24. Europa oder die Neue Unbehaustheit

faltenWann leben wir eigentlich?

Wenn die kritisch-zweifelnde Systemfrage aufgeworfen wird, dann geschieht das zumeist in räumlicher Hinsicht: „Ja, wo leben wir denn eigentlich?“ – das ist so ein Satz, der Empörungen der unterschiedlichsten Art zum Ausdruck zu bringen vermag. Interessanterweise gibt es die zeitliche Variante dieses Satzes meines Wissens nicht: „Ja, wann leben wir denn eigentlich?“ Eine solche Frage erscheint auch nicht sonderlich sinnvoll. Ein kurzer Blick auf Datum und Uhrzeit verschafft Klarheit: Wir leben jetzt. Eine Existenz in anderen Zeiten mag zwar wünschenswert sein, erweist sich aber hartnäckig als unmöglich.

Die Ergebnisse der Wahlen zum Europäischen Parlament hatten ein eindeutiges Datum. Sie wurden am 25. Mai 2014 abgeschlossen und gehören inzwischen der (allerjüngsten) Vergangenheit an. Das Ergebnis dieser Wahlen lässt aber nicht nur die Frage berechtigt erscheinen, wo wir denn hier leben, sondern auch wann das europäische Wahlvolk eigentlich leben möchte.

Abgesehen von der Wahlbeteiligung, die immer wieder Anlass zur Sorge bereitet, ist es das Abschneiden der Parteien an den politischen Rändern, das regelmäßig für Aufmerksamkeit sorgt. In diesem Jahr gab es für genau diese Sorge wohl so viel Anlass wie selten zuvor. Der Front National wurde in Frankreich zur stärksten Partei, die FPÖ fährt in Österreich Traumergebnisse ein, die UKIP proletet sich zu kontinentaler Aufmerksamkeit, auch aus in Dänemark, Finnland oder den Niederlanden ziehen rechtsgerichtete Parteien in das neue Parlament ein. Sie richten sich, ebenso wie die deutsche AfD, mehr oder minder deutlich gegen die Europäische Union – und lassen sich trotzdem in deren Vertretung wählen. Was in jedem Kleingärtnerverein aufgrund offensichtlicher Absurdität unmöglich wäre, nämlich einen bekennenden Feind des Kleingartenwesens in den Vorstand zu befördern, geht auf der europäischen Ebene problemlos. Das Paradox der Demokratie wird hier auf die Spitze getrieben, dass sich nämlich Menschen und Parteien in ein Parlament wählen lassen, um dort das Ziel zu verfolgen, genau dieses Parlament zum Verschwinden zu bringen – und somit an ihrer eigenen Abschaffung zu arbeiten.

Die Suche nach den Ursachen dieses nicht ganz überraschenden, weil bereits prognostizierten Ergebnisses wurde unmittelbar nach der Wahl hektisch aufgenommen, hielt ungefähr eine Woche an (immerhin so lange war diese Nachricht eine „Nachricht“), um dann nicht abgeschlossen, sondern abgebrochen zu werden. Bis zum nächsten Mal.

Was könnte der Grund dafür sein, dass Populisten unterschiedlicher Couleur mit einem Mal so erfolgreich sind? Es könnte natürlich an ihnen selbst liegen: Geschickte Despoten, die mit steilen, populistischen Thesen, mit dem Angebot einfacher Rezepte für komplexe Phänomene, mit einer gelungenen PR-Maschinerie und nicht zuletzt mit dem einen oder anderen exotischen Aperçu (Wilders‘ Frisur, die Pub-Auftritte von Farage, die Erbmonarchie der Familie Le Pen, die musikalischen Ausfälle von HC Strache) das leicht verführbare Wahlvolk um den Finger wickeln. Oder ist es doch der nicht auszurottende Mythos vom EU-Bürokratiemonster, mit dem man kleine Kinder erschrecken und die wahlberechtigte Bevölkerung Europas auf die Palme treiben kann? (Denn bekanntermaßen ist keine Bürokratie auch keine Lösung [1].) Oder liegt es vielleicht an der sogenannten „Bürgerferne“ der Europäischen Union, also an dem Umstand, dass die europäischen Einrichtungen noch unnahbarer wirken als andere Institutionen politischer Entscheidungsgewalt, weil sie nicht nur räumlich weit weg erscheinen, sondern auch aufgrund geringerer medialer Präsenz undurchschaubar anmuten? Und wenn die EU so „weit weg“ ist – so eine weitere mögliche Erklärung für dieses Ergebnis –, muss man die Wahlen zum Parlament (das ja nun tatsächlich verhältnismäßig wenige Kompetenzen besitzt) auch nicht sonderlich ernst nehmen, muss sie nicht durch eine hohe Wahlbeteiligung adeln und kann auch mal eine Partei am Rande des politischen Spektrums wählen, der man bei nationalen Wahlen die Stimme verweigern würde. All diese Faktoren werden eine Rolle spielen, erklären aber noch nicht hinreichend, warum europafeindliche Parteien mit dem Argument punkten konnten, das Europa eine Bedrohung sei, warum man die eigene Bevölkerung vor Europa schützen müsse, warum man die Union am besten gleich zerschlagen solle.

Ein temporaler Faltenwurf

Ich habe nicht den Eindruck, dass diejenigen, die sich bei diesen Wahlen gegen Europa ausgesprochen haben, in ein einfaches Rechts-Links-Schema eingeordnet werden können. Es sind nicht nur rechtsgerichtete Gruppierungen, sondern ebenso linke Parteien, die Europa massiv kritisch gegenüberstehen, wie die italienischen Cinque Stelle, die griechische Syriza oder die tschechischen Kommunisten. Europa hat also keinen Rechtsruck erlebt, wie man vielfach lesen konnte, sondern eher einen temporalen Faltenwurf. Denn die Europäische Union scheint ja nicht deswegen bedrohlich zu wirken, weil es „zu links“ oder „zu rechts“ wäre (wüsste denn irgendjemand aus dem Stegreif zu sagen, wie die politischen Gewichte im europäischen Parlament oder in der wesentlich einflussreicheren Kommission verteilt sind?). Europa wirkt bedrohlich – weil es Europa ist! Und hier haben wir es nicht nur bei den EU-Institutionen, sondern bei all den Ideen, Konzepten und Vorstellungen, die man mit „Europa“ verbinden kann, mit einer komplexen Gemengelage zu tun, die sich nicht mehr auf einfache Schemata herunterbrechen lässt.

Bei der Wahl zum europäischen Parlament sind also weniger eindeutige politische Lager gegeneinander angetreten als vielmehr unterschiedliche Verzeitungen aufeinandergeprallt. Es spricht einiges dafür, dass nicht zuletzt diejenigen mit dem europäischen Projekt unzufrieden sind, die sich als Verlierer von 1989 und seinen Folgen sehen. Die Dualismen, die das 20. Jahrhundert geprägt haben [2], waren zwar bereits zeitgenössisch zu simpel gestrickt, organisierten aber Wirklichkeit auf eine übersichtliche Weise. Nach 1989 und damit nach dem Versagen vereinfachter Geschichtsnarrative, nach dem Ende der Kalten-Kriegs-Rhetorik, nach dem Wiederauftreten vermeintlicher überkommener Nationalismen (nicht nur im ehemaligen Jugoslawien) sowie nach der wieder erstarkenden neuen Deutungsmacht von Religionen (die doch vermeintlich einer säkularisierten Welt nichts mehr zu suchen hatten) war die Situation, gelinde gesagt, unübersichtlich geworden. [3]

Die Gestrandeten im postideologischen Zeitalter konnten sich nun auf die neuen Offenheiten und Herausforderungen einlassen – oder sich von den Unübersichtlichkeiten und Bedrohungen überfordert fühlen. „Europa“ steht stellvertretend für die Reorganisation der politischen Welt, da es als neue supranationale Einrichtung die bis dahin gültigen Organisationsrahmen sprengt, ohne sie wirklich ersetzen zu können. An die Stelle der erwünschten nationalen Einheit rückt eine europäische Mannigfaltigkeit, die verunsichern kann. Gegen Europa zu stimmen, heißt daher nicht zuletzt, gegen diese als überkomplex wahrgenommene Vielfalt zu votieren. Allerdings wäre es irreführend, dieses Phänomen mit dem Stichwort der Ungleichzeitigkeit fassen zu wollen, so als hätten diejenigen, die sich gegen Europa richten, ein „falsches“ Bewusstsein, das es zu ändern gelte. Vielmehr haben wir es hier mit dem sehr üblichen Phänomen der Pluritemporalität zu tun, also mit einer Vielzeitigkeit, die es Menschen und Kollektiven ermöglicht, Früheres, Späteres und Gleichzeitiges auf unterschiedliche Art und Weise miteinander zu verknüpfen und vor allem auch mit diversen Bedeutungen zu versehen. [4] Insofern muss sich „Europa“ und müssen wir alle uns nicht nur der Frage stellen, wo wir denn eigentlich leben, sondern auch damit beschäftigen, wann wir denn eigentlich leben wollen.

