Hartmut Rosa ist Professor für Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Einer breiten Öffentlichkeit, auch weit über das Fach hinaus, ist er durch seine Gesellschaftskritik “Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne” bekannt geworden. Neben der Zeitsoziologie beschäftigt er sich u.a. mit Subjekt- und Identitätstheorien und arbeitet an einer Soziologie der Weltbeziehungen. Wir haben ihn zum Zusammenspiel von Zeit- und Raumwahrnehmung hinsichtlich der Konstitution von Identitäten befragt. (Foto: © juergen-bauer.com)
Herr Rosa, Sie haben eine Theorie der sozialen Beschleunigung vorgelegt, in der Sie von drei wesentlichen Faktoren der Beschleunigung ausgehen: der technischen Beschleunigung (Bewegung, Kommunikation, Transport), der Dynamisierung der sozialen Verhältnisse und der Beschleunigung des Lebenstempos durch eine Zunahme von Handlungs- und Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit und eine Zunahme eines subjektiven Zeitdrucks, der aus der vermeintlichen Notwendigkeit, aus einer Vielzahl von Optionen zu wählen, entsteht. Diese strukturell in der Moderne angelegten Beschleunigungs- bzw. Steigerungsfaktoren führen zum ‘rasenden Stillstand': die zeitliche Koordinierung von Handlungen nimmt tendenziell mehr Zeit in Anspruch als die Handlungen selbst, wir verschieben Handlungen und tun zunehmend, was wir nicht tun wollen – und auch unsere Identität bestimmt sich daher situativ. Wie kommt es zu dieser Selbstverhältnis- und Resonanzkrise und welche Folgen hat sie für Subjekte und Gesellschaft?
Das Beschleunigungsprogramm der Moderne folgt keiner expliziten Zielsetzung, es verläuft quasi ‚hinter dem Rücken der Akteure‘. Deshalb spielt es auch keine Rolle, wenn wir uns jedes Jahr – zum Beispiel zu Silvester – fest vornehmen, es im nächsten Jahr langsamer angehen zu lassen und uns mehr Zeit zu nehmen, und auch ein paar Slow-Food- oder Slow-Work-Bewegungen helfen da nicht weiter. Die Situation ist analog zu der im Bereich der Ökologie: Dort scheint es auch ganz gleich, wie sehr wir das ökologische Bewusstsein schärfen und wieviel Müll wir trennen: Unser Umwelthandeln wird jedes Jahr schädlich – dafür reichen allein die Flug- und Fernreisen aus. Die Umwelt- und die Zeitkrise haben dieselbe Wurzel, und diese liegt in der strukturellen Steigerungslogik moderner Gesellschaften. Moderne, kapitalistische Gesellschaften können sich in ihrer Struktur nur erhalten, sie können den Status quo ihrer Basisinstitutionen und ihre soziopolitische Ordnung nur aufrechterhalten, wenn sie wachsen, beschleunigen, und innovieren. Ich nenne das den Modus dynamischer Stabilisierung: Stabilität ist nur durch Steigerung zu erreichen – und selbst dann noch prekär. Genau das führt auch bei den Individuen zu einer Situation des ‚rasenden Stillstandes‘: Wir müssen individuell wie kollektiv jedes Jahr schneller laufen, nur um unseren Platz zu halten. Meines Erachtens ist das ein Systemfehler.
Die Geisteswissenschaften und vor allem auch die Geschichtswissenschaft sind spätestens seit den 1990er Jahren maßgeblich durch den spatial turn geprägt, in dem die Räumlichkeit des Sozialen und die soziale Konstruktion von Räumen im Mittelpunkt stehen. Demgegenüber arbeiten Sie zentral mit der Kategorie Zeit. Ist das ein Widerspruch – oder wie verwoben sind Zeit- und Raumwahrnehmung und welche Rolle spielen sie bei der Konstitution der Identität sozialer Akteure?
Ich will nicht Zeit gegen Raum ausspielen oder umgekehrt – aber ich denke schon, dass die Sozialwissenschaften mehr Aufmerksamkeit auf unsere raum-zeitliche Daseinsweise richten sollten. Raum- und Zeitverhältnisse sind stets eng miteinander verwoben; ändert sich das eine, ändert sich in aller Regel auch das andere, so dass mir der Begriff der Raum-Zeit-Regime als Analysekategorie angemessen erscheint. Was ich allerdings im Beschleunigungsbuch festgestellt habe, scheint mir auch weiterhin richtig zu sein, dass nämlich die Dynamik in der Veränderung unserer raumzeitlichen Lebensweise von der Zeitdimension auszugehen scheint. Das was wir beispielsweise als Globalisierung erfahren, hat zwar viel mit einer Veränderung des Raumbewusstseins, der Raumerfahrung und des Raumhandelns zu tun, aber ausgelöst werden diese Veränderung durch Beschleunigungsprozesse: Beschleunigung in der Datenübertragung, im Transport, in der Kapitalzirkulation etc. In diesem Sinne betrachte ich Zeitverhältnisse als die ‚Antreiber‘, oder als das Einfallstor, für die Veränderung von Raumzeitverhältnissen.
