DFG-Projekt: Historische Bio-Bibliographien als OPAC-Bausteine an den Monumenta Germaniae Historica
Durch das vom 01. Juni 2011 bis 30. Mai 2013 von den Monumenta Germaniae Historica bearbeitete DFG-Projekt „Historische Bio-Bibliographien als OPAC-Bausteine“ wurde eine Web 2.0-kompatible Erweiterung der Sacherschließung im OPAC der MGH-Bibliothek vorgenommen. Sie erfolgte durch die Einbindung der Personennamen aus der Gemeinsamen Normdatei GND (bzw. vorher der Personennamendatei PND) der Deutschen Nationalbibliothek auf Grundlage bereits digitalisierter historischer Bio-Bibliographien.
Die Bibliothek der MGH als international renommierte Spezialbibliothek mit ca. 140.000 Bänden und umfangreichste Sondersammlung für das europäische Mittelalter trug mit dem Projekt zur Verbesserung einer wissenschaftlich gesicherten Erschließung mittelalterlicher Personen bei. Durch den Abgleich mit der Normdatei GND werden die digitalisierten Bio-Bibliographien in kritischer Form neu für die wissenschaftliche Nutzung zur Verfügung gestellt.
1.) Historische Bio-Bibliographien
Grundlage des Projekts waren folgende Werke:
- Trithemius, Johannes: Liber de scriptoribus ecclesiasticis. Basileae: Amerbach 1494 (= Hain 15613; Klebs 0990,1; BMC III 755; BSB-Ink T-459), http://www.mgh-bibliothek.de/cgi-bin/trithemius.pl?blatt=-5&rv=r
- Fabricius, Johann Albert: Bibliotheca latina mediae et infimae aetatis (5 Bde., 1734- 1736), (Digitalisat der neusten Ausgabe in 3 Bänden, ed. D. Mansi, Florenz 1858), http://www.mgh.de/bibliothek/digitale-bibliothek/hifo/fabricius/
Obwohl sachlich überholt, handelt es sich beim „Liber de scriptoribus ecclesiasticis“ von Trithemius um eine bedeutende Quelle zur spätmittelalterlichen Bildungsgeschichte. Die „Bibliotheca latina mediae et infimae aetatis“ steht in der Tradition des Trithemius, den Fabricius – neben zahlreichen frühneuzeitlichen bio-bibliographischen Verzeichnissen und Quellenzusammenstellungen – nahezu vollständig ausgewertet hat.
Für die einzelnen Lemmata der beiden Bio-Bibliographien wurden jeweils eigene, über den OPAC der MGH-Bibliothek abrufbare Datensätze angelegt. Trotz der Abhängigkeit des Fabricius von Trithemius kam es nicht zu einer werkübergreifenden Zusammenführung der Lemmata.
Zusätzlich wurde im Projektzeitraum erschlossen:
- Trithemius, Johannes, Cathalogus illustrium virorum, Mainz 1495 (=Hain 15615)
Die MGH-Bibliothek stellt in ihrem OPAC darüber hinaus in gleicher Weise die Lemmata der im Internet verfügbaren „Catholic Encyclopedia (CE)“ und des „Bio-Bibliographischen Kirchenlexikons (BBKL)“ aus dem Bautz-Verlag zur Verfügung.
2.) Durchgeführte Arbeiten
Die in den Lemmata der digitalisierten Bio-Bibliographien verzeichneten mittelalterlichen (bei Trithemius teils antiken) Autoren wurden mit der Gemeinsamen Normdatei (GND) der Deutschen Nationalbibliothek abgeglichen. Im Fall eines bereits existierenden Personensatzes der GND erfolgte dessen Einspielung in den MGH-OPAC unter Verknüpfung mit den entsprechenden Datensätzen aus Trithemius und Fabricius. Bei diesen übernommenen GND-Datensätzen musste in etwa 300 Fällen eine Änderung vorgenommen werden. Diese bezog sich meist auf die Ergänzung von Verweisungsformen bei den Namen. Bei rudimentären GND-Sätzen waren teilweise aber die Zufügung biographischer Informationen zur Verbesserung der Erschließung, aber auch Korrekturen nötig.