 

[1] Robert Menasse: Der europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas oder Warum die geschenkte Demokratie einer erkämpften weichen muss, Wien 2012; Hans Magnus Enzensberger: Sanftes Monster Brüssel oder Die Entmündigung Europas, Berlin 2011.

[2] Alain Badiou: Das Jahrhundert, 2. Aufl. Zürich 2010.

[3] Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2002.

[4] Achim Landwehr: Von der ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘, in: Historische Zeitschrift 295 (2012) 1-34


Einsortiert unter:Geschichtskultur, Geschichtspolitik Tagged: 1989, Europa, Europawahl, Gleichzeitigkeit, Pluritemporalität

Quelle: http://achimlandwehr.wordpress.com/2014/06/11/24-europa-oder-die-neue-unbehaustheit/

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5. Berliner Gespräche zur Digitalen Kunstgeschichte: Bilderflut – Bilderschatz

via Christina Danick und Georg Schelbert:

Der nächste Termin der Berliner Gespräche zur Digitalen Kunstgeschichte ist einem zentralen kunst- und bildgeschichtlichen Thema gewidmet – dem Umgang mit der immer schneller steigenden Menge an digitalen Bildern.

Berliner Gespräche zur Digitalen Kunstgeschichte V, ‘Bilderflut – Bilderschatz’

Termin: 7. Juli 2014, 11:00-16:30 Uhr
Ort: Humboldt-Universität zu Berlin, Grimm-Zentrum, Geschwister-Scholl-Str. 1-3, Auditorium

Jede Sekunde werden Hunderttausende von Bildern produziert und über das Netz zugänglich gemacht. Es sind Mengen verfügbar, die mit traditioneller Katalogisierung nicht mehr bewältigt werden können. Diese Flut ist aber auch ein Schatz. Sowohl als Dokumentation unserer gestalteten Umwelt, als auch als selbstständige Werke sind diese Bilder für die kulturhistorischen Disziplinen gleichzeitig Medium und Gegenstand. Aber anders als Texte entziehen sich Bilder Ordnungsprinzipien und lassen sich nicht ohne weiteres nach „Sinn“ durchsuchen. Daher stellen sich Fragen nach der Handhabung der Bilder und ihrer Inhalte immer dringender. In durchaus pragmatischer Perspektive möchte die Veranstaltung das Spektrum der technischen, fachlich-organisatorischen und kultur- und bildgeschichtlichen Aspekten des Themas in den Blick nehmen.
Die abschließende Diskussionsrunde wird, wie immer, den intensiven Austausch mit allen Anwesenden bieten. Wir hoffen auf rege Teilnahme auch aus unserem Kreis und freuen uns auf interessante Diskussionsbeiträge.

Das Programm findet sich unter http://www.kunstgeschichte.hu-berlin.de/veranstaltungen/bgdk5/.
Die Veranstaltung ist öffentlich und kostenlos. Für die Planung der Veranstaltung bitten wir um eine kurze formlose Anmeldung unter ikb.bgdk@hu-berlin.de.

Programmflyer zum Download (pdf)
Plakat zum Download (pdf)

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=3622

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Facebook und Co. – Potentiale sozialer Netzwerke für die archivische Öffentlichkeitsarbeit am Beispiel des Stadtarchivs Linz am Rhein

Facebook & Co. – Potentiale sozialer Netzwerke
für die Öffentlichkeitsarbeit von Ein-Personen-Archiven

Präsentation von Andrea Rönz M.A. im Seminar „Bloggen – Liken – Taggen“ – Einführung in die Möglichkeiten des Web 2.0 für die archivische Arbeit
Köln, 5.6.2014

Das Stadtarchiv Linz am Rhein wird als kommunales Archiv einer kleinen Stadt nur an einem Tag pro Woche und von nur einer Person betreut. Um dennoch eine größtmögliche Benutzerfreundlichkeit – und natürlich auch Archivarsfreundlichkeit – zu gewähren, wurde 2005 eine eigene Internetseite aufgebaut, die hauptsächlich als Plattform für die Online-Datenbank gedacht war. Nahezu alle Findbücher des Archivs wurden digitalisiert und als Datenbank online gestellt. Die Nutzer können so schon von Zuhause aus in den Beständen recherchieren und gegebenenfalls auch Archivalien vorbestellen. Auch schriftliche und telefonische Anfragen können so natürlich sehr viel schneller beantwortet werden.

Da die Homepage bis auf den Textticker relativ statisch ist, habe ich Anfang 2011 den Schritt ins Web 2.0 gewählt und eine Seite auf Facebook eingerichtet. Hintergrund war, dass mir immer wieder aufgefallen ist, wie viele Menschen sich unter einem Archiv und dessen Aufgaben wenig oder nichts vorstellen können. Gleichzeitig steht das Stadtarchiv Linz natürlich wie viele Archive in Zeiten angespannter Haushaltslagen auch unter einem gewissen Rechtfertigungsdruck. Diesem „unwissenden“ Personenkreis soll ein Eindruck von der Bedeutung eines/ihres Stadtarchivs vermittelt werden, außerdem das Archiv über Linz hinaus bekannt gemacht werden und Kontakt zu anderen Archivaren, Archiven und kulturellen Institutionen aufgebaut werden.

Der Inhalt der Seite besteht zum einen aus Fotos bzw. Fotoalben, und da die Erfahrung aus der täglichen Archivarbeit zeigt, dass gerade Laien besonders auf Bildmaterial fixiert sind und dementsprechend auch das Feedback auf bebilderte Pinnwandeinträge in der Regel deutlich höher ist, wird auch den meisten Beiträgen mindestens ein Foto beigefügt. Beiträge beinhalten beispielsweise Eindrücke aus dem Archivalltag wie die Bearbeitung von Anfragen, das Vorbereiten von Ausstellungen oder die Arbeit an einer Publikation. Ein Jahr lang war ein weiterer fester Bestandteil der Pinnwandeinträge die monatliche Rubrik „Daten aus der Linzer Stadtgeschichte“, die ein historisches Ereignis als Text mit Bild(ern) in Form einer Notiz vorstellt.

Neben eigenen Beiträgen werden außerdem regelmäßig Pinnwandeinträge verwandter Facebook-Seiten geteilt – hier ein Beispiel von 2012 -, aber auch Porträts von Linzer Persönlichkeiten, Veranstaltungen aus dem Bereich Geschichte und Kultur, Pressemitteilungen oder Fernsehbeiträge. Des Weiteren werden thematisch ähnliche Facebook-Seiten vorgestellt oder auch andere Online-Portale. Über die Chronik – Leiste rechts – lassen sich sehr schön die Geschichte des Archivs darstellen und verschiedene und/oder besondere Archivalien zeigen. Die Liste der „Meilensteine“ wird  nach und nach ergänzt. Hier ein Beispiel, wie beliebt Fotos und besonders natürlich alte Aufnahmen sind. Für Veranstaltungen wie z.B. Ausstellungen lässt sich mittels eines Extra-Tools sehr gut Werbung machen. Facebook stellt außerdem ausführliche Statistiken für seine Fan-Seiten zur Verfügung, zum Beispiel die Verteilung der Nutzer nach Geschlecht, Alter und Herkunftsort, oder etwa die Reichweite der Beiträge.

