross Sorkin, “So Bill Gates Has This Idea for a History Class …,” 5 September 2014, New York Times. Available online: http://www.nytimes.com/2014/09/07/magazine/so-bill-gates-has-this-idea-for-a-history-class.html?_r=2 (last accessed 01.10.2014).
[4] See David Christian, Big History: The Big Bang, Life on Earth, and the Rise of Humanity (Virginia: The Great Courses, The Teaching Company: 2008). The idea of the longue durée was first advocated in Fernand Braudel, On History, translated by Sarah Matthews (Chicago: The University of Chicago Press, 1980) [Original French publication: 1969].
[5] See the introduction to David Christian, Maps of Time: An Introduction to Big History (Berkeley: University of California Press, 2014); or the series of recorded lectures attached to Christian’s Big History: The Big Bang, Life on Earth, and the Rise of Humanity.
[6] See, for example Emile Durkheim, Suicide. A Study in Sociology, translated by J. A. Spaulding & G. Simpson (New York: Free Press, 1951), p. 299.
[7] Andrew Ross Sorkin, “So Bill Gates Has This Idea for a History Class …”. 5 September 2014, New York Times (http://www.nytimes.com/2014/09/07/magazine/so-bill-gates-has-this-idea-for-a-history-class.html?_r=2; (last accessed 01.10.2014).
[8] Cynthia Stokes Brown, Big History: From the Big Bang to the Present, p. 13.
[9] The philosopher of history, Frank Ankersmit, goes as far as saying that historical narratives always exceed the sum of the referential statements (facts) they marshal. See his Meaning, Truth, and Reference in Historical Representation (Ithaca, NY: Cornell University Press, 2012).
[10] It has been argued that in its synthesis of the natural and human sciences, Big History ignores the humanities. See Bruce Mazlish, “Big History, Little Critique,” Historically Speaking (1991), vol. 6, no. 5, 43–44. The rest of the articles in this special issue are also worth reading for someone interested in Big History.
[11] Frank Furedi, “‘Big History’: The annihilation of human agency,” 24 July 2014, Spiked. Available: http://www.spiked-online.com/newsite/article/frank_furedi_on_history/13844#.VCujp1Y0v3s (last accessed 01.10.2014).
[12] Karl Popper, The Poverty of Historicism (London: Ark Paperbacks, 1986, [Original publication 1957], p. 3.

 

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Image Credits
© Wikimedia Commons (public Domain).
http://de.wikipedia.org/wiki/Galaxie#mediaviewer/File:Hubble2005-01-barred-spiral-galaxy-NGC1300.jpg

Recommended Citation
Parkes, Robert: Big History: Can life go on without a meta-narrative? In: Public History Weekly 2 (2014) 35, DOI:  dx.doi.org/10.1515/phw-2014-2727.

Copyright (c) 2014 by De Gruyter Oldenbourg and the author, all rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial, educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact: julia.schreiner (at) degruyter.com.

 

 

Deutsch

 

Es liegt durchaus etwas Attraktives in der Big History, David Christians Ansatz, die Vergangenheit zu lehren. Wenn man die Weltgeschichte als einen Versuch versteht, jenseits der nationalen Kategorien die Vergangenheit zu interpretieren, so strebt die Big History danach, die Vergangenheit in einem zeitlichen Maßstab zu verstehen, der vom Menschlichen zum Kosmischen reicht.[1] Seine Befürworter bezeichnen dies als “die wissenschaftliche Schöpfungsgeschichte vom Urknall bis heute”[2]. Kürzlich berichtete die New York Times, dass diese Vorstellung mit Bill Gates einen prominenten Anhänger hat, der darauf hofft, dass die Big History zum Bestandteil des schulischen Lernens wird.[3] Aber verliert die Big History nicht unter Umständen mit ihren “kohärenten” und “vereinheitlichenden” Narrativen den Blick auf die Geschichte?

