NordicHistoryBlog ist “Blog des Jahres” auf de.hypotheses.org – Anlass für ein Zwischenfazit

 

Bei der Abstimmung über die Top-Five-Blogs zum 1. Geburtstag von de.hypotheses.org ist NordicHistoryBlog auf Platz 1 gelandet! Ehrlich gesagt sind wir alle etwas baff und zugleich sehr erfreut, dass es für uns – wenn auch nur ganz knapp, das muss man sagen – zum ersten Platz auf dem Treppchen gereicht hat (bei den Zahlen hatte jede Stimme großes Gewicht!). Das überraschende Ergebnis haben wir erstmal etwas sacken lassen und nun nehme ich als derjenige, der den Blog angestoßen hat und redaktionell leitet, dieses Ereignis zum Anlass, um mal ein Zwischenfazit zu ziehen (ein wenig auch nach dem Vorbild von Netz & Werk).

Der Blog begann Ende 2011 als Ergebnis einer Weiterbildung in Sachen Web 2.0 in Lehre und Forschung, eigentlich als Spielwiese und Experiment, und als Einzelprojekt meinerseits. Drei Punkte standen am Anfang meiner Überlegungen:

  1. Es gibt wenige Seiten im World Wide Web, auf denen man sich über das eher kleine Fachgebiet der nordeuropäischen Geschichte in deutscher Sprache und in seriöser Form informieren kann.
  2. Die Studierenden wissen oftmals nicht, wo sie geeignete Rechercheeinstiege und -ressourcen im Internet finden. Ein Anliegen war es daher, Online-Ressourcen zu dem Fachgebiet vorzustellen.
  3. Geschichte und Internet, dabei dachte ich nicht nur daran, althergebrachte historische Inhalte ins Netz zu bringen, sondern auch ein Augenmerk darauf zu legen, wie wir im Internet mit Geschichte umgehen. Dadurch hat sich für mich nach und nach im Laufe des Schreibens über entsprechende Phänomene ein neues Forschungsfeld eröffnet.nohoblold
    Danke, Wayback Machine!

Ich wusste nicht, wie lange ich den Blog betreiben würde, ob ich genügend Ideen bekommen würde, ob sich das Ganze eigentlich lohnt. Es gab eine Phase, in der ich bereits daran dachte, das Ganze einzustellen. Letztlich ist es mit dem März 2012 bisher aber nur bei einem beitragslosen Monat geblieben. In diesem Monat wurde de.hypotheses.org eröffnet, und  bei mir setzte das Nachdenken ein. Der Schritt, von einem einfach bei wordpress.com gehosteten Blog zur Plattform hypotheses zu wechseln, brauchte dann noch einige Zeit des Reifens, aber zum Ende Mai 2012 war er dann vollzogen. Der Umstand, dass ich das Archiv der bis dahin erschienenen Beiträge mit umziehen konnte, war dabei ein entscheidender Aspekt. Ein zweiter wichtiger Punkt schien mir die bessere Sichtbarkeit zu sein. Das mit dem umstrittenen Gedächtnis ein weiterer Blog mit Nordeuropabezug bereits auf de.hypotheses vorhanden war, bestärkte mich weiter (Grüße an Robert Zimmermann an dieser Stelle! Er hat mich seinen Hinweisen mit zu dem Umzug gebracht.).

Mit dem Umzug begann dann der Umbau zu einem Gruppenblog, eine Entscheidung, die ebenfalls im Vorfeld des Umzugs gereift war. Hauptanliegen war und ist es dabei, durch die Form des Gruppenblogs nicht nur einen kontinuierlicheren Veröffentlichungstakt, sondern auch eine größere inhaltliche Bandbreite zu erreichen. Dieser Umbau ist keinesfalls abgeschlossen, die Gruppe wächst weiter, momentan sogar sehr stark. Ich muss gestehen, das Einwerben neuer Redakteurinnen und Redakteure ist keine einfache Sache und zu einem Gutteil Überzeugungsarbeit. Unser Milieu ist verhältnismäßig klein, das wissenschaftliche Bloggen ist auch unter Vertretern der jüngeren Forschergenerationen nicht selbstverständlich. Da ist es aufgrund der Fachtraditionen und des akademischen Habitus wichtiger (und das ist auch verständlich), erstmal ein paar Aufsätze zu publizieren, möglichst natürlich in den renommierten Fachzeitschriften. Soziales und akademisches Kapital mithilfe eines Wissenschaftsblogs aufzubauen, ist in den deutschsprachigen Geisteswissenschaften nur zu einem geringen Grade etabliert, es herrscht, so erlebe ich es zumindest, nach wie vor flächendeckende Skepsis.

Viele Kolleginnen und Kollegen, die ich gewinnen möchte, sind bereits mit einer großen Menge an Aufgaben belastet (die in Zeiten stagnierender Personalentwicklung an den Hochschulen nur noch größer wird) und scheuen daher oft, weitere Schreibaufgaben zu übernehmen. Aber es kommen nach und nach weitere Autorinnen und Autoren dazu, die verschiedene Aspekte abdecken werden. Die Hoffnung ist es, somit der Fachcommunity (in einem breiten Sinne, für mich gehören auch Studierende dazu) einen Ort im Internet zu geben, wo sie sich über neue Entwicklungen im Bereich der nordeuropäischen Geschichte, insbesondere was Ressourcen im WWW betrifft, informieren können. Und damit meine ich nicht nur die wenigen, die ohnehin wissenschaftlich zu der Region arbeiten, sondern gerade im Sinne der Vermittlungsaufgabe, der wir uns hier widmen, und die ich andernorts bereits umrissen habe.

Uns allen ist bewusst, dass die Region Nordeuropa in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft und generell in der Öffentlichkeit nicht unbedingt im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Das wissenschaftliche Bloggen über unser – kurioserweise ja eigentlich ziemlich weit gespanntes – Arbeitsgebiet ist für uns ein wichtiges neues Medium geworden, um unsere Beschäftigung mit nordeuropäischer Geschichte einem neuen und hoffentlich auch breiteren Publikum zu vermitteln. Zugleich ist es so, dass sich historische Sachverhalte durch exemplarische Untersuchungen an konkreten Gegenständen besser illustrieren lassen, für uns ist es nun mal die Region Nordeuropa und Ostseeraum als Arbeitsgegenstand. Wir hoffen aber, es wird deutlich, dass diese Region auf vielen Bereichen der Geschichte durchaus lohnenswerte Untersuchungsobjekte liefert. Der Fokus liegt in der Geschichtsschreibung häufig auf den großen Nationen, was seine Berechtigung hat. Die heutigen Kleinstaaten in Nordeuropa haben aber mannigfaltige Beziehungen zu den Großmächten und nicht zuletzt zum deutschsprachigen Raum unterhalten (und tun dies heute noch), die einer näheren Betrachtung wert sind. Für die Auseinandersetzung mit dem Thema “Geschichte im Internet”, das auf unserem Blog eine nicht unerhebliche Rolle spielt, liefern die neuen Technologien aufgeschlossenen nordischen Länder ebenfalls gute Beispiele, von denen man sich vielleicht auch einiges abgucken könnte. Zudem hoffen wir, einen der deutschsprachigen Nordeuropaforschung von jeher selbstverständlichen Blick auf die Region als Ganzes und auf komparative Ansätze in die derzeit im Trend liegende Diskussion über “transnationale Geschichte” hineingeben zu können. Transnational zu arbeiten – das ist bei einer so relativ kleinen, aber in weiten Teilen viele Gemeinsamkeiten aufweisenden Region, gegeben.

Eine Sache, über die ich immer wieder nachgedacht hatte, ist der Name, auch dieser ein Produkt aus der Spielwiesen- / Experimentierphase. Warum eigentlich ein englischer Name für einen Blog, der primär auf Deutsch erscheint (wobei wir auch Englisch als Arbeitssprache zulassen)? Letztlich hat er sich als griffiger Name erwiesen, der in kürzester Form den Gegenstand und die Veröffentlichungsform zusammenfasst. Ich kann hier nochmals auf einen der Einstiegsbeiträge zurückverweisen, da ich mich mit der Frage, was man in Deutschland denkt, wenn man den Begriff “Nordisch” hört oder liest, häufiger auseinandersetzen musste. Allerdings werden wir uns bemühen, in Zukunft auch den Ostseeraum, gerade auch dessen östlichen Teil, stärker in den Blick zu nehmen. Mit dem mittlerweile auf 12 Personen angewachsenen und immer internationaler werdenden Team von Redakteurinnen und Redakteuren wollen wir auch Fragen der Informations- und Literaturrecherche verstärkt aufgreifen, bisher weniger stark vertretene Epochen wie Mittelalter und Frühe Neuzeit etwas stärken sowie methodische Aspekte stärker berücksichtigen.

Auf Anregung des Beitrags auf Netz & Werk habe ich mir auch mal die Zahlen angesehen. Die Autorenvorstellungen rausgerechnet, sind vom Online-Gang auf hypotheses (31.5.12) bis heute, diesen Beitrag eingerechnet, 39 Beiträge erschienen, wovon man sieben Vorstellungen neuer Autorinnen und Autoren abziehen kann, dann kommt man immer noch auf 32. Vom 31.5.12 bis zum 14.3.13 haben 7900 unterschiedliche Besuchern bei 26433Besuchen 106492 Seiten aufgerufen. Mich beschäftigt und beeindruckt vor allem die Zahl der unterschiedlichen Besucher, die wohl weit über dem liegen dürfte, was man bei gedruckten Publikationen erwarten könnte.

Vielen Dank an alle, die unseren Blog verfolgen und die bei der Abstimmung ihre Stimme für NordicHistoryBlog abgegeben haben! Der erste Platz ist für uns Ansporn und Ermutigung, weiterzumachen – bleiben Sie uns treu!

 

 

Quelle: http://nordichistoryblog.hypotheses.org/1476

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Anregungen aus der französischen Wissenschafts-Blogosphäre

Zum einjährigen Geburtstag von de.hypotheses.org

Heute genau vor einem Jahr ist das deutschsprachige Blogportal de.hypotheses mit einer Tagung in München offiziell an den Start gegangen. Damals gehörten neun Blogs zum Portal. Ein Jahr später sind es 49 aktive Blogs, 25 weitere sind angemeldet und in den Startlöchern. Unsere Bloggenden haben im vergangenen Jahr 941 Beiträge publiziert und 975 Kommentare freigeschaltet. Damit liegt die Kommentarfrequenz mit durchschnittlich einem Kommentar pro Beitrag höher als bei den französischen Kollegen, bei denen rund jeder dritte Beitrag kommentiert wird((1)). Auch die Leserschaft des neu gestarteten Portals ist beachtlich: Insgesamt 157.630 unique user hatten die deutschsprachige Plattform und ihre Blogs im vergangenen Jahr. Dass nicht nur quantitative Ergebnisse vorzuweisen sind, zeigt ein Blick auf die Startseite von de.hypotheses mit ausgewählten Beiträgen sowie auf die frisch gekürten Top-5 der Blogs und Top-5 der Artikel des vergangenen Jahres. Insgesamt ein schöner Erfolg, über den sich Team, Redaktion und Beirat von de.hypotheses.org sehr freuen und für den wir uns bei allen Beteiligten und Bloggenden ganz herzlich bedanken.

Die Anregung für das deutschsprachige Portal stammt bekanntermaßen aus der Beobachtung der französischen Wissenschaftsblogosphäre. Grund und Anlass genug, zum einjährigen Geburtstag von de.hypotheses.org den Blick erneut auf den Nachbarn am Rhein zu richten und zu sehen, was wir dort Weiteres lernen können. Dieser Artikel ist gleichzeitig die schriftliche, leicht erweiterte Fassung meines Impulsvortrags für das diesjährige Scilogs-Bloggertreffen in Deidesheim, das – wie es der Zufall so will – am Geburtstag von de.hypotheses stattfindet.

 

Tour de France der geistes- und naturwissenschaftlichen Blogosphäre

In der französischen Kultur haben Experten einen hohen Stellenwert: Kaum eine Radio- oder Fernsehsendung vergeht, in der nicht ein Wissenschaftler oder eine Forscherin zu einem aktuellen Thema befragt wird. Kaum eine Ausgabe einer Tageszeitung ohne einen Kommentar, ein Interview oder ein Statement einer Spezialistin oder eines Intellektuellen, die ja bekanntlich ohnehin eine französische Erfindung sind. Und das Interesse an Wissenschaft ist groß! Zumindest entsteht dieser Eindruck, wenn man bei einer Metrofahrt die Personen zählt, die ein wissenschaftliches Buch lesen. Popularisierung von wissenschaftlichen Ergebnissen durch public intellectuals und die Kommunikation der Wissenschaft mit der breiten Öffentlichkeit haben in dieser Hinsicht in Frankreich Tradition. Darin könnte ein Grund liegen, warum es in Frankreich mehr bloggende Wissenschaftler/innen und mehr Wissenschaftsblogs gibt als in Deutschland.

Nun soll hier nicht das hohe Lied auf ein vermeintliches Blog-Eldorado Frankreich gesungen werden. Denn auch dort ist wissenschaftliches Bloggen eine marginale Tätigkeit, auch wenn sie verbreiteter ist als in Deutschland. Und so mancher bloggt nur anonym, um sich die Karriereaussichten nicht zu verbauen. In vielerlei Hinsicht gleichen sich hier wie dort die Diskussionen über den Einsatz von Blogs in der Wissenschaft: Die Befürworter befürworten, die Gegner sind dagegen und die Ignoranten ignorieren, und das aus den oftmals gleichen Gründen und in gleichen Proportionen. Doch gibt es einige besondere Merkmale der wissenschaftlichen Blogosphäre in Frankreich, um die es in dieser subjektiven, selektiven und keineswegs vollständigen Tour de France (die ja auch nicht überall vorbei kommt) der geistes- und naturwissenschaftlichen Blogs im Folgenden gehen soll.

 

Erste Anregung: Blogportale

aspDas auffallendste Merkmal an der französischen Wissenschaftsblogosphäre ist das Vorhandensein von Blogportalen. Die Szene hat sich hier früher und stärker organisiert. Warum? Vielleicht, weil in Frankreich Zentralisierung an vielen Stellen vorgelebt wird, so auch im Dokumentations-, Bibliotheks- und Archivwesen (wenn auch nicht immer zur Freude aller). Außerdem wollte sich das kleine gallische Dorf gegen die anglo-amerikanische Blog-Hegemonie zur Wehr setzen und für mehr Sichtbarkeit der französischsprachigen Blogs sorgen, so erzählte mir der naturwissenschaftliche Blogger Antoine Blanchard (Blog La science, la cité, Twitter: @enroweb).