Für Autoren, die bisher noch nicht in der Normdatei der GND erfasst waren, mussten Neuansetzungen vorgenommen werden. Im Zeitraum des Gesamtprojekts wurden dabei neue GND-Sätze für ca. 1450 Personen angelegt. Die Recherchen stützten sich in erster Linie auf BISLAM (Online-Datenbank im System „Mirabile“ von SISMEL in Florenz) und dem auf Mikrofiche publizierten „Biographical Archive of the Middle Ages“ (BAMA/WBIS) des Saur-Verlags. Darüber hinaus wurden weitere digitale und gedruckte Nachschlagewerke wie das „Oxford Dictionary of National Biography“ oder das „Dizionario Biografico degli Italiani“ herangezogen.
Bei der Abgleichung wie Neuerstellung von GND-Sätzen ergaben sich verschiedene Probleme. Aufgrund der häufig sehr unzureichenden Informationen bei Fabricius stellte sich die Überprüfung einzelner von ihm lemmatisierter Personen an den Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung in manchen Fällen sehr schwierig dar. Sie verlangte daher einen langwierigeren Rechercheaufwand, der sich aber als notwendig erwies, um falsche Neuansetzungen, und damit Doppelungen, zu vermeiden. Problematisch erschien auch die Neuansetzung von Autoren, die trotz ausführlicher biographischer Hinweise von Fabricius nicht in neueren Nachschlagewerken oder neuerer Forschungsliteratur nachgewiesen werden konnten. In solchen Fällen wurde bei der Anlegung des GND-Satzes ausdrücklich auf die unsichere Identität der Person hingewiesen.
Zu den Problemen bei der Umsetzung historischer Namenszeugnisse auf eine Normdatenbank siehe den Aufsatz der Projektbearbeiterin: „DFG-Projekt ‚Historische Bio-Bibliographien als OPAC-Bausteine’ an den Monumenta Germaniae Historica – Probleme bei der Erschließung mittelalterlicher Personennamen“ (in: Bibliothek. Forschung und Praxis, Preprint-Artikel: http://www.mgh-bibliothek.de//dokumente/b/b072526.pdf)
3.) Errichtung einer BEACON-Schnittstelle
Um die Personendaten über die PND/GND und den MGH-OPAC hinaus nutzen zu können, wurde eine BEACON-Schnittstelle geschaffen.
Folgende BEACON-Dateien sind über die Homepage der MGH zu erreichen:
- http://www.mgh-bibliothek.de/beacon/trithemius
- http://www.mgh-bibliothek.de/beacon/trithemius_cathalogus
- http://www.mgh-bibliothek.de/beacon/fabricius
- http://www.mgh-bibliothek.de/beacon/mghopac
- http://www.mgh-bibliothek.de/beacon/cathen
Diese BEACON-Dateien sind in technischer Form über folgende URL verfügbar, wobei für “GND” die jeweilige GND-Nummer zu setzen ist: http://www.mgh.de/services/seealso/?id=GND
Die Schnittstelle ist dokumentiert unter:
http://www.mgh.de/datenbanken/beacon/
Für die externen Links wird der SeeAlso-Service von beacon.findbuch.de abgefragt. Alle BEACON-Dateien wurden im zentralen Nachweis bei der Wikipedia eingetragen (http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia%3ABEACON). Die spezielleren Angebote „Fabricius“ und „Trithemius“ fanden Aufnahme unter die „weiteren Informationen“ des ABD/NDB-Portals in der neugeschaffenen Rubrik „historische Lexika“ (vgl. z.B. http://www.deutsche-biographie.de/sfz64782.html#adb für Johannes Trithemius als historische Person).
4.) Ergebnisse
Durch die Vernetzung der Personenerschließung des MGH-OPAC und der Erschließung der Digitalisate zu einem Web 2.0-kompatiblen Gesamtangebot ergibt sich ein Beitrag zur Anreicherung der Literaturerschließung. Der OPAC wird als bibliographisches Subsystem für beliebige Web-Angebote nutzbar. Die Gemeinsame Normdatei (GND) erfährt eine Erweiterung durch die Neuanlegung von Datensätzen zu bisher nicht erschlossenen mittelalterlichen Autoren. Das Projekt stellt insgesamt die Voraussetzung für ähnlich gelagerte künftige Erschließungen historischer Forschungsumgebungen wie z.B. der Magdeburger Centurien dar.