 

Die großen Ambitionen der Big History

David Christian prägte den Begriff Big History während seiner Zeit als Hochschullehrer in einer interdisziplinären Lehrveranstaltung an einer australischen Universität, die die Natur- und Menschheitsgeschichte synthetisierte. Laut Christian stellt die Big History die Vergangenheit in ihrer größtmöglichen Spannweite dar und lehnt sich damit an die französische Annales-Schule und ihr Konzept der longue durée an.[4] Big History stützt sich auf Erkenntnisse aus einer ganzen Reihe von wissenschaftlichen Bereichen (wie z.B. Physik, Kosmologie, Evolutionsbiologie, Anthropologie, Klimatologie usw.), um eine umfassende Darstellung der Vergangenheit  zu präsentieren.[5] Seine Anhänger versuchen sich von der Vorstellung von Geschichte als einer Reihe von Fragmenten zu lösen, indem sie eine große, einheitliche Sicht auf die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft anstreben. Sie arbeiten dabei an vielfältigen geografischen und zeitlichen Skalen und suchen nach Mustern in der Vergangenheit. Damit folgen sie Durkheim, der versucht, das Leben als Ganzes und nicht in seinen Einzelteilen zu verstehen.[6] Big History wird als zusammenhängende Geschichte des Lebens und des Universums präsentiert, die eine ehrgeizige Synthese der aktuellen Forschungsergebnisse der Natur- und Geisteswissenschaften herstellt, um Karten des Lebens bereitzustellen, auf welchen “Menschen der Moderne” ihre Orientierung in Zeit und Raum finden können. Die zunehmende Beliebtheit der Big History rührt wohl daher, dass sie eine Großbild-Perspektive anbietet (eine neue Meistererzählung), die vor allem diejenigen befriedigt, die mit der Religion hadern. Sie stellt ein Allheilmittel gegen die Vertrauenskrise zur Verfügung, die aus einer Begegnung mit den widerstreitenden Beschreibungen der Vergangenheit erwachsen kann.

Tatsache, oder reine Interpretation?

So sehr mir auch die Idee von einer Geschichte gefällt, die auf mehreren Ebenen stattfindet, über nationale Mythen hinausreicht, oder zu ernsthaften interdisziplinären Spekulationen einlädt, so sehr stört mich auch etwas an der Big History. Die großen Zeitleisten sind als einfachste Form der Periodisierung leicht zu erkennen, obwohl sie doch eher typisch sind für Geologen und Kosmologen als für Historiker: Christians Zeitleiste umfasst acht Perioden, die sich orientieren an der Entstehung unterschiedlicher Komplexitätsstufen im Universum. Nebst dieser Skalierung ist “Komplexität” eine der selektiven Metaphern, die seine Narration untermauern. Daneben identifizieren die Komplexitätsschwellen die Funktion der thematischen Architektur zur Produktion einer Big History-Narration und ihrer Teleologie.

Fakten. Nur Fakten?

Kürzlich hat Sam Wineburg, Geschäftsführender Direktor der Stanford History Education Group, die Big History kritisiert wegen ihrer mangelnden Auseinandersetzung mit der disziplinären Methodik der Geschichtswissenschaft (die sich auf die Interpretation von Textquellen konzentriert).[7] Big History-Darstellungen der Vergangenheit spielen oft die Interpretation herunter. In Browns aktuellem Big History-Buch finden sich verführerische Tatbestandsdarstellungen zur Entstehung des Universums und des menschlichen Lebens, zur fortgeschrittenen Jäger-und-Sammler-Gesellschaft, zur Entwicklung der Landwirtschaft, den frühen Städten und zur Industrialisierung; die Autorin behauptet, sie hätte sich dabei noch nie “wissentlich in Spekulation verirrt”.[8]. Das heißt, sie behauptet, stets bei den bekannten “Fakten” geblieben zu sein und ignoriert dabei anscheinend die Tatsache, dass Erzählungen in Bezug auf die Fakten immer auf der Selektivität ihrer Auswahl beruhen.[9] Die Big History-Perspektive wird somit zum natürlichen Bestandteil dieses Prozesses gemacht. Ihre Epistemologie demonstriert eher Nähe zu den Natur- als zu den Geisteswissenschaften.[10] Furedi argumentiert darüber hinaus, dass die Überbetonung einer Faktengeschichte auf Kosten der Menschheitsgeschichte als Angriff auf menschliches Handeln gelesen werden kann.[11] Wenn wir Geschichte durch solch großangelegte Perspektiven betrachten, können wir davon ausgehen, dass die gegensätzlichen Perspektiven unserer Nachbarn wenig Bedeutung zu haben scheinen.