Im Dezember wurde dann die Web 2.0 Präsenz erweitert um eine Google+-Seite. Sehr unpraktisch dabei der umständlich Link, Vanity-URLs führt Google aus Sicherheitsgründen nur sehr zögerlich ein. Es gibt die Möglichkeit, die Seite zu „plussen“ und/oder in seine „Kreise“ aufzunehmen. Ansonsten ist die Google+-Seite ähnlich aufgebaut wie die früheren Facebook-Seiten, also Beiträge chronologisch unter- bzw. nebeneinander, allerdings ohne die Chronik. Die Inhalte sind mit denen der Facebook-Seite weitgehend identisch, und auch die „Übersicht“ ist ihrem Äquvalent, der „Startseite“ von Facebook, sehr ähnlich.

Ebenfalls seit Dezember 2011 twittert das Stadtarchiv Linz auch. Neben eigenen Beiträgen werden auch Beiträge anderer retweetet / beantwortet / zitiert. Des Weiteren wurde ein YouTube-Kanal eingerichtet, der nach und nach mit Filmen aus dem mittlerweile größtenteils digitalisierten Filmarchiv bestückt wird. Hier findet sich auch ein schönes Beispiel für Crowdsourcing, denn ein zuvor undatierter Film konnte mithilfe eines Nutzers bis aufs Jahr genau bestimmt werden.

Zur Präsentation von Bildbeständen bieten sich Plattformen wie flickr oder Pinterest an, die das Stadtarchiv Linz allerdings nicht nutzt. Hier als Beispiel der Auftritt des Stadtarchivs Speyer, das flickr u.a. auch für Crowdsourcing nutzt, denn mithilfe von Nutzern sollen und wurden auch schon bislang nicht identifizierte Fotos eingeordnet.

Last but not least bloggt das Stadtarchiv Linz seit Kurzem auch im wissenschaftlichen Blogportal hypotheses.org. Das Blog dient aktuell vor allem als Online-Katalog für unsere Ausstellung zum Ersten Weltkrieg und soll sukzessive auch mit Beiträgen zur Stadtgeschichte und weiteren Inhalten, auch zu Archiven & Web 2.0, gefüllt werden.

Wie man der letzten Folie entnehmen kann, ist das Zwischen-Fazit des Web 2.0-Experiments des Stadtarchivs Linz am Rhein absolut positiv. Das Archiv hat davon in jeder Hinsicht enorm profitiert. Der Zeitaufwand ist vergleichsweise gering und beläuft sich auf etwa drei bis vier Stunden pro Woche. Ich kann diesen Schritt – auch „Mehr-Personen-Archiven“ – nur empfehlen.

Quelle: http://archivlinz.hypotheses.org/216

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Der inszenierte Alltag

Foto: Martin Schmidt, Traktoristin, um 1965 Erschien 1970 als Titelfoto der Zeitschrift „Lernen und Handeln“, dem Funktionärsorgan des Demokratischen Frauenbund Deutschlands (DFD) © Stiftung Deutsches Historisches Museum
Foto: Martin Schmidt, Traktoristin, um 1965 Erschien 1970 als Titelfoto der Zeitschrift „Lernen und Handeln“, dem Funktionärsorgan des Demokratischen Frauenbund Deutschlands (DFD) © Stiftung Deutsches Historisches Museum

Foto: Martin Schmidt, Traktoristin, um 1965
Erschien 1970 als Titelfoto der Zeitschrift „Lernen und Handeln“, dem Funktionärsorgan des Demokratischen Frauenbund Deutschlands (DFD)
© Stiftung Deutsches Historisches Museum

Eine lächelnde, junge Traktoristin, das Lenkrad fest im Griff, den Blick entschlossen nach vorne gerichtet, begegnet uns als Postermotiv seit Ende März häufig in Berlin. Es ist weniger die Landarbeit selbst als ihre Inszenierung, die unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht: Die extreme Untersicht der Aufnahme lässt die Figur heroisch wirken, der enge Bildausschnitt verstärkt diese Wirkung. Neben der dramatischen Komposition sind es die Farbkontraste der Fotografie, die uns als Betrachter in den Bann ziehen. Die Diagonale aus roter Lenkerstange, rot-weiß gestreiftem Arbeitshemd und rot gepunktetem Kopftuch setzt sich vor dem gleißend blauen Himmel ab und verleiht der Fotografie eine besondere Ästhetik. Dieses Motiv bewirbt die Ausstellung zur Auftragsfotografie in der DDR, die unter dem Titel „Farbe für die Republik – Auftragsfotografie vom Leben in der DDR“ bis Ende August im Pei-Bau des Deutschen Historischen Museums zu sehen ist.

 

Mehr unter Zeitgeschichte-online:

Sabine Pannen, Der inszenierte Alltag. Die Ausstellung „Farbe für die Republik“ und der schwierige Umgang mit Auftragsfotografie der DDR, in: Zeitgeschichte-online, Mai 2014, URL: http://www.zeitgeschichte-online.de/geschichtskultur/der-inszenierte-alltag

 

 

Quelle: http://www.visual-history.de/2014/06/10/der-inszenierte-alltag/

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Wo ist Jan von Werth?

Im Jahr 1645 waren die Schlachten bei Mergentheim (5.5.1645) und bei Alerheim (3.8.1645) die entscheidenden Waffengänge der kurbayerischen Truppen. Bei Mergentheim gelang Feldmarschall Mercy ein wichtiger Sieg über die Franzosen, doch die Kämpfe drei Monate später endeten unglücklich. Die Niederlage bei Alerheim wog zudem durch den Schlachtentod Mercys besonders schwer, denn er hatte sich in den Jahren zuvor als der eigentliche militärische Lenker und strategische Kopf des bayerischen Heeres erwiesen. Gerade bei Mercys letzter Schlacht war auch ein anderer Kommandeur beteiligt, der sich hier besonders hervortat: Jan von Werth. Seine Kavallerieattacke auf dem linken Flügel überwältigte die dort stehenden französischen Kräfte, so daß der Sieg in greifbarer Nähe schien. Doch Werths Erfolg reichte nicht, da sich andernorts die feindlichen Truppen durchsetzen konnten; Alerheim wurde ein Sieg der französischen Waffen, wenn auch ein mit hohen Verlusten erkaufter.

Wer nun den aktuellen Band der Korrespondenzen Maximilians von Bayern mit seinen Gesandten Haslang und Krebs in Münster in die Hand nimmt und zu diesen Ereignissen weitere Informationen erwartet (Die diplomatische Korrespondenz Kurbayerns zum Westfälischen Friedenskongreß, Bd. 2: Die diplomatische Korrespondenz Kurfürst Maximilians I. von Bayern mit seinen Gesandten in Münster und Osnabrück, Teilband 2: August – November 1645, bearb. v. Gabriele Greindl und Gerhard Immler (Quellen zur Neueren Geschichte Bayerns, 2/2), München 2013), muß feststellen, daß diese militärischen Ereignisse in den Briefen des Kurfürsten und seiner Gesandten nicht wirklich ausführlich zur Sprache kommen. Vor allem fällt aber auf, daß die Kommandeure der bayerischen Truppen in den Berichten kaum eine Rolle spielen. Selbst Mercy, den der Kurfürst wohl wirklich schätzte und dessen Tod er sehr bedauerte, findet kaum Erwähnung; nicht anders ergeht es Geleen, der Mercy im Amt des Feldmarschalls folgte. Und Jan von Werth, der bei Alerheim die französische Armee fast doch noch besiegt hätte? Er taucht in der gesamten Edition nicht auf.