Rudolf Schieffer — Publikationsverzeichnis
aventinus media Nr. 13 [15.12.2013]: Mittelalter eMGH und dMGH. elektronische und digitale Monumenta Germaniae Historica im Vergleich [=einsichten v. 19.01.2012]
aussichten Nr. 36 [30.06.2012]: Neue Einträge bei aussichten-online.net; Digest 01.05.2013-30.06.2013
Bayern und die MGH – (Fast) 200 Jahre gemeinsame Geschichte
In principio erat verbum et verbum erat manu scriptum1
Im Anfang war das Wort, und das Wort war von Hand geschrieben. Im Anfang war es ungedruckt. In ihm war das historische Leben. Aber es war verborgen in Archiven und Bibliotheken. Es trat ein Mann an den Wassern des Mains auf, der von Gott gesandt war.
Reichsfreiherr vom Stein
(Quelle: MGH-Archiv)
Sein Name war Heinrich Friedrich Karl, Reichsfreiherr vom Stein (1757-1831), und die Welt der deutschen Mittelalterforschung ist durch ihn das geworden, was sie noch heute darstellt. Das Paradies war in weiter Ferne. Es galt die Erkenntnis, dass Dornen und Disteln den schwer bestellbaren Boden bedeckten, und Staub war ein ständiger Begleiter. Diese Situation besteht noch heute, nach fast 200 Jahren.
Am Anfang stand die romantische Begeisterung für ein deutsches Reich vor dem Deutschen Bund. Ein altes Reich vor der Abdankung des römischen Kaisers Franz II., ein gemeinsames Reich vor den fast 20jährigen Kriegen Napoleons und seiner Fremdherrschaft, ein religiös geeintes Reich vor den Glaubenskämpfen, kurzum: ein einheitliches Reich – so wie man sich das Mittelalter vorstellen wollte. Am Anfang verbrüderten sich also Vaterlandsliebe und aufgeklärter Wissensdurst nach historischer Wahrheit, unverfälscht und unverschleiert.
Dieser Vortrag handelt also von Worten und Menschen und dem langen Weg der Monumenta Germaniae Historica nach Bayern und in die Moderne.
Man schrieb das Jahr 1819. Am 20. Januar, einem Mittwoch, „um zwei Uhr des Nachmittags“ trafen sich in der Privatwohnung des preußischen Ministers a. D. Karl Freiherr vom Stein (1757-1831) am Ort der Bundesversammlung Frankfurt die Bundesgesandten Bayerns, Badens, Württembergs und Mecklenburgs, um die „Societas aperiendis fontibus rerum Germanicarum medii aevi“ – die „Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde“, genauer zunächst deren Zentraldirektion zu gründen. Der Gesandte Bayerns, Johann Adam Freiherr von Aretin (1769-1822), hatte zusammen mit dem württembergischen Gesandten (Karl August Freiherr von Wangenheim) Stein bereits im Vorfeld bei seinen Plänen intensiv unterstützt. Letzterer schrieb wenig später: „Seit meinem Zurücktreten aus öffentlichen Verhältnissen beschäftigte mich der Wunsch, den Geschmack an deutscher Geschichte zu beleben, ihr gründliches Studium zu erleichtern und hierdurch zur Erhaltung der Liebe zum gemeinsamen Vaterland und Gedächtnis unserer großen Vorfahren beizutragen. Meine Absicht war auch, dahin zu wirken, daß die durch die Umwälzung des Jahres 1803 zerstreuten vielen Urkunden sorgfältig gesammelt und gegen den Untergang aufbewahrt würden, welches aber hauptsächlich von Maßregeln der Regierungen abhängt und wozu der Entschluß von einzelnen nicht ausreicht.“ „Im ganzen würden etwa 8 bis 10 Gelehrte sich das Hauptwerk teilen und in etwa eben so vielen Jahren wohl damit zustande kommen“. Der nicht nur gelehrte, sondern auch kluge Aretin ging keine zwei Wochen nach dem ersten formalen Treffen in einem ausführlichen Gutachten bereits von 10 bis 20 Jahren Dauer aus und regte die Schaffung einer erweiterten „gelehrten Gesellschaft“ an, in der neben Adeligen auch Wissenschaftler wirken sollten.