Ein neuer Historismus?

Für Karl Popper repräsentierte der Historismus einen Zugang zu den Sozialwissenschaften, der davon ausging, dass Gesetzmäßigkeiten, Entwicklungen oder Tendenzen entdeckt werden könnten, die dem Fortgang der Geschichte zugrunde liegen. In ihrem nahtlosen Übergang von den naturwissenschaftlichen Darstellung der fernen Vergangenheit zur Darstellung der gesellschaftlichen Entwicklung beansprucht die Big History Gebiete, die vom Marxismus (und andere große Soziologien) preisgegeben worden sind und offenbart sich somit als ein neuer Historismus. Popper nahm an, der Historismus liefe auf ein Missverständnis der wissenschaftlichen Methode hinaus. Die Lösung dieses Problems bestehe darin, “sich darüber klar zu werden, worin die Notwendigkeit zu einer Annahme liegt, und sich darüber bewusst zu werden, dass es stets eine unter vielen ist.”[12] Während die Big History ihre großmaßstäbige Betrachtungsweise einräumt, scheint sie sich doch kaum der Probleme der Interpretation bewusst zu werden. Die Konsequenz dieses Ansatzes besteht darin, dass durch die Wiedereinführung einer verführerischen und weitgehend unbestrittenen Großerzählung Geschichte eher als eine Meta-Narration denn als eine Methode gelehrt wird.

Bedeutet dies das “Ende der Geschichte” für Schulen?

Unzweifelhaft gibt es einen Platz im Geschichtsunterricht für die große Perspektive auf Vergangenheit oder für eine Untersuchung der Geschichte in unterschiedlichen Maßstabsebenen. Ich denke, Big History-Befürworter liegen richtig, wenn sie die Notwendigkeit erkennen, dass der Mensch ein Bedürfnis nach Orientierung in Zeit und Raum hat. Aber liegt die einzige Lösung in der Entwicklung einer Meta-Erzählung? Sollen wir uns in einer einzelnen Geschichte verorten? Die Gefahr liegt in der Präsentation von Geschichte als etwas, das sich jenseits eines schmuddeligen Interpretationsprozesses befinde. Big History als eine mögliche Erzählung von vielen hat durchaus spannendes Potenzial. Big History als Ersatz-Schullehrplan riskiert die Fehldarstellung des Wesens der Geschichte.

 

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Literatur

  • Christian, David: Maps of Time: An Introduction to Big History. Berkeley 2014.
  • Mazlish, Bruce: Big History, Little Critique. In:  Historically Speaking 6 (2005) 5, S. 43–44.