Der Begriff der ‘Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen’, der von Ernst Bloch eingeführt wurde, in Luhmanns Systemtheorie wiederkehrt und von Koselleck auch für die Geschichtswissenschaft adaptiert wurde, beschreibt räumliche und temporale Asynchronität als gesellschaftliches Phänomen. Ist der Begriff noch aktuell – und kann er als analytische Kategorie helfen, (auch historische) Gesellschaften zu verstehen? Steht er vielleicht sogar sinnbildlich für die Pathologien der modernen Steigerungsgesellschaft?
Meines Erachtens ist der Begriff der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen (oder umgekehrt: Beide Varianten besagen im Prinzip dasselbe) völlig ungeeignet, wenn man von radikaler geschichtlicher Kontingenz ausgeht. Er macht nur Sinn, wenn man im Sinne einer Geschichtsphilosophie oder Fortschrittskonzeption feste sequentielle Folgen annimmt. Das kann sich auf individuelle Leben wie auf gesellschaftliche Entwicklungen beziehen. Beispielsweise kann jemand noch zur Schule gehen, aber schon Kinder haben: Das wäre die ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘, weil gleichzeitig Elemente des Kindseins (zur Schule gehen) und des Erwachsenseins (Kinder haben) präsent sind. Das gilt aber nur, solange man meint, Schule und Kinder müssten einen festen Platz in der sequentiellen Ordnung eines Lebens haben. Sobald wir akzeptieren, dass man auch mit 50 oder 60 Jahren zur Schule gehen kann, können wir nur noch die Präsenz von Differenzen feststellen: EIN Schüler hat Kinder, ein anderer ist ein Kind, ein Dritter hat schon Enkel. Das gilt auch für Gesellschaften und Funktionssphären: Wenn ich meine, Demokratie, Marktwirtschaft, Industrialisierung und Rechtsstaat gehören zusammen, dann beobachte ich in einem Staat, der ein demokratischer Rechtsstaat ist, aber noch ‚steinzeitlich‘ produziert, Ungleichzeitigkeit, und dasselbe gilt für einen hoch technologisierten Staat, der weder Rechtsstaat noch Demokratie kennt. Wenn ich jedoch davon ausgehe, dass historische (Teilordnungen) kontingent sind, dann habe ich nur noch Differenz: Ein Staat ist demokratisch und kapitalistisch, einer demokratisch und sozialistisch, einer kapitalistisch mit traditionalistischen Herrschaftsstrukturen usw. Nur wenn ich von festen Sequenzen ausgehe, also etwa: Schule-Ausbildung-Beruf-Kinderkriegen-Ruhestand oder: Feudalismus-Kapitalismus oder Monarchie-Demokratie, kann ich Ungleichzeitigkeiten konstatieren. Der Glaube an die empirische und normative Validität solcher Muster ist in der Spätmoderne aber grundsätzlich erschüttert.
Sie haben immer wieder betont, dass es nicht per se um Verlangsamung gehe, schon gar nicht um Entschleunigung, wenn wir der sozialen Beschleunigung begegnen wollen, sondern darum, dass sich die gesellschaftliche Grundform ändern müsse. Wir müssten uns selbst aufklären, uns darüber verständigen, wie wir leben wollen. Wenn aber alles fremdbestimmt scheint, wie kann es gelingen, dass die Subjekte ihr Handeln wieder als selbstwirksam erleben? Welche Anreize müssen geboten werden, damit wir das (vermeintliche) Risiko des Zeit- und Optionenverlustes eingehen?