Johann Adam Freiherr von Aretin
(Quelle: MGH-Archiv)
Der Bayer Aretin sollte auch im Juli/August als stellvertretender Vorsitzender der zwischenzeitlich gegründeten Zentraldirektion an Stelle des abwesenden Stein das Projekt der Bundesversammlung erfolgreich vorlegen. Es wurde einstimmig angenommen, doch die von der Bundesversammlung zugesprochenen Geldmittel blieben großenteils aus. Ständige Geldnot bedrohte das Unternehmen von Anfang an erheblich, doch „Zuspruch und Zuwendung kamen von unerwarteter Seite, zum Beispiel von Zar Alexander I. von Russland, der sogar bereit war, die gesamten Kosten zu übernehmen. Stein wies diese Offerte aus patriotischer Selbstachtung zurück … „, wie Horst Fuhrmann bemerkt. Stein hatte bis zu seinem Tod 1831 ein Viertel der Kosten aus seinem Privatvermögen zugeschossen. Man darf bitte auf gut Bayerisch kommentieren: Respekt – Herr Minister a. D.! Bayern tat sich in keiner Weise rühmlich hervor, die Regierung Maximilians I. Joseph knauserte, und Akademie wie Reichsarchiv lehnten auch nur geringfügige Unterstützungen ab. Auch König Ludwig I. übertraf seinen Vater nicht an Großzügigkeit. Von den ursprünglich sechs subskribierten Bänden der Monumenta-Editionen in Edelausstattung gab man 1830 zwei zurück, da die Universitäten Erlangen und München neben der königlichen Bibliothek diese auf eigene Kosten bezogen hatten und man für die übrigen keine Verwendung fand!
Der Stein-Biograph Heinz Duchhardt stößt in seiner jüngsten Steinbiographie ins selbe Horn: „Dass die Monumenta … eine Erfolgsgeschichte werden sollten, war gleichwohl lange nicht absehbar – manche bitteren Worte Steins sind überliefert, mancher Ärger über seine Direktionskollegen aus dem Kreis der Bundestagsdiplomaten musste hinuntergeschluckt werden, manche Krisensitzungen waren anzusetzen, manche Enttäuschungen waren zu verkraften, wenn der eine oder andere Bundesstaat aus durchsichtigen Gründen sich gegenüber Bitten um Zuschüsse verweigerte oder wenn Standeskollegen auf seine ‚Bettelbriefe’ nicht reagierten. Die Empfehlung des Frankfurter Bundestags, das Unternehmen finanziell oder durch Subskriptionen zu unterstützen, hatte zunächst allenfalls begrenzten Widerhall gefunden.“ … Preußen, die Fürsten und die meisten Bundesstaaten versagten auf voller Linie. Einmal brach es aus Stein heraus: „Man macht kostbare naturhistorische Expeditionen von Wien, München und Berlin nach Ägypten, Nubien, Brasilien, dem Kap, man erforscht die Geschichte der Pharaonen, das Leben und Weben der Kolibris, Gazellen und Affen mit und ohne Schwänzen, aber für die Geschichte unseres Volkes geschieht nichts.“ [...] Der vollständige Artikel kann hier gelesen werden.
1Vortrag anlässlich des Symposions zur Ausstellungseröffnung „Bayern und die Monumenta Germaniae Historica“ am 19. Januar 2013 veranstaltet im Historicum der Ludwig-Maximilians-Universität München basierend auf Vorarbeiten zum „Zeitstrahl“ von Nikola Becker.
Die Wahrnehmung von Feinden und Fremden in den Chroniken des Jakob Unrest
1000 Worte Forschung: Dissertation (Mittelalterliche Geschichte) FU Berlin
Im späten 15. Jh. verfasste der Kärntener Kleriker Jakob Unrest drei Chroniken in frühneuhochdeutscher Sprache. Fern der akademischen Welt der Höfe und Universitäten schilderte er, was das Reich, die Welt, insbesondere aber seine Heimatregion bewegte. Seine Aufzeichnungen stellen eine wichtige, in manchen Bereichen die einzige, Quelle für das Geschehen in Kärnten in dieser Zeit dar.
Die drei von Unrest verfassten Chroniken erfuhren eine sehr unterschiedliche Rezeptions- und Überlieferungsgeschichte. Sein bei weitem umfangreichstes Werk ist die Österreichische Chronik, die Unrest bis an sein Lebensende fortführte, die in der Frühen Neuzeit jedoch offenbar kaum Beachtung fand. Sie ist nur in zwei Handschriften erhalten, beides Abschriften aus dem 16. Jahrhundert, von denen die eine, die Hannoveraner Handschrift (Hannover, Niedersächs. Landesbibl. N. XIII, 783.) erst im 18. Jahrhundert wiederentdeckt wurde, die andere, die Wiener Handschrift (Nationalbibl. Wien, cod. lat. n. 8007.) gar erst 1923 durch Karl Grossmann, der die Österreichische Chronik für die Monumenta Germaniae Historica edierte[1].