Externe Links

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[1] Christian, David: The Case for ‘Big History’. In: Journal of World History 2 (1991) 2, S. 223.
[2] Stokes Brown, Cynthia: Big History: From the Big Bang to the Present. New York 2012, S. x.
[3] Ross Sorkin, Andrew: “So Bill Gates Has This Idea for a History Class …” In: New York Times, 05.09.2014, verfügbar unter: http://www.nytimes.com/2014/09/07/magazine/so-bill-gates-has-this-idea-for-a-history-class.html?_r=2 (letzter Zugriff 01.10.2014).
[4] Vgl. Christian, David: Big History: The Big Bang, Life on Earth, and the Rise of Humanity. Virginia 2008. Die Idee der longue durée wurde zunächst entwickelt durch Fernand Braudel: On History, übersetzt von Sarah Matthews, Chicago 1980. [Französische Erstausgabe: 1969].
[5] Vgl. die Einführung zu David Christian: Maps of Time: An Introduction to Big History. Berkeley 2014; oder die Reihe aufgezeichneter Vorträge im Anhang von Christians Big History: The Big Bang, Life on Earth, and the Rise of Humanity.
[6] Vgl. z.B. Durkheim, Emile: Suicide. A Study in Sociology, übersetzt von J. A. Spaulding & G. Simpson. New York 1951, S. 299.
[7] Ross Sorkin, Andrew: So Bill Gates Has This Idea for a History Class …”. In: New York Times 05.09.2014, verfügbar unter: (http://www.nytimes.com/2014/09/07/magazine/so-bill-gates-has-this-idea-for-a-history-class.html?_r=2; (letzter Zugriff 01.10.2014).
[8] Stokes Brown, Cynthia: Big History: From the Big Bang to the Present, S. 13.
[9] Der Geschichtsphilosoph Frank Ankersmit geht soweit zu sagen, dass historische Narrative immer die Summe der referenziellen Statements (Fakten) ausklammern, die sie ordnen. Vgl. ders.:
Meaning, Truth, and Reference in Historical Representation. Ithaca 2012.
[10] Es wurde argumentiert, dass in der Synthese von Natur- und Humanwissenschaften die Geisteswissenschaften nicht beachtet werden. Vgl. 
Mazlish, Bruce: Big History, Little Critique. In: Historically Speaking 6 (1991) 5, S. 43–44. Die weiteren Artikel dieser Spezialausgabe sind für an Big History Interessierte ebenso lesenswert.
[11] Furedi, Frank: ‘Big History’: The annihilation of human agency. In: Spiked 24.07.2014, verfügbar unter:  http://www.spiked-online.com/newsite/article/frank_furedi_on_history/13844#.VCujp1Y0v3s (letzter Zugriff 01.10.2014).
[12] Popper, Karl: The Poverty of Historicism. London 1986. [Erstausgabe 1957], S. 3.

 

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Abbildungsnachweis
© Wikimedia Commons (gemeinfrei).
http://de.wikipedia.org/wiki/Galaxie#mediaviewer/File:Hubble2005-01-barred-spiral-galaxy-NGC1300.jpg

Empfohlene Zitierweise
Parkes, Robert: Big History: Gibt es ein Leben ohne Meta-Narrative? In: Public History Weekly 2 (2014) 35, DOI:  dx.doi.org/10.1515/phw-2014-2727.

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Das Kunstmarktkarussell. Werke aus der Essl-Sammlung in London versteigert

kopiert aus InternetartikelKunst ist nicht nur schön, sondern auch eine Wertanlage. Aus dieser musste die Sammlung Essl nun auch Kapital schlagen und versteigerte am Montagabend im Londoner Auktionshaus Christie’s 43 Werke der Kunstsammlung von bauMax-Gründer Karlheinz Essl.

Wie in den kommenden Herbstauktionen, wurden die beiden eingelieferten Werke Gerhard Richters besonders hervorgehoben. Ganz offensichtlich erhöht schon der Nennung des Künstlernamens im Auktionskatalog die Aufmerksamkeit der Sammler und Geldanleger. Doch umso euphorischer ein Werk Gerhard Richters im Vorfeld angepriesen wird, umso enttäuschter ist die Presse, wenn dieses Bild doch erst im After-Sale verkauft wird. Dabei wird gern die Mathematik außen vor gelassen.

Denn stellen sie sich vor, sie kaufen aus Interesse ein Werk eines bekannten Künstlers für 225.000 Euro. Einige Jahre später gerät ihre Firma und damit auch sie in eine finanzielle Krise. Zur Rettung ihres Unternehmens sowie ihrer über Jahre liebevoll aufgebauten Kunstsammlung lassen sie dieses Kunstwerk versteigern. Sie erhalten 6.9 Millionen Euro. Um wie viel hat sich der Wert ihres Bildes gesteigert?

Trotz der Wertsteigerung um 3000 Prozent kam es am Montag einigen Journalisten in den Sinn, von einem „lahmenden Zugpferd“ zu sprechen. Denn der Verkäufer sowie das Londoner Auktionshaus erhofften sich von Richters Abstrakten Bild „Netz“ ein Bietergefecht. Dieses blieb aber aus. Erst nach der Auktion wurde das großformatige Bild aus dem Jahr 1985 für besagten Preis verkauft.