So kam es im Oktober 2005, als man in Deutschland Wissenschaftsblogs noch an einer Tastatur abzählen konnte, in der französischsprachigen Blogosphäre zur Gründung des ersten Bloportals, „Science! On blogue!“, also „Wissenschaft! Wir bloggen!“, wobei das Science! mit Ausrufezeichen vermutlich an Silence! – Ruhe bitte! – erinnern soll. Der Betreiber war die Agence Science-Presse, eine kanadische wissenschaftliche Presseagentur mit Sitz in Quebec, die das Aufkommen der Wissenschaftsblogs in den USA aus der Nähe mitverfolgte und die Idee in den französischsprachigen Raum übertrug. Größere Sichtbarkeit für die Blogs, mehr Austausch und Diskussion, Community-Bildung waren die Ziele dahinter((2)). In den Vordergrund wurden dabei Themenblogs gerückt mit wechselnden Autoren und nicht etwa einzelne Bloggerpersönlichkeiten. Heute teilen sich die Bloggenden mit den Journalisten die Website der Presseagentur, wobei deutlich zwischen beiden unterschieden wird, wie ein Klick auf die Seite „Communauté“ zeigt . Alle wissenschaftlichen Disziplinen sind vertreten, mit einem Übergewicht an Naturwissenschaften. Die gesammelten Blogbeiträge findet man hier.

Naturwissenschaftliches Portal: C@fé des sciences

cafesciencesNur ein Jahr später wurde 2006 mit C@fe des sciences das erste naturwissenschaftliche Blogportal in Frankreich gegründet. Die Initiative ging von sechs jungen Wissenschaftlern aus, die für ihre bereits bestehenden Blogs mehr Sichtbarkeit wollten und begannen, ihre Beiträge auf einer gemeinsamen Aggregator-Plattform anzuzeigen((3)). Gegenseitige Kommentare und enge Verflechtung waren weitere Ziele. Zu diesem nicht-kommerziellen Portal gehören mittlerweile 40 von der Plattform gehostete Blogs sowie 42 Mitgliedsblogs, die von den Autorinnen und Autoren selbst betrieben werden. Nur eine Minderheit von ihnen arbeitet als Wissenschaftler, die meisten sind Journalistinnen, Lehrer, Studierende oder interessierte Laien. Angesprochen wird neben dem Fachpublikum ganz explizit die breite Öffentlichkeit.

Im oberen Bereich der Startseite werden die aktuellen Beiträge der Blogs angezeigt. Ein „Best of“ führt zu ausgewählten Artikeln. Darunter stehen thematisch geordnet die Blogs, die zur Plattform gehören. Folgende Disziplinen sind vertreten: Physik, Chemie, Mathematik, Biologie, Gesundheit, Umwelt, Technologie und Politik. Klickt man auf einen Artikel, gelangt man auf das jeweilige Blog, das individuell und mehr oder weniger professionell gestaltet ist.

Geisteswissenschaftliches Portal: Hypotheses.org

hypoIm Jahr 2008 ging Hypotheses.org als französischsprachiges Blogportal für die Geistes- und Sozialwissenschaften an den Start((4)). Die Blogs wurden und werden hier „carnets de recherche“ genannt, also Forschungsjournale, um potentielle Interessenten nicht abzuschrecken. Stattdessen wird damit das für jeden wissenschaftlich Arbeitenden Selbstverständliche – nämlich das Führen eines Notizbuchs – betont, ähnlich wie bei den SciLogs mit dem Untertitel “Tagebücher der Wissenschaft”.

Hypotheses unterscheidet sich von den bisher vorgestellten Portalen darin, dass die Bloggenden dort ausschließlich aus der wissenschaftlichen Community stammen. Folglich kommen die Blogs überwiegend als Mittel der fachinternen Kommunikation und Publikation zum Einsatz und weniger für die Popularisierung von Forschung, was nicht heißt, dass sie nicht parallel die interessierte Öffentlichkeit ansprechen und von dieser wahrgenommen werden. Auch hier steht die Idee im Mittelpunkt, den wissenschaftlichen Blogs mehr Sichtbarkeit zu verleihen und eine Community aufzubauen. Gleichzeitig wird das Eröffnen und Führen eines Blogs erleichtert, indem den Wissenschaftler/innen die technische Seite eines solchen Unterfangens abgenommen wird. Die Plattform bietet das kostenlose Aufsetzen (oder Migrieren), Hosten, und Archivieren eines Blogs an, führt Schulungen durch und steht den Bloggenden mit Rat und Tat zur Seite((5)). Die Blogs können individuell gestaltet werden. Eine wissenschaftliche Redaktion wählt aus den aktuell publizierten Beiträgen die besten für die Startseite aus.

Mittlerweile sind über 600 Blogs aus allen Bereichen der Geistes- und Sozialwissenschaften bei Hypotheses.org vereint und das Portal ist international aufgestellt. Neben der französisch- und deutschsprachigen gibt es auch eine spanischsprachige Einstiegsseite. Eine Stärke der Plattform ist neben der internationalen Ausrichtung der inhaltliche Zugang zu den Blogs über einen Blogkatalog und ein Kategoriensystem. So kann man sich beispielsweise zum Thema Sprache und Linguistik alle Blogs der Plattform sprachübergreifend anzeigen lassen.

Thematisches Portal: Culture visuelle

culturevisuelleEine Besonderheit der französischen Blogosphäre ist die Existenz einer thematischen wissenschaftlichen Blogplattform: Culture visuelle. Das an einer Pariser Universität((6))  angesiedelte Portal hat als Einzelblog angefangen und versteht sich mittlerweile als „Blogfarm“ von Wissenschaftler/innen, Lehrenden, Studierenden, die kollaboratives Schreiben unter Aufsicht eines Editionsteams erproben wollen. Rund 50 Blogs zu allen Themen der visuellen Kultur sind dort versammelt: Bild und Bildlichkeit, Fotos, Film, Kino, Ikonen, Verwendung von Bildern, Anthropologie von Fotos etc. Einige der Blogs sind seminarbegleitend. Die Startseite ist ein „Best of“ von Beiträgen, die aus den aktuellen Blogartikeln ausgewählt wurden. Die zur Plattform gehörenden Blogs sind graphisch einheitlich gestaltet. Die inhaltliche Erschließung der Beiträge erfolgt über 50 festgelegte gemeinsame Tags. Einen weiteren Zugang zu den Blogartikeln gibt es über ein Auswahlmenü nach Textgenres, das mit der Aufteilung nach Rezensionen, Gastbeiträge, Bibliothek jedoch wenig hilfreich ist, wenn man sich das erste Mal auf das Portal verirrt. Da die thematische Kohärenz der Blogs durch das übergeordnete Thema gegeben ist, fällt das nur geringfügig ins Gewicht. Culture visuelle hat bei Facebook über 2.940 Fans, so dass das Publikum über den engeren Kreis der Wissenschaft hinausgehen dürfte.

Exkurs: Wir machen was Eigenes

Auf der Startseite von C@fe des sciences fällt unter der Auswahl der sozialen Medien ein Kürzel auf, das Nicht-Franzosen unbekannt sein dürfte: Knowtex. Dahinter verbirgt sich ein soziales Netz, das von den Betreibern des C@fe des sciences aufgebaut wurde. Das übergeordnete Thema des Netzes sind die Veränderungen, die das 21. Jahrhundert gegenwärtig durch Wissenschaft, Industriedesign und Technologie erfährt. Knowtex funktioniert wie ein Linkshare-Dienst, ähnlich wie früher delicious. Man kreiert ein eigenes Profil und sammelt, speichert und annotiert Webressourcen. Derzeit sind es über 2.600 Mitglieder mit mehr als 39.000 Links, Texten, Videos, Fotos, Terminen etc., die auf der gemeinsamen Startseite von Knowtex angezeigt werden. Die Community ist bunt gemischt und besteht aus Journalisten, Künstlerinnen, Wissenschaftlern, Designerinnen und Bloggenden. Ein permanentes Team ist verantwortlich für die editorische Leitlinie der Plattform. Zu Knowtex gehört auch ein eigenes Blog .

 

Zweite Anregung: Vielfalt an Blogtypen

Bei den wissenschaftlichen Blogs des Portals hypotheses.org gibt es eine Reihe von Blogtypen, über die schon verschiedentlich berichtet wurde((7)). Im Unterschied zu den Portalen, die vorwiegend auf die Popularisierung von Inhalten ausgelegt sind, zeigt sich anhand dieser Typen die Nutzung des Mediums Blogs im wissenschaftlichen Alltag. Einige dieser Blogtypen gibt es auch auf der deutschsprachigen Seite des Portas, so dass im Folgenden aus beiden Ländern Beispiele vorgestellt werden.

Blogs von Forschergruppen

Ein Team von Forschenden bloggt über das Thema (Vorstellung der Forschenden und ihrer Themen, Rezensionen, Artikel, Quellen, Hinweise auf Websites, Konferenzen – vor- und nachbereitend, Interviews…) und gibt damit bereits während des Forschungsprozesses Einblick in die laufende Arbeit. Das Blog dient gleichzeitig als Dokumentation für das Forschungsprojekt. Beispiele sind das Blog des Arbeitskreises Popgeschichte Pophistory, das Blog über Design und Wissenschaft Paris Design Lab sowie das gerade frisch gestartete Blog Urbane Gewalt der gleichnamigen Forschergruppe des Projekts „Europa als Herausforderung“.

Thematisch enggeführte Dissertations- und Forscherblogs

enklaskDiese Blogart hat bei de.hypotheses.org im ersten Jahr den meisten Zulauf erhalten. Es zeigt sich, dass gerade Doktoranden mit einem Blog der Einsamkeit des Forschens entgehen und sich vernetzen wollen. Aufgrund ihrer Themenzentrierung wird auf diesen Blogs teilweise weniger diskutiert. Oftmals widmen sich die Doktoranden auch Metathemen des Bloggens oder methodischen Fragen. Beispiele sind das eindrucksvolle Blog enklask über Krieg, Gewalt und Sozialismus in der Bretagne 1900-1940, Das umstrittene Gedächtnis: Erinnerungspraktiken in Skandinavien, das Blog zur mittelalterlichen Archäologie MinusEinsEbene,  Computerspiel und Ästhetik sowie das Forscherblog TEXperimentales, ein Blog über Computerlinguistik.

Thematische Gemeinschaftsblogs

Bei diesen Blogs ist das Thema das verbindende Element. Forschende aus verschiedenen Institutionen nutzen das Blog für ihre Ankündigungen und schaffen dadurch einen zentralen thematischen Publikationsort für die schnelle und direkte Wissenschaftskommunikation. Beispiele sind Ordensgeschichte, ein interdisziplinäres Gemeinschaftsblog zur Geschichte von Klöstern und Orden, Das 19. Jahrhundert in Perspektive, das Frühneuzeit-Blog der RWTH Aachen sowie Mittelalter, interdisziplinäre Forschungs- und Rezeptionsgeschichte.

Blogs eine Zeitschrift begleitend

In Frankreich sind publikationsbegleitende Blogs bei Zeitschriften ein beliebtes Genre. Auf diesen Blogs wird alles publiziert, was nicht in die Zeitschrift passt, z.B. ein Quellenkorpus zu einem bestimmten Thema, Anzeigen von Büchern, Neuigkeiten rund um das Thema etc. Der Vorteil ist, dass im Blog über die Kommentare ein direkter Austausch stattfinden kann, der in einer Zeitschrift nicht möglich ist. Beispiele sind das Blog von Trivium, das Soziologieblog und Actualité du 19e siècle.

Blogs eine Publikation begleitend

lieuxsavoirDoch nicht nur Zeitschriften, auch Buchpublikation können durch Blogs begleitet werden. Ein Beispiel ist das Projekt „Lieux de savoir“, Wissensorte, eine vergleichende Geschichte und Anthropologie der gelehrten Praxis. In dieser Buchreihe sind bisher vier Bänden in einem französischen Verlag erschienen. Das Blog begleitet die Entstehung der Bände, die intellektuelle Konstruktion, die Publikation und die Rezeption. Außerdem werden Neuigkeiten zum Thema aus der Forschung veröffentlicht. Ein weiteres Beispiel ist Achtundvierzig, das Blog zur Aktenedition der Provisorischen Zentralgewalt für Deutschland in der Revolution 1848/49.

 

Blogs über wissenschaftliche Debatten

Auf deutscher Seite noch kaum vorhanden sind Blogs zu (wissenschaftlichen) Debatten. Auf der französischen Seite gibt es in dieser Kategorie z.B. das Blog Evaluation über Evaluation in den Geisteswissenschaften sowie ein Blog über Einstellungsverfahren und Berufsaussichten von Geisteswissenschaftler, wozu es mit gab_log ein deutsches Pendant gibt.

Blogs über wissenschaftliche Methoden

boiteaoutilEbenso hat die deutsche Seite bisher noch kaum Blogs, die ausschließlich einer Methode in den Geistes- und Sozialwissenschaften gewidmet ist. Ein Beispiel dafür ist Opinion mining et sentiment analysis: Werkzeuge und Methoden. Das Blog wird außerdem begleitend zum gleichnamigen Buch geführt und bietet die Möglichkeit, updates in Echtzeit zu diskutieren. Ein weiteres Beispiel ist Quanti über quantitative Methoden in den Geisteswissenschaften sowie das Blog für angehende Historiker/innen Devenir historien-ne und La boite à outil des historiens, ein außerhalb der Plattform laufendes Blog.

Monitoring Blogs

cleoradarMonitoring Blogs werden zumeist von einer Gruppe von Wissenschaftlern geführt und sind einem bestimmten Thema gewidmet. Die Blogbetreiber schreiben dabei keine eigenen Beiträge, sondern sammeln diese von anderen Blogs ein. Über einen bestimmten Tag in den RSS-Feeds werden fremde Blogbeiträge gekennzeichnet, wodurch diese dann auf dem Monitoring-Blog erscheinen. Auf diese Weise entstehen thematische Sammlungen, die nicht aufwändig zu erstellen sind, wenn die Technik erst mal eingerichtet ist. Ein Beispiele dafür ist Cleo Radar zum Thema elektronisches Publizieren.