Die größte Rezeption unter seinen Werken erfuhr unmittelbar nach Unrests Tod vielmehr die Kärntener Chronik, der von der modernen Geschichtswissenschaft lange Zeit nur ein geringer literarischer und historiographischer Wert beigemessen wurde. Im auffälligen Gegensatz zu den anderen Chroniken gelangte sie in der Frühen Neuzeit zu weiter Verbreitung und ist heute noch in 22 Handschriften erhalten[2]. Sie wurde zum Vorbild und Ausgangspunkt einer Kärntner Landesgeschichtsschreibung, was wohl mit ihrer Instrumentalisierung zu legitimatorischen Zwecken zusammenhängt. Mit der Wiederentdeckung der Österreichischen Chronik und ihrer ersten Veröffentlichung im Druck 1724 begann allerdings die Beachtung für die Kärntner Chronik im gleichen Maße zu schwinden, wie das Interesse an der Österreichischen Chronik zunahm[3].
Bis heute eher wenig beachtet wurde die Ungarische Chronik. Sie ist in denselben Handschriften erhalten wie die Österreichische Chronik, in der Hannoveraner Handschrift allerdings nur als Bruchstück, so dass sie bis ins 20. Jh. nicht in voller Länge bekannt war und erst 1974 vollständig ediert wurde. Sie behandelt Leben und Taten der ungarischen Herrscher von Attila bis Matthias Corvinus und ist eine der ältesten bekannten Darstellungen ungarischer Geschichte in deutscher Sprache[4].
Unrest griff auf nur wenige andere Geschichtswerke zurück, wohl aber in hohem Maße auf Flugschriften, Gerüchte und andere kursierende Nachrichten sowohl aus Italien als auch aus dem Reich, die seine Hauptquelle für weiter entfernte Ereignisse bilden. Inhaltlich gilt Unrests Hauptaugenmerk jedoch seinem unmittelbarem Umfeld, der Region Kärnten und den habsburgischen Nachbarländern.
Dabei ist seine Leitlinie die Dynastiegeschichte, in der Ungarischen Chronik die Abfolge der ungarischen Könige, in der Österreichischen die der Habsburger. Dadurch, dass er nach einer kurzen Vorgeschichte, die die Lücke zur Chronik der 95 Herrschaften schließt, als deren Fortsetzer er sich verstand, Gegenwartschronistik betreibt, liegt der Schwerpunkt seiner Darstellung allerdings eindeutig auf der Herrschaft Kaiser Friedrichs III.
Die Kärntener Chronik enthält zwar nur wenig eigene Hinzufügungen Unrests und ist im Wesentlichen aus Versatzstücken aus anderen Geschichtswerken gebildet, doch ist sie durchaus absichtsvoll konstruiert. So wird in ihr durch die Rückverlegung des Zeremoniells der Herzogseinsetzungen auf dem Fürstenstein am Zollfeld bei Maria Saal eine Kontinuität des Herzogtums Kärntens behauptet[5].
Innerhalb dieses Rahmens liegt die eigentliche Stärke seiner Darstellungen im Bereich der Regionalgeschichte, wobei auch eigenes Erleben eine große Rolle spielen dürfte. Über Türkeneinfälle, Ungarnkriege und Bauernaufstände berichtet Unrest aus erster Hand. Immer wieder greift er dabei verbreitete Feindbilder seiner Zeit auf, die pejorative Darstellung des Fremden und Anderen nimmt einen wichtigen Stellenwert in seiner Darstellung ein. Stets ist der Anlass eine Abweichung des als Norm Empfundenen, so die vom Christentum im Falle der religiös begründeten Ablehnung von Juden und Häretikern. Unrest bedient sich antijüdischer Topoi, die im ausgehenden Mittelalter stark an Vehemenz zunahmen, und kolportiert auch die weitverbreiteten Ritualmordvorwürfe. Häretiker sind für ihn vor allem die Hussiten, die er als eine ansteckende, die Rechtgläubigkeit gefährdende Seuche beschreibt.