Die Enttäuschung wird verständlich, wenn man die Presseberichte von den Vortagen liest. Für 44 erlesenen Werken aus der Sammlung Essl erwartete das Auktionshaus einen Erlös von bis zu 76 Millionen Euro. Dabei war sich Christie’s so sicher, dass es dem Einlieferer einen Erlös von 50 Millionen Euro vertraglich zusicherte. Tatsächlich brachte die Versteigerung einen Gesamterlös von 66 Millionen Euro. Die Differenz zwischen Schätzung und Erlös geht zum einen auf das zu teuer eingeschätzte Richter-Werk und zum anderen auf den Rückzug eines Werkes sowie den drei unverkauften Werken von Martin Kippenberger, Paul McCarthy und Eduardo Chillida zurück. Der Kunstmarkt ist – so wird deutlich – nicht immer berechenbar. Doch betrachtet man den Verkauf der Werke von Sigmar Polke, Cindy Sherman, Louise Bourgeois, Maria Lassnig und anderen international renommierten Künstlern, so war die Auktion ein Erfolg.

Gerhard Richters vierteiliges Werk „Wolken“ von 1972 fand großen Anklang. Mit einem Erlös von 7,9 Millionen Euro, war es das teuerste Los des Abends, wie vom Gutachter Otto Hans Ressler im Vorfeld bereits angenommen. Am meisten interessierten sich die Bieter für einen Weggefährten Richters. So konnte Sigmar Polkes Porträt „Indianer mit Adler“ aus dem Jahr 1975 für 5,1 Millionen verkauft werden. Maria Lassnigs „Zwei Maler, drei Leinwände“ wurde für 150.000 Pfund veräußert. Für die österreichische Künstlerin ist das ein neuer Rekord. Auf ungeahntes Interesse stieß Anthony Gormleys Werk „ „Aggregate“. Das Erstgebot lag bei 100.000 Pfund. Der Hammer fiel bei 1.3 Millionen Pfund

Anfang September 2013 hat die Familie Essl 60 Prozent ihrer Sammlung an den Industriellen Hans Peter Haselsteiner verkauft. Damit tilgte sie mehr als 100 Millionen Euro Schulden. Mit dem Verkauf von 40 weiteren Werken wird zum einen der Schuldenberg des Baumarktriesen weiter geschmälert und zum anderen eine der wohl bedeutendsten Privatsammlungen zeitgenössischer Kunst mit rund 7000 Werken für die nächsten Jahre gesichert.

Auch wenn sich Karlheinz Essl nach der Auktion erleichtert äußerte, wird er die Versteigerung von einigen Werken seiner Sammlung wohl mit einem weinenden und einem lachenden Auge verfolgt haben. Mit seinem Sohn saß er im Publikum.

PS: Wie sich die anderen Werke Gerhard Richters in diesem Herbst verkaufen lassen, kann man schon morgen verfolgen. So werden sechs weitere Werke des Kölner Künstlers bei Christie’s veräußert. Darunter befinden abstrakte sowie gegenständliche Arbeiten.

Quelle: http://gra.hypotheses.org/1395

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Barbaren (V): In allen Himmelsrichtungen

Vor allem in der chinesischen Antike wurden die nicht-chinesischen Ethnien (“Barbaren”) auch nach den vier Himmelsrichtungen eingeteilt (die “fünfte” Himmelsrichtung – die Mitte – war ja für die Chinesen selbst reserviert).

Mit dem Osten verband man die yi 夷, mit dem Süden assoziierte man die man 蠻, mit dem Westen die rong 戎 und mit dem Norden die di 狄.[1] Während die rong und die di bald aus dem Bewusstsein und damit auch aus den Quellen verschwunden waren, machten die Begriffe man 蠻 und yi 夷 in späterer Zeit eine erstaunliche Karriere.