 

Und außerdem…

Weitere Blogtypen sind Blogs zu einer Veranstaltung, wie z.B. Rezensieren, Kommentieren, Bloggen, universitäre Seminarblogs, wie z.B. Soziale Medienbildung oder Digitales Geschichtslernen.

Exkurs: Die Medienvielfalt nutzen

Am Beispiel der Arbeitsgruppe Criminocorpus über Justiz-, Rechts- und Kriminalitätsgeschichte wird deutlich, wie man die verschiedenen Medien nutzen und ineinandergreifen lassen kann: Neben der eigenen Website hat Criminocorpus eine Zeitschrift, ein Themenblog, auf dem Kolloquien und Seminare angekündigt, Ausstellungen, Rezensionen, Veröffentlichungen publiziert und Forschung und Forschergruppen vorgestellt werden, sowie ein Monitoring-Blog für die thematische Sammlung von Beiträgen anderer zur Justizgeschichte. Und natürlich ist Criminocorpus in den sozialen Medien aktiv und bringt es bei Facebook beispielsweise auf stolze 2.076 Fans.

 

Dritte Anregung: Vielfalt der Themen

Bei der kurzen Vorstellung der verschiedenen Blogtypen ist bereits die thematische Vielfalt der französischen Blogosphäre jenseits der Generalistenblogs angeklungen. Dies hängt mit der Existenz der Projekt- und Dissertationsblogs zusammen. Da diese auf deutscher Seite ebenfalls stark zulegen, ist auch diesseits des Rheins eine weitere Auffächerung des Themenspektrums bei Einzelblogs zu erwarten. Die behandelten Themen selbst hängen im Wissenschaftsbereich natürlich eng mit der jeweiligen Forschungskultur eines Landes zusammen. Im Folgenden sei zusammenhangslos und ohne Vollständigkeit auf ein paar Themenbereiche hingewiesen, die in Deutschland noch kaum besetzt sind. Die Beobachtungen stützen sich dabei weitgehend auf die Blogplattformen. Weitere Blogideen gibt es übrigens im kürzlich erschienenen anregenden Artikel von Michael Schmalenstroer, Blogs, die noch fehlen.

Geisteswissenschaften

Bei den Geisteswissenschaftlern sind in Frankreich Blogs über Justizgeschichte und Kriminologie wie Regards sur le droit public sowie Blogs zur Ur- und Frühgeschichte zahlreich. Besonders beliebt sind Ausgrabungsblogs von Archäologen, die ihr Ausgrabungsjournal, das sie ohnehin führen müssen, öffentlich machen. Beispiele dafür sind das Blog Arles-Rhone über Unterwasser-Bergungen eines gallo-romanischen Bootes in der Rhone, das bis 2010 geführt wurde. Oder das Blog Cahiers de terrain de Raymond Mauny, bestehend aus den Archiv-Tagebüchern des Afrika-Forschers der Jahre 1942 bis 1962, als er Leiter der Abteilung „Archäologie und Vorgeschichte“ des Institut français d’Afrique noir in Dakar war. Die Einträge werden rückdatiert auf das Datum des tatsächlichen Eintrags publiziert.

Was sich bei den Geisteswissenschaften noch zögerlicher entwickelt als bei den Naturwissenschaften sind Blogs, die sich explizit an die breite Öffentlichkeit wenden. Vermutlich scheuen sich viele Geisteswissenschaftler/innen aus Prestigegründen, ein Blog ausschließlich für die Vulgarisation von Forschungsergebnissen zu führen. Beispiele für diese Art von Blogs sind das englischsprachige Blog The Recipes Project, in dem mittelalterliche Rezepte, Essen, Zauberei und Medizin expressis verbis für eine breite Öffentlichkeit aufbereitet werden sowie das Blog Olim et Nunc. Histoire et sérendipité, das Zufallsfunden aus dem Bereich Geschichte gewidmet ist. Blogs zur Militärgeschichte dürften mit Blick auf die breite Öffentlichkeit ebenfalls erfolgreich sein, existieren bisher aber auf der Plattform nicht.

Interdisziplinarität bei kontroversen Themen

prismedeteteAuffallend sind in Frankreich außerdem die Blogs zur Wissenschaftsforschung (Science studies) in der Tradition von Bruno Latour. Dabei werden die Einflüsse von Wissenschaft und Technik auf die Gesellschaft aus einem geisteswissenschaftlichen Blickwinkel betrachtet. Pris(m)e de tête. Les sciences et techniques en société (Prise de tête = Kopfzerbrechen) ist so ein kollektives Blog, gegründet 2009 von einigen Bloggenden des C@fe des Sciences. Behandelt werden kontroverse Themen wie Klima, Krankheiten, Ernährung, Umwelt und Nanotechnologie in thematischen Dossiers und aus verschiedenen Blickwinkeln. Bei hypotheses zählen Blogs wie Infuse! Nos rapports aux sciences oder das Gemeinschaftsblogs Espaces Réflexifs dazu, des Weiteren die Blogs zu Gesundheit und Medizin in geisteswissenschaftlicher Sicht wie beispielsweise Corps et Médecine oder Anthropologie et santé mondiale.

 

Naturwissenschaften

matieresBei den Naturwissenschaften kenne ich mich naturgemäß weniger aus und beschränke mich auf einen kursorischen Überblick (mit Dank an Antoine Blanchard für seine Anregungen): Einer der bekanntesten naturwissenschaftlichen Blogger in Frankreich ist der Wissenschaftler Tom Roud, der seit 2006 regelmäßig auf seinem Blog Matières Vivantes über die Themenbereiche Nanotechnologie, Physik und Biologie bloggt. Er ist Professor in den USA. Auf seiner Übersichtsseite gibt er für jedes Jahr die 10 beliebtesten Blogposts an. Darunter waren in den vergangenen Jahren ein Beitrag “Wie gewinnt man bei Wer wird Millionär?” und “Bullshit-Bingo für Umweltskeptiker”. Ebenso bekannt ist Dr. Goulu und sein Blog Pourquoi Comment Combien. Warum steht dabei für Wissenschaft, wie steht für Technik und wie viel steht für Wirtschaft. Das sind die drei Themen, die er auf seinem seit 2004 existierenden Blog verbinden möchte.

Der Blogger Taupo (Pierre Kerner), Wissenschaftler für evolutive Genetik an der Universität Paris VII, führt das Blog mit dem sprechenden Namen Strange stuff funky things. In einem seiner letzten Beiträge erfreute er mit Bildern von fliegenden Kalamaren. Schön auch sein Beitrag zum Cat Content im Web “L’empreinte des chats dans l’histoire” (Katzenspuren in der Geschichte) u.a. mit dem Bild von Katzenabdrücken auf einem mittealterlichen Manuskript, das auch durch die deutsche und englische Blogosphäre geisterte.

Noch ein kurzer Blick auf die Startseite von C@fé des Sciences und die aktuell dort behandelten Themen: In der Physik wird der Frage nachgegangen, ob es eine mathematische Regel für die Verteilung der Buckel auf einer Skipiste gibt. In der Chemie gibt es Teil 8 der Artikelserie „Pflanzen und ihre Gifte“. Aus der Mathematik wird die Entdeckung der höchsten Primzahl am 25. Januar 2013 berichtet. Im Bereich Gesundheit werden die Leser/innen darüber aufgeklärt, dass es keine Willensfreiheit gibt. Teilweise werden in einer Art Bloggewitter Themendossiers erstellt, wie beispielsweise ein Dossier zum Thema „Tod“.

Interessant ist das Gemeinschaftsblog Idées de Physique, das gleichzeitig Teil der Website Pour la Science ist, dem französischen Pendant von Spektrum der Wissenschaft. Die Blogbetreiber sind bei der Zeitschrift verantwortlich für eine monatliche Chronik zu Physik. Auf der Website der Zeitschrift selbst taucht allerdings das Wort „Blog“ nirgends auf, doch Scilogs.fr ist in Vorbereitung und geht demnächst online! 

Exkurs: Sex sells…

Ein bemerkenswertes Blog ist HARDSciences, das der Popularisierung von aktuellen wissenschaftlichen Studien rund um die Themen Sex und Beziehung gewidmet ist. Die Idee dazu hatte eine Studentin, die ihr Studium mittlerweile beendet und das Blog mit zwei weiteren Personen betreibt. In den letzten Monaten ist es etwas stiller auf dem Blog geworden. Im jüngsten Beitrag vom November 2012 geht es um Verführung in der Welt der Tiere, anlässlich der gleichnamigen Ausstellung in Paris.

… Humor auch

In französischen Wissenschaftsblogs darf es auch mal humorvoll zugehen, was in Deutschland eher selten der Fall ist. Auf der Plattform C@fé des sciences gibt es eigens den Navigationspunkt Humor. Dort findet man beispielsweise das Blog „Freaky Friday Parasite“, auf dem jeden Freitag ein abgefahrenes Parasit vorgestellt wird. Der neueste Beitrag  zeigt einen Wurm, der seinen Wirt ins Wasser und damit in den Selbstmord treibt, wo sich der Wurm dann fortentwickeln kann… (insofern hätte man das auch bei Horror unterbringen können).

 

Vierte Anregung: keine Angst vor Popularisierung

Eine interessante Idee ist die Kennzeichnung der Schwierigkeitsstufe bei Beiträgen, wenn sie sowohl ein Fachpublikum als auch die breite Öffentlichkeit ansprechen. Das Wissenschaftsportal „My Science Work“ beispielsweise gibt bei seinen Artikeln oben in einer Leiste an, für welche Zielgruppe der Beitrag geschrieben wurde: Die Skala reicht dabei in fünf Stufen von „Grand public“ bis „spécialisé“.

kidiscienceDie Naturwissenschaften – das klang bereits an – scheuen sich weniger, wenn es um Popularisierung ihrer Ergebnisse für die breite Öffentlichkeit geht. Die jüngste französische Idee ist das gerade im Februar 2013 gestartete Blogportal Kidi’Science. Eine ideale Seite für alle Eltern, die die Fragen ihrer Kinder nicht beantworten können: Wie wachsen die Arme eines Seesterns? Ist das Universum unendlich? Wie funktioniert der Kühlschrank? usw. Kinder können ihre Fragen selbst auf der Plattform einreichen. Außerdem gibt es eine Linksammlung mit online verfügbaren kostenlosen Quellen zur Astronomie (8-10 Jahre) und Chemie (12-14 Jahre). Wahrscheinlich klicken die Kinder gern auf den Reiter „Experimente für Zuhause“. Dort findet man die Anleitung, wie man in der Badewanne einen Regenbogen erzeugen kann.

 

Fünfte Anregung: andere Genres

stripscienceAus meiner Beobachtung heraus könnte ich nicht sagen, dass in Frankreich generell ein anderer Einsatz von Abbildungen oder Audio und Video bei Wissenschaftsblogs erfolgt. Bis auf eine Ausnahme: Comics! Seit November 2011 gibt es im Land von Asterix und Obelix mit Strip Science ein Blogportal, das zwei getrennte Welten zusammen bringt: die Welt der Comiczeichner und Illustratoren und die der Wissenschaft. Das Portal besteht aus rund 50 Einzelblogs, die zumeist selbst gehostet werden. Ziel des Portals ist es, die Welt der Wissenschaft spielerisch zu erklären und zu zeigen, dass Wissenschaft auch Spaß machen kann und für die breite Öffentlichkeit verständlich und zugänglich ist. Die Beiträge stammen entweder aus einer Hand oder sind in Zusammenarbeit entstanden: ein Blogbeitrag eines Wissenschaftlers, der illustriert, oder eine Idee für eine Bildergeschichte, die dann der Ausgangspunkt für einen Blogbeitrag wurde. Den besonderen Reiz macht gerade diese ungewöhnliche Zusammenarbeit aus. Das Blog HARDscience ist hier schon mehrfach illustriert worden. Außerdem scheinen die bereits erwähnten Parasiten die Illustratoren in besonders hohem Maße zu inspirieren. Zum Selbstmord-Wurm gibt es insgesamt fünf Zeichnungen.

Unter den Comic-Blogs sind zwei, die das Leben als Doktorandin thematisieren (beide von Frauen): Die Beiträge des Blogs PHDelirium reichen thematisch von „Ich konnte nicht arbeiten, es hat geschneit“ über „Ich bin in meinen Doktorvater verliebt“ bis „Das ist nicht Prokrastination, sondern eine Therapie“, alles Themen, die mir auf den ersten Blick ziemlich international erscheinen.

Im Blog Vie de thésarde (Doktorandinnenleben) wird das Leben als Doktorandin der kleinen Nichte erklärt mit über 1.200 Likes für diesen Beitrag bei Facebook. Schön auch der Beitrag „Doctor style“ mit der Zeichnung der Verteidigung der Doktorarbeit vor der Jury, bei der die Kandidatin über dem offenen Feuer geröstet wird.

Dass es sich bei den Betreibern der wissenschaftlichen Comic-Blogs nicht einfach um eine Handvoll Spinner handelt, zeigt das wissenschaftliche Comic-Blogfestival im Sommer 2012, organisiert mit dem CNRS, Frankreichs größtem Forschungsförderer und bedeutendster Forschungsorganisation. Wann wohl die DFG diese Idee aufgreift?

Fazit

Der kursorische Überblick über die französische wissenschaftliche Blogosphäre zeigt eine starke Vernetzung über Blogportale, eine differenzierte Auffächerung an Blogtypen, ein breites thematisches Spektrum, bedingt durch die stärker verbreitete Praktik des forschungsthemenzentrierten Bloggens, die interdisziplinäre Zusammenarbeit bei kontroversen aktuellen Themen, keine Angst vor Popularisierung, Dialog mit der breiten Öffentlichkeit über Themen, die diese interessieren, sowie das Ausprobieren neuer medialer Formen und Zusammenarbeit. Eine Dynamik ist zu erkennen und man darf auf die Weiterentwicklung gespannt sein.