Die Prominenz, die Werth in der heutigen Historiographie genießt, hat offenbar in damaliger Zeit keine Entsprechung gehabt. Man wird auch anerkennen müssen, daß er als General der Kavallerie zwar weit oben, aber eben nicht an der Spitze der kurbayerischen Militärhierarchie stand. Wenn schon nicht einmal der Feldmarschall thematisiert wurde, warum sollte der Kurfürst dann über Werth berichten? Vor allem aber wird deutlich, daß diese Korrespondenzen so stark von den Verhandlungsmaterien in Münster geprägt sind, daß die Militaria tatsächlich in den Hintergrund treten bzw.hier in die Anlagen verbannt sind: Der Bericht über die Schlacht bei Alerheim ist Beilage Nr. 5 (von insgesamt 11) zum Brief Maximilians vom 9. August.

Man muß in diesem Befund keineswegs ein Indiz für die (tatsächliche) Geringschätzung sehen, die Maximilian davon abgehalten hatte, Jan von Werth das Kommando über die bayerischen Truppen zu übertragen. Vielmehr zeigte sich Maximilian ganz auf das diplomatische Geschäft des Friedens fixiert; er wollte den Krieg beenden, das wird in diesen Korrespondenzen nur allzu deutlich. Deutlich wird aus historiographischer Perspektive aber auch, wie allzu leicht man geneigt ist, die Wertigkeit oder auch nur die Aufmerksamkeit, die die derzeitige Geschichtswissenschaft einzelnen Phänomenen und Persönlichkeiten entgegenbringt, auf die historischen Verhältnisse zu reprojizieren.

Quelle: http://dkblog.hypotheses.org/458

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Hans Albers: Ein Hamburger Jung’

„Auf der Reeperbahn nachts um halb eins, ob Du’n Mädel hast oder ob keins…“ Erst Mitte Mai erklang auf dem Hafengeburtstag erneut die Stimme Hans Albers’. Knapp siebzig Jahre nach dem Erfolgsfilm Große Freiheit Nr. 7 ist der selbsternannte Kapitän noch immer präsent in Sankt Pauli. Doch was genau verband Hans Albers und die Hansestadt – oder besser gefragt: Wie viel Hans Albers steckt in Hamburg?

Hans Philipp August Albers wird am 22.09.1891 in der Langen Reihe 71 in Hamburg-St. Georg als sechstes Kind der Familie Albers geboren. Sein Vater Philipp, genannt der „Schöne Wilhelm“ in Anlehnung an den damaligen Deutschen Kaiser, ist Schlachtermeister und führt enge Kontakte zur Theaterszene in Hamburg. Eugen Burg, erfolgreicher jüdischer Schauspieler, nennt er einen guten Freund.

Die Schule besucht Albers ohne großen Ehrgeiz, stattdessen beschäftigt er sich lieber mit anderen Dingen – wie dem Theater. Das Interesse am Schauspielern wächst, doch trotz der guten Kontakte des Vaters zum Theater, scheinen diese nur für sein persönliches Interesse wichtig zu sein: Albers sen. möchte seinen Sohn nicht auf der Bühne sehen, stattdessen sollte dieser eine Lehre als Kaufmann absolvieren. Widerwillig, und unter dem Druck des Vaters stehend, geht Hans Albers in die Lehre – nebenher nimmt er heimlich privaten Schauspielunterricht.

 

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Geburtshaus von Hans Albers in St. Georg: Frühe Beschäftigung mit dem Theater          / Foto: Nadine Kaspersinski

 

Die häufigen Besuche am Theater und die immer größer werdende Begeisterung des Sohnes am Schauspielern interessieren Philipp Albers wenig: Er schickt seinen Sohn nach Frankfurt am Main zu einer Seidenfirma. Hans sollte dort seine Ausbildung fortführen, weit weg von der Hamburger Theaterszene. Der junge Mann zeigt jedoch auch hier schon Charakterzüge, die ihm später von Kollegen und Bewunderern zugeschrieben werden: lebendig, perfektionistisch, ehrgeizig, offen und selbstbewusst. Sonst hätte er wohl nicht am Frankfurter Neuen Theater vorgesprochen.

Es folgen ab 1911 kleine Auftritte in leichten Stücken unter anderem in Güstrow, Schandau und Köln. Während sich die Kritiker über sein Können uneinig sind, beginnen die Zuschauer, den Mann mit den stechend blauen Augen, den blonden Haaren und der markanten Stimme zu lieben. Ab 1913 gastiert Albers am Altonaer und Thalia Theater in seiner Heimatstadt – ein Triumph über den Vater und eine kurze Rückkehr in die geliebte Hansestadt. 1914 zieht er freiwillig in den Krieg, kämpft als Infanterist an der Ost- und Westfront, bis er 1917 schwer verletzt wird. Nach seiner Genesung im Wiesbadener Lazarett steht er schon wieder auf der Bühne des Residenz-Theaters.

Berlin ruft, oder: Albers’ erste Erfolge

Berlin, die florierende Künstlerstadt, zieht ihn Ende der 1910er-Jahre in seinen Bann und Albers sieht nun die Zeit gekommen, dort hinzuziehen. Hamburg wird er fortan nur noch als Besucher betreten. Doch gerade weil er nicht (mehr) in der Hansestadt lebte und seine größten Erfolge außerhalb Hamburgs verbuchen konnte, wird Albers heutzutage als (Hamburger) Seemann erinnert. Um der beliebteste Volksschauspieler Deutschlands zu werden, ist es zunächst jedoch ein weiter Weg, wie Albers auch bewusst ist.

In den folgenden zehn Jahren, die später als die „Goldenen Zwanziger“, in denen Berlin zur Metropole aufstieg, bekannt werden, spielt Hans, „was das Zeug hält“ – für Erfolg und letztendlich auch ein halbwegs geregeltes Einkommen. Sein Auftreten eröffnet ihm zwar keinen Weg in die „feinen“ Theater mit hochkarätigen Rollen, doch das scheint ihm schier egal zu sein. Er tritt in Revuen auf, im Varieté, hat Engagements am Berliner Theater, im Komödienhaus und am Theater in der Königgrätzer Straße.

Seine gespielten Charaktere: Draufgänger, Frauenhelden, „echte“ Männer, Abenteurer, Unterhalter. Hans Albers stellt diese Rollen authentisch dar: er mischt nuscheligen Hamburger- und Berliner-Dialekt und absolviert waghalsige Stunts. Er ist der Unterhalter, der Spaßmacher und Jedermanns Freund. Was Albers spielt, hält er auch im echten Leben. Nach der Arbeit auf der Bühne feiert er mit seinen Kollegen, Freunden und Bekannten. Alkohol nimmt zu der Zeit schon einen bedeutenden Platz in seinem Leben ein, was sich bis zu seinem Tod nicht ändern sollte.

 

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Proben am Hebbeltheater Berlin: Albers bei der Generalprobe zu “Liliom” 1946        / Foto: Bundesarchiv Bild 183-V20141-0043

 

Albers’ steigende Popularität in Berlin zahlt sich aus: Er erhält auch kleine Rollen beim Film. Am Set kann er mit seiner Mimik und seinem authentischen Auftreten überzeugen. Die Rollenangebote für den Film unterscheiden sich nicht sehr von den Theaterangeboten, schließlich lieben ihn die Leute als Abenteurer oder Draufgänger.

In Berlin nahm Albers’ Leben einen Wendepunkt: Sein Ehrgeiz und immer rollen-typisches Auftreten schufen den Hans Albers, der begann, Erfolg zu haben. Tagsüber spielte er beim Film für eine Gage von circa 40 RM, abends belustigte er sein Publikum von der Bühne aus, nachts feierte er mit Fans und Kollegen. Hans Albers zeigte das, was er gut konnte: sich selbst. Nach rund zehn Jahren am (Berliner) Theater war Hans Albers ein Begriff in der Metropole geworden. Der beliebte Frauenheld und „Tausendsassa“ aus Revuen und Operetten erhielt bedeutende Rollen in Rivalen (1929) von Erwin Piscator, Liliom (1931) von Ferenc Molnár und spielte auch auf Wiener Bühnen (1930).