Nachdem die Mongolen China erobert hatten, teilten sie während ihrer Herrschaft (Yuan-Dynastie 1271-1368) die Bevölkerung in vier Gruppen ein. Nach der aus Inner- und Westasien stammenden Gruppe und den bereits in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts unter mongolische Herrschaft gekommenen Nordchinesen wurden die Südchinesen, die erst mit dem Ende der Südlichen Song-Dynastie (1127-1279) unter die Kontrolle der Eroberer gekommen waren, offiziell als nanren 南人 (“Leute aus dem Süden”) bezeichnet. Meistens wurde diese Gruppe jedoch mit dem abwerteten Begriff manzi 蠻子 (der von den Chinesen selbst für alle indigenen Ethnien des Südens verwendet worden war) bezeichnet. [2] – Auf diesen Begriff gehen auch die Bezeichnungen “Manzi” und “Mangi” bei Marco Polo zurück.[3]

Der Begriff yi 夷 – ursprünglich für die östlichen “Barbaren” gebraucht, hatte spätestens zur Zeit der Ming-Dynastie (1368-1644) eine Umdeutung erfahren – als yibing 夷兵 (“fremde Soldaten”) waren Mongolen, Uiguren und Angehörige anderer innerasiatischer Ethnien bezeichnet worden, die im Norden und Nordwesten des Chinesischen Reiches rekrutiert worden waren, um zeitweilig in der chinesischen Armee Dienst zu tun.[4] Andererseits wurden während der Ming-Zeit auch die Japaner mit dem Begriff dongyi 東夷 (also “Ostbarbaren”) belegt.[5] Der Begriff spielte in den chinesisch-westlichen Beziehungen dann auch zur Zeit der Opiumkriege (1839-1860) eine Rolle. Vom für die chinesische Seite vertraglich festgelegten Verbot, den Begriff yi 夷 weiterhin auf die Europäer (und Amerikaner) anzuwenden, bis zu dessen endgültigen Verschwinden sollte es allerdings noch einige Jahre dauern …

Die ersten vier Teile der Serie:
Barbaren (I): Die “Haarigen”
Barbaren (II): Roh oder gekocht?
Barbaren (III): Großnasen/Langnasen
Barbaren (IV): “Fremde Teufel”

  1. Vgl. dazu den kurzen Überblick bei Endymion Wilkinson: Chinese History. A New Manual (Cambridge MA, Third rev. printing, 2013) 352 f.
  2. Charles O. Hucker: A Dictionary of Official Titles in Imperial China (Stanford 1985) 327 (no. 3922 und ebd., 339 (no. 4099).
  3. Zu den Berichten Marco Polos vgl. zuletzt Hans Ulrich Vogel: Marco Polo was in China. New evidence from currencies, salts and revenues (Monies, markets, and finance in East Asia, 1600-1900; Leiden 2012).
  4. Vgl. Hucker: Dictionary of Official Titles, S. 268 (Nr. 2986).
  5. Vgl. dazu Wilkinson: New Manual, 352. Zur ursprünglichen Anwendung des Begriffs dongyi vgl. Fang Weigui: “Yi” 夷, “Yang” 洋, “Xi” 西 und “Wai” 外. Zum wort- und begriffsgeschichtlichen Wandel des Chinesischen im 19. Jahrhundert.” In: Orientierungen 1/2000, S. 16,

Quelle: http://wenhua.hypotheses.org/1440

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#wünschdigiwas. Brainstorming für weitere Aktivitäten der Arbeitsgruppe Digitale Geschichtswissenschaft

dgw-postitZu den vorrangigen Zielen der Arbeitsgruppe Digitale Geschichtswissenschaft nach ihrer Gründung auf dem Historikertag in Mainz 2012 gehörte, sich als Plattform für Aktivitäten im Bereich der digitalen historischen Forschung, Edition und Archivierung zu etablieren und auf diesem Wege geschichtswissenschaftlichen Projekten im Bereich der Digital Humanities höhere Sichtbarkeit zu verschaffen und Projekte und Projekttreibende stärker zu vernetzen.