Ich weiß nicht, ob dafür Anreize geboten werden müssen. Ich arbeite derzeit am Entwurf einer ‚Resonanztheorie‘. Sie zielt im Kern darauf ab, uns zu überzeugen, dass das Leben nicht durch die Vergrößerung der ‚Weltreichweite‘ (durch Technik, ökonomische Ressourcen, aber soziales und kulturelles Kapital etc.) besser wird, sondern durch die Überwindung von Entfremdung: Durch die Etablierung einer anderen Form der Beziehung zur Welt, das heißt: Zu den Menschen, zur Natur, zu den Dingen und zu uns selbst. Das scheint mir die Stelle zu sein, an der die Steigerungslogik der Moderne sich durchbrechen lässt. Denn indem wir denken, unser Leben werde besser, wenn wir mehr Welt in Reichweite bringen – wenn ich mehr Geld hätte, könnte ich eine Yacht kaufen oder zum Mond fliegen, wenn ich das schnellere Smartphone hätte, könnte ich darauf Skype installieren, wenn ich in der Stadt wohnen würde, hätte ich Kinos und Theater in Reichweite, wenn ich zu der tollen Party eingeladen würde, hätte ich Zugang zu ganz neuen sozialen Kreisen – erzeugen wir die subjektiven Motivationsenergien, das Steigerungsspiel auf allen Ebenen voranzutreiben. Wir alle machen aber die Erfahrung, dass unser Leben dann und dort wirklich gelingt, wo wir in einen Resonanzmodus der Weltbeziehung geraten: Dort geht es nicht um Steigerung, denn das sind die Momente, in denen uns etwas wirklich berührt und in denen wir umgekehrt etwas oder jemanden wirklich zu erreichen vermögen. Transformative Weltanverwandlung nenne ich das, denn dabei verändern wir uns auch selbst. Alle Menschen kennen diesen Erfahrungsmodus, und sei es auch aus noch so flüchtigen und weit zurückliegenden Momenten. Das sind die Andockpunkte, an denen wir ansetzen können, ich glaube, hier sind wir als Subjekte eben doch nicht vollständig entfremdet.
Das Phänomen Kontingenz wird in den Geisteswissenschaften als endgültige Abkehr vom Historismus zunehmend stark gemacht (Paradigma des historischen Wandels). Die postfundamentalistische Hegemonietheorie nach Ernesto Laclau und Chantal Mouffe arbeitet schon seit den 1980er Jahren mit den Kategorien der radikalen Kontingenz und des Dissenses und betont die Notwendigkeit der Mobilisierung konfliktueller, emotionaler Leidenschaften in Demokratien. Müssen wir mehr streiten? Bietet vielleicht die Betonung radikaler Kontingenz (nichts ist vorherbestimmt und alles kann immer auch anders sein), die Betonung der “demokratischen Ethik” (Oliver Marchart), also der institutionalisierten Selbstentfremdung in unserer demokratischen Gesellschaft, einen Ansatzpunkt für einen Bewusstseinswandel? Ist eine gesamtgesellschaftliche Politisierung die Antwort auf die Resonanzkrise, die wir in zunehmendem Maße erleben?
Ich weiß nicht, ich glaube nicht. Meine Wunschformel heißt nicht Konflikt oder Streit, sondern Resonanz. Ich glaube allerdings in der Tat, dass Demokratie, auch und gerade die demokratische Auseinandersetzung, ein zentrales Instrument für die ‚Anverwandlung‘ von Welt ist: Mit den Mitteln der Demokratie bringen wir die Institutionen der öffentlichen Sphären dazu, auf uns zu reagieren, uns zu antworten. Das setzt Selbstwirksamkeitserfahrungen in Gang, die unerlässlich sind für Resonanzbeziehungen: Bürgerinnen und Bürger müssen die Erfahrung machen können, dass ihr Handeln und Streiten Welt verändert. Resonanz meint dabei nicht Echo und nicht Harmonie: Wenn alle das Gleiche wollen und sagen, entsteht keine Resonanz, sondern ein leeres Echo. Resonanz impliziert schon Widerspruch und Auseinandersetzung, aber auf einer anderen Ebene als die Feindschaft: Feindschaft ist Repulsion, ist Resonanzvernichtung, ist gegenseitige Verletzung. Das kennt jeder aus der privaten Sphäre: Mit meinem besten Freund streite ich fast unablässig – aber auf der Basis einer Resonanzbeziehung, wir sind offen für einander und lassen uns durch den Streit berühren und verändern. Bei meinen Feinden ist es anders: Die wollen mich fertig machen, und ich sie. Ich habe das Gefühl, dass in den neueren Ansätzen, die Konflikt und Kontingenz betonen, diese Voraussetzungen unterbelichtet bleiben. Bei Rancière jedenfalls klingt es bisweilen so, als stifte der Streit selbst ein soziales Band. Das finde ich unplausibel.
Vielen Dank.
Hartmut Rosa zum Nachhören