 

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Foto: look 03.04.09 [63] von timlewisnm, Lizenz CC BY-SA (mit Dank an Inger Brandt für die gelungene Wahl)

 

 

  1. Mareike König, Die Entdeckung der vernetzten Vielfalt. Geschichtsblogs bei hypotheses.org, in: Peter Haber, Eva Pfanzelter (Hg.), Historyblogosphere, München (Oldenbourg Verlag) 2013. Open Peer Review Version: http://historyblogosphere.oldenbourg-verlag.de/open-peer-review/m-koenig/.
  2. 2007 ist ein gleichnamiges Buch entstanden, das die Erfahrungen des wissenschaftlichen Bloggens der ersten Jahre resümierte: Pascal Lapointe, Josée Nadia Drouin, Science! on blogue. Le nouveau monde d’Internet, Québec, MultiMondes, 2007. Leseprobe: http://multim.com/titre/?ID=221
  3. Podcast der Vorstellung der Plattform durch Antoine Blanchard auf der Tagung “Im Netz der sozialen Medien” 2011 am DHIP http://www.dhi-paris.fr/de/home/podcast/digital-humanities-am-dhip-3.html.
  4. Vgl. Mareike König, Blogging tricolore. Geisteswissenschaftliche Blogs in Frankreich, in: Archivalia 11.8.2011 http://archiv.twoday.net/stories/38743431/
  5. Weitere Informationen zum Angebot finden sich hier: http://redaktionsblog.hypotheses.org/413.
  6. Laboratoire d’histoire visuelle contemporaine (Lhivic) an der EHESS, Paris.
  7. Vgl. König, Die Entdeckung der vernetzten Vielfalt http://historyblogosphere.oldenbourg-verlag.de/open-peer-review/m-koenig/.

Quelle: http://redaktionsblog.hypotheses.org/993

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Ein Jahr „Netz und Werk“ – Geschichtswissenschaft zwischen E-Journal und Blogosphäre

  Telse Först und Anton F. Guhl Vor einem Jahr, zum Februar 2012, ging „Netz und Werk“ als einer der Gründungsblogs des deutschsprachigen Hypotheses-Netzwerkes online. Inzwischen sind zwölf Artikel gepostet. In der Spitze haben über 900 verschiedene Besucher bis zu 14.000 … Weiterlesen    

Quelle: http://netzwerk.hypotheses.org/1686

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Jetzt abstimmen: Top Five der besten Blogbeiträge und besten Blogs bei de.hypotheses.org

geburtstagZeit zu feiern: de.hypotheses.org wird 1! Wieviel ein digitales Jahr in Menschenlebensjahre umgerechnet ist, darüber gibt es bislang noch keine sicheren Angaben. Sicher ist aber, dass de.hypotheses.org schon länger aus seinen Kinderschuhen herausgewachsen ist. Der erste Geburtstag, den wir am 9. März feiern können, ist deswegen Anlass zum virtuellen Feiern und zur Bestandsaufnahme: über 60 Blogs versammeln sich mittlerweile unter de.hypotheses und es werden immer mehr. Virtuell feiern wollen wir das Ganze mit zwei Abstimmungen.

Top Five der besten Blogbeiträge

Die Redaktion hat im letzten Jahr besonders lesenswerte Beiträge mit einer Aufnahme in den Slider auf de.hypotheses.org gewürdigt – unter diesen insgesamt 42 Blogeinträgen besteht nun die Möglichkeit, die persönliche Top Five der Blogeinträge zu wählen. Die Umfrage zu den Fünf besten Blogeinträgen gibt es hier.

Top Five der besten Blogs

Hier stehen alle bereits aktiven und in den Katalog von hypotheses.org aufgenommenen Blogs zur Auswahl (insgesamt 42). Zur Abstimmung der Fünf besten Blogs des letzten Jahres geht es hier. Jeder Teilnehmer hat bei beiden Votings fünf Stimmen. Die Umfrage läuft bis zum 7. März 2013. Zu gewinnen gibt es zwar nichts Gegenständliches, aber Ruhm und Ehre und einen Laudatio-Artikel hier im Bloghaus. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Bitte bei einer Teilnahme beachten: Nach Abgabe der Stimmen wird die IP-Adresse des genutzten Rechners in Zusammenhang mit der Umfrage gespeichert, sodass von dieser IP-Adresse nicht erneut abgestimmt werden kann. Die Teilnehmer der Umfrage werden mit ihrem angegebenen Vornamen und gegebenenfalls auch mit Gravatar angezeigt, der mit der jeweiligen Mailadresse verknüpft ist.

Quelle: http://redaktionsblog.hypotheses.org/961

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Archivbau virtuell: Bausteine für ein Archiv 2.0

Die gegenwärtige Aktivität deutscher Archive im virtuellen Raum umfasst im Wesentlichen zwei Bereiche: 1) Den Unterhalt einer Homepage, die den Nutzer mit grundlegenden Informationen zum Archiv versorgt (Ansprechpartner, Öffnungszeiten, Nutzungsmöglichkeiten), 2) Die Korrespondenz mit den Nutzern über den Mailkontakt, vorrangig zur Beantwortung von Anfragen. Diese Internet-Auftritte sind bisweilen umfangreicher mit aktuellen Projekten und Publikationen, ausgewählten Fachinformationen, Quellenpräsentationen (bspw. „Archivalie des Monats“) o.ä. versehen, dienen (zu) häufig allerdings als bloße virtuelle Visitenkarte mit geringer Aussagekraft. Bei diesen Internetauftritten handelt es sich letztendlich um eine praktische, gleichwohl jedoch banale Übersetzung traditioneller analoger archivischer Arbeitsprozesse in den virtuellen Raum (Anfragenbeantwortung, Beständeübersichten, Informationsbroschüren). Der erhebliche Mehrwert, den das Internet den Archiven bietet, ist in Deutschland bislang allenfalls ansatzweise ausgelotet worden. Gleichwohl versucht eine zunehmende Zahl von deutschen Archiven, die neuen Medien zu nutzen, um ihre Arbeit effektiver, kundenfreundlicher oder schlicht zeitgemäßer zu gestalten. Diese Versuche können eine verstärkte Präsentation von Archivgut und Beständeübersichten im Internet zum Ziel haben (hier engagiert sich auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft mit ihren Fördermöglichkeiten stark), beziehen sich vermehrt aber auch auf die Nutzung von sozialen Medien (Web 2.0). In diesen Bereich gehört beispielsweise das Projekt des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen, seine Aktivitäten im sozialen Netzwerk Facebook zu präsentieren und somit eine breitere Nutzerschicht zu erreichen und neue Formen der Nutzerkommunikation auszutesten. Hierfür wurden (und werden) allen interessierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die damit verbundenen Ideen und Ziele nähergebracht, um die Akzeptanz des Projekts zu steigern. Im Rahmen dieser internen Projektvorstellung entstand auch ein Überblick über die verschiedenen Elemente eines sogenannten Archivs 2.0, die sicherlich eine gewisse Allgemeingültigkeit beanspruchen können und deshalb auch hier einer breiteren Öffentlichkeit präsentiert werden sollen. BLOGBEITRAG Bausteine Archiv 2-0 Den beiden Elementen „Homepage“ und „Mailkorrespondenz“ werden im Archiv 2.0 eine ganze Reihe von weiteren Bausteinen zur Seite gestellt, die eine deutlich umfangreichere Präsenz im virtuellen Raum ermöglichen. Die Metapher des Bausteins versinnbildlicht dabei, dass ein Archiv 2.0 unterschiedlich komplex aufgebaut werden kann und die einzelnen Bausteine modular einsetzbar sind. Ein Archiv 2.0 ist keine Konstruktion, die aus stets den gleichen Bausteinen bestehen muss, vielmehr können die unterschiedlichen Bausteine in unterschiedlichen Anordnungen miteinander kombiniert werden. Die Verwendung weniger Bausteine ergibt ein schlichtes Bauwerk, die Verwendung vieler Bausteine hingegen ein ansehnliches Gebäude mit ausdifferenzierten Bereichen. Ein Archiv 2.0 kann so etwas wie ein Wohnzimmer mit Fernsehsessel sein oder ein öffentliches Forum mit Galerien und Kinosälen, Gesprächsecken und Konferenzräumen, Arbeitszimmern und Lesesälen. Die Bausteine dazu stammen aus einer von drei Schubladen: Manche Bausteine ermöglichen die Präsentation von Informationen, sei es zu Archivalien, zu Beständen, zur Nutzung o.ä.; sie sorgen also für die Bereitstellung von Inhalten (neudeutsch: Content). Die klassische Homepage gehört hierzu, liefert sie doch grundlegende Basisinformationen: Was macht das Archiv? Wie kann ich das Archiv nutzen? Welche Dokumente kann ich im Archiv finden? Gerade letztere Frage ist für den Nutzer von zentralem Interesse, weil virtuelle Beständeübersicht und Findbücher die entscheidenden Hinweise zur Nutzung des Archivs bieten. Daneben ist die Möglichkeit zur Bereitstellung von Digitalisaten ein weiterer wichtiger Baustein in der Inhalts-Schublade. Gerade größere Archive verbinden diesen Baustein mit der Homepage bzw. den Online-Findbüchern, doch auch die Nutzung von Sharing-Plattformen ist eine bequeme und einfache Möglichkeit, die insbesondere für kleinere Archive attraktiv sein kann. Kostenlose Anbieter mit millionenstarker Nutzerklientel gibt es für viele Bereiche, etwa für Bilder (Flickr etc.), Videos (Youtube etc.), Präsentationen oder Texte (Slideshare etc.). Manche Plattformen haben mittlerweile Bereiche, die bereits auf professionelle Kulturinstitutionen zugeschnitten sind (z.B. Flickr Commons). Basisinformationen und digitale/digitalisierte Inhalte haben somit ihren Baustein, für umfangreichere Hintergrundinformationen bietet sich ein Blog als empfehlenswerter Baustein an. In einem Blog können detailliertere Informationen zu spezifischen Themen behandelt werden: Wie funktioniert die gegenwärtige Überlieferungsbildung? Wie geht das Archiv mit aktuellen Herausforderungen (bspw. digitale Archivierung) um? Welche Bestände bieten Material für momentane historische Diskussionen/Jubiläen/Kontroversen? Blogbeiträge können Einsicht in aktuelle Arbeitsprozesse liefern und Arbeitsweisen und Projekte transparent machen. Als Teil der archivfachlichen Diskussion können sie zur Information der Fachwelt beitragen und idealerweise helfen, Herausforderungen und Probleme miteinander zu besprechen oder gar zu bewältigen. Helfen Blogs somit, bestimmte Themen intensiver darzustellen, so bietet schließlich der vierte Baustein der Inhalts-Schublade die Möglichkeit zur Präsentation von aktuellen Kurzinformationen, nämlich durch die Nutzung von Micro-Blogging-Funktionen. Solche bieten etwa Twitter, ebenso aber auch die sozialen Netzwerke wie Facebook oder Google+. Aktuelles, Interessantes, Nützliches oder Wissenswertes kann mit kurzem Text, Bild oder Link direkt an interessierte Nutzer übermittelt werden. Der zusätzliche Mehrwert im Sinne einer viralen Weiterverbreitung kommt hier noch hinzu, fällt aber in den Bereich der Kommunikation und gehört damit bereits zur nächsten Schublade. Die Bausteine dieser zweiten Schublade erlauben allesamt den Aufbau von Kommunikationskanälen zur Verbreitung von Informationen. Klassisch läuft dieser Prozess über die Homepage eines Archivs, was aber einige strukturelle Schwächen mit sich bringt. Informationen, die auf die Homepage gestellt werden, haben keinen unmittelbaren Bezug zu einem Nutzer. Sie werden dort vorgehalten, bis sie eingesehen werden – oder auch nicht. Homepages basieren darauf, dass sie regelmäßig von Nutzern besucht werden, die sich auf ihnen über die angebotenen Informationen kundig machen. Die Bausteine der Kommunikations-Schublade drehen dieses Verhältnis um, in dem nicht mehr der Interessent nach Informationen suchen muss, sondern die Informationen direkt dem Interessenten zugeleitet werden. Ein simpler Baustein in diesem Prozess ist ein RSS-Feed: Die Homepage erhält eine Funktion, mit der alle Veränderungen, die an ihr vorgenommen werden (neue Inhalte, neue Meldungen), dem interessierten Nutzer zufließen. Ein Blick auf den Feed-Reader liefert die neuen Informationen, womit das Durchklicken zahlreicher Homepages auf der Suche nach Neuigkeiten entfällt. Ähnlich funktionieren soziale Netzwerke als Baustein des Archivs 2.0: Auch hier werden die vom Archiv stammenden Nachrichten direkt dem interessierten Nutzer zugeleitet; er bekommt diese Nachrichten auf seinem persönlichen Profil zu lesen, ohne dass er aktiv nach Neuigkeiten suchen muss. Sowohl Postings innerhalb des sozialen Netzwerks erreichen den Nutzer auf diese Weise als auch dort platzierte Homepage-Aktualisierungen, Blog-Beiträge u.ä. Ergänzt wird diese Funktion durch die Vernetzung innerhalb der sozialen Netzwerke, wodurch die eigenen archivischen Nachrichten von anderen Nutzern weiterverbreitet werden können oder das archivische Profil als Pinnwand für nutzergenerierte Informationen dienen kann. Ein dritter Baustein, um dem Nutzer archivische Inhalte zukommen zu lassen, ist schließlich der Kurznachrichtendienst Twitter. Auch hier können Informationen direkt dem interessierten Nutzer zugeleitet werden und auch hier ist die Weiterverbreitung dieser Informationen durch die Nutzer intendiert. Bewegen sich Postings und Tweets eher im Bereich knapper und öffentlicher Informationsvermittlung, so bleibt – auch das gilt es zu betonen – für die klassische Nutzeranfrage mit ihrem spezifischem individuellem Informationsinteresse nach wie vor die Mailkorrespondenz der sinnvollste Baustein (auch wenn eine Anfragenbeantwortung über andere Kommunikationskanäle durchaus denkbar wäre). Drittens schließlich bietet die Schublade Interaktivität dem Archiv 2.0 eine ganze Reihe von Bausteinen, um mit den Nutzern in einen gegenseitigen Austauschprozess zu treten. Dabei geht es – in ansteigender Komplexität – um die Diskussion archivischer Themen, die Sammlung von archivrelevantem Wissen und die Einbeziehung von Nutzern in archivische Aufgaben. Mit den schon erwähnten Bausteinen Blogs, Twitter und soziale Netzwerke lässt sich bereits in eine Kommunikation mit den Nutzern eintreten: ganz niederschwellig über das Liken und Sharen von präsentierten Inhalten, darüber hinaus durch die Möglichkeit zum Kommentieren von Beiträgen und Postings. Egal ob Blogs, Facebook oder Twitter: eine Kommentarfunktion ist immer vorhanden und sollte genutzt werden, um auch mit den Nutzern zu sprechen. Ein Feedback von Nutzerseite ist mindestens zu erreichen, das über den konkreten Anlass hinaus auch der gegenseitigen Bindung von Archiv und Nutzern dient. Im besten Fall lassen sich gar archivische Themen diskutieren und erfolgversprechende Diskussionsergebnisse zur Verbesserung der archivischen Arbeit einsetzen. Die Arbeit des Archivs kann durch die Nutzer interessiert und kommentierend begleitet werden. Über diese bloße diskursive Beteiligung der Nutzer hinaus gehen alle weiteren Bausteine der Interaktivitäts-Schublade, zielen sie doch auf die aktive Einbindung der Nutzer in archivische Arbeitsprozesse, auf das sogenannte Crowdsourcing. Nutzer konsumieren nicht lediglich die Angebote des Archivs, sondern partizipieren an der Erstellung dieser Angebote, etwa durch die Erstellung von themenbezogenen Inventaren, die (unterstützende) Erschließung von Archivalien und Beständen, die Transkription und Verschlagwortung von Archivalien u.v.a.m. Der Fantasie sind hier kaum Grenzen gesetzt. Instrumente für diese Arbeit wären beispielsweise Wikis, die ein unkompliziertes kollaboratives Sammeln von Wissen erlauben. So könnte ein Archiv ein Benutzungs-Wiki einrichten, in dem zu bestimmten Archivalien, Beständen oder Themen relevante Informationen (wie Überlieferungsspezifika, Gegen-/Parallelüberlieferung, Transkriptionen) durch die Nutzer gesammelt werden können. Andere Instrumente eines Crowdsourcing sind im nicht-archivischen Bereich bereits online zu erkennen: So ermöglicht etwa Flickr das eigenständige Taggen/Verschlagworten (und Kommentieren) von Bildern oder Wikisource das kollaborative Transkribieren von Quellen. Bei beiden Anbietern ist zu erahnen, welches immense Potential für die archivische Arbeit in ihren Funktionalitäten steckt. Archive könnten an den Möglichkeiten dieser Plattformen partizipieren und textliches oder visuelles Archivgut bereitstellen. Insbesondere aber stellen diese Funktionalitäten nachahmenswerte Vorbilder dar, die Archive gegebenenfalls in eigenständigen Lösungen für ihre spezifischen Belange adaptieren könnten. Unter den präsentierten Bausteinen wären solche kollaborativen Funktionalitäten sicherlich das komplizierteste Element, sind aber durchaus von manchen Archiven – mit beeindruckenden Ergebnissen – bereits eingesetzt worden (vgl. das „Citizen Archivist Dashboard“ des us-amerikanischen National Archives oder das Projekt „Vele Handen“ des niederländischen Nationaal Archiefs). Es dürfte nicht zu hochgegriffen sein, zu sagen, dass diese praktischen Formen der Interaktivität die archivische Arbeit hinsichtlich öffentlicher Wahrnehmung, effizientem Ressourceneinsatz und der Vernetzung von Wissen maßgeblich verändern bzw. verbessern können. Dieser Veränderungsprozess ist vorrangig ein mentaler: „It’s not about technology, it‘s about attitude“. Die Nutzung und Verknüpfung der genannten Bausteine eines Archivs 2.0 wird den bisherigen Umgang von Archiven und Nutzern verändern. Archive werden nach wie vor Bereitstellung und Überlieferungsbildung als originäre Kernaufgaben erfüllen, doch die Art und Weise dieser Aufgabenerfüllung wird sich wandeln. Auch wenn eine Komplettdigitalisierung wohl auf absehbare Zeit ein unerreichbarer Traum bleiben wird, so wird der virtuelle Raum doch sehr wohl ein wichtiger Bereich archivischer Arbeit sein. Dort können Archive interessierte Nutzergemeinschaften um sich herum aufbauen, die direkt mit Informationen und Inhalten versorgt werden können und sich über archivische Belange austauschen können. Aus diesen Nutzergemeinschaften können Ressourcen und Wissen generiert werden, um Archivalien und Bestände zu bearbeiten, zu erschließen, zu diskutieren und zu verknüpfen. Abschließend bleibt die Frage: Wo aber anfangen? Den Grundstein für ein Archiv 2.0 muss jedes Archiv selbst bestimmen, falsch machen kann man wenig („Act now. Think later. Nobody will die“). Bei der Verknüpfung der Bausteine zeigt sich jedoch, dass ein Baustein tatsächlich alle drei Bereiche (Inhalt, Interaktivität, Kommunikation) abdecken kann: Facebook. Diese Tatsache dürfte (neben der Einrichtung und Unterhaltung ohne größeren Ressourcenaufwand) der Grund sein, dass Facebook gegenwärtig ein steigendes Interesse der deutschen Archive entgegengebracht wird. Gepostete Inhalte erreichen Interessenten unmittelbar, Feedback dieser Interessenten ist ebenso unmittelbar erkennbar (liken, sharen) und Kommunikation über die geposteten Inhalte ist problemlos möglich. Die Präsenz in dem sozialen Netzwerk ist somit ein guter Ausgangspunkt, um den Bau eines Archivs 2.0 zu beginnen. Damit ist jedoch nur das Fundament gelegt. Andere Bausteine sind nötig, um ein Archiv 2.0 noch mit Wänden, Dach und Inneneinrichtung zu versehen. (Bastian Gillner)