Mit Blick auf die Arbeit der letzten zwei Jahre sind wichtige Ziele eingelöst worden: Mit insgesamt fünf Sektionen war die Arbeitsgruppe auf dem Historikertag vertreten und hatte so die Gelegenheit Akzente innerhalb des VHD zu setzen. In Anschluss an die Eröffnungsveranstaltung, die Akteure aus Politik und Wissenschaft zusammenbrachte, hat die AG, so der Bericht des Komitees auf der Mitgliederversammlung, vor allem die Vernetzung nach außen gestärkt, beispielsweise durch die Konstitutierung zweier historischer Facharbeitsgruppen innerhalb von CLARIN-D oder auch durch Austausch mit Fachcommunities wie der Mommsen-Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund wurde sowohl zwischen den Sektionen als auch während der Mitgliederversammlung der Wunsch geäußert, künftig auch die Vernetzung innerhalb der Arbeitsgruppe zu stärken, um als solche inhaltlich arbeiten und Verbindungen zwischen einzelnen Projekten und Arbeitsbereichen herstellen zu können.

Mit Hinblick auf diesen Wunsch ist das neue Komitee angesprochen, dem auf der Mitgliederversammlung weitere konkrete Ideen und Fragestellungen nahegelegt wurden (so etwa die Einrichtung einer Kategorie “Fragen” oder “Projektaustausch” auf dem Blog oder die Auseinandersetzung mit Urheberrechten in digitalen Projekten). Daneben ist jedoch auch die Community gefragt, bei der Ausgestaltung der Arbeitsgruppe aktiv mitzuwirken, da sich die Arbeit des Komitees vor allem an dem Bedarf der Mitglieder ausrichten sollte: Wie stellen sich die Mitglieder die zukünftige Arbeit (in) der AG vor? Welche Themen sollten perspektivisch in den Vordergrund gestellt werden? Welche konkreten Workshops oder Tagungen finden die Mitglieder für ihre eigene Arbeit hilfreich?

Aus diesem Grund rufen wir zu einem gemeinsamen Brainstorming hier & unter dem Hashtag #wünschdigiwas und hoffen auf spannende konkrete Ideen für die nächste Arbeitsphase der Arbeitsgruppe.

Quelle: http://digigw.hypotheses.org/1093

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SdK 80: Michaela Maria Hintermayr über Suizid

SdK80Suizidales Verhalten gilt in vielen Gesellschaften seit Jahrhunderten als moralisch verwerflich und wurde lange Zeit kriminalisiert. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wurde Suizid als Phänomen zunehmend mit Hilfe der Kategorie Geschlecht erklärt und rückte in den Fokus der neu entstandenen Soziologie. Das spiegelt sich dementsprechend in statistischen Analysen wider: Die Mehrzahl der Suizide werden von Männern begangen, die sich mit “harten” Methoden, wie Schusswaffen, das Leben nehmen. Die “weichen” Methoden, wie Gift, hingegen werden von Frauen bevorzugt. Die Historikerin Michaela Hintermayer untersucht den Zusammenhang zwischen suizidalem Verhalten und Geschlechtlichkeit. Sie erklärt, warum Suizid von Frauen häufig pathologisiert wurde, in dem körperliche Erklärungen für ihr Verhalten herangezogen wurden, während der Suizid von Männern als ernsthaftes, gesellschaftliches Krisensymptom interpretiert wurde.

LinklisteMichaela Maria Hintermayr, SdK 3: Evelyne Luef über Suizid in der Frühen Neuzeit, Ego-dokument (Wikipedia), Frauenbewegung (Wikipedia), Vergiften oder Erschießen? Gastbeitrag ORF-Science, Prozess wegen tödlicher Folge einer Tiefschlaftherapie, Katharina Walgenbach, Biopolitik (Wikipedia)



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Quelle: https://stimmen.univie.ac.at/podcast/sdk80

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SdK 80: Michaela Maria Hintermayr über Suizid

Suizidales Verhalten gilt in vielen Gesellschaften seit Jahrhunderten als moralisch verwerflich und wurde lange Zeit kriminalisiert. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wurde Suizid als Phänomen zunehmend mit Hilfe der Kategorie Geschlecht erklärt und rückte in den Fokus der neu entstandenen Soziologie. Das spiegelt sich dementsprechend in statistischen Analysen wider: Die Mehrzahl der Suizide werden von Männern begangen, die sich mit "harten" Methoden, wie Schusswaffen, das Leben nehmen. Die "weichen" Methoden, wie Gift, hingegen werden von Frauen bevorzugt. Die Historikerin Michaela Hintermayer untersucht den Zusammenhang zwischen suizidalem Verhalten und Geschlechtlichkeit. Sie erklärt, warum Suizid von Frauen häufig pathologisiert wurde, in dem körperliche Erklärungen für ihr Verhalten herangezogen wurden, während der Suizid von Männern als ernsthaftes, gesellschaftliches Krisensymptom interpretiert wurde.