Der Film wird laut

Das Jahr 1929 markiert den Übergang vom Stumm- zum Tonfilm. Für viele Schauspieler bedeutete dies das Ende einer Ära: sie konnten im Tonfilm nicht mehr überzeugen und mussten Platz für andere „Stars“ machen. Nicht Hans Albers. Der inzwischen 38-jährige Mime wird für die ersten deutschen Tonfilme gebucht. Er spielt in Die Nacht gehört uns, Ein Tag Film (beide 1929) und Der blaue Engel (1930) mit. Allein im Jahr 1930 ist er bei drei Filmprojekten engagiert.

Albers wirkt zwischen 1917 und 1933 in über 100 Filmen mit1. Dort übernimmt er auch weiterhin die Rollen der Liebhaber, der Gauner und der Abenteurer. Der einstige Lokalschauspieler wird Volksschauspieler – jeder liebt und kennt ihn. 1932 ist er Deutschlands erfolgreichster Filmschauspieler mit einem Jahreseinkommen von 350 000 RM2. „Hans im Glück“ wird er genannt, denn der Erfolg scheint ihm zuzufliegen, ebenso wie Frauen und gute Laune.

 

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Hans Albers inszeniert sich und seine Sehnsucht nach dem Meer                                                                                / Foto: www.panfoto.de

 

Neben sprechenden Schauspielern rückt auch deren Gesang weiter in den Fokus der Tonfilme. Albers sammelt bei Revuen und im Varieté erste Gesangserfahrungen. Er hatte nie eine Gesangsausbildung erhalten und bringt sich die Texte und Melodien selbst bei. Lieder wie Hoppla, jetzt komm’ ich und Flieger, grüß mir die Sonne (beide 1932), die er in seinen Filmen singt, werden Hits und sind heute zum Teil noch „Gassenhauer“, wie Jürgen Rau es nennt3.

„Gott“ gegen die Nazis

Mitten in seinem aufsteigenden Erfolg in Deutschland gelangen die Nationalsozialisten im Jahre 1933 an die Macht. Der vielbeschäftigte Schauspieler bekommt davon nicht viel mit, oder besser ausgedrückt: Er will es gar nicht mitbekommen, obwohl ein Großteil seiner Künstlerkollegen und -freunde emigriert und Liliom abgesetzt wird.

Hans Albers wird heute der passive Widerstand angerechnet, der nicht sehr gering war – bis auf sein Mitwirken in einigen Propagandafilmen der Nazis. Ob es nun Widerstand oder persönlicher Nutzen war, lässt sich nur vermuten. Albers zeigte kein Interesse an Politik oder generell an anderen Personen, so lange sie nicht wichtig für ihn und seine Popularität waren. Der als egozentrisch geltende Schauspieler drehte sich nur um sich selbst. „So wahr ich der liebe Gott bin“, soll er sich schon in den Zwanziger Jahren betitelt haben – er, der großen Erfolg hat, und über allem stehe4. Inwieweit Albers nicht einfach nach Drehschluss seine Rolle des erfolgreichen „Hans im Glück“ spielte, ist unklar.

 

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Hans Albers im Portrait: „Dieser Albers ist ein Teufelskerl.“                                                                                   / Foto: www.panfoto.de

 

Die 1930er- und 1940er-Jahre werden hingegen „sein“ Jahrzehnt: Hans Albers avanciert mit Filmen wie Bomben auf Monte Carlo (1932) mit Heinz Rühmann, F. P. 1 antwortet nicht (1932), Flüchtlinge (1933), Peer Gynt (1934), Wasser für Cantioga (1939) und Münchhausen (1943) endgültig zum beliebtesten Schauspieler in Deutschland.

Die Zuschauer lieben ihn, Goebbels hasst ihn. Schon 1932 schrieb er: „Dieser Albers ist ein Teufelskerl.“5 Zusätzlich treibt Albers seine Gagen ins nahezu Unendliche: Für seine Filme erhält er Ende der 1930er-Jahre 120 000 RM pro Engagement; er ist damit der einzige deutsche Schauspieler im Dritten Reich, der je so eine hohe Bezahlung für einen Film erhielt6. Der Mann der Superlative kann es sich erlauben. Goebbels schimpft über ihn („Die Gagen müssen herunter. Vor allem für Albers“7), aber Hans Albers ist so beliebt, dass die Nazis ihm nichts anhaben können. „Der Blonde Hans“ spielt zudem in Unterhaltungsfilmen mit, die den Nazis hinsichtlich der Kriegsberichte von der Front zu Gute kommen.

Und wo bleibt Hamburg ?

Offensichtlich ist: die Stadt Hamburg hat nicht viel für Hans Albers’ stetig aufsteigende Karriere getan. Doch Mitte der 1940er-Jahre änderte sich diese Hamburg-Abstinenz und es wird deutlich, dass Albers keineswegs der norddeutschen Großstadt den Rücken kehrte, sondern vielmehr eine Hommage an sie wurde. Ausschlaggebend waren – ironischerweise – die Nationalsozialisten. Das Propagandaministerium plante 1943 einen heute als „Durchhaltefilm“ bezeichneten Spielfilm mit Helmut Käutner als Regisseur. Er sollte die deutschen U-Boote positiv darstellen und die Marine glorifizieren. Käutner, der darauf schlicht keine Lust hatte, drehte hingegen den bis heute als filmisches Aushängeschild der Reeperbahn geltenden Film Große Freiheit Nr. 7.

Hans Albers spielt den alten Seemann, der in Hamburg-St. Pauli an Land geht, im „Hippodrom“ an der Großen Freiheit Nr. 7 Seemannslieder singt und sich in ein junges Mädchen verliebt. Seine Gefühle werden nicht erwidert und der melancholische Seemann sehnt sich nach einer nicht erfüllbaren, heilen Welt – gleichzeitig begleitet ihn das Fernweh nach dem weiten Meer, der Freiheit. Hamburgs Hafen, die Reeperbahn und ein wehmütiger Hans Albers, der den Zwiespalt und das Gefühlsleben auf St. Pauli wiedergibt. Diese Rolle ist neu, schließlich galt der Mime eher als Draufgänger, Abenteurer, Unterhalter und Frauenheld, nicht unbedingt als Mann, der echte Gefühle zeigt.

 

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Filmplakate großer Erfolge: Der Deutschen liebster Schauspieler                                                                 / Foto: www.panfoto.de

 

Nach der Premiere am 12.12.1944 sind die Nazis nicht sehr begeistert von dem neuen Hans-Albers-Spielfilm: er enthalte weder Propaganda oder ein ideales NS-Bild, noch eine Darstellung des Drittes Reichs. Angeblich verbietet Großadmiral von Dönitz höchstpersönlich die Ausstrahlung des Spielfilms in Deutschland. Während Große Freiheit Nr. 7 in Schweden, Dänemark und der Schweiz veröffentlicht wird, soll die deutsche Ausgabe zunächst geschnitten werden. Statt einer überarbeiteten Version des Films wird er komplett gesperrt.

Auf der Reeperbahn nachts um halb eins, ob Du’n Mädel hast oder ob keins…“

Erst am 09.09.1945 geben die Alliierten den Film für eine Premiere in West-Berlin frei. Ein paar Wochen später ist der Film „der Renner“: in Hamburg stehen die Fans Schlange und die Karten gehen zu Schwarzmarktpreisen häufig nur „unter der Theke“ weg. Die Deutschen können sich mit dem Film identifizieren, gerade die Hamburger. Die Rolle des verletzlichen Seemanns drückt sehnlichst den Wunsch nach Heimat in einer heilen Welt aus. Krieg gibt es nicht, da Käutner tunlichst darauf geachtet hatte, keine zerstörten Häuser oder Hakenkreuze zu filmen; der Film wirkt wie ein Nachkriegsfilm. Auf Schallplatte überzeugt La Paloma, ein spanisches Lied aus den 1860er Jahren, das mit einem neuen Text versehen wurde. Auf der Reeperbahn nachts um halb eins singt Albers ebenfalls in seiner Rolle des Seefahrers Hannes Kröger. Bis heute sind die Stücke, vielfach kopiert und umgeschrieben, bekannte Schlager.