Quelle: http://archive20.hypotheses.org/537

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Über Sprache und Tierkommunikation

  Kürzlich erschien in einer populären Wissenschaftszeitschrift ein Artikel1 zur “Gabe der Sprache”, in dem auch thematisiert wurde, ob und in wie weit sich menschliche Sprache von so genannten “Tiersprachen” unterscheidet. In der Klärung dieser Frage blieb der Artikel allerdings sehr vage, was mich ein wenig ärgerte und letztlich dazu veranlasste, selbst etwas darüber zu schreiben. Gradueller oder fundamentaler Unterschied? Die Beschäftigung mit dem Thema blickt auf eine lange Tradition zurück: Schon Aristoteles und Epikur stellten Mutmaßungen über den Status der Verständigung von Tieren untereinander an. Für René Descartes, der in seinem Dualismus streng zwischen Geist und Materie trennte, ist die Sprache Ausdruck des Verstandes, also auf der geistigen Seite der Welt verortet, während Tiere als seelenlose Automaten keine solche haben können. Einen derart fundamentalen Unterschied zwischen menschlicher Sprache und Tierkommunikation nimmt im 20. Jahrhundert auch der Linguist Noam Chomsky an, der Sprache als spezifisch menschliches Organ ansieht, das zwar genetisch determiniert ist, in der Evolution aber lediglich den Menschen zufiel. "Gandhiji's Three Monkeys" von Kalyan Shah, CC-BY-SA Die Gegenposition wird von den Anhängern der Kontinuitiätstheorie vertreten, die von einem Stufenmodell tierischer Kommunikation ausgehen, in dem die menschliche Sprache die höchste bekannte Stufe einnimmt. Einer ihrer Vertreter ist Charles Darwin, der viele Parallelen in der nichtsprachlichen Kommunikation von Menschen und höheren Tierarten ausmacht und die Tatsache der Entwicklung einer komplizierten Lautsprache vor allem auf die Größe und Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns zurückführt. Die Kontinuitätstheorie hat auch in unserem Jahrhundert noch Anhänger, welche sich vor allem auf Studien zur Kommunikation von Tieren berufen. Natürliches Verhalten oder gezieltes Training? Kommunikation mit Artgenossen ist für viele Tierarten überlebenswichtig, etwa wenn es um die Suche nach Nahrung oder um die Warnung vor Feinden geht. Die komplexesten bekannten Beispiele sind dabei sicherlich der Schwänzeltanz von Honigbienen und das Alarmrufsystem von Meerkatzen. Neben der Beobachtung dieser natürlichen Verhaltensweisen wird oft auch versucht, der Sprachfähigkeit von Tieren über speziell entwickelte Versuchsanordnungen auf die Spur zu kommen. Dazu wird entweder das Vorhandensein von für die menschliche Sprache als grundlegend angenommene Fähigkeiten überprüft (z.B. Kombinationsfähigkeit, Verarbeitung rekursiver Strukturen; darauf gehe ich unten noch genauer ein), oder es wird sogar versucht, mit Tieren über eigens geschaffene Sprachkonstrukte zu kommunizieren. Hinsichtlich solcher sprachbasierter Mensch-Tier-Kommunikation wurden die besten Ergebnissen mit Primaten erzielt. Da Affen nicht über einen Sprechapparat verfügen, der mit dem menschlichen vergleichbar ist, konnte dabei nicht auf verbale Kommunikation zurückgegriffen werden. Stattdessen wurden Gesten oder Symbolbilder entwickelt und den Primaten beigebracht. Diese begriffen mal mehr, mal weniger schnell, dass bestimmte Symbole bzw. Gesten für bestimmte Konzepte standen und sich daraus produktiv eigenständige Kombinationen bilden ließen. So antwortete die trainierte Schimpansendame Washoe etwa, als sie aufgefordert wurde, sich zu Radieschen zu äußern (für die sie keine eigene Geste gelernt hatte) mit einer Kombination der Gesten für “Weinen”, “wehtun” und “Frucht”. Sonderlich geschmeckt hatten sie ihr also nicht. Inhaltliche oder formale Unterschiede? Die Kluft zwischen Mensch- und Tiersprachen scheint also gar nicht so weit und tief zu sein, wie manche bis zur Durchführung der Primaten-Experimente annahmen. Zumindest der produktive Einsatz von Sprachsymbolen scheint auch Tieren gelingen zu können. Ohnehin rütteln neuere Forschungsergebnisse an so gut wie jedem kategoriellen Unterschied, der zwischen der menschlichen Sprache und den Kommunikationssystemen von Tieren postuliert wurde. Der Linguist Charles Hockett erarbeitete eine Aufstellung von 13 Merkmalen, die lautsprachliche Kommunikation auszeichnen. Hockett selbst ist Anhänger der Kontinuitätshypothese, geht also davon aus, dass kein kategorieller Unterschied zwischen der Kommunikation von Tieren und menschlicher Sprache existiert. So finden sich dann auch viele der von Hockett angeführten Merkmale bei verschiedenen Ausprägungen der Tierkommunikation, etwa der Transport von Bedeutung und – wie oben gesehen – die Produktivität.2 Was bleibt also noch an spezifischen Merkmalen für die menschliche Sprache übrig? Lassen sich vielleicht auf inhaltlicher Seite Unterschiede ausmachen, also bei dem, was Anlass der Verständigung ist? Oft heißt es, animale Kommunikation sei an den Moment gebunden, Tiere verständigten sich nicht über Zukünftiges oder Vergangenes. Sie seien auch nicht fähig zur Metasprache, also der Verständigung über die Sprache selbst. Ich halte diese inhaltlich motivierten Unterschiede für schwer überprüfbar, so lange wir z.B. Vogel- und Walgesänge nicht wirklich verstehen. Bleiben die Unterschiede, welche die Form / die Organisiertheit von Sprache betreffen. Nach Chomsky ist ein Wesensmerkmal menschlicher Sprachen, dass sie rekursive Strukturen enthalten. Diese sorgen dafür, dass man mit einem begrenzten Inventar sprachlicher Einheiten und Verknüpfungsregeln prinzipiell unendlich viele Sätze erzeugen kann. Solche rekursiven Strukturen lassen sich z.B. bei sogenannten Schachtelsätzen, also der Einbettung immer neuer Relativsätze, beobachten: Der Löwe, der den Kojoten, der das Pferd, das graste, fraß, jagte, [hat schöne Augen]. Ungeachtet dessen, dass Sätze dieser Art schnell inakzeptabel werden, sind ihre Bildungen prinzipiell möglich. Sie gehorchen dem Schema anbn, das heißt für jedes a (hier: Subjekt) muss genau ein b (hier: Verb) folgen. Und zwar nicht umgehend (das entspräche dem Muster (ab)n und wäre ohne rekursive Bildungsregeln zu erfassen), sondern erst, nachdem alle a aufgezählt wurden. Um einen solchen Satz zu prozessieren ist ein sogenannter Kellerspeicher notwendig, mit dem protokolliert werden kann, wie viele a denn nun auftraten. Gemäß der Chomsky-Hierarchie formaler Sprachen ist ein solches Kommunikationssystem mindestens auf der zweiten, der kontextfreien Stufe anzusiedeln, deren Beherrschung Chomsky eben nur den Menschen zutraut. Tatsächlich schienen Studien an Liszt-Äffchen zu bestätigen, dass diese rekursive Strukturen nicht erkennen konnten. Spätere Forschungen ergaben allerdings, dass Stare damit offensichtlich kein Problem hatten. Damit bleibt eigentlich nur noch ein Strukturmerkmal übrig, das der menschlichen Lautsprache vorbehalten ist: Das Prinzip der doppelten Artikulation Das Prinzip der doppelten Artikulation oder der zweifachen Gliederung, wie es vielleicht weniger irreführend bezeichnet werden könnte, geht auf den französischen Linguisten André Martinet zurück und wird für Zeichensysteme verwendet, die mehrere Gliederungsebenen aufweisen. So findet sich in allen natürlichen Sprachen eine Ebene, welche die grundlegenden sprachlichen Einheiten enthält (Phoneme oder in der Schriftsprache Grapheme), aus denen alle anderen Einheiten zusammengesetzt sind. Diese Einheiten tragen selbst keine Bedeutung, können aber sehr wohl Bedeutung unterscheiden. Aus der Kombination dieser Grundbausteine resultieren größere Einheiten (die kleinsten davon sind Morpheme, die wiederum zu Wörtern, Phrasen, Sätzen usw. kombiniert werden können), welche dann auch mit Bedeutungen verknüpft sind. Ein Beispiel: H und F tragen an sich keine Bedeutung, unterscheiden aber auf formaler (nicht inhaltlicher) Ebene Hund von Fund (ich erspare den Lesenden hier die lautsprachliche Transkription). Dadurch, dass es ein Inventar von Einheiten gibt, die nicht an eine Bedeutung gekoppelt sind, aber Bedeutungen unterscheiden und dazu auf vielfache Art kombiniert werden können, ist die menschliche Sprache so extrem produktiv. Zwar war auch die Schimpansin Washoe produktiv – allerdings nur auf einer Ebene: Sie kombinierte bereits bedeutungstragende Einheiten miteinander. Das gleiche gilt auch für die natürlichen tierischen Kommunikationssysteme Bienentanz und Meerkatzenruf: Ein Symbol trägt eine Bedeutung, kann aber mit anderen bedeutungstragenden Symbolen kombiniert werden. Ist das Prinzip der doppelten Artikulation also die differentia specifica, die menschliche Sprachen von allen anderen Kommunikationssystemen unterscheidet? Das dachte ich zumindest noch bis vor kurzem, fand dann aber diese Studie zu lesenden Pavianen. Offenbar sind die Paviane in der Lage, kleine, an sich nicht bedeutungstragende Einheiten – hier Buchstaben/Grapheme in für sie bedeutungstragende (nämlich Futter versprechende) Wörtern zu identifizieren. Auch wenn die Autoren das nicht thematisieren (ihnen geht es vor allem darum, statistisches Lernen und visuelle Objekterkennung als artübergreifende Fähigkeiten darzustellen), ist die Studie, wenn sie bestätigt wird, ein starker Hinweis darauf, dass nicht nur Menschen doppelt gegliederte Systeme verarbeiten können. Damit wäre auch das letzte der exklusiv der menschlichen Sprach-Kommunikation vorbehaltenen Merkmale gefallen. ———— 1 Im “Gehirn und Geist” Sonderheft “Streit ums Gehirn”, erschienen 01/2013, online leider nur für Abonnenten zugänglich. Dafür hat der Spektrum Verlag aber eine große Themenseite für den Komplex Sprache eingerichtet, wo viele der Artikel frei verfügbar sind. 2 Eine Aufstellung der Hockett’schen Merkmale nebst einer übersichtlichen Tabelle findet sich etwa im (von mir immer sehr enthusiastisch empfohlenen) Buch “Die Cambridge Enzyklopädie der Sprache | The Cambrige Encyclopedia of Language” von David Crystal, CC-BY-SA     