Quelle: http://stimmen.univie.ac.at/podcast/sdk80

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“Burchardt, Hans-Jürgen u.a. (Hrsg.) (2012): Sozialpolitik in globaler Perspektive” – Eine Rezension von Katharina Hartl

Die Beschäftigung mit Sozialpolitik und Wohlfahrt in Ländern des globalen Südens ist ein relativ junges Forschungsfeld. In unseren Breiten setzte sie erst Ende der 1980er Jahre, mit dem Zusammenbruch des Ostblocks und der neoliberalen Wende, ein. Bis heute orientiert sie sich … Continue reading

Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/7393

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Brandenburgische Creditive (1630)

Der Erfolg einer Gesandtschaft hängt nicht zuletzt von einer guten Vorbereitung ab – dies war bereits in der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs so. Natürlich stand eine inhaltliche Vorbereitung an erster Stelle. Man gab einer Delegation möglichst genaue Instruktionen auf den Weg, damit sie wußte, in welchem Rahmen sie Verhandlungsspielraum besaß. Nicht minder wichtig war es aber auch, sich bereits im Vorfeld über das personelle Umfeld Gedanken zu machen, das die Gesandten antreffen würden. Auf wen würden sie treffen, mit wem sollten sie Kontakt suchen, wem würden sie vertrauen können? Wie diese Fragen zu beantworten waren, läßt sich beispielhaft an den „Creditiven“ ablesen, die der Kurfürst von Brandenburg für seine Abgesandten auf den Kurfürstentag von Regensburg im Jahr 1630 ausstellte.

Mit einem Creditiv ist zunächst eine Beglaubigung gemeint, mit der ein Fürst bestätigte, daß der Gesandte, der dieses Schriftstück vorlegen würde, auch tatsächlich mandatiert war. Entsprechend enthielten die brandenburgischen Creditive für Regensburg allesamt die Bitte an den Adressaten, daß sie dem Anbringen der namentlich vorgestellten Gesandten, „gleich es von vns selbst geschehe, volkommen glauben beymessen“. Letztlich waren diese Dokumente also entscheidend für die Akkreditierung der Abgeordneten.

Genau diese Funktion – und nicht mehr – erfüllten die Creditive, die an den Kaiser und die katholischen Kurfürsten ausgestellt waren (Natürlich wurde für jeden Kurfürsten ein eigenes Schreiben ausgestellt; ein pauschales Creditiv für alle wäre der Dignität dieser Reichsfürsten nicht angemessen gewesen.). Den Unterscheid zeigt das Creditiv an Kursachsen. Hier wurde über den üblichen formalen Rahmen hinausgehend festgehalten, daß die brandenburgischen Gesandten Befehl hätten, „nicht allein ein vnnd das andere anzubringen, Sondern auch in allen was vorgehet vertrawliche communication zupflegen“. Das Signal war eindeutig: Brandenburg wollte sich enger mit Kursachsen abstimmen und war entsprechend im Rahmen der Verhandlungen zu einem intensiven Informationsaustausch bereit.

Dieses Ansinnen fiel nicht vom Himmel, hatten doch beide Reichsfürsten kurz vor dem Regensburger Kollegialtag in einer eigenen Konferenz in Annaberg einer solchen Kooperation den Weg ebnen wollen. Das Creditiv knüpfte nun an diese Beratungen an und signalisierte den brandenburgischen Willen, diese neue Politik tatsächlich umzusetzen. Auch Kursachsen hatte seine Deputierten entsprechend instruiert, und wie sich im Verlauf der Regensburger Beratungen zeigen sollte, haben sich die Gesandtschaften beider Kurfürsten tatsächlich ausgetauscht (Überliefert sind diese Materialien in GStA PK, I. HA Rep. 12, Nr. 147).

Quelle: http://dkblog.hypotheses.org/560

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