Nach einem unproblematischen Entnazifizierungsverfahren versucht der 55-jährige Schauspieler in den 1950er Jahren größtenteils das Erfolgsmodell „Singender Seefahrer“ fortzuführen: entweder in Filmen oder bei Auftritten als Sänger, wo er seine bekannten Lieder erklingen lässt. In Filmen wie Käpt’n Bay-Bay (1953), Auf der Reeperbahn nachts um halb eins (1954) und Das Herz von St. Pauli (1957) spielt Albers den Kapitän, den Seefahrer, den Kiezgänger, die von Freiheit und Sehnsucht, aber auch Abenteuern umringt werden. Der Schlager Auf der Reeperbahn nachts um halb eins wird im gleichnamigen Film erneut von Albers gesungen und avanciert trotz eher verhältnismäßig „normalem“ Erfolg des Films endgültig zum bekanntesten Hamburg-Lied.

 

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Plakate von Albers’ größten Filmen: Erfolgsmodell “Singender Seefahrer”                                                  / Foto: www.panfoto.de

 

Schon seit den 1930er Jahren erschienen seine Hits – heute würde man es „Soundtrack“ nennen – auf Schallplatte. Er war der Abenteurer, der Frauenheld, aber eben auch ein bisschen der Seefahrer. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs fokussierte er sich musikalisch auf maritim angehauchte Schlager. Hans Albers vertonte und bebilderte den Hafen, das Meer und das Fernweh. Auf seinen Schallplattencovern, Plakaten und diversen anderen Werbedrucken zeigte er sich mit Kapitänsmütze, „Schifferklavier“ und maritimem Hintergrund. Hans Albers war eine Metapher von Hamburg geworden. Stets hielt sich seine Sehnsucht zur Hansestadt, in der er vermutlich nicht einen derart großen Erfolg wie in Berlin, der aufsteigenden Film- und Künstlermetropole der Zwanziger Jahre, gehabt hätte. Zusätzlich verschaffte ihm sein Bekanntheitsgrad die Möglichkeit, als „Singender Seefahrer“ Erfolg zu haben. Vermutlich wären die Filme ohne seine vorherigen Engagements, mit denen er bekannt geworden war, nicht derart aufgefallen.

Gedenken an den „Hamburger Popstar“

Hans Albers, ein Mann, der immer das Extreme und den Erfolg suchte, der trotz seiner Eskapaden, seiner Egozentrik und seinem Narzissmus von (fast) allen geliebt wurde. Im wilhelminischen Kaiserreich sammelt er erste Theatererfahrungen, in der Weimarer Republik wird er der beliebte Darsteller in Berlin, im Nationalsozialismus der teuerste Filmstar und in der Bundesrepublik Deutschland der schwächelnde Altschauspieler, der einen würdigen Abgang bringen kann als ernstzunehmender Darsteller und selbsternannter „Kapitän“.

Heute wie früher gilt: Wer Hamburg sagt, muss auch Reeperbahn sagen. Spätestens dann stimmt jeder Auf der Reeperbahn nachts um halb eins an. Die Medien ordnen der Hansestadt diesen Schauspieler und Sänger zu und auch die Stadt Hamburg bringt sich gerne mit Hans Albers in Verbindung – sei es auch nur für die Touristen. Hans Albers ist irgendwie immer Hamburg.

 

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Hans-Albers-Platz in Hamburg mit Denkmal und Immendorfs Kneipe im Hintergrund                         / Foto: Nadine Kaspersinski

 

Nach seinem Tod am 24.07.1960 fand auf dem Ohlsdorfer Friedhof die größte Beerdigung der Hansestadt für einen deutschen Schauspieler statt mit tausenden Fans, die ihr Beileid bekundeten. 1964 wurde der Wilhelmsplatz auf dem Kiez in Hans-Albers-Platz umbenannt. In den 1980er Jahren zog es den Künstler Jörg Immendorff dorthin, wo er jahrelang die Künstlerkneipe La Paloma betrieb. In Düsseldorf schuf er ein Denkmal für den großen Schauspieler, dessen Kopie seit 1986 gegenüber des La Paloma steht. Kneipen auf dem Kiez benannten sich nach Hans Albers oder einem seiner Filme. Eine Gedenktafel wurde an Albers’ Geburtshaus in St. Georg befestigt und im „Panoptikum“ auf der Reeperbahn steht ein Hans Albers aus Wachs, original in „Seemannskluft“ mit „Schifferklavier“. Im September 1996 gründete sich der Hans-Albers-Freundeskreis in Hamburg, der sich der Förderung des Andenkens an Albers verpflichtete. 2010 erinnerten Printmedien wie ZEIT, Berliner Morgenpost und Westdeutsche Zeitung an seinen 50. Todestag.

Und heute? La Paloma, Auf der Reeperbahn nachts um halb eins oder Flieger, grüß mir die Sonne sind über hunderttausendmal auf der Video-Plattform YouTube geklickt und die jüngsten Kommentare stammen von 2014. Musikjournalist Jürgen Rau wählte Hans Albers jüngst auf Platz eins der beliebtesten Hamburger „Gassenhauer“, denn: „Hamburgs erster Popstar war Hans Albers!“8

Fazit: Hamburg und Hans Albers – das passt!

Seine Filme wie Große Freiheit Nr. 7 oder Auf der Reeperbahn nachts um halb eins prägten den Mythos eines typischen Hamburgers oder zumindest Kapitäns: Seefahrt, Sehnsucht nach Liebe und Unabhängigkeit, Melancholie, die Reeperbahn, Hafenromantik – all dies bedeutete Hamburg, wobei sich damit ebenso jede „Landratte“ identifizieren konnte. Auch wenn seine Filme oder sein Name heute nicht mehr jedem geläufig sind, so sind seine Lieder überall bekannt. Aber warum?

Seine Biographie zeigt deutlich: Hans Albers wuchs zwar in Hamburg auf und besuchte die Hansestadt immer gerne, doch den Großteil seines Lebens verbrachte er in Berlin, an Drehorten und am Starnberger See in Bayern – eigentlich gar nicht so norddeutsch. Außerdem spielte Hans Albers in den 1930/40er Jahren auf dem Höhepunkt seiner Karriere in verhältnismäßig wenigen Engagements den Seefahrer oder Kapitän, geschweige denn den Hamburger. Doch wie überall zählt nicht die Quantität, sondern die Qualität.

Hamburgs Verbundenheit zum deutschen Filmstar Hans Albers mag zum einen an seiner persönlichen Verbindung zur Hansestadt liegen. Seinen Hamburger Dialekt legte er nie komplett ab, er besuchte die Stadt, so oft es ging (und damit auch die Reeperbahn), und kurz vor seinem Tod hörte er am Starnberger See Aufnahmen von typischen Hamburger Hafengeräuschen. In der Hansestadt konnte er sich nicht mehr niederlassen, weswegen er verfügte, dass er wenigstens dort beerdigt würde. Die Hamburger mögen damals und heute großen Stolz empfunden haben, wie jede Stadt, die eine Berühmtheit „geboren“ hat.

 

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Gedenktafel an Albers’ Geburtshaus in St.Georg: Der große Sohn der Stadt, der in Bayern lebte       / Foto: Nadine Kaspersinski

 

Gerade weil er sein Leben lang nicht mehr in die Stadt an der Elbe zurückkehren konnte, war seine Sehnsucht nach ihr echt und seine Rolle authentisch. Womöglich konnte er seine innere Zerrissenheit in der Rolle des Seefahrers ausdrücken und wirkte deshalb so überzeugend. Denn seine Charaktere sehnten sich ebenfalls nach Freiheit, Hamburg und Liebe. Hans Albers vertonte als erster die Reeperbahn und Hamburg in dieser Weise, was ihn bis heute einmalig macht.

Zum anderen beinhaltet die vergangene Seefahrerromantik, die Albers wehmütig besang, auch eine Erinnerung vieler Hamburger an die „gute alte Zeit“, als St. Pauli noch nicht zur kommerziellen Vergnügungsmeile aufgestiegen war. Wo noch „echte“ Seefahrer Halt machten in Hamburg, die Kneipen noch originell waren, wo jeder sein Glück finden konnte – zumindest für eine Nacht. Nostalgie ist das Stichwort. Das Erträumen und Erinnern an ein St. Pauli, das es vielleicht einmal gegeben haben mag – eben der Wunsch nach einer „heilen Welt“, Unabhängigkeit und Liebe, die sich auf der Reeperbahn finden ließe. Albers’ Lieder lösen das heute noch aus, genau wie 1945, als Große Freiheit Nr. 7 vorgeführt wurde.