Quelle: http://texperimentales.hypotheses.org/744

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Die Gefahr hinter dem Rücken der Priester

  Priester genießen im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit eine herausragende religiöse und soziale Stellung. Sie sind (im Katholizismus und der spätmittelalterlichen Kirche) Vermittler zwischen Gott und den Menschen sowie, durch die Ausgabe der Sakramente, Vermittler des ewigen Heils. Sie bilden, im Protestantismus, Pastorendynastien und einen Autoritätspunkt der Dorfgemeinschaft. Ihr Handeln berührt das Heiligste. Und doch ist die Stellung der Priester prekär, besonders in turbulenten Zeiten wie der frühen Reformation. Pfarrer wurden bis weit ins 16. Jahrhundert hinein oft aus handwerklich-bäuerlichen Schichten rekrutiert und waren in ihrer Lebensweise vom Rest des Dorfes nur zu unterscheiden, wenn sie sakrale Praktiken durchführten. Das ist besonders bei der Eucharistiefeier der Fall, aber auch bei anderen sakramentalen und liturgischen Vorgängen. Während die Priester diese Praktiken ausüben, wenden sie dem gemeinen Volk oft den Rücken zu. Sie widmen sich ganz der religiösen Handlung sowie dem heiligen oder zu heiligenden Objekt. Im Moment des Abwendens gewinnen Priester ihre soziale und sakrale Statur. Die Praktik, der Handelnde und das Objekt müssen von allen Teilnehmer/innen des Kultes als besonders “heilig” anerkannt werden. Denn wenn Kleriker dem Volk den Rücken zuwenden, verlieren sie den Überblick und die Kontrollmöglichkeit über die “untergeordneten” Teilnehmer/innen. Sie sind darauf angewiesen, dass die Religionskultur sich in diesem Augenblick selbst trägt. Andernfalls wären Verwerfungen in der Religionskultur und dem gesellschaftlichen status quo die Folge. Und genau das passiert in der frühen Reformationszeit.   Reale Präsenz Christi? Messe des Hl. Gregor im Beisein der Georgsbruderschaft-Mitglieder. Pieter Jansz Pourbus, 1559. (Martens, Maximilian P. J. (Hg.): Bruges and the Renaissance. Memling to Pourbus, Ausstellungskatalog, Ludion 1998, 204.) Ausgerechnet im bayerischen Altötting lässt sich das anhand eines Falls aus dem Jahr 1523 gut beobachten. In dem berühmten und viel frequentierten Marienwallfahrtsort hört der Rentmeister von Burghausen während einer Untersuchungsreise von skandalösen Vorkommnissen. Darüber hat er am 20.8.1523 einen kurzen Bericht an Bayernherzog Wilhelm IV. verfasst.1 Während seines Aufenthalts wurde dem Rentmeister in Altötting ein Mann angezeigt. Zwei Taten dieses Mannes, der wie der/die Anzeiger nicht namentlich genannt wird, werden in dem Bericht nach München erwähnt. Erstens habe der Mann öffentlich gegen die Wundertätigkeit Marias gesprochen. Die Gebete und Hilfegesuche nützten nichts, habe er gesagt. Die Brisanz und die sozial-kulturelle Sprengraft hinter diesem Diskurs werden verständlich, wenn man sich die religiöse und auch ökonomische Rolle von Marienpraktiken und -mobilität in Altötting um 1500 vor Augen hält. Viel schwerer wiegt aber das Handeln des Manns während einer Seelenmesse in der Altöttinger Pfarrkirche. Im Bericht des Rentmeisters heißt es: “Vener hat ain brister in der pfarkirchen im selambt gesungen. Also er sich vor dem Alltar umbkert unnd fur all glaubig selen gepet, hat diser burger gegen seinen mit burger, einen so neben sein gestannden, gered: Sich an den Narn, was dreibt er fur kleifft [in etwa "dummes Zeug", M.M.]. Es ist pueberey [Betrügerei, M.M.], kumbt den sellen nit zu hilf. Mit den unnd dergestallt worden sich grob gehallten.”2 Der Mann verleiht seiner Kritik, sicher nicht zufällig, während einer Seelenmesse Ausdruck. Seelenmessen waren um 1500 ein inflationärer Bestandteil der Zeit- und Totenkultur, ein Aspekt der religion flamboyante (Jacques Chiffoleau). Durch das Lesen einer oft großen Anzahl von Messen sollte die Zeit der verstorbenen, sündigen Seelen im Fegefeuer verkürzt werden. Die Messpraktik bildete also auch eine Art zeitlich-vertikale Kommunikations- und Affektlinie zwischen Lebenden und Toten. Diese Totenkultur lehnen Evangelische seit den 1520er Jahren zunehmend ab. Reformatorische Theologen sehen den Weg zum Heil in Glaube und Gnade, der Mensch ist dabei machtlos. Sie und immer mehr ihrer Anhänger verwerfen das Fegefeuer. In diesem Umfeld entstehen distinktiv evangelische Totenkulturen mit anderen Wissensordnungen und Praktiken, die klare Unterschiede zwischen den späteren Konfessionen entwickeln sollten.3Die ablehnende Sinnzuschreibung zur alten, nun altgläubigen Seelenmesse und der Kultur, in der diese praktiziert wird und die diese repräsentiert, drückt der Anonymus in Altötting aus durch Spott (der Pfarrer als Narr und Betrüger) und eine evangelische Deutung (Messen nützen den Seelen nicht). Wichtig ist der exakte Augenblick, zu dem der Mann diese Aspekte evangelischer Religionskultur in Worte fasst. Es ist der Moment, in dem sich der Priester zum Altar hin umdreht, um für alle gläubigen Seelen (auch die der Anwesenden) zu bitten. Er steht mit dem Rücken zum Volk, wie üblich während der Messliturgie. Nun sollte der oben skizzierte, sozial-religiöse Sakralitäts-Automatismus Umdrehen-Praktik-Objekt greifen. Doch der funktionniert eben nur in einer weitestgehend homogenen Religionskultur. Darin müssten die Messbesucher/innen zumindest äußerlich den Praktiken, Objekten und der Rolle des handelnden Priesters die gleiche Deutung und die gleiche Wirkung zuschreiben. Das Kultursystem müsste so internalisiert sein, dass es sich selbst trägt. Da schert der Anonymus in Altötting aus. Er greift die Praktik, den Zelebranden und die hinter diesen stehende, theologisch-kulturelle Wissensordnung an. Dabei verspottet er zudem die Person des “närrischen” Priesters. Der sakrale Zusammenhang wankt oder gerät in Gefahr – leider kennen wir die Reaktionen der übrigen Messbesucher nicht. Der Mann repräsentiert in dem für die altgläubig-spätmittelalterliche Religionskultur entscheidenden Moment seine in dieser Situation distinktive religiöse Zugehörigkeit und Wissenskultur. “Christus vera lux” – Seelenmessen sind in der lutherischen Totenkultur überflüssig und repräsentieren vielmehr die “andere” Seite. Holzschnitt von Hans Holbein, 1526. (Wikimedia Commons) Dies geschieht in sozialer Interaktion. Der Mann ruft die Worte nicht einfach in die Kirche, sondern sagt sie gezielt seinem Nachbarn, dessen Reaktion leider auch nicht bekannt ist. Da die Worte beim Rentmeister angezeigt werden, ist es sehr wahrscheinlich, dass es in Altötting Einzelne oder Gruppen gibt, die gegen das religiöse Wissen, die situative Differenz und deren öffentliche Manifestierung sind. Merkmale und Momente entstehender, noch sehr an einzelne Situationen gebundener, distinktiver Zugehörigkeiten, werden offenbar und sicher auch verstärkt. Dass der Bruch aber nur in Berührung, Verbindung und direkter Auseinandersetzung mit dem “Anderen” möglich ist, wird ebenso deutlich. Es gibt kein erkennbares “Eigenes” ohne das oder die “Anderen”. Dieser Prozess der ständigen, distinktiven Konstruktion und Aktualisierung – ein langsamer, diskontinuierlicher Prozess – ist typisch für die westeuropäischen Religionskulturen des 16. Jahrhunderts. In den 1520er und 1530er Jahren finden sich erste Merkmale, die von immer mehr Zeitgenossen als bezogen auf distinktive religiöse und somit soziale Zugehörigkeiten gedeutet werden. Mehr als ungewisse Ansätze lassen sich jedoch noch nicht beobachten. Sinnvollerweise ist zu diesem Zeitpunkt also von einer zusätzlichen und in bestimmten, praktischen und kulturellen Momenten distinktiv verstärkten Heterogenität der Religionskulturen zu sprechen. Hölzerne Christusfigur auf dem Esel, repräsentiert den Einzug in Jerusalem. (Das Schweizerische Landesmuseum 1898-1948. Kunst, Handwerk und Geschichte. Zürich 1948, Abb. 32.) Angriffe auf den Preister, wenn er den Rücken bei einer liturigsichen Handlung dem Volk zudreht und darauf angewisen ist, dass sich die soziale und religiöse Kultur selbst trägt, sind zudem keine Seltenheit. Über Messstörungen wird häufig berichtet, viel öfter noch über Predigtstörungen. Gefahr hinter dem Rücken der Priester droht auch bei liturigischen Handlungen am Palmsonntag. Vielfach war es vor der Reformation Brauch, an diesem Tag mit einer großen Prozession einen hölzernen Esel, auf dem eine Christusfigur reitet, in die Kirche zu schieben. Das Volk, das die Prozession begleitete oder am Wegesrand stand, schlug zu bestimmten Augenblicken mit Palmbuschen auf den Esel ein. Die Buschen erhielten dadurch eine sakramentale Funktion, nicht zuletzt deretwegen dieses Rollenspiel von den Reformatoren kritisiert und zusehends aus der evangelischen Kultur verdrängt wurde. So kommt es bei einer Palmsonntagsprozession im schweizerischen Dorf Sommeri am Bodensee zu einem Zwischenfall. Die mehrheitlich evangelischen Bewohner/innen warten den Moment der Prozession ab, in dem der (altgläubige) Pfarrer sich vor dem Esel niederlegt und die Figurenkombination anbetet. Dann schlagen sie auf den Pfarrer ein, nicht nur mit ihren Palmbuschen.4 Der Moment ist aus evangelischer Perspektive perfekt gewählt. Der Pfarrer wendet sich von der Gemeinde ab und begeht die “abgöttische” Praktik mit dem “götzenhaften” Objekt. In diesem Moment werden die Risse in der religiösen Kultur und dem sozialen Gefüge sichtbar. Wenn also in den 1520er Jahren der Priester dem Volk bei liturgischen Handlungen den Rücken zudreht, droht Gefahr: Ihm und der Religionskultur, in der er seine alten und nun altgläubigen Praktiken vollzieht. Der momentane Kontrollverlust ist ein Test dafür, ob die Religionskultur und die soziale Trennung Klerus-Laien von den Letzteren internalisiert und akezptiert ist. Devianzen, andere Kulturen, Wissensordnungen und Praktiken können hinter dem Rücken der Priester besonders gezielt und effektvoll ausgedrückt werden. Unterschiede werden sichtbar und verstärkt. Der anonyme Mann aus Altötting übrigens versuchte sich beim Verhör durch den Rentmeister mehr schlecht als recht herauszureden. Das Lavieren nutzte ihm nichts. Er wurde bis zu einer Entscheidung des Bayernherzogs vom zuständigen Hauptmann eingekerkert.
  1.  Hauptstaatsarchiv München, Kurbayern Äußeres Archiv, 4246, fol. 5r-6v.
  2. Ibid, fol. 5r-5v.
  3.  Siehe die aktuellen Forschungen zum konfessionellen Konflikt um Begräbnisstätten im 16. und 17. Jahrhundert: Luria, Keith P.: Les frontières du sacré, in: Chrétiens et Sociétés 15 (2008); Karant-Nunn, Susan C.: The Reformation of Ritual. An Interpretation of Early Modern Germany (Christianity and Society in the Modern World), London/New York 1997, 133-182; Koslofsky, Craig: ‘Pest’ – ‘Gift’ – ‘Ketzerei’. Konkurrierende Konzepte von Gemeinschaft und die Verlegung der Friedhöfe (Leipzig 1536), in: Jussen, Bernhard/Ders. (Hg.): Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch, 1400-1600 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 145), Göttingen 1999, 193-208; Brademann, Jan/Freitag, Werner (Hg.): Leben bei den Toten. Kirchhöfe in den ländlichen Gesellschaften der Vormoderne (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 19), Münster 2007. Aktuell zu Sterbekulturen in der Frühen Neuzeit vgl. Thiessen, Hillard von: Das Sterbebett als normative Schwelle. Der Mensch in der Frühen Neuzeit zwischen irdischer Normenkonkurrenz und göttlichem Gericht, in: HZ 295 (2012), 625-659.
  4.  Burg, Christian von: “Das bildt vnsers Herren ab dem esel geschlagen”. Der Palmesel in den Riten der Zerstörung, in: Macht und Ohnmacht der Bilder. Reformatorischer Bildersturm im Kontext der europäischen Geschichte, hg. v. Peter Blickle (HZ Beihefte 33), München 2002, 117-141, hier 133.

Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/518

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Vermitteln Blogs das Gefühl rastloser Masturbation? Eine Antwort auf Valentin Groebner

  “Muss ich das lesen? Ja, das hier schon. Wissenschaftliches Publizieren im Netz und in der Überproduktionskrise”, lautet der Titel des netzkritischen Artikels von Valentin Groebner in der FAZ vom 6. Februar 2013, Seite N 5 (nicht kostenfrei online, den Hinweis verdanke ich Anton Tantner). Weder das allzu kurze Exposé im RKB-Blog noch der jetzige FAZ-Beitrag enthalten die recht üblen Sprüche der Vortragsfassung auf der Tagung Rezensieren – Kommentieren – Bloggen. Das Zitat “Blogs vermitteln das Gefühl rastloser Masturbation” ist auf Twitter dokumentiert. Was Groebner alles gesagt hat, wird man hoffentlich bald nachhören können, wenn die Tagungsvideos bei L.I.S.A online sind. Groebner, Autor eines Büchleins zur Wissenschaftssprache, spart nicht an flotten Formulierungen (“Das Netz ist eine mythische Fabel, die so oft wiederholt worden ist, dass sie ihre eigene Wirklichkeit geschaffen hat.”, “Dieser weiche warme Hippie-Kitsch wird in den Netzutopien umso unübersehbarer, je enthusiastischer sie sind.”, “Das Netz ist 2013 also ein altes Medium. Es ist die Zukunft von gestern.”). Aber eine schlüssige stringente Argumentation suche ich vergebens. Groebner kritisiert den selbstzufriedenen Wissenschaftsbetrieb: “Man muss etwas Neues herausfinden; aber gleichzeitig muss man zeigen, dass die Disziplin diese neue Information – die eigene Idee, den eigenen Fund – notwendig braucht, um weitermachen zu können wie bisher. [...] Man darf aber – und jetzt kommt die gute Nachricht – dabei möglichst kurz, möglichst unverschämt und möglichst witzig sein.” Klingt wie eine Beschreibung von Archivalia, das soeben 10 Jahre alt wurde … Er macht auf die wissenschaftliche Überproduktion aufmerksam. Knapp sei “nicht Speicherplatz, sondern Lesezeit”. Nach einer wenig überzeugenden Gegenüberstellung von Buchwissen und Netzwissen erwähnt Groebner die Blogs: “Wer sich durch Selbstdarstellungen von Wissenschaftlern auf dem Web klickt, merkt rasch, dass die meisten Blogs und persönlichen Websites sich nach Aufmerksamkeit von außen sehnen.” Das galt freilich immer schon. Jeder der schreibt, will Aufmerksamkeit und ich behaupte, dass Open-Access-Publikationen ungleich mehr Leser haben als jede gedruckte Fachveröffentlichung. Während niemand weiß, wie oft ein Aufsatz in der HZ tatsächlich gelesen wird, kann man bei Schriften auf Dokumentenservern durch Downloadzahlen der PDFs durchaus zu verlässlichen Schätzungen kommen. Groebner erwähnt Peter Habers Vorhersage, die Kommunikationsstrukturen auf Papier würden in den nächsten Jahren alle verschwinden, und äußert Skepsis. Angesichts der geisteswissenschaftlichen Netzresistenz ist mir “in den nächsten Jahren” in der Tat etwas zu kurz bemessen. Aber man sieht doch jetzt schon an den Naturwissenschaften, wohin die Reise unumkehrbar geht. Das Journal mit den meisten publizierten Beiträgen im Jahr ist das Open-Access-Journal PLoS One. Es hat einen ausgezeichneten Impact-Faktor und huldigt einem sehr erfolgreichen Peer-Review-Konzept, das nicht auf die Attraktivität von Themen setzt, sondern wissenschaftliche Verlässlichkeit genügen lässt. Die sehr stark auf die Zeitschriftenveröffentlichung fokussierte Wissenschaftskultur der Naturwissenschaften ist jetzt schon weitgehend von Online-Publikationen geprägt. “In dem Bereich, in dem ich selbst arbeite, der Geschichte des Mittelalters und der Renaissance”, schreibt Groebner, “weiß ich von keiner wissenschaftlichen Idee und von keinem aufregenden Fund, der zuerst auf dem Netz dagewesen wäre und sich wegen seines Erfolgs und wegen positiver feedback-loops dann von dort dann in anderen Medien – wissenschaftliche Zeitschriften und Bücher – durchgesetzt hätte”. Wenn man “aufregend” hinreichend elitär definiert, dann wird man das nicht bestreiten können. Wenn man die Auffindung der ersten hochmittelalterlichen Handschrift der Vita Heriberti des Rupert von Deutz genügen lässt, so kann man etwa darauf verweisen, dass der in Archivalia publizierte Fund im “Deutschen Archiv” 2010 referiert wurde. Der in Luzern wirkende Historiker Groebner ist durch seine im Feuilleton regelmäßig als brillant gewerteten, überwiegend schmalen Bücher bekannt geworden. Aber: “Es sind ja doch nicht alles Meistererzähler”. Man kann die Publikationsflut beklagen, aber wie kann man sie eindämmen, wenn man nicht zugleich die Axt an die hergebrachten Reputationsmechanismen legt, die (gedruckten) Publikationen zuviel Wert beimessen? Wissenschaft ist nicht nur Hochgebirge, wo Groebner und ein paar andere Feuilleton-Lieblinge Zitier-Seilschaften bilden, es ist auch Mittelgebire oder sogar mühevolle Ebene. Das an den Hochschulen so populäre Exzellenz-Gefasel verkennt, dass es in der Wissenschaft nicht nur auf Hochleistungssport, sondern auch auf Breitensport ankommt. Groebner singt ein Hohelied auf die gedruckten Bücher: “Weil sie eben keine Korrektur-, update- und refresh-Funktion haben, sind sie – wenn sie gut gemacht sind – Ergebnis pur.” Er ignoriert die vielfältigen Bemühungen um die Langzeitarchivierung digitaler Daten, wenn er behauptet: “Das Netz ist kein haltbarer Informationsspeicher, und es hat keine effizienten Filtermechanismen entwickelt”. Gerade Bücher oder Zeitschriftenaufsätze werfen hinsichtlich des Formats (PDF/A gilt als zukunftsfähig) die geringsten Probleme auf. Die Geisteswissenschaften kennen, Groebner sollte das besser wissen, keine dauerhaft in Stein gemeißelten Ergebnisse, der historische Stoff wird immer wieder uminterpretiert, neu gelesen und ausgelegt. Von daher ist sowohl die Konzentration auf den “Autor” (ein Relikt der Genie-Ästhetik des 18. Jahrhunderts) als auf das “gute Buch” (als unübertroffene Kondensierung wertvollen Wissens) lebensfremd. HochschullehrerInnen, die sich tagtäglich aufreiben, um eine gute Lehre bieten zu können, die von Gremiensitzungen beansprucht werden und auch ab und an ein Privatleben möchten, würden liebend gern ein gutes Buch schreiben. Oft langt es nur für den Aufsatz im Sammelband, dessen Deadline man phantasievoll herauszuzögern gelernt hat. Was wir brauchen ist eine flüssigere Wissenschaft jenseits der gängigen Schubladen der Druckwelt. Es geht nicht nur um meinen Kult des Fragments, sondern um mutige Experimente hinsichtlich der Präsentationsformen von Wissenschaft. Nicht alles kann kurz, unverschämt und witzig sein wie Groebners Bücher. Natürlich pendele auch ich in zwei Welten, was kein Wunder ist, da ich mit über 200 gedruckten Publikationen seit 1975 in der durch den Buchdruck bestimmten vordigitalen Kommunikationskultur der Geschichtswissenschaft (und Heimatkunde) sozialisiert wurde. Schreibe ich einen Aufsatz für den Druck, bemerke ich, dass er gegenüber den meisten meiner Blogpostings konzentrierter argumentiert und auch im Formalen weniger schlampig ist. Zugleich ärgere ich mich, dass ich im Druck nicht einfach mit einem Link sofort die Überprüfung meiner Aussagen ermöglichen kann (Quellen und ältere Sekundärliteratur sind oft schon im Netz). Bei meinen Themen und für die Wissenschaftssprache Deutsch gibt es aber kein qualitätsgesichertes E-Journal, dem ich meinen Beitrag alternativ anbieten könnte. Eine bestimmte Veredelungs- und Reifestufe ist auch unabhängig vom Fetisch “Druck auf Papier”, der Gelehrte der Generation Groebners (er ist 4 Jahre jünger als ich) nach wie vor gefangenhält, realisierbar. Für viele kleine Beiträge bedarf es aber aus meiner Sicht gar keiner solchen Veredelungsstufe. Die meisten der über 140 Forschungsmiszellen in Archivalia können durchaus in ihrer etwas rohen Präsentationsform bestehen bleiben. Entscheidend ist, dass sie die Wissenschaft auf Neufunde aufmerksam machen (und zwar mit Belegen) und dass ich, sobald ich etwas Neues finde oder etwas, was ich übersehen habe, sie sofort aktualisieren kann – eine Möglichkeit, die bei gedruckten Publikationen eher nicht funktioniert. Auch wenn man in der gleichen Zeitschrift einen Nachtrag veröffentlicht, ist die Wahrscheinlichkeit nicht ganz gering, dass dieser übersehen wird. Nur das Netz kann solche nützlichen Verknüpfungen schaffen. Anders als Theisohns Polemik gegen Open-Access ist Groebners Aufsatz kein Geschwurbel. Er lässt aber deutlich erkennen, dass sein Autor von seinem Thema, wenn es ums Netz (und vor allem ums Social Web) geht, zu wenig Ahnung hat. Die Rückzugsgefechte der Buch-Fetischisten sollten uns nicht vom Bloggen abhalten.    

Quelle: http://redaktionsblog.hypotheses.org/951

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Reproduzierbar Wissen schaffen