Soziale Aspekte sind der Grund für die Ablehnung der Schweizer oder ‚aufständischer’ Bauern, die Unrest häufig gleichsetzt. Hier ist es die Abweichung von der idealen Gesellschaftsordnung, die für Unrest noch immer der mittelalterliche Ständestaat ist, welche ihre Ausgrenzung begründet. Dabei ergeben sich jedoch durchaus Nuancen zwischen bäuerlicher Selbstvertretung, legitimem Widerstand und Rebellion.
Ein wiederum anderes Bild offenbart sich in Unrests Darstellung christlicher Feinde, die aus politischen Gründen als Gegner gesehen werden. Dies sind vor allem Venezianer, Franzosen, Burgunder und Ungarn, deren Bild starken Schwankungen unterworfen ist. Diese Feindschaften wechselten mit den politischen Konstellationen, wobei Unrest sich meist auf der Seite der Habsburger positioniert, wenn auch nicht völlig unkritisch. Ansonsten scheint oft die Haltung der jeweiligen Mächte den Türken gegenüber, die für ihn das Fremde und Feindliche schlechthin sind, der ausschlaggebende Faktor zu sein. Einem Vorkämpfer gegen die Türken, wie es beispielsweise Matthias Corvinus in seinen Augen ist, kann Unrest auch Feindschaft zu Habsburg und Kärnten vergeben.
Ziel der Dissertation ist es, die von Jakob Unrest wiedergegebenen Fremdwahrnehmungen zu analysieren und in ihrer Beziehung zueinander und zu seinem geistigen Umfeld begreifbar zu machen. Durch den vergleichenden Ansatz soll auch die Wahrnehmung und Darstellung von Fremdheit in der Geisteswelt der Zeit weiter erhellt werden. Es soll untersucht werden, inwieweit die in der zeitgenössischen ‚Öffentlichkeit’ dominierenden Diskurse Unrests Schaffen beeinflussten und inwieweit er diese Tendenzen zu instrumentalisieren und im Sinne seiner eigenen Ziele einzusetzen verstand. Dabei soll insbesondere der Frage nach der Konstruktion von Identität durch die Konstruktion von Alterität nachgegangen werden.
Ausgehend von der These eines bewussten Einsatzes dieser Motive soll die Untersuchung der dabei angewandten Methoden und der angestrebten Ziele der Darstellung ein besseres Verständnis von Unrests Welt- und Geschichtsbild und der Historiographie seiner Zeit ermöglichen.
Im engen Zusammenhang damit soll der Umgang Unrests mit seinen Vorlagen erhellt werden. Die Verarbeitung von Quellen, die eigentlich ursprünglich einem anderen, teilweise wohl gar einem propagandistischen Zweck dienten, ist wesentlicher Teil seines Schaffens.
Das Verhältnis von Reproduktion, Instrumentalisierung und eigenem Schaffen soll zur Erhellung des Verhältnisses von Öffentlichkeit und Historiographie und der Rolle des Geschichtsschreibers im späten Mittelalter beitragen.
[1] Jakob Unrest, Österreichische Chronik (MGH SS rer. Germ. N.S.11), Hannover/ Leipzig 1957, S.1-238.
[2] Vollständige Liste der Handschriften bei Grossmann: Jakob Unrests Österreichische Chronik, S. XIV.
[3] Jakob Unrest, Kärntner Chronik, in: Simon Friedrich Hahn (Hg.): Collectio monumentorum veterum et recentium ineditorum I, Braunschweig 1724, S.479-536.
[4] Jakob Unrest, Ungarische Chronik, in: Armbruster, Adolf, Jakob Unrests Ungarische Chronik, in: Revue Roumaine d’Histoire 13 (3) (1974), S.481-508., vgl. auch Krones, Jakob Unrests Bruchstück, S. 339-355.
[5] Vgl. hierzu insbesondere Moeglin, Jean-Marie, Jakob Unrests Kärntner Chronik als Ausdruck regionaler Identität, in: Peter Moraw (Hg.), Regionale Identität und soziale Gruppen im deutschen Mittelalter (ZHF Beiheft 14). Berlin, 1992, S. 165-191.
mediaevum.net: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters digital
MGH Constitutiones online
Quelle: http://digiversity.net/2011/mgh-constitutiones-online/