Außerdem war es Albers selbst, der sich nach 1945 und dem Erfolg von Große Freiheit Nr. 7 vermehrt in Filmen als Seefahrer oder zumindest als Hamburger zeigte und stets mit Akkordeon in seinem Rollenoutfit auftrat. Vor dem Zweiten Weltkrieg in Film und Theater der selbstverliebte und erfolgssüchtige Mime – nach dem Krieg der melancholische Seemann. Hans Albers verschmolz stets mit seinen Rollen und nach dem Krieg, wo er als Draufgänger und Frauenheld keinen rechten Erfolg mehr haben konnte oder mochte, stellte er sich als das dar, was er womöglich immer sein wollte: verbunden mit Hamburg. Nach seinem Tode blieb der Nachkriegsgeneration genau dieses Bild im Kopf haften. Nichts Ungewöhnliches bei beliebten Stars wie auch Michaela Krützen in ihrer Albers-Biographie feststellt. Man denke an den U-Bahn-Schacht und Marilyn Monroe oder Marlene Dietrich und das Fass. Szenenbilder oder Filmrollen stehen in der späteren Erinnerungskultur für den Künstler, dessen Erfolg und das, was ihn auszeichnet9.

Hans Albers verkörperte ein Ideal, das Erfüllung in Hamburg fand. Wie lange der Schauspieler nicht in der Elbstadt weilte, welche anderen Erfolge er verbuchte und ob er die Seefahrer-Rolle wirklich ernst meinte: all das schien und scheint egal, und spielt doch gleichzeitig alles zur immer noch anhaltenden postumen Popularität mit hinzu. Die Hamburger haben ihm seine Abwesenheit nicht übel genommen, schließlich bedeutete sein Erfolg außerhalb der Hansestadt der Erfolg in der Hansestadt.

Zur Autorin:

Nadine Kaspersinski hat von 2010-2013 Geschichte und Fachjournalistik Geschichte in Gießen studiert. Seit dem Wintersemester 2013/14 ist sie Master-Studentin (Geschichte) an der Universität Hamburg.

Zum Weiterlesen:

  • Blumenberg, Hans-Christoph: In meinem Herzen, Schatz. Die Lebensgeschichte des Schauspielers und Sängers Hans Albers, Frankfurt am Main 1991.
  •  ”So wahr ich der liebe Gott bin”, in: SPIEGEL, 34/1989, 35/1989.
  • Krützen, Michaela: Hans Albers. Eine deutsche Karriere, Weinheim 1995.
  • Rau, Jürgen: Hamburg, deine Perlen. Die einzigartige Musikszene der Hansestadt. Mit 713 Abbildungen, Bremen 2011.
  • Schumann, Uwe Jens: Hans Albers. Seine Filme – sein Leben, München 1980.
  • Wegner, Matthias: Hans Albers (= ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius (Hrsg.), Hamburger Köpfe), Hamburg 2005.

Zum Weiterhören:

 

1Vgl.: Friedemann Beyer: Die Gesichter der UFA. Starportraits einer Epoche, München 1992, S. 164.

2Vgl.: Matthias Wegner: Hans Albers (= ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius (Hrsg.), Hamburger Köpfe), Hamburg 2005, S. 64.

3Vgl.: Jürgen Rau: Hamburg, deine Perlen. Die einzigartige Musikszene der Hansestadt. Mit 713 Abbildungen, Bremen 2011.

4Hans-Christoph Blumenberg, So wahr ich der liebe Gott bin, in: SPIEGEL, 34/1989.

5Vgl.: Matthias Wegner: Hans Abers, S. 63.

6Vgl.: Matthias Wegner: Hans Abers, S. 63 ff.

7Eintrag in Goebbels Tagebuch am 18.06.1937.

8Vgl.: Jürgen Rau: Hamburg, deine Perlen, S. 11.

9Vgl.: Michaela Krützen: Hans Albers. Eine deutsche Karriere, Weinheim 1995, S. 315 ff.

Quelle: http://www.hh-geschichten.uni-hamburg.de/?p=1440

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Digitale Kunstgeschichte: Internationale Arbeitstagung 26. und 27. Juni 2014

Unter dem Motto “Digitale Kunstgeschichte: Herausforderungen und Perspektiven” findet vom 26. bis 27. Juni eine internationale Arbeitstagung am Schweizerischen Institut für Kunstgeschichte in Zürich statt.

Auf dem Programm stehen neben zwei Keynotes (Prof. Dr. Anna Schreurs-Morét: Enthusiasten, Zweifler und Eingeborene: Eine Suche nach der goldenen Mitte im Umgang mit den digitalen Medien in der Kunstgeschichte und Prof. Dr. Hubertus Kohle: Digitale Kunstgeschichte. Plädoyer für eine Normalisierung) ein Abendvortrag von Prof. Dr. David Gugerli zu Korrespondenzen der digitalen Gesellschaft: Wie die Welt in den Computer kam sowie zwei Workshopmodule:

Workshops Modul 1 (Donnerstag, 26. Juni 2014)

  • 1a Open Access
  • 1b Digital Workspace
  • 1c Normdaten
  • 1d Digitalisierung und Methodologie

Workshops Modul 2 (Freitag, 27. Juni 2014)

  • 2a Big Data
  • 2b Archive und Sammlungen
  • 2c Digitalisierung und Recht
  • 2d Nachhaltigkeit

Ziel der Arbeitssitzungen ist es, ein Statement beizutragen zu der Erklärung Acht Punkte zu einer digitalen Kunstgeschichte, die am Schluss der Tagung verabschiedet wird.

Nähere Informationen zur Tagung und Anmeldung gibt es im Internet unter: http://sik-isea.ch/Aktuell/Veranstaltungen/DigitalArtHistory/tabid/359/Default.aspx

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=3617

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Die Spur der Steine: 1965 drohte ein Beat-Verbot im Westen

Heute kehren die Rolling Stones auf die Berliner Waldbühne zurück. Hier spielten sie vor knapp 50 Jahren ihr legendäres Konzert, das in Ausschreitungen endete und in Deutschland einen Kulturkampf um die Beat-Musik entfachte. Eine Polizeiakte verrät, wie verhärtet die Fronten damals waren.

Bis zum Abend lief alles ganz normal. Um 15.45 Uhr des 15. September 1965 war eine Maschine der Air France auf dem West-Berliner Flughafen Tegel gelandet. Unter den Passagieren befanden sich die Mitglieder der Band, die in jenen Jahren die öffentliche Meinung spaltete wie keine andere. Ihre harten R&B-Rhythmen und Liedtexte provozierten schon, bevor sie “Sympathy for the Devil” und für harte Drogen bekundeten. Die Rolling Stones waren angereist, um auf einem von der deutschen Jugendzeitschrift “Bravo” mitorganisierten Beat-Konzert aufzutreten.

Die Fahrt durch Berlin lief noch nach Plan und bis zum Abend lief auch der Zustrom von Fans zur Charlottenburger Waldbühne weitgehend ungestört. Das Motto des Konzerts lautete “Heißer geht’s nicht mehr” – im Nachhinein sollte es vielen als selbst erfüllende Prophezeiung erscheinen. Es war eines der größten Rockkonzerte, die es bis dato in Deutschland gegeben hatte, und auch die internationale Tournee war noch ein junges Format, mit dem man wenig Erfahrung hatte. Rund 21.000 Menschen befanden sich in der Freiluftbühne, vor den Toren noch weitere tausend Fans, die keine der mit 20 Mark sehr teuren Karten mehr bekommen hatten. Pünktlich traten nacheinander deutsche Vor-Bands auf, darunter die Racketts sowie Didi und die ABC-Boys. Der britische Haupt-Act war für 21.30 Uhr vorgesehen und sollte um 22 Uhr enden. Als aber vorzeitig das Licht erlosch, brach das los, was ein Kommentator später mit einem “Inferno” vergleichen sollte. Was war geschehen?