  Aktuell findet auf den Scilogs ein Bloggewitter statt, welches exakt das Thema aufgreift, das mich damals veranlasste, mit dem Bloggen anzufangen – die Frage nach der Bedeutung von Reproduzierbarkeit in der Wissenschaft. Ausgelöst wurde dieses Bloggewitter vom britischen Wissenschaftsautor Ed Yong, der in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Spektrum der Wissenschaft in einem sehr lesenswerten Artikel1 darlegt, dass eine der zentralen Forderungen der Wissenschaft – eben die Reproduzierbarkeit wissenschaftlicher Ergebnisse – zumindest für das von ihm betrachtete Gebiet der Psychologie eher die Ausnahme denn die Regel darstellt. Das führte zu einer ganzen Reihe von Reaktionen, die verschiedene Sichtweisen aus sehr unterschiedlichen – bisher zumeist naturwissenschaftlichen Bereichen – darlegen. Die Bandbreite der Reaktionen macht deutlich, dass sich die einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen (natürlich) nicht über einen Kamm scheren lassen und das Problem der (nicht-)Reproduzierbarkeit von Ergebnissen sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. Gleichwohl lässt sich der Tenor wahrnehmen, dass das gegenwärtige wissenschaftliche System vor allem spektakuläre und dadurch manchmal auch spekulative Studien durch Veröffentlichung belohnt, während dröge Überprüfungen von Ergebnissen anderer kaum Beachtung in den angesehenen Zeitschriften finden. Veröffentlichungen in namhaften Journals sind aber weiterhin der wichtigste Treibstoff wissenschaftlicher Karrieren. Diese Konstellation verhindert momentan noch eine wissenschaftliche Kultur, in der die Überprüfung anderer Forscher Studien zum täglichen Geschäft gehört. Abgesehen von diesem allgemeinen Konflikt ergeben sich je nach Gegenstandsbereich spezifischere Probleme, was die Reproduzierbarkeit von Studien bzw. derer Ergebnisse angeht. In der Atom- und der Astrophysik steht es damit offenbar ganz gut, weil die untersuchten Stoffe bzw. beobachteten Weltraumphänomene entweder öffentlich zugänglich oder einfach beschaffbar sind. In der organischen Chemie ist die Reproduktion von Synthesen offensichtlich gang und gäbe, es hapert aber daran, die exakten Bedingungen für Synthesen auf eine nachvollziehbare Art weiterzugeben. Größere Schwierigkeiten machen da Forschungen auf dem Gebieten Psychologie und Medizin, ist doch die Wiederholung von Studien, in denen man viele menschliche Probanden benötigt, mit hohen Kosten verbunden. Die Strategien, dem Problem nicht-reproduzierbarer Studien zu begegen, weisen in zwei Richtungen: Auf der einen Seite werden Plattformen geschaffen, auf denen wiederholte Studien veröffentlicht werden können. Das engagierteste Projekt in dieser Richtung ist sicherlich die Reproducibility Initiative, die Autoren von Studien quasi ein rundum-Sorglos-Paket anbietet, indem sie die Wiederholung der Experimente durch unabhängige Wissenschaftler organisiert. Das kostet natürlich und wird im gegenwärtigen Umfeld sicherlich noch nicht allzu stark nachgefragt werden. Wenn sich aber die wissenschaftliche Kultur ändern sollte (was sie wohl v.a. durch Druck von außen – hier von den großen Förderinstitutionen – tun dürfte), denke ich, dass einem solchen Modell die Zukunft gehört. Die andere Stoßrichtung, das Problem in den Griff zu bekommen, ist die Änderung der Veröffentlichungskultur. In Artikeln sind die durchgeführten Experimente und die zugrundeliegenden Daten meist nicht vollständig beschrieben. Solche Artikel würde wohl auch niemand lesen wollen. Es lässt sich aber im besten Fall einrichten, dass man die verwendeten Daten und die eingesetzte Software als Supplemente zu den eigentlichen Artikeln veröffentlicht. Eine solche Kultur der Transparenz würde der Überprüfung, aber auch der Weiterentwicklung der vorgestellten Methoden immens dienen. Sehr interessant ist das Virtual Observatory aus dem Bereich der Astronomie, welches in gleich zwei Artikeln des Bloggewitters thematisiert wird. Letzteres entspricht auch ungefähr dem Ansatz, den wir im Bereich der Textprozessierung mit unserem Text Engineering Software Laboratory (kurz Tesla) verfolgen. Grob kann man sich dieses virtuelle Labor als Verpackungsmaschine für Experimente vorstellen, die auf textuellen Daten operieren. Mit Texten sind dabei nicht nur natürlichsprachliche gemeint, sondern prinzipiell alles, was sich in Sequenzen diskreter Einheiten darstellen lässt – das gilt mit Einschränkungen ja auch für Proteine und Nucleinsäureketten sowie Partituren von Musikstücken. Der Ansatz ist der, dass wir einen beliebig erweiterbaren Werkzeugkasten anbieten, der als Open Source öffentlich zugänglich ist. Die Werkzeuge sind miteinander kombinierbar, so dass man daraus Workflows zusammenstellen kann, deren Konfiguration mit einer Referenz auf die verwendeten Rohdaten in einer Art virtuellem Laborbuch gespeichert werden. Aus diesem Laborbuch lassen sich einzelne Experimente freigeben und auf Plattformen zum Austausch von Workflows (z.B. MyExperiment) sharen. Sind die Rohdaten verfügbar, so lassen sich die Experimente jederzeit wiederholen, die Konfiguration der einzelnen Werkzeuge, deren Sourcecode und die Art ihrer Zusammenstellung im Workflow sind dabei vollständig transparent.   Der Workflow-Editor von Tesla. Zu sehen ist die Kombination von Werkzeugen (Kästen) durch Verbindung der Ein-/Ausgabeschnittstellen. Wir haben uns darum bemüht, die Benutzung des Werkzeugkastens/der Experimentverpackungsmaschine möglichst eingängig zu modellieren, weil wir damit die Hoffnung verbinden, dass sich möglichst viele Nutzer auf das System einlassen, einzelne Werkzeuge evaluieren und eventuell sogar neue erstellen. Die Weitergabe kompletter Experimente kann nämlich nicht nur dazu genutzt werden, um anderer Forscher Studien zu wiederholen, sondern im Idealfall auch, direkt auf diesen aufzusetzen oder durch Modifikationen (durch Austausch oder Rekonfiguration der Werkzeuge oder die Anwendung auf eine andere Datenbasis) zu besseren Ergebnissen zu kommen. Auch wenn wir noch viel Arbeit vor uns haben, was die noch einfachere Benutzbarkeit und die verbesserte Ausstattung von Tesla angeht, sind die Rückmeldungen der ersten Anwender von Tesla außerhalb unseres Lehrstuhls sehr positiv, so dass wir glauben, dass derartige Systeme in Zukunft stärker genutzt werden und die Möglichkeiten des wissenschaftlichen Austauschs sowie der Überprüfbarkeit von Studienergebnissen erweitern.

Quelle: http://texperimentales.hypotheses.org/692

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Nation, Militär und Gesellschaft im postrevolutionären Frankreich

“S.A.R. le Comte d’Artois, Colonel Général des Gardes Nationales du Royaume, causant familiérement avec les Gardes Nationaux de Garde près la statue d’Henry IV”(Quelle: Archives nationales)  

Dissertationsprojekt:  Nation, Militär und Gesellschaft im postrevolutionären Frankreich: zur politischen und gesellschaftlichen Bedeutung der französischen Nationalgarde, 1814–1852

Die sogenannte Restauration in Frankreich wird vielfach vor dem Hintergrund eines stark vereinfachten Gegensatzes von Wiederherstellung der politischen Verhältnisse des Ancien régime und sich krisenhaft durchsetzender Innovation begriffen. Mit der Rückkehr der Monarchie nach Frankreich zu Beginn des 19. Jahrhunderts zeigte sich jedoch, dass Revolution und Kaiserreich nicht übergangen werden konnten, sondern dass beide Tatsachen geschaffen hatten, die in das politische Programm der “postrevolutionären Monarchien” (Bertrand Goujon)  integriert werden mussten. Das Jahr 1814 eröffnete mithin eine postrevolutionäre Epoche, in der die Erinnerung an die jüngste Geschichte allgegenwärtig war. Die Vorstellung eines radikalen politischen Bruchs verstellt allzu oft den Blick auf Kontinuitäten, die sich einerseits anhand zentraler Institutionen manifestierten, welche aus dem staatlichen Gefüge nicht mehr wegzudenken waren. So war der neue König Ludwig XVIII.  bei seiner Machtübernahme 1814 bereit, die während der Revolution entstandene französische Nationalgarde als zentrale militärische Ordnungsmacht anzuerkennen und seinen Bruder, den Comte d’Artois, als Generaloberst dieser Garde einzusetzen. Andererseits übte die jüngste Vergangenheit Frankreichs eine ungeheure Anziehungskraft aus, an der sich die Geister quer durch alle sozialen Gruppierungen schieden. So verband Ludwig XVIII. mit der Revolution die in der Hinrichtung Ludwigs XVI. kulminierende anti-aristokratische Gewalt, der in der kollektiven Erinnerung jedoch zahlreiche Topoi von der Entstehung einer neuen staatlichen Ordnung gegenüberstanden. Dass die revolutionäre Nation nicht zuletzt eine Kriegsgeburt war, zeigte sich daran, dass diese Erinnerung sich besonders am Beispiel militärischer Siege kristallisierte. Valmy und Jemappes standen für den Widerstand der jungen Nation gegen die alten europäischen Mächte; Austerlitz, Jena und Auerstedt markierten den Triumph der aufstrebenden Grande Nation. Das Untersuchungsobjekt meiner Dissertation ist die französische Nationalgarde, die aus den Bürgermilizen hervorging, die sich mit Ausbruch der Revolution 1789 spontan gebildet hatten. Die Nationalgarde wurde mit der Verfassung der ersten konstitutionellen Monarchie von 1791 institutionalisiert und bestand bis 1872 nahezu ununterbrochen fort. Sie stellte eine paramilitärische Einheit dar, deren Mitglieder nicht kaserniert waren und die in aller Regel einen unentgeltlichen Freiwilligendienst leisteten. Es ist bemerkenswert, welchen Raum die Nationalgarde in der öffentlichen Wahrnehmung Frankreichs einnahm. Sie erschien als zentraler Akteur während der großen Umbruchsphasen zwischen 1814 und 1852 und stand permanent im Zentrum der politischen Debatten sowohl während der Bourbonen- und der Julimonarchie als auch der Zweiten Republik. Die Würdigung der Nationalgarde als monarchietreuer Ordnungskraft, die nach der Niederlage der napoleonischen Armee die Hauptstadt vor der sicheren Zerstörung durch die alliierten Truppen bewahrt habe, fand in der zeitgenössischen Presse ein breites Echo. Diese von Ludwig XVIII. propagierte Lesart der französischen Bürgermiliz blieb bis zum Untergang der Bourbonenmonarchie 1830 ein beliebter Topos, der besonders unter der Regentschaft Karls X. der liberalen Opposition als Kritik an der ultrakonservativen Regierung diente. Ein weiterer Allgemeinplatz war der Einsatz der Nationalgarde von Paris während der Julirevolution 1830 zugunsten der neuen konstitutionellen Monarchie Louis-Philippes. Die Nationalgarde verkörperte die bürgerliche Basis, von der aus die Revolution gegen die Herrschaft der Bourbonen und zugunsten der neuen Monarchie geführt worden war. Das Rekurrieren auf die Bürgermiliz diente hier gleichsam der Legitimierung der Revolution und der daraus hervorgegangen Herrschaftsform und sollte darüber hinaus die Trois Glorieuses zum Schlusspunkt jeglicher revolutionärer Erhebung werden lassen. Über den rein institutionengeschichtlichen Rahmen hinausgehend verstehe ich mein Forschungsprojekt zugleich als Teil einer größeren historischen Thematik, der innerhalb der letzten Jahre immer mehr Beachtung sowohl in Frankreich als auch in Deutschland zuteil geworden ist und die die Bedeutung des Krieges für die Entstehung des modernen Nationalstaates umfasst. Am Beispiel der Nationalgarde beschäftige ich mich mit der Frage, welchen Raum Konflikte in der kollektiven Wahrnehmung eingenommen haben. In einem historischen Zeitraum, der von 1814 bis 1852 reicht, untersuche ich, wie in der Rückschau die kriegerischen Auseinandersetzungen der jüngsten Vergangenheit die Vorstellungen von der französischen Nation geprägt haben. Dahinter steht die Frage nach den Erfahrungsprozessen in der französischen Gesellschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das Erkenntnisinteresse beruht auf der Untersuchung, wie Revolution und Kaiserreich einen Erfahrungsraum bildeten, der gegenüber dem Versuch, nach der militärischen Niederlage von 1814 stabile politische Ordnungsmuster  in Frankreich zu etablieren und dabei eine mehr oder weniger reaktionär ausgerichtete monarchische Politik sowie ab 1848 ein demokratisches Regime umzusetzen, in ein Spannungsverhältnis trat. Dieser Erfahrungsraum bestand maßgeblich aus Kriegs- und Gewalterlebnissen, die während der Revolutionskriege und der napoleonischen Feldzüge gemacht wurden. Im Zuge dieser Konflikte, die im Namen der Nation und zu ihrem Schutz ausgetragen wurden, konkretisierte sich die Idee der Nation in besonderem Maße: zum ersten Mal in der Geschichte wurden umfangreiche Rekrutenkontingente eingezogen, Massenheere aufgestellt, die nicht mehr aus Berufssoldaten, sondern aus Staatsbürgern in Uniform bestanden. Die Soldaten entwickelten nicht nur ein Bewusstsein für ihre Pflichten, sondern auch für ihre Rechte. Das heißt, dass die Verpflichtung zum Dienst am Vaterland politischen Partizipationsansprüchen Vorschub leistete.[1] In diesem Zusammenhang stellte die Nationalgarde eine Institution dar, die wie keine andere die Idee der Nation als die Idee der Volkssouveränität verkörperte. Die Nationalgarde erschien als Verwirklichung der Nation in Waffen, deren Angehörige autonom das Recht zur Verteidigung ihrer Interessen und das Gewaltmonopol unabhängig vom Staat wahrgenommen hatten. In der Verteidigung der Nation gegen die inneren und äußeren Feinde wurden die Gardisten zu Trägern jener Gewalterlebnisse. Das Projekt geht der Frage nach, wie sich diese Erfahrungen vor dem Hintergrund des institutionellen Eigensinns der Nationalgarde auf den Meinungsbildungsprozess ihrer Mitglieder im Moment der Rückkehr der Monarchie ausgewirkt haben. Der dem Projekt zugrundeliegende wissenssoziologische Erfahrungsbegriff beruht auf einem konstruktivistischen Grundverständnis von Wirklichkeit. Demnach stellt diese ein soziales Konstrukt dar, das sowohl eine akteursspezifische, als auch eine überindividuelle, soziale Dimension hat.[2] Die Erfahrungen, aus denen sich Wirklichkeit zusammensetzt, mögen individuellen Ursprungs sein in dem Sinne, dass Individuen die Träger von Erfahrungen sind. Zu beachten ist aber einerseits, dass Erfahrungen nicht zwangsläufig selbst gemacht wurden, sondern überindividuelle Bedeutung erlangen konnten und etwa durch Erzählungen oder eine offizielle Erinnerungspolitik kollektiv geteilt wurden. Andererseits wird für die Interpretation von Erlebnissen häufig auf ein Reservoir an vorgeformten Interpretamenten rekurriert. Vor diesem Hintergrund scheint die soziale Determinierung von Erfahrungen zu einem großen Teil auf dem kollektiven Charakter des Deutungswissens zu beruhen, das der sinnhaften Einordnung von Erlebnissen dient und das über einen intersubjektiven Austausch generiert wird. Betrachtet das Individuum Erfahrung als persönlichen, individuellen Akt, so liegen der Deutung dieser Erfahrungen vergesellschaftete Kategorien zugrunde, die über Kommunikation vermittelt werden.[3] Dieser kommunikative Aspekt soll sich auch in der Auswahl der Quellen widerspiegeln, indem insbesondere publizistische und künstlerische Quellen ausgewertet werden. Dazu zählen Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, Pamphlete, gedruckte und verlegte Broschüren, Flugblätter sowie Bilder und Karikaturen, aber auch sogenannte pièces de circonstances (populäre Gedichte und Lieder, kürzere Theaterstücke wie Komödien oder Dramen). Mit diesem Quellenkorpus, der um normative Dokumente zur Organisation der Nationalgarde ergänzt wird, möchte ich die oben angesprochenen zeitgenössischen Erfahrungsprozesse untersuchen, aus denen – so meine These –  politische sowie gesellschaftliche Ansichten und Zukunftserwartungen  resultierten. [1] Vgl. Jörn Leonhard: Bellizismus und Nation. Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in Europa und den Vereinigten Staaten 1750-1914, München 2008, S. 6. [2] Vgl. Julia Murken: Bayerische Soldaten im Russlandfeldzug 1812. Ihre Kriegserfahrungen und deren Umdeutungen im 19. und 20. Jahrhundert, München 2006, S. 3f. [3] Vgl. Nikolaus Buschmann/ Horst Carl: Zugänge zur Erfahrungsgeschichte des Krieges. Forschung, Theorie, Fragestellung, in: Dies. (Hgg.): Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg, Paderborn u.a. 2001, S. 11-26, hier S. 18f.    

Quelle: http://19jhdhip.hypotheses.org/133

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