Die Antwort findet sich in einem nüchternen Leitz-Ordner mit vergilbtem Etikett, der heute in einem Stahlschrank der polizeihistorischen Sammlung am Flughafen Tempelhof steht. Verglichen mit anderen dort befindlichen Exponaten der Berliner Kriminalgeschichte, mit Fingerabdruckkarten, Projektilen und Mordwaffen, nehmen sich die 400 überwiegend maschinenschriftlichen Blätter unspektakulär aus. Doch die Funksprüche und Protokolle der “Aktion Steinschlag”, wie die Medien den Polizeieinsatz vom Herbst 1965 tauften, sind ein Stück deutscher Kulturgeschichte. Anhand dieser Akten lässt sich nicht nur minutiös nachvollziehen, was aus Perspektive der Berliner Polizei in der Waldbühne geschah, sondern auch das politische Nachbeben ablesen.

Der obenauf abgeheftete Einsatzbefehl S 1-524/65 formuliert in klarem Amtsdeutsch, was sich die Polizei vorgenommen hatte: “Durchführen der erforderlichen verkehrspolizeilichen Maßnahmen”, “Verhinderungen von Ordnungsstörungen”, “Unterbinden strafbarer Handlungen”. Prophylaktisch hatte die Polizei Greiftrupps und “starke Eingreifreserven in der Nähe der Bühne” zur Festnahme von Straftätern und Fototrupps in Zivil aufgestellt. Auch eine eigene Sammelstelle für Festnahmen in einem Polizeigefängnis wurde eingerichtet. Dass es zu solchen kommen könnte, hatten zahlreiche Zeitungsartikel nahegelegt, die das Konzert schon im Vorfeld zum Beat-Krawall hochstilisiert hatten, obwohl der letzte Großkrawall auf einem Rockkonzert Bill Haleys im Sportpalast schon sieben Jahre zurücklag. Mit allzu schweren Ausschreitungen rechnete man aber offenkundig nicht, denn als Ausrüstung waren nur “Dienstanzug, Plastikmütze, Polizeiknüppel” angeordnet worden.

Dass das nicht reichen würde, deutet sich schon gegen 21.10 Uhr an, als laut Protokoll vor der Bühne die ersten Flaschenwürfe gemeldet wurden. Schon vorher ist es vereinzelt zum “Polizeiknüppelgebrauch” durch Beamte der Reserve gegen Jugendliche gekommen, die Absperrungen überklettern wollten. Ein Jugendlicher erlitt Bisswunden durch einen Polizeihund. Als daraufhin mehrere Autos umgeworfen wurden, kam auch der Wasserwerfer zum Einsatz und größere Gruppen von Jugendlichen wurden zu den Häftlingssammelstellen transportiert. Auch die Ereignisse in der Bühne selbst sind minutiös dokumentiert. Ab 20.10 gilt die Stimmung als “angeheizt”, Feuerwerkskörper werden abgebrannt, vereinzelt fliegen Gegenstände über die Köpfe: Grasnaben, Schuhe, Flaschen. Die Ordner haben nun “Schwierigkeiten, die Bühne freizuhalten”. Um 21.31 Uhr eskaliert schließlich die Lage:

Die Absperrung vor der Bühne wird jetzt von stärkeren Gruppen durchbrochen, Polizisten knüppeln die Bühne wieder frei. Nach kurzer Unterbrechung setzen die Stones das Konzert fort, doch das Werfen mit Gegenständen und Zünden von Feuerwerkskörpern nimmt zu. Als das Konzert nach nur wenigen Songs schließlich abgebrochen wird, macht das Management einen schweren Fehler: Es lässt die grellen Scheinwerfer ausschalten, weil sich die Fans davon provoziert gefühlt hatten. Für die Dauer von 15 Minuten liegt die Arena in völliger Dunkelheit. Einige geraten in Panik. Unterdessen spricht sich herum, dass die Band nach dem nur 20-minütigen Auftritt nicht wieder auf die Bühne kommen wird. Wut greift um sich, auf die Veranstalter, auf die Stones, auf die Polizei. Hunderte versuchen, die Bühne zu stürmen. Zur Vermeidung weiterer Zerstörungen beginnt nun das, was im Polizeiprotokoll “Räumung der Waldbühne unter Anwendung des Polizeiknüppels” heißt.

Der Rundfunkreporter Matthias Walden, der auf der Presse-Tribüne dem Spektakel beiwohnt, schreibt seine Beobachtungen in der Sprache eines Kriegsberichterstatters nieder. “Ich sah das Wogen und Zucken der 20.000 in der Waldbühne, sah nicht mehr Wald, sah kaum noch Bühne”, hebt er an. “Jugendliche Leiber, bewegt wie von verschluckten Pressluftbohrern, sich selbst mit den Fäusten auf die Köpfe schlagend, blicklos aufgerissene Augen, stampfende Füße, schleudernde Arme.” Dann ertönt ein anderes Konzert, “das harte Geräusch, das beim Zertrümmern der Sitzbänke entsteht, das Jaulen und Bellen der Polizeihunde, das Johlen und Pfeifen der Masse, Hilferufe nach Sanitätern, Scherbenklirren.” Einige Sitzreihen brennen, andere sind zertreten, ein Absperrgitter wird auf die Tobenden geworfen. Räumketten der Polizei rücken gegen die Bühne vor.

Die Bilanz des Polizeiberichts addiert nüchterne Zahlen, von denen später einige nach oben korrigiert werden müssen: 89 vorläufige Festnahmen, 61 Fälle von erster Hilfe, 28 ambulant in Krankenhäusern behandelte, 26 verletzte Polizisten, von denen sechs in Krankenhäusern behandelt werden müssen, ein verletztes Polizeipferd, ein demolierter S-Bahnzug und 300.000 DM Sachschaden an der Waldbühne. Die Holzbretter der Sitzbänke sind zu achtzig Prozent beschädigt, die Holzzäune zu 90 Prozent. Der Wiederaufbau wird sich noch Jahre hinziehen, denn die Versicherung deckt nur einen Teil der Kosten.

Am Morgen des 16. Septembers liegt nicht nur die Waldbühne in Trümmern. Ernstlich beschädigt ist auch das Ansehen der noch jungen angloamerikanischen Beat-Musik – und abermals das eines Teils der deutschen Jugend. Auch die Polizei und der Veranstalter stehen in der Kritik. Der Kommandeur der Berliner Schutzpolizei fordert umgehend das Verbot von Beat-Konzerten. Nicht nur in Berlin, auch in der Bundesrepublik debattiert man nun öffentlich über Kulturverbote.

Hier weiterlesen (erschienen im Feuilleton der WAMS vom 8. Juni 2014).

Quelle: http://pophistory.hypotheses.org/1498

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durchsichten: Rasse und Raum transnational. Die bevölkerungspolitische Zusammenarbeit zwischen Nationalsozialismus und italienischem Faschismus 1933-1943

http://www.geschkult.fu-berlin.de/e/fmi/arbeitsbereiche/ab_janz/Forschungsprojekte/Projekt_Rasse_Raum_transnational Wir wissen bislang sehr wenig über die bevölkerungspolitische Kooperation zwischen dem Drittem Reich und dem Italien Mussolinis. Das ist umso erstaunlicher, als „Rasse“ und „Raum“ die beiden zentralen Determinanten der nationalsozialistischen wie der faschistischen Politik waren. Das Projekt fragt deshalb nach Zielsetzung, Umfang und Ergebnissen der Zusammenarbeit und nimmt dabei sowohl die Förderung der […]

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2014/06/5161/

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Geschichte Chinas im Bild (V)

Die ersten vier Teile der (losen) Reihe ‘Geschichte Chinas im Bild’ (Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4) stellten Foto-Sammlungen/Archive zusammen. In diesem Teil geht es um Holzschnitte, Kupferstiche etc., die in China entstanden und in Sammlungen in aller Welt gelandet sind.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/